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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts R g geschichte Rechtsgeschichte www.rg.mpg.de http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg3 Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 3 (2003) http://dx.doi.org/10.12946/rg03/111-127 Rg 3 2003 111 – 127 Werner Gephart Das Collagenwerk Zur so genannten »Rechtssoziologie« Max Webers Dieser Beitrag steht unter einer Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0

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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts Rggeschichte

Rechtsgeschichte

www.rg.mpg.de

http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg3

Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 3 (2003)

http://dx.doi.org/10.12946/rg03/111-127

Rg32003 111 – 127

Werner Gephart

Das CollagenwerkZur so genannten »Rechtssoziologie« Max Webers

Dieser Beitrag steht unter einer

Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0

Abstract

The history of the reception of Max Weber’s so called »Legal Sociology« is concealed and compli-cated. One reason for this lies in the polished impression given to the text by its posthumous publishers Marianne Weber and Melchior Palyi as well as Johannes Winckelmann. The interruptions and cancellations in the original notes, the varying ideas for the composition of the pieces, the swell-ing appendices and the various inner fragments have been underpinned that way. It is only by an archaeology of the text all these could be recon-structed.

It is possible to distinguish different levels of texts each belonging to a specific scheme of com-position: for example the »Epochs of the Develop-ment of the actual Situation« of Law and Eco-nomics (manuscript-scheme 1910), on the other hand »Conditions for the Development of Law«, Weber’s wording in the script-scheme of 1914 for the so-called »Legal Sociology«.

One can thereby see that the variety of inter-pretations that followed the publication of »Legal Sociology« of Max Weber – spanning the universal history of law, the paradigm of western ration-alization, a comparative cultural sociology of law and the assumed shortcomings of a pure legal sociology – is in no way the fruit of speculations but lies within the work itself. In the end the question of the unity of this work arises. It may be answered by the normative idea of formal and rational law.

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»Although it contains many individual passages whose signi-ficance can be appreciated even on a first reading, the overallimpression one receives of it is a vast hodge-podge of ideas andobservations ranging in generality from very specific historicalanalyses to the most abstract conceptual schemata, all throwntogether in a random fashion so that the reader moves fromone topic and level of generality to another without ever quiteseeing the connection between them.« … »Unlike some ofWeber’s other writings – his essay on the protestant ethicand the spirit of capitalism, for example – the Rechtssoziologielacks polish and organizational unity; it is a great, roughhewnmass of thoughts which, although often suggestive, do nottogether form a recognizable whole – which do not in otherwords, constitute a work.«1

In pointierter Formulierung gibt Kronman einen verbreiteten,nicht immer ausgesprochenen Lektüreeindruck wieder, der dieRezeption der Weberschen »Rechtssoziologie« durchaus behinderthat: Handelt es sich überhaupt um eine veritable »Soziologie desRechts«, wenn er den zeitgenössischen »Rechtssoziologen«, etwaEugen Ehrlich, eher distanziert gegenübersteht?2 Oder ist dieRechtssoziologie vielmehr eine Art Universalgeschichte des Rechts,als Prozess rechtlicher Rationalisierung zu lesen?3 Ist es nichtvielleicht präziser, im Hinblick auf die dominante Ausrichtungund Affinität Webers zum Zivilrecht von einer – wie auch immerunvollkommenen – »Privatrechtsgeschichte des Okzidents« zusprechen? Oder hat gar Kronman Recht, dass es sich überhauptnicht um ein irgendwie beschreibbares Ganzes handelt, der Rechts-soziologie folglich der Werkcharakter abzusprechen sei?

Die intensive Befassung mit dem Manuskript4 führt zu derHypothese, dass in gewissem Sinne alle Deutungsansätze gleich-zeitig Recht haben bis auf Kronman, der den Werkcharakterbestreitet. Kein ›anything goes‹, vielmehr: die Pluralität der Deu-tungen entspricht nur der Vielfalt der in dem Manuskript ange-legten Themendynamik. Dann gestaltet sich die Suche nach der

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1 Anthony Kronman, Max Weber(Jurists: Profiles in Legal Theory),Stanford 1983, 2.

2 Vgl. Max Weber, Wirtschaft undGesellschaft, 5. Aufl., besorgt vonJohannes Winckelmann, Tübin-gen 1972, 441.

3 Wolfgang Schluchter hat inder »Rechtssoziologie« ein beson-ders elaboriertes Beispiel für dasParadigma des okzidentalen Ra-tionalismus gesehen – vgl.: Die

Entstehung des modernen Ratio-nalismus. Eine Analyse von MaxWebers Entwicklungsgeschichtedes Okzidents, Frankfurt am Main1998 (zuerst Tübingen 1979),190 ff.

4 Marianne Weber hatte das Ma-nuskript der sog. »Rechtssoziolo-gie« Karl Loewenstein als Erinne-rungsgabe geschenkt, welcher esAnfang der 60er Jahre dem Mün-chener Max Weber Archiv über-

ließ. Heute befindet es sich in:Max-Weber-Depot, BayerischeStaatsbibliothek München, Ana446, OM 10 (der Teiltext »DieWirtschaft und die Ordnungen«:ebd., OM 6). Zur Überlieferungs-geschichte vgl. den editorischenBericht von Johannes Winckel-mann zu seiner Separatausgabe:Max Weber, Rechtssoziologie,aus dem Manuskript hg. und ein-geleitet von Johannes Winckel-mann, Neuwied am Rhein, Berlin1960, 50 ff., sowie ders., MaxWebers hinterlassenes Haupt-werk: Die Wirtschaft und diegesellschaftlichen Ordnungen undMächte, Tübingen 1986, 50 ff.

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»Wirtschaft und Gesellschaft« oder Webers »Torso«, 2002 (59 × 40 cm)

