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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts R g geschichte Rechtsgeschichte www.rg.mpg.de http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg18 Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 18 (2011) http://dx.doi.org/10.12946/rg18/162-184 Rg 18 2011 162 – 184 Osman Can Das türkische Verfassungsgericht als Wächter der Raison d'État Dieser Beitrag steht unter einer Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0

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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts Rggeschichte

Rechtsgeschichte

www.rg.mpg.de

http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg18

Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 18 (2011)

http://dx.doi.org/10.12946/rg18/162-184

Rg182011 162 – 184

Osman Can

Das türkische Verfassungsgericht als Wächter der Raison d'État

Dieser Beitrag steht unter einer

Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0

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Das türkische Verfassungsgerichtals Wächter der Raison d’État

I. Einführung

Auf dem Höhepunkt der preußischen Verfassungskrise von1862 hielt Lassalle in Berlin eine Rede »Über Verfassungswesen«,in der er Verfassungen als Ausdruck der realen Machtverhältnisseinterpretierte. Am Ende seiner Rede heißt es wörtlich: »Verfas-sungsfragen sind ursprünglich nicht Rechtsfragen, sondern Macht-fragen; die wirkliche Verfassung eines Landes existiert in den realentatsächlichen Machtverhältnissen, die in einem Lande bestehen,geschriebene Verfassungen sind nur dann von Wert und Dauer,wenn sie der genaue Ausdruck der wirklichen in der Gesellschaftbestehenden Machtverhältnisse sind – das sind die Grundsätze, diesie festhalten wollen.«1

Heutzutage versucht die Gesellschaft in der Türkei, ihre erste»zivile« Verfassung überhaupt auszuarbeiten. Wenn man inner-halb von 88 Jahren von vier verschiedenen Verfassungen (denVerfassungen von 1921, 1924, 1961 und 1982) spricht und dabeivor der Tatsache steht, dass die türkische Gesellschaft zum erstenMal in ihrer Geschichte aus freiem Willen sich eine Verfassung gibt,die dem Ideal des Contrat social zu entsprechen vermag, dann istes notwendig, über die realen Machtverhältnissen des Landes zusprechen.

Die Frage, ob eine Verfassung Ausfluss der realen Machtver-hältnisse oder darüber hinaus auch Produkt eines demokratischenProzesses sein soll, gibt sicher Hinweise auf die Legitimität undsomit den Erfolg der jeweilig gültigen Verfassungen. Auch dieFrage, was das Verfassungsgericht bislang in der Türkei tatsäch-lich geschützt hat, hängt eng damit zusammen, ob die Raisond’État der Ausfluss eines von der Gesellschaft getragenen Staatesist oder eines Staates, der die Interessen einer bestimmten Gruppeumsetzt und sich dementsprechend ideologisch legitimiert.

Die Türkei hat, gemessen an den Kriterien der gesellschaft-lichen Pluralität und der demokratischen Kultur, eine besondereStellung in der islamischen Welt und sogar eine Führungsrolle.Ob sie jedoch diese auch hinsichtlich ihrer verfassungsmäßigenOrdnung und der Verfassungsgerichtsbarkeit in Anspruch nehmen

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1 Ferdinand Lasalle, Reden undSchriften, hg. von Hans JürgenFrederici, Leipzig 1987, S. 147.

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kann und Vorbild in der Rechtsvergleichung unter ihren Nachbarnzu sein vermag, ist eine andere Frage.

Hauptanliegen dieser Abhandlung ist es, diese Fragen anhandder Machtverhältnisse, die die Verfassung gegeben und die Ver-fassungsgerichtsbarkeit zustande gebracht haben, und anhand derStruktur des Verfassungsgerichts und seiner Rechtsprechung zubeantworten.

II. Gründung des Verfassungsgerichts

Das türkische Verfassungsgericht wurde von der Verfassungvon 1961 als Sondergericht etabliert, um ausschließlich die Über-einstimmung von Gesetzen mit der Verfassung zu überwachen.Nach den Verfassungsgerichten von Österreich, Italien undDeutschland ist es das vierte Verfassungsgericht in Europa, dasentsprechend dem kelsenianischem Modell funktionieren sollte.Ein weiteres Merkmal dieser Institution ist es, dass sie in einemLand gegründet wurde, das zwar muslimisch ist, aber der euro-päisch-christlichen Verfassungskultur zumindest formell folgt.