Einheit5 der sog. »Rechtssoziologie« umso schwieriger, je mehrman an Spannungen, Wechsel des Focus bei gleichbleibendenLeitmotiven und auch Widersprüchen, insoweit also eine Dekon-struktion6 des Textes, zulässt. Es gilt, Webers Pathos der »Ent-zauberung« auf ihn selbst anzuwenden – freilich in der durchauskonstruktiven Absicht, den Willen des Autors zur Gestaltung einesWerkes sichtbar zu machen. Die Rezeptionsgeschichte der »Rechts-soziologie« ist dadurch verstellt und erschwert, dass in der Heraus-gabe des Manuskriptes aus dem Weberschen Nachlass durchMarianne Weber und Melchior Palyi7 sowie in der erneutenWiedergabe des Textes durch Johannes Winckelmann8 ein polier-ter Texteindruck erzeugt wird, der die Textbrüche und Verwer-fungen, den Wandel von Compositionsideen, anschwellenden Ex-kursen und Binnenfragmenten zugeschüttet hat, obwohl diePhänomenologie des Manuskriptes etwas ganz anderes lehrt. Hier-zu muss man sich freilich auf das Gebiet der Archäologie begeben.Man schürft, vermisst, nummeriert und beschriftet die Textfetzen,rätselt und entziffert, ohne dass sich die Erleuchtung so ohneweiteres einstellen will. Von dieser ›archäologischen Erkundung‹aber möchte ich erzählen, darüber wie sich aus der von Kronmanzu Recht beschriebenen Verwirrung des Lesers eine Sinneinheiterstellt, sich also »objektives« Sinnempfinden mit »subjektiv« ge-meintem Sinn und Sinneswandel verknüpfen lässt. Es geht mitanderen Worten darum, die Erstellung eines Artefakts, des Manu-skripts, als Ausdruck intentionaler »Schreibhandlungen« zu ver-stehen anhand der Indizien, die uns das überlieferte Konvolutanbietet. Und dies wird nicht der interpretatorisch herausgefilterte,eben in das Korsett von Deutungsinteressen der Okzidentalisten,Anti-Soziologen oder Universalhistoriker des Rechts gepresste,vermeintlich »objektive Sinngehalt« sein, sondern ein Umgangmit dem originären Stoff, aus dem der Text generiert wird, diemateriale, durch einen Umschlag als willentliche Einheit gefügteFolge von genau 150 Manuskriptblättern.

Die neuere Editionswissenschaft pflegt die »Éloge de la varian-te«,9 eine sich weiter steigernde und durch digitale Präsentationausweitende Möglichkeit, virtuelle Zustände einer Textbearbei-tung aus dem Prozess einer Textgenese herauszulösen und demLeser als Simulacrum der allmählichen Verfertigung der Gedankenbeim Schreiben anzubieten. Es stellt sich also die Frage, ob dieseTextarchäologie uns die Augen öffnet und damit einen weiter

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5 Für die Wissenschaftslehre ist diesein fester Topos der Weberdeu-tungen seit Alexander von Schel-ting, Dieter Henrich und FriedrichTenbruck. Aber das Problem stelltsich eben auch für die »Rechts-soziologie«!

6 Dekonstruktion ist hier durchausim Sinne von Jacques Derrida ge-meint. Ich verstehe hierunter ein»aufspürendes Herausarbeiten ri-valisierender semantischer Kräfte

innerhalb eines Textes« (BarbaraJohnson, The Critical Difference,Baltimore 1980, 5).

7 Max Weber, Wirtschaft und Ge-sellschaft, 1. Aufl., Tübingen1922, 386–512.

8 Max Weber, Rechtssoziologie(Fn. 4).

9 Vgl. hierzu Bernard Cerquigli-ni, Éloge de la variante. Histoirecritique de la philologie, Paris1989.

reichenden Blick in die heimliche, oder bislang geheim gebliebene,Werkstatt des Entzauberers gestattet. Und dies in einer Weise, dieuns über den von Weber doch wohl gewählten Gegenstand, dasRecht, in weiterführender Weise belehrt!

Das überlieferte Manuskript hat allein in seiner äußeren Ge-stalt zahlreiche Rätsel aufgeworfen. Weil es nicht mit einem Titelversehen war, stellt sich bereits die Frage nach seiner legitimenBenennung. Wer sich einmal der Aura des Manuskriptes aussetzendurfte, schaut auf ein Deckblatt, das mit rätselhaften Zeichen, wieeine Titelei, in der Mitte der Seite beschrieben ist. Und es hatgedauert, bis man den eigenen Augen traute, was hier eigentlichsehr lesbar steht: eine in Webers Hand geschriebene Ziffer »IV«,unter die in einer neuen Zeile »Ethik« platziert ist, mit demseinerseits durch Unterstreichung hervorgehobenen »Tabu« sub-skribiert. Dies aber wäre doch kein Titel einer »Rechtssoziologie«,wie wir sie durch Marianne Weber und Johannes Winckelmann zulesen gewohnt sind! Darf man aber die Verweise10 im ersten Teildes Weberschen Grundrissbeitrages, also im opus magnum »Wirt-schaft und Gesellschaft«, auf eine »Rechtssoziologie« als autori-sierte Titelangabe verstehen? – Wie sonst aber ist das Manuskriptzu verstehen und innerhalb des Weberschen Grundrissbeitrages zupositionieren? Ist es richtig, von einer Universalgeschichte desRechts zu sprechen, oder – wider den Text – eine Grundlegungder Soziologie des Rechts zu behaupten oder handelt es sich gar umeine vergleichende Kultursoziologie des Rechts?11

Die Antworten liegen in der Materialität des Manuskriptes.

Ein heterogener Manuskriptbefund

Das in sieben Paragraphen gegliederte Manuskript – der achteist als Manuskript nicht überliefert und wird daher nach der erstenAusgabe von »Wirtschaft und Gesellschaft« zu edieren sein – weisteinen außerordentlich heterogenen Befund auf: Unvermittelt setztdas Manuskript ein auf einer Seite 12, deren vorangehende 11Seiten nicht aufzufinden oder textuell zuzuordnen sind, mit demProblem einer »Scheidung« des zu behandelnden Stoffes, desRechts nämlich, um hieran die »wichtigste« rechtstheoretischeDifferenzierung, die Abgrenzung von Öffentlichem Recht undPrivatrecht, auf eine »soziologische Unterscheidung« zurückzu-

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10 Wirtschaft und Gesellschaft,5. Aufl. (Fn. 2) 18, 25, 28, 38.

11 Diese Deutung versuche ich starkzu machen in: Recht als Kultur?Max Webers Beitrag zu einer ver-gleichenden Kultursoziologie desRechts, in: Recht als Kultur. Zurkultursoziologischen Analyse desRechts, Sphären der Moderne,Bd. 2. (erscheint demn.)

führen. Weitere Differenzierungen der sachlichen Rechtsgebietemünden in eine Typologie der »Kategorien des rationalen Rechts-denkens«, deren Entfaltungsbedingungen als das große Thema derWeberschen Soziologie des Rechts erscheint.

Es schließt sich ein umfangreicher Manuskriptteil an, der,obwohl er nahezu die Hälfte des gesamten Textkonvoluts aus-macht, eigenartigerweise von dieser Fragestellung nichts auf-nimmt, sondern eine Art Privatrechtsgeschichte des Okzidentsdarstellt, in der die »Entwicklung der Vertragsfreiheit« das beherr-schende Thema ist. Von den »Bedingungen« und »Mächten«, diefür die Entfaltung der »Kategorien des rationalen Rechtsdenkens«wesentlich sind, ist dann erst in den anschließenden §§ 3 bis 7 dieRede: Von der Überwindung charismatischer Rechtsschöpfungzur Generierung neuer Rechtsnormen über die Rolle der Rechts-honoratioren (§ 3) und über die Differenzen von Anwaltsschulungund Universitätsschulung als Träger der Rationalisierung hinausrichtet sich die Aufmerksamkeit auf den ambivalenten Anteiltheokratischer Rechtsschulung (§ 4) und die Ursprünge des juridi-schen Rationalismus im Römischen Recht. Vor dem Hintergrunddes grundsätzlichen Spannungsverhältnisses von formaler undmaterialer Rationalisierung ist entscheidend, welchen Einflussnun die religiösen Mächte auf die Entfaltung des Rechtsrationa-lismus gewinnen. Hier schert Weber dann aus der geradlinigenOkzidentalgeschichte der Privatautonomie in die kultursoziolo-gische Vergleichung der Rationalitätsbedingungen aus, welche, inoffensichtlicher Parallelität zur Analyse der religiösen Gemein-schaften12 und durch Verweise auf diesen Teil von »Wirtschaftund Gesellschaft« bezogen, die Bedeutung der Weltreligionen fürdas Recht behandelt (§§ 4 und 5). Erst im anschließenden § 6kommen die politischen Mächte als treibende Kräfte der Kodifi-kationen ins Spiel, sei es in den patrimonialfürstlichen Kodifika-tionen13 oder im Einfluss demokratischer rechtsideologischer Pos-tulate. Der § 7 behandelt die rechtskonstitutive Bedeutung desNaturrechts in seinen heterogenen Erscheinungsformen. Im letztenParagraphen schließt sich der Bogen von der »heutigen Scheidungder Rechtsgebiete« zu den formellen Eigenarten des okzidentalenRechts, das ambivalente Folgen für den Prozess der Rationalisie-rung des Rechts zeitigt.

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12 So der vom Herausgeber gewählteTitel für die systematische Reli-gionssoziologie Max Webers(MWG I/22–2).

13 Vgl. Siegfried Hermes, SozialesHandeln und Struktur der Herr-schaft. Max Webers verstehendehistorische Soziologie am Beispieldes Patrimonialismus, Berlin2003.

Zur Genese des Collagenwerks

Erst eine philologische Analyse des Manuskripts, das einwahres Collagenwerk darstellt, vermag diese Denkbewegung, ihreWidersprüche und den sich wandelnden Fokus auf der Ebene derMaterialität des Manuskriptes nachzuvollziehen. Die Entstehungdes Manuskriptes liefert in Verbindung mit einer Analyse vonTextgruppen14 und Verweisen ein Verständnis für das komplizierte›Textgewebe‹, das in der bislang überlieferten Form eine Endgül-tigkeit und Unilinearität suggeriert, die einer näheren Textbe-obachtung nicht standhält.

Nach allem, was wir über die Entstehung des Grundrissbeitra-ges von Weber wissen, bilden der »Stoffverteilungsplan«, denWeber dem Verleger im Frühjahr 1909 zusandte,15 und die »Ein-teilung des Gesamtwerkes«16 von 1914 die zentralen Anhalts-punkte für die Zuordnung der Vorkriegsmanuskripte.

Handelt es sich hierbei um beliebige Gliederungsentwürfe, wiesie unter dem Drängen eines Verlegers entstehen, den auch ökono-mische Interessen vorantreiben, oder geht es vielmehr um gewan-delte Compositionsideen des Riesenwerkes? Lassen sich dafürSpuren im Manuskript wiederfinden und lässt sich hieraus dieHeterogenität des Textbefundes deuten?

Die in der Arbeit am Text gewonnene Hypothese lautet: Ersteine Unterscheidung verschiedener »Textgruppen«, von »Stamm-und Subgruppen«, bringt die Technik der Collage ans Licht, in dermaschinenschriftlich verfasste Blattfolgen vermittels ihrer Paginie-rungsfolge und Paginierungsart als zusammengehörige Sinn- undZeicheneinheiten sichtbar werden. Von einer neuen Compositions-idee ausgehend, werden diese Einheiten buchstäblich durchschnit-ten, mit Kleber zusammengefügt, also collagiert. Hierauf schichtensich Korrekturgebirge, die durch interlineare Einzüge in der ebensofeinen wie schwer lesbaren Handschrift Webers ergänzt werden.Eingeklebte Allongen geben den physikalischen Raum für einenschier ungebremsten Wissensdurst über das islamische Recht, dasjüdische Recht, das Recht der Weltreligionen. Erst eine Archäologiedieses Wissens liefert ein Verständnis für Oberflächen- und Tiefen-strukturen des Weberschen Werkes. Nicht die innere Dynamikdieser Art »wilden« Schreibens, sondern die innere Logik einessystematisch-rationalen Wandels von »Compositionsideen« machtdie Faszination dieser archäologischen Arbeit aus.

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14 Der Ausdruck »Textgruppe« be-zeichnet die einen Sinn- und Zei-chenzusammenhang konstituie-rende Manuskriptblattfolge.

15 Brief Max Webers an Paul Siebeckvom 23. Mai 1909, MWG II /6,Briefe 1909–1910, Tübingen1994, 132. Der Stoffverteilungs-plan ist abgedr. in: ebd. 766–774.

16 Abgedr. in: MWG II/8, Briefe1913–1914, Tübingen 2003,817–823.

Compositionsideen des Collagenwerkes

Das erste der überlieferten Manuskripte, von Max Weber »DieWirtschaft und die Ordnungen« überschrieben, lässt sich im Sinnedes Stoffverteilungsplans für den späteren »Grundriss der Sozial-ökonomik« nach Thematik und Sprachgebrauch unter dem viertenAbschnitt des dritten Kapitels, »Wirtschaft und Gesellschaft«, demPunkt a) »Wirtschaft und Recht (1. prinzipielles Verhältnis)« zu-ordnen. Nun stellt sich die Frage, ob wir das weitere überlieferteManuskript nicht auch unter dieses Leitmotiv »Wirtschaft undRecht« subsumieren können, wenn – an die oben genannte prinzi-pielle Erörterung anschließend – im Stoffverteilungsplan von 1910»2. Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands« ausgewiesensind. Auch hier muss man genau lesen: Es ist von »Epochen« dieRede, Abfolgeschemata also, die zu historischen Sinneinheitenverdichtet sind, während das Interesse an der Genese des okziden-talen Rationalismus sich von dieser historischen Perspektive zu-gunsten einer Bedingungsanalyse abgelöst hat. So lässt sich dasRationalisierungsthema unter die Epochenfrage schwerlich einord-nen, zumal seine Analyse ja gerade die Beziehung von »Wirtschaftund Recht« überschreitet und insbesondere die Beziehung zurreligiösen Sphäre privilegiert.