Doch trotz formaler Ähnlichkeit ist es klar, dass die politischenBedingungen und die Machtverhältnisse, auf denen die türkischeVerfassungsgerichtsbarkeit beruht, sich im Wesentlichen von denender europäischen unterscheiden. Die weitverbreitete Meinung, dassdas Verfassungsgericht seit seiner Gründung ausschließlich derpolitischen Tendenz gefolgt sei, die demokratische politische Arenazu Gunsten der Bürokratie einzuschränken, kann nur als Symptomdieser Tatsache verstanden werden.2 Besonders in den Zeiten, indenen die militärische oder zivile Bürokratie aufgrund der demo-kratischen Entwicklungen ihre Effektivität verliert oder konjunk-turbedingt zurückweicht, tritt an ihre Stelle im Allgemeinen dieJustiz, speziell das Verfassungsgericht durch kritische Entscheidun-gen. Allein die türkischen und ausländischen Medien zwischen2006 und 2010 geben dafür schlüssige Hinweise. Warum euro-päische Institutionen, die ein demokratisches Funktionieren garan-tieren, in der Türkei eine entgegengesetzte Rolle spielen, lässt sichkaum verstehen ohne eine Einführung in die türkische politischeGeschichte.

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2 Statt vieler siehe Ceren Belge,Friends of the Court: The Repub-lican Alliance and Selective Acti-vism of the Constitutional Courtof Turkey, in: Law & Society Re-view 40/3 (2006) 653–692, be-sonders 667; Zühtü Arslan,Conflicting Paradigms: Politics ofTurkey’s Constitutional Court, 11Critique: Critical Middle EasternStudies, 9–25; Mehmet Turhan,Degisen Egemenlik Anlayi

.si.ni.n

Hak ve Özgürlüklerin Korunma-si.na Etkileri ve Türk Anayasa

Mahkemesi, in: Anayasa Yargi.si.

20 (2003) 215–248; vgl. ArtunÜnsal, Siyaset ve Anayasa Mah-kemesi, Siyasal Sistem TeorisiAçi

.si.ndan Türk Anayasa Mahke-

mesi, Ankara 1980.

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1. Politische Dimension

Die aktuelle Verfassung der Türkei ist ihre fünfte Verfassung,wobei die erste gegen Ende des Osmanischen Reichs 1876 oktro-yiert wurde. Diejenige mit dem kürzesten Text und der kürzestenGeltungsdauer, die Verfassung von 1921, ist die einzige Verfassungin der türkischen Geschichte, die eine relativ demokratische Legiti-mität genoss.3

Bis zum Jahr 1999, als die Türkei die Kandidatur für die Mit-gliedschaft in der EU erhielt, war die Demokratie weder ein Endzielnoch ein Eckpfeiler für die türkische politische Elite. Dennoch istbekannt, dass, wenngleich aufgrund ausländischer Interventionen,seit dem Imperialedikt von 1839 (Tanzimat Fermani) im Osma-nischen Reich freie Wahlen stattfanden.4 Die erste Verfassung(Kanunu Esasi) sah erwartungsgemäß keine Verfassungsgerichts-barkeit vor. Sie war weder unmittelbar noch mittelbar vom Volkgegeben.5 Die Verfassung und das ganze politische System wurdevon den Bürokraten getragen, die sich die Mission gaben, den»kranken Mann am Bosporus« zu heilen und dementsprechend diepolitischen Grundentscheidungen zu treffen. Es gab keine bürger-liche Klasse und somit auch keine Arbeiterklasse, nur die zivilenund militärischen Bürokraten, die wie ihre Kollegen im modernenEuropa ausgebildet waren. Es ist deshalb verständlich, dass sie sichin der Türkei zur politischen Herrscherklasse entwickeln und alsRetter des Vaterlandes fungieren konnten.

Die Verfassung von 1876, die der Sultan nach kurzer Zeitaussetzte, wurde nach dem Widerstand von der Einheits- undFortschrittspartei (ITC – Ittihat Terakki Cemiyeti) 1908 wiederin Kraft gesetzt. Diese Partei wurde von einer Gruppe von Studen-ten an der militärischen Hochschule für Medizin gegründet. IhreStifter und späteren Mitglieder waren nationalistisch, zum Teilethno-zentrisch orientiert. Nach der Machtübernahme und derAusschaltung der politischen Opposition wie der Liberalen Partei(Osmanli Ahrar Firkasi) aufgrund eines inszenierten Aufstandes(»31. März«-Bewegung) sicherte die ITC 1909 ihre Machtpositiondurch weitreichende Verfassungsänderungen. Die kurze Phase derPluralität und Freiheitlichkeit endete mit dem von der sich kon-tinuierlich militarisierenden ITC vollzogenen Staatsstreich von1913. Die Partei zog das Land durch einen Überfall auf Russlandin den 1. Weltkrieg hinein. Zwar verlor sie nach dem Krieg ihre

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3 Siehe dazu Bülent Tanör, Os-manli

.-Türk Anayasal Gelismeleri,

I.stanbul 1992, 187.

4 Mehmet Ö. Alkan, Türkiye’deSeçim Sistemi Tercihinin MisyonBoyutu ve Demokratik GelisimeEtkileri, in: Anayasa Yargi

.si.

23(2006) 138.

5 Recai Galip Okandan, AmmeHukukumuzun Anahatlari

., I

.ÜHF

Yay., I.stanbul 1968, 146.

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Machtstellung, ihre Funktionäre und weitere Offiziere gingen abernach Anatolien und organisierten den Widerstand. Der erfolgrei-che Unabhängigkeitskrieg gegen die Griechen ermöglichte es ihr,das befreite Vaterland politisch nach ihrer Vorstellung von Grundauf zu gestalten.6

Diese Bewegung verstand sich selbst als Begründer eines natio-nalistisch-revolutionären Systems. Parallel zu den globalen Trendsund nach dem Vorbild der aufsteigenden faschistischen und natio-nalsozialistischen politischen Systeme in Mitteleuropa sah sie dieethnische Säuberung der sozialen und wirtschaftlichen Strukturenals Schlüssel zur Rettung des Landes. Zu den grundlegenden Eigen-schaften dieser zentralistischen, nationalistischen, ethnischen undauf Ablehnung von Pluralität basierenden Bewegung gehörte dieModifizierung der »alten« Überzeugungen für die Errichtung einer»neuen« nationalen Identität. So wurde die Religion nicht ab-gelehnt, sondern in ihrer neuen Bedeutung von der Bürokratie alsHebel zur Unterstützung des Nationalstaates gegen die religiösenMinderheiten verstanden und angewandt.

Das System der Republik Türkei, 1923 gegründet, kann nichtaußerhalb der politischen und ideologischen Präferenzen der mili-tärischen und zivilen Bürokratie in Form einer oberflächlichenVerwestlichung und Modernisierung verstanden werden.7 IhreGründer und politischen Führer gehörten zu den leitenden Persön-lichkeiten der ITC. Dies könnte erklären, warum sich der ideo-logische und systematische Aufbau der jungen Republik vondemjenigen der ITC nicht unterscheiden konnte. In diesem Zusam-menhang verstand sich die von den Gründungsvätern initiierteRepublikanische Volkspartei (CHP – Cumhuriyet Halk Partisi)genauso wie ITC als Staatspartei,8 hatte dieselbe Neigung zurAlleinherrschaft,9 was ununterbrochen bis 1950 dauerte.10 Ge-nauso wie ihre Vorgängerin verbot auch diese Partei alle opposi-tionellen politischen Parteien, u. a. im Jahre 1925 die erste liberaleund dezentralistische Partei, die Progressive Republikpartei (TCP –Terakkiperver Cumhuriyet Partisi).11 Trotz der Verfassung von1924, die, wenngleich nur formal, eine Reihe von Freiheiten aner-kannte, wurde nach 1933 jegliche Opposition beseitigt. Parallel zuden totalitären Praktiken wurde die Presse in ein Instrument derideologischen Propaganda umgewandelt.12 Die Justiz, von der kei-ne Mission zu erwarten war13 außer der Verteidigung der Revolu-tion, wurde entsprechend dieser Ideologie geprägt.14 Das durch

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6 Erik J. Zürcher, TerakkiperverCumhuriyet Fi

.rkasi

., I

.stanbul

1992, 23 vd.7 Mümtaz Soysal, 100 Soruda

Anayasani.n Anlami

., 10. Baski

.,

Ankara 1993, 28.8 Laut Art. 95 der Satzung der CHP

aus dem Jahre 1935 »erkennt diePartei an, dass die Regierungs-struktur aus dem Inneren undGeiste der Partei entstanden ist,und ihre eigene Organisation als

sich vervollständigende Einheit[…]«. In der Tat war während derEinpartei-Diktatur nicht die Ver-fassung von 1924, sondern dieParteisatzung die Grundlage, wel-che den Rahmen des politischenGeschehens bestimmte. SieheTaha Parla, Türkiye’de Anaya-salar, 4. Baski

., I

.letisim Yay.,

I.stanbul 2007, 26 ff.

9 Mete Tunçay, Türkiye Cumhu-riyeti’nde Tek Parti Yönetiminin

Kurulmasi., 1923–1931, 4. Basi

.,

I.stanbul 2005, 152 ff.

10 Erik J. Zürcher, Turkey – AModern History, London, NewYork 2004, 177.

11 Erik J. Zürcher, TerakkiperverCumhuriyet Fi

.rkasi

., I

.stanbul

1992, 119 ff.12 Nermin Abadan, Basi

.n ve Ha-

berlesme Hürriyeti, in: Türkiye’deI.nsan Haklari

.Sempozyumu, An-

kara 1970, 96.13 Bülent Tanör, Osmanli

.-Türk

Anayasal Gelismeleri, I.stanbul

2004, 308.14 Osman Can, Die Unabhängigkeit

der Richter in der Türkei, in:»Justice – Justiz – Giustizia«(Schweizer Richterzeitung) 2006/2; Seref Ünal, Anayasa HukukuAçi

.si.ndan Mahkemelerin Bagi

.m-

si.zli.gi.

ve Hakimlik Teminati., An-

kara 1994, 70 ff.