Würde die »Rechtssoziologie« nichts weiter als die Fortfüh-rung der im Stoffverteilungsplan von 1910 niedergelegten Compo-sitionsidee darstellen, also das Thema von »Recht und Wirtschaft«– als Anti-Stammler konzipiert17 – über die prinzipielle Beziehunghinaus in die Richtung von Epochen historisieren, dann müsste derAuftakt dieses Werkstücks im § 1 an diese Fragestellung anschlie-ßen. Im ersten Paragraphen der »Rechtssoziologie« findet sichjedoch keinerlei Anbindung an die Erörterungen zum Rechtsbegriffund an die Bestimmungen von »Wirtschaft und Recht« in ihremprinzipiellen Verhältnis, die der Teiltext »Die Wirtschaft und dieOrdnungen« vorsieht. Merkwürdigerweise aber knüpft dann dernächste Paragraph in seiner ältesten, maschinenschriftlich verfass-ten Textschicht unmittelbar an das Thema von »Die Wirtschaftund die Ordnungen« an. Im ersten Satz des § 2, der in derbisherigen Edition als ältere und gestrichene Textebene nicht sicht-bar wird, heißt es nämlich: »Dieser ganz allgemeine Sachverhaltnimmt nun für die inhaltliche Gestaltung des Rechts und seinerBeziehungen zur Wirtschaft sehr konkrete Formen an.«18 Diese

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17 Die ursprüngliche Konzeption von»Wirtschaft und Gesellschaft« istals Anti-Stammler angelegt, wiedie Detailanalyse von »Die Wirt-schaft und die Ordnungen« dar-legen wird. Sie schließt in Termi-nologie und Sachgehalt der Fragenach der Grundlage normativerOrdnungen ebenso an den Kate-gorien-Aufsatz an, wie sie dieAuseinandersetzung mit Stammlerfortsetzt. Diese wiederum findet

ihren Niederschlag nicht nur inden Stammler gewidmeten Kriti-ken (vgl. Max Weber, Gesam-melte Aufsätze zur Wissenschafts-lehre, hg. von Johannes Win-ckelmann, 7. Aufl. Tübingen1988 (1. Aufl. 1922) 291–359und 360–383). Sie bildet vielmehrein durchlaufendes Leitmotiv derWeberschen Suche nach den me-thodologischen Grundlagen einerverstehenden Soziologie, die nicht

wie eine kategorial fehlgeleiteteRechtswissenschaft »Recht« alsStruktur des sozialen Lebens be-greifen will, aber auch nicht aufden Nutzen juristischer Begriffs-ursprünge verzichten will. Chih-Cheng Jeng hat die Pathologiendieser gefährlichen Wahlver-wandtschaft aus den verfügbarenArchivalien minutiös rekonstruiert(vgl. Chih-Cheng Jeng, MaxWebers methodologischer Ratio-nalismus, Bonn 2003).

18 Vgl. Manuskript »Rechtssoziolo-gie« (Fn. 4) Blatt 17 (interneBlattzählung; eigene Hervorhe-bung).

»sehr konkreten Formen« sind nun in dem umfänglichen Textteildes § 2 in einer Weise ausgeführt, für die die Umschreibung»Epochen ihrer Entwicklung« im Sinne des Stoffverteilungsplansvon 1910 treffend erscheint. Wir haben also folgenden Befund: Indie Entfaltung der Rationalitätsthematik im ersten Paragraphen,die von der ursprünglichen Compositionsidee der Beziehung von»Recht und Wirtschaft« weit entfernt ist, wird ein massives Text-stück inseriert, das ursprünglich einmal den Raum auszufüllenvermochte, der im Bauplan von 1910 annonciert war. Der Aus-gangsparagraph und die Paragraphenfolge 3–8 aber sind demThema der Rationalisierung des Rechts verpflichtet, in der wert-mäßigen Spannung von formalem und materialem Recht, denBedingungen der Entfaltung der Eigengesetzlichkeit des formal-rationalen Rechts, das für Weber in der gemeinrechtlichen Juris-prudenz des 19. Jahrhunderts kulminierte, und den Bedingungen,die über die Rezeption des Römischen Rechts dazu geführt haben,dass nur im Okzident eine Konstellation für einen juridischenRationalismus besonderer Art entstand. Die Eigenart der okziden-talen Moderne ist – nicht zuletzt für den gelernten Juristen We-ber,19 der immer wieder auf die Bedeutung des Rechts für diesoziologische Begriffsbildung, auch der Herrschaftslehre, ver-weist20 – ohne das okzidentale Recht gar nicht zu erfassen. DieseEntdeckung Webers findet in der überlieferten Rechtssoziologieihren methodisch hoch entwickelten Ausdruck als Analyse der»Entwicklungsbedingungen des Rechts«, wie die Formulierungim Werkplan von 1914 lautet. Aber dies ist nur ein Thema desüberlieferten Textbefundes, das der ursprünglichen Frage derBeziehung von Wirtschaft und Recht in ihrer epochalen Entwick-lung buchstäblich überschrieben ist.

Dieser interpretatorische Grundbefund findet seine vollständi-ge Entsprechung in einer philologischen Detailanalyse des Textes,die dazu geeignet ist, die Vorstellung von einem einheitlichen undunwandelbaren Autorwillen endgültig zu korrigieren.

Zur Struktur des Textgewebes

Die Struktur des Textgewebes sei kurz skizziert: Das über-lieferte Manuskript weist eine Folge von 150 Blättern auf (jedeSeite auf einer Größe von ca. 21 × 33 cm). Auf dem ersten Blatt sind

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19 Vgl. hierzu Werner Gephart,Juristische Ursprünge in der Be-griffswelt Max Webers – oder wieman den juristischen Ausdrückeneinen soziologischen Sinn unter-schiebt, in: RechtshistorischesJournal 9 (1990) 343–362.

20 Vgl. Werner Gephart, JuridischeGrundlagen der HerrschaftslehreMax Webers, in: Max WebersHerrschaftslehre, hg. von Edith

HankeundWolfgangJ. Momm-sen, Tübingen 2001, 73–98.

– wie eingangs angemerkt – von Webers Hand unter einer römi-schen Ziffer IV die Worte »Ethik«, »Tabu« wie eine Kapitelüber-schrift notiert. Die in Paragraphen gegliederten Manuskriptteilesetzen jeweils mit einem nachträglich eingeschobenen, von WebersHand verfassten Überblick über den Inhalt und einer gegenüberdem Text mitunter veränderten Titelei des jeweiligen Paragraphenein. Dies gilt für die Paragraphenfolge 1–6, während die Zäsur desParagraphen 7 in den fortlaufenden Text ohne weitere Inhalts-angabe inseriert ist. Die materielle Struktur der jeweiligen Para-graphen differiert erheblich. Erst die Unterscheidung einzelnerTextgruppen erlaubt es, die Einklammerung von Sinneinheiteninnerhalb eines Paragraphen – so im § 2 – oder auch die para-graphenüberspringende Verklammerung – so der Textanschlussdes Endes von § 1, der als Seite 24 (Blatt 15 unserer Zählung)paginiert ist, in der unmittelbaren Fortsetzung des § 3 als Seite 25derselben Textgruppe (unser Blatt 95) – zu identifizieren. Typo-skriptseiten unterschiedlicher Schreiberhände wechseln sich mithandschriftlichen, ganzseitigen Ergänzungen ab, während inter-lineare Einzüge, Randglossen auf derselben Seite sowie eingeklebteAllongen das »Collagenwerk« vervollständigen. Es lassen sichverschiedene Schreibmaschinen, Schreiberhände und verwendetePapiersorten unterscheiden, Indizien, aus denen sich die Binnen-struktur des Manuskriptes erschließen lässt.

Namentlich der schließlich als § 2 zu identifizierende, 78 Blattumfassende Textteil zeigt einen komplexen Textbefund. Ein in sichzusammenhängender Zeichen- und Sinnzusammenhang bildet,über 10 Seiten mit gleicher Hand und auf gleicher Maschineerstellt, den Rahmen dieses Textteils, in den nach der zweiten Seitevier rein handschriftlich verfasste Seiten eingeschoben sind. Diesewerden mit einem neu paginierten Typoskript über 14 Seitenfortgesetzt, um mit der Seite 3 innerhalb der gleichen Textgruppebis zu einer sechsten Seite durchzulaufen. Genau in diese Text-gruppe ist nunmehr eine von eins bis sieben paginierte Typoskript-Seitenfolge eingezogen, um wiederum an die Seite 6 anzuschließenund nach der Seite 8 der Stammgruppe einem Texteinschub der 1bis 41 paginierten Seiten Raum zu geben. Die anschließendenSeiten 9 und 10 beschließen die komplizierte Textmontage. Indiesem gesamten Textgefüge sind zwei Schreiberhände zu unter-scheiden, und zwar der Schreiber der wohl nach Diktat verfasstenStammgruppe sowie derjenige der diversen wohl in Abschrift einer

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handschriftlichen Vorlage verfassten maschinenschriftlichen Zwi-schentexte. Bis auf den Grundtext dieses Paragraphen (der Seiten-folge 1 bis 10), der interlineare Einzüge, Randglossen und Allongenaufweist, sind die übrigen, offenkundig als Abschrift erstelltenTextteile ohne jede nennenswerte Korrektur oder Erweiterungvon Webers Hand.

Lässt sich dieser formale Textbefund inhaltlich deuten? Stelltder Grundtext der Textgruppe IV21 einen in sich geschlossenenSinnzusammenhang dar und lassen sich die gewaltigen Textein-schübe einer thematischen Not, einer schieren Ausfüllung undhistorischen Anreicherung des Textgerüstes zurechnen oder wer-den hierdurch möglicherweise auch Argumentationsbrüche odergar Sinnwidersprüche erzeugt? In nur exemplarischer Weise, dieerst im Editionsband (MWG I/22–3) nachvollziehbar sein wird,seien die Gewinne der Aufdeckung der verdeckten Grundschichtfür das Textverständnis veranschaulicht.

Liest man die Grundschicht der Textgruppe IV für sich imZusammenhang, dann ergibt sich das folgende durchlaufendeArgumentationsmuster:

Auf die Erörterungen von »Wirtschaft und Recht« in ihrerprinzipiellen Beziehung verweisend, kündigt Weber nunmehr dieAnalyse der »sehr konkreten Formen« der Beziehung an: »Dieserganz allgemeine Sachverhalt nimmt nun für die inhaltliche Ge-staltung des Rechts und seiner Beziehungen zur Wirtschaft sehrkonkrete Formen an.« Genau dies aber wird in der Grundschichtdes § 2 eher angedeutet als en détail ausgeführt. Weber zeigt indieser Grundschicht vielmehr, wie die Privatautonomie, von derLehre des Rechtssatzes ausgehend, rechtstheoretisch zu denkenund in ihrer kulturellen Bedeutung einzuschätzen ist. Weber argu-mentiert im Ergebnis gegen eine kapitalistische Idealisierung derVertragsfreiheit, deren effektive Ausübung an die Verfügung überProduktions- und Erwerbsmittel durch die Marktinteressentengebunden ist; er dekuvriert zugleich die marxistische Illusion ge-waltfreier Sozialität, die angesichts der »Notwendigkeit einer sehruniversellen Organisation«22 zum Scheitern verurteilt sei. EineGeschichte der privatrechtlichen Institutionen oder gar einen Blickauf die »Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands«, wie imStoffverteilungsplan angekündigt, sucht man freilich vergeblich.

Weber zeigt vielmehr, wie die Abgrenzung der Rechtssphärenunter der Garantie der Rechtsordnung dynamisiert wird, sobald

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21 Es lassen sich im Manuskript»Rechtssoziologie« insgesamt 14,im Manuskript »Die Wirtschaftund die Ordnungen« vier Text-gruppen identifizieren.

22 Manuskript »Rechtssoziologie«(Fn. 4) Blatt 93.

die Rechtsordnung selbst Rechtssätze als Ermächtigung zur Schaf-fung autonomer Ordnungen, d. h. also vertraglicher Regelungen,bereitstellt. Webers Analyse geht nun von vornherein darauf aus,das durch Rechtssatz begründete Rechtsverhältnis über die unmit-telbar verpflichteten Rechtssubjekte hinaus auf die Wirkung fürund gegen Dritte auszuweiten. Nur als rechtshistorische Exempelzur Illustration dieses rechtstheoretischen Sachverhaltes werden dieBeispiele Sklaverei, Ehevertrag oder Fideikommiss genannt, durchdie in je unterschiedlicher Weise die Rechtsstellung Dritter berührtwird. So sind Beschränkungen der Vertragsfreiheit z. B. im klassi-schen Römischen Recht dadurch gegeben, dass bestimmte, demmodernen Recht vertraute Rechtsinstitute als materieller Anspruchund justiziable Klageform gar nicht zur Verfügung stehen, wie diebeschränkte Haftung der Aktiengesellschaft, die OHG, bestimmte(privatrechtliche) Erbpachtverhältnisse, frei zirkulierende Inhaber-und Orderpapiere und die Zedierbarkeit von Forderungsrechten,während für das moderne Recht diejenigen Rechtsinstitute privat-autonomer Gestaltung entzogen sind, die als Rentenbelastung vonGrundstücken, vertragliche Regulierung sexueller Beziehungenoder auch als Ausgestaltung väterlicher und ehelicher Gewalt inder antiken Welt selbstverständlich waren. Nicht epochale Ent-wicklungen, die einem Wertewandel oder der Macht kapitalisti-scher Interessen entsprächen, sondern sehr pragmatische Gründewerden dafür benannt, dass ein Bedürfnis nach (betriebs-)kapita-listischen Rechtsinstituten in der antiken Welt nicht entstand:primär der politische, nicht gewerbliche Charakter des antikenKapitalismus. Andererseits aber bringt das ökonomische Interessenicht aus sich heraus die rechtlich tauglichen Formen, das wirt-schaftsadäquate Recht hervor; es bedarf vielmehr der Erfindungeines entsprechenden rechtstechnischen Mittels, für das die»rechtstechnische Eigenart einer Rechtsordnung, die Art der Denk-formen, mit denen sie arbeitet«,23 von Bedeutung sei. So ist esmöglich, dass im Mittelalter, und nicht im stärker rationalisiertenRömischen Recht, Solidarhaftpflichten oder die Urkunde als sym-bolischer Träger von Rechten »erfunden« wurden. Und hier liegtdie (rechts-)entwicklungsgeschichtliche Paradoxie begründet, dassdie dem modernen Kapitalismus »auf den Leib«24 geschnittenenSonderinstitute leichter auf dem Boden einer Gesellschaft entstehenkonnten, die Raum für die Entwicklung partikularer Sonderrechtebot: das okzidentale mittelalterliche Recht.

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23 Manuskript »Rechtssoziologie«(Fn. 4) Blatt 40.

24 Ebd.

Auf die rechtstheoretische Unterscheidung von Verbots-,Erlaubnis- und Ermächtigungssätzen zurückgreifend, beschreibtWeber den rechtstechnischen Effekt der Einschränkung der Ver-tragsfreiheit. Er wird nicht durch Verbotsgesetze erzielt, sondern»einfach indem es (scil. das Recht) keine Vertragsschemata und inRom keine Klageschemata für sie zur Verfügung stellt«25 oder, wiees ein Protagonist der Privatautonomie treffend formuliert: »DieRechtsordnung enthält für die privatautonome Gestaltung einennumerus clausus der Aktstypen und der durch sie gestaltbarenRechtsverhältnisse.«26

Der Gestaltungsraum der Parteiwillkür wird in einer stän-dischen Sozialordnung als einer Art Durchgangsstufe erweitert,wo »Willkür das Landrecht bricht«, solange noch kein (politischer)Verband das Rechtssetzungsmonopol erlangt hat. Dieser Mono-polisierungsprozess aber wird durch zwei der großen »rationa-lisierenden Mächte«, die Markterweiterung und die Bürokrati-sierung,27 vorangetrieben. Damit geraten nun aber doch dieMarkinteressenten ins Spiel als »Marktmachtinteressenten«, dieim »formal freien Preis- und Konkurrenzkampf auf dem Marktfaktisch Privilegierten«.28 Sie sind an der Erzeugung derjenigenVertragschemata interessiert, die am Ende vor allem ihre eigeneAutonomie fördern. Die Privatautonomie – so ließe sich der Ge-dankengang Webers resümieren – ist also lediglich eine Stütze derAutonomie der besitzenden Klassen!

Eine sozialistische Rechtsordnung freilich würde die Macht der»privaten Besitzer der Produktions- und Erwerbsmittel«29 durcheine zentral regulierende Instanz ersetzen müssen, also keineswegsden Zwangscharakter rechtlicher Regulierung aufheben. Und ent-sprechend sei umgekehrt die rechtsgeschäftliche »Dezentralisationder Rechtsschöpfung«30 keine Minderung des Zwangs im Ver-gleich zu einer sozialistischen Rechtsordnung.

Damit enthält die Grundschicht des späteren § 2 der sog.Rechtssoziologie, die das Motiv des Stoffverteilungsplans auf-nimmt, nämlich die Beziehung von »Wirtschaft und Recht« als»Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands« oder – wie dererste Satz dieses Textes lautet – die »sehr konkreten Formen« dieserBeziehung, folgende Leitthemen: Es bedarf der juristischen Formenfür die privatautonome Gestaltung der Lebensverhältnisse, derenCharakter vom Träger des Kapitalismus: Staat oder Wirtschaft,und vom Grad der Monopolisierung der Rechtssetzungsmacht

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25 Manuskript »Rechtssoziologie«(Fn. 4) Blatt 48.

26 Werner Flume, Allgemeiner Teildes Bürgerlichen Rechts, Bd. 2:Das Rechtsgeschäft, Berlin, Hei-delberg, New York 1965, 2.

27 Manuskript »Rechtssoziologie«(Fn. 4) Blatt 49.

28 Ebd.29 Manuskript »Rechtssoziologie«

(Fn. 4) Blatt 92.30 Ebd.

abhängen, aber auch von der Eigenart der juristischen Denkfor-men, die kein bloßer Reflex von Klasseninteressen sind, auch wenndie Marktinteressenten die Entwicklung neuer Rechtsinstituteschließlich entscheidend vorantreiben. Mithin sind die Leitmotiveder späteren Analyse von »Entwicklungsbedingungen des Rechts«benannt. Von »Epochen« oder den »sehr konkreten Formen« derBeziehung von Wirtschaft und Recht ist dies jedoch noch weitentfernt.

Daher lohnt es sich zu beobachten, wie Weber diesen Grund-stock seiner Argumentation, in dem die Eigengesetzlichkeit recht-licher Rationalisierung aufscheint, aber die Religion als wirklich-keits- und wertbestimmende Macht des Gemeinschaftshandelnsnoch gar nicht in den Blick gerät, sukzessive ausfüllt und imWeiteren überschreitet.

Das erste Blatt des dritten Paragraphen führt das Ende desersten Paragraphen (Seite 24) mit einer Seite 25 fort, so dass dergesamte § 2 in diese Textgruppe eingeschoben erscheint. Bis zueiner Seite 28 fortlaufend, schließt nun eine neue Paginierungsfolge1–6 an, an die nach der dritten Seite, die Seitenzählung zunächstfortführend, 6 Seiten angefügt sind, um mit den Seiten 4–6 diefrühere Zählung wieder aufzunehmen. Es ist bemerkenswert, dassdiese erste Seite31 eine Paragraphenüberschrift aufwies – »Dasprimitive Recht« bzw. »Die primitive Rechtspflege« –, was indem Moment hinfällig wurde, als Weber die grundsätzliche Fragenach der Entstehung von Rechtsnormen voranstellte. Im Übrigenlassen sich auch in diesem Paragraphen Indizien für eine Typo-skripterstellung nach Diktat bzw. nach Vorlage unterscheiden.

Der vierte Paragraph ist aus einer von Seite 1 bis 9 durch-laufend paginierten Typoskriptseitenfolge gebildet, die durchRandglossen, interlineare Einzüge und umfängliche, die religions-soziologische Argumentation vertiefende Allongen erweitert ist.Als Beispiel für die Webersche Collagentechnik lässt sich z. B.zeigen, wie die Seite 6 um einen Absatz durch Herausschneidengekürzt wird, der textversetzt auf der Seite 7 als rechtsseitigeAllonge eingeklebt ist. Diese Textgruppe läuft nun von § 4 biszum Ende des uns überlieferten Textes durch, in der Seitenzählungvon 1 bis 26 fortlaufend über die §§ 5 und 6 bis zum Ende des § 7.Die Paragrapheneinschnitte werden jeweils durch nachträglicheingelegte Blätter markiert, während der siebente Paragraph –wie erwähnt – ohne eingeschobene Inhaltsangabe als bloßer inter-

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linearer Einzug den Textverlauf unterbricht. Während also § 1 und§ 3 über den gleichen Zeichen- und Sinnzusammenhang von Dif-ferenzierung und Genese des juristischen Rationalismus verklam-mert sind, der umfängliche § 2 die »Epochen der Entwicklung desheutigen Zustands« von »Wirtschaft und Recht« im Sinne derersten Compositionsidee zumindest skizziert, sind die §§ 4 bis 7 aufdie Entwicklungsbedingungen des Rechts im interkulturellen undinterreligiösen Rechtsvergleich gerichtet. Insofern also wird eineParallelität zwischen der Materialität des Textgefüges und denCompositionsideen der unterschiedlichen Konzepte, des Stoffver-teilungsplans von 1909/10 einerseits und des Werkplans von 1914andererseits, sichtbar, die gleichwohl am Ende zu einer durchParagraphenfolge, Überschriften und Inhaltsverzeichnisse vomAutor so gemeinten Sinneinheit verbunden sind.

Auch auf der Ebene der hier nicht darzustellenden Textver-weise, aus der ein japanischer Weberforscher (Hiroshi Orihara)eine eigene Wissenschaft zu machen sucht,32 bestätigt den Befund:Die überlieferte »Rechtssoziologie« lässt sich in unterschiedlicheElemente dekomponieren, die nicht zufällig variieren, sondernmindestens den beiden genannten Compositionsideen zugerechnetwerden können.

Entzauberung des Entzauberers?

Was diese Dekonstruktion des Textes für das Verständnis von»Wirtschaft und Gesellschaft« bedeutet, ist die abschließendeFrage, der ich mich zuwenden will. Die Herausgeber der MWGhaben sich dazu entschlossen, »Wirtschaft und Gesellschaft« insechs (!) Teilbänden erscheinen zu lassen. Dies darf jedoch dieFrage nach der Einheit des vielfach fragmentarisch überliefertenTextbestandes nicht überdecken. Der Wille des Autors zum Wissenüber die soziale Welt von »Wirtschaft und Gesellschaft« zeigt sichauch in der Entwicklung von kompositorischen Grundideen fürseinen Beitrag zu dem gleichzeitig von ihm als ideellem Gesamt-redakteur betreuten »Grundriss der Sozialökonomik«. Der einzig-artige »Textzeuge« der Manuskripte, die in einem Band »Recht«(MWG I/22-3) ediert werden, liefert über den Text hinausweisen-de Deutungen für das genetische Verständnis der übrigen Teile von»Wirtschaft und Gesellschaft«. Er zeigt, dass Webers Gliederungs-

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32 Vgl. u. a. Hiroshi Orihara, EineGrundlegung zur Rekonstruktionvon Max Webers »Wirtschaft undGesellschaft«. Die Authentizitätder Verweise im Text des »2. und3. Teils« der 1. Auflage, in: KölnerZeitschrift für Soziologie und So-zialpsychologie 46 (1994) 103–121.

projekte nicht einfach Phantasieprodukte zur Beschwichtigungeines drängenden Verlegers sind, sondern wohldurchdachte stra-tegische Orientierungen wiedergeben, in deren Licht wir hinter dieglänzende Fassade der Texte schauen können. Wir kennen nun denProzess der Verfertigung der Gedanken beim Schreiben, Collagie-ren, Allongieren, Gruppieren, Coupieren und Redigieren anhandder Materialität des durch glückliche Umstände erhaltenen Ma-nuskriptes. So schwillt die Blattfolge von 10 Schreibmaschinen-seiten als Basistext des § 2 der Rechtssoziologie auf nahezu denzehnfachen Umfang an, um dann gleichwohl seine textuelle undmateriale Selbständigkeit zu verlieren, indem auch dieser Texteinem noch weiter reichenden Zeichen- und Sinnzusammenhangeinverleibt wird.

Welche Qualen für Weber mit dieser Arbeit verbunden waren,sollten wir bei alledem nicht vergessen: Sie sei – so schreibt er anden Verleger im Juli 1914 – »das Unglück seines Lebens«,33 und erverbittet sich jede Nachfrage seitens des Verlegers während des›Großen‹ Krieges: »Wie soll denn nur daran gedacht werden, daßich jetzt auch nur eine Zeile meiner ›Soziologie‹ druckfertig stelle,korrigiere etc.«?34 Dieses unendliche Leiden am Text kreuzt sichmit der Ahnung von der Grandiosität seines Schreiber-Ichs, wenner etwa schreibt: »Ich hoffe, der große Artikel: ›Wirtschaft, Gesell-schaft, Recht und [Staat]‹ wird das systematisch Beste, was ichbisher geschrieben habe […]«,35 und am Ende dieses Jahresenthusiastisch formuliert: »Ich darf behaupten, daß es noch nichtsdergleichen giebt, auch kein ›Vorbild‹.«36

Diese von vielen geteilte Selbsteinschätzung Webers sollte unsfreilich nicht daran hindern, das Projekt der Entzauberung auf dengroßen soziologischen Entzauberer und seine Texte selbst anzu-wenden. In welcher Form der Präsentation den hier beschriebenenEntdeckungen auch editorischer Ausdruck verliehen wird, ist andieser Stelle nicht zu erörtern. Nur: Wie wichtig es ist, dem Leserüberhaupt einen aufklärenden Einblick in die Werkstatt MaxWebers zu gewähren – mit den philologischen Mitteln einer sozio-logisch orientierten Arbeit am Text –, mag deutlich geworden sein.

Auf unsere Ausgangsfrage nach der »Einheit« der »Rechts-soziologie«, der Kronman gerade den Werkcharakter absprechenmöchte, scheint mir folgende Antwort angemessen: Es ist nichtverfehlt, in Webers Behandlung des Rechtsphänomens auch eineArt Geschichte rechtlicher Institutionen zu sehen. Es ist jedoch

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33 Brief Max Webers an Paul Siebeckvom 27. Juli 1914, MWG II/8(Fn. 15), 775 f. (776).

34 Brief Max Webers an Paul Siebeckvom 21. Febr. 1915, ebd.

35 Brief Max Webers an Paul Siebeckvom 8. Febr. 1913, MWG II/8(Fn. 15), 86 f. (87).

36 Brief Max Webers an Paul Siebeckvom 30. Dez. 1913, ebd., 448–450 (450).

ebenso zutreffend, Webers Behandlung der Rechtsmaterie als einParadigma des Rationalisierungsprozesses zu sehen, in dem unter-schiedliche Kräfte auf die »Entfaltung der Eigengesetzlichkeit« desRechts einwirken. Diese Eigengesetzlichkeitsthese sperrt sich imÜbrigen gegen einen soziologischen Reduktionismus, wie er von»Rechtssoziologen« in der Folge Eugen Ehrlichs betrieben wird.Gerade weil Weber scharf zwischen dem juristischen und demsoziologischen Rechtsbegriff scheidet, ist er in der Lage, die fakti-sche Kraft normativer Erwartungsgefüge für die Herstellung sozia-ler Ordnung zu erfassen und andererseits die innere Struktur desRechts von den kontingenten Erwartungsinhalten der Rechtsinte-ressenten unabhängig zu denken. Schließlich kann man WebersManuskript auch als eine paradigmatische Studie über die Kultur-bedeutung des Rechts lesen. Denn die »Rechtssoziologie« zeigt, wiedie Rechtskulturen in ihrer Entwicklungsrichtung wesentlich durchreligiöse Ethiken beeinflusst werden, umgekehrt aber nicht minderals wichtiger Bedingungsfaktor religiöser und politischer Entwick-lung wirken. Und wie zumal die okzidentalen professionellen›Rechtsideologen‹ eine Kultur des formalen Rechtsrationalismusschaffen, die jene Herrschaft des Rechts etabliert, welche im anglo-amerikanischen Rechtskreis unüberbietbar als »rule of law« be-zeichnet ist.

Analyse und Systembildung, fallbezogene Konkretisierung undjuristische konstruktive Begriffsbildung bleiben für Weber dieFluchtpunkte rechtlicher Rationalisierung. Er sieht dabei denKonflikt zwischen formaler Legalität und materialer Gerechtigkeit.Eigentümlicherweise hat er den normativen Eigenwert formalerRechtsstaatlichkeit nicht deutlich ausgewiesen,37 und auch nichtdas Unrecht vorausgeahnt, das im Namen materialer Gerechtigkeitausgesprochen werden wird, sei es in der nationalsozialistischenMissachtung des Rechts als Limitierung charismatischer – prinzi-piell rechtsfeindlicher – Herrschaft oder aber in der »sozialistischenGerechtigkeit«, die, vom Ideal normfreier Sozialität ausgehend, dasRecht geringschätzt.

Widersprechen sich diese Deutungen oder darf man etwas überdie »Einheit« der Weberschen Texte zum Recht trotz ihrer Ver-werfungen, kompositorischen Wandlungen und thematischen Wu-cherungen sagen? Man wird die »Rechtssoziologie« künftig nichtmehr naiv lesen können, sondern mit Hilfe des edierten TextesZurechnungen auf unterschiedliche Konzepte vornehmen können,

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37 Auch im Glauben von Habermasan eine juridisch prozessierende

Vernunft, die in der Civil Societywirklich wird, begegnet uns dieseunzureichende Würdigung des»Rechtsformalismus« wieder:Nachdem in der Theorie deskommunikativen Handelns nochdie These einer unausweichlichenKolonisierung der Lebensweltdurch Recht als »Medium« ver-treten wurde (vgl. hierzu meineKritik in: Gesellschaftstheorie undRecht. Das Recht im soziologi-

schen Diskurs der Moderne,Frankfurt am Main 1993), kehrtdas Recht in der kommunikativenRechtslehre nun in seiner reinenFormalität wieder, die jeder mate-rialen Heiligkeit entkleidet ist: dasRecht wird zum Garanten derkommunikativen Vernunft selbst(Jürgen Habermas, Faktizitätund Geltung. Beiträge zur Dis-kurstheorie des Rechts, Frankfurtam Main 1992).

die sich am Ende doch zusammenfügen: So lässt sich die »Einheit«als eine historisch-vergleichende Kultursoziologie des Rechts inuniversalhistorischer Perspektive bestimmen, die es gestattet zubegreifen, welche Wertigkeit die normative Ordnung des Rechts,jenseits der bloßen Garantie sozialer Ordnung, besitzt. Und diesgerade auch im Blick auf eine normative Idee des formal-rationalenRechts, für die Weber in großer Klarheit und Entschiedenheiteinsteht.38

Es bleibt noch etwas nachzutragen: Was hat es mit der merk-würdigen Überschrift auf dem Deckblatt des Manuskriptes aufsich? Es gibt hierfür nur eine Erklärung: »Ethik«, »Tabu« muss dieKapitelüberschrift eines anderen Werkstücks des Weberschen›Torso‹ sein. Eine sinnverwandte Überschrift findet sich in derspäteren, nach dem Muster der »Rechtssoziologie« in Paragraphengegliederten »Religionssoziologie« wieder, und zwar in »§ 3. Got-tesbegriff. Religiöse Ethik. Tabu«.39 Auch dieses zum Deckblattder »Rechtssoziologie« von den posthumen Herausgebern um-funktionierte oder einfach nur verlegte Titelblatt eines Kapitelsder »Religionssoziologie« ist also beredt: Der Blindgänger lässtsich als Zeichen der engen intertextuellen Bezüge von Rechts- undReligionssoziologie lesen, die in der historisch-kritischen Ausgabedes Bandes »Recht« (MWG I/22–3) en détail dargelegt sein wird.Ich lese sie als Zeichen der normativen Ordnungsbasis von Rechtund Religion als Grundsphären der Moderne.

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38 Hierhin gehört auch die biogra-phische Frage von Webers per-sönlichem Verhältnis zum Recht,unabhängig von seiner juristischenSozialisation und einer tempera-mentsmäßig bedingten Streitlust.Ich meine Webers Empörung beiRechtsverletzungen, wie sie geradeim Familienrecht des Wilhelmini-schen Reiches auftraten.

39 Zu der Auffassung, dass die Zwi-schenüberschriften und Inhalts-

verzeichnisse des Nachlasskon-voluts von »Wirtschaft und Ge-sellschaft« überwiegend auf dieErstherausgeber, namentlich Mel-chior Palyi, zurückgehen, vgl.Wolfgang J. Mommsen, ZurEntstehung von Max Webers hin-terlassenem Werk »Wirtschaft undGesellschaft. Soziologie«, Europä-isches Zentrum für Staatswissen-schaften und Staatspraxis, Discus-sion Paper Nr. 42, Juni 1999, 13 ff.

Die Zuordnung dieser Manu-skriptseite belegt freilich, dassselbst dies nicht reine Erfindungenwaren, sondern dass Weber hier-für durchaus Vorlagen produzierthatte.