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Show-Wahlen gebildete Parlament erinnert an das sowjetischeSystem; es wurde zu einem Mechanismus der zivilen Flügel derBürokratie degradiert. Der Verfassung von 1924, die von solcheinem Parlament verabschiedet wurde, fehlte die demokratischeLegitimation. In dieser auch als »impliziter Faschismus« bezeich-neten Ära15 machte die CHP aus ihren ideologischen Grundsätzenverfassungsrechtliche Grundsätze,16 wurde das ganze Rechtssys-tem der eigenen politischen Struktur nachgebildet.17 Die Rezeptionder europäischen Gesetze wurde eher als Mittel für dieses Zielzweckentfremdet. All das hinderte die Partei nicht daran, sich als»demokratisch«18 und »Ausfluss der nationalen Souveränität«19

zu verstehen.Nach dem Sieg der Demokratien im Zweiten Weltkrieg wurde

die Notwendigkeit des Übergangs zu einem Mehrparteien-Systemerkannt; die Gründung von Oppositionsparteien wurde jedoch vonder herrschenden Elite ohne Änderung auf der Verfassungsebenezugelassen.20 Auf diese Weise entstand eine Situation, dass diePartei, die im Alleingang die ganze verfassungsmäßige Ordnungnach eigener Vorstellung geschaffen hatte und auch alleinige Herr-scherin über den Haushalt war (weshalb jahrzehntelang alle staat-lichen Einnahmen zugleich Parteieinnahmen bedeuteten), zusam-men mit neugegründeten Parteien ins politische Rennen ging.Weder wurde die Verfassung auf ein Mehrparteiensystem abge-stimmt, noch wurde die Bürokratie, die sich auch als Parteifunk-tionärin verstand, reformiert. Mit klaren Worten: Die Staatsparteikonkurrierte mit anderen, von einfachen Bürgern gegründetenParteien, die sich jedoch innerhalb der ideologischen Grenzen zubewegen hatten, die wiederum von der Staatspartei gezogen waren.Dass die Staatspartei (CHP) die Gründung anderer Parteien auchim Vertrauen darauf zuließ, alles Politische kontrollieren undsteuern zu können, liegt auf der Hand. Spätere Entwicklungenbeweisen, dass dies nicht als ein Übergang zu einem Mehrparteien-system bezeichnet werden kann.

Die Legitimation des Systems war begrenzt auf die urbani-sierten Staatszentren, die ideologisch homogene und recht sterileUmgebungen waren und nur 25%21 der ganzen Gesellschaft aus-machten.22 Dieser Teil der Gesellschaft arbeitete ständig mit derzivilen und militärischen Bürokratie zusammen und wurde bei derStaatsmittelvergabe bevorzugt, so dass aus diesem Milieu auch die

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15 Tunçay (Fn. 9) und die dortigenVerweise. In einer 1936 an derUniversität Jena vorgelegten Dis-sertation wird mit Stolz daraufhingewiesen, dass die türkischeRevolution der nationalsozialisti-schen in Deutschland gleicht. SieheZahit Kasim Özbulak, Das tür-kische Verfassungssystem, zgl.Diss. Universität Jena, Berlin1936, 70.

16 Nach den Verfassungsänderungenvom 5.2.1937, Gesetz Nr. 3115,wurde die Türkei zu einem repub-likanischen, nationalistischen,populistischen, etatistischen, lai-zistischen und revolutionärenStaat. Diese Änderung war ein Er-folg des nach dem Tod Atatürksden Staat kontrollierenden radi-kalen Flügels der Partei, in derParteigeneralsekretär, Minister-präsident und Innenminister Re-cep Peker, bekannt für seine Vor-stellung eines faschistischen Staa-tes, eine führende Rolle spielte undder Partei ihren ideologischenCharakter gab. Diese Prinzipienwurden später von der Partei unddem Militär als »Prinzipien Ata-türks« abgesegnet und in den Ver-fassungen, Gesetzen und zahl-reichen Rechtsdokumenten alsderen unantastbarer und unab-änderbarer Gehalt festgelegt.Rumpf stellt fest, dass diese Ideo-logie in ihrer Rigidität bei näheremHinsehen eher an Verfassungensozialistischer Staaten erinnert,Christian Rumpf, Wo steht dietürkische Verfassung, in: Fest-schrift für Ali Ülkü Azrak zum75. Geburtstag, hg. von Sayhanund Karlikli, Istanbul 2008, 282.

17 Ähnlich Taha Parla, The Socialand Political Thought of ZiyaGökalp, Leiden 1985.

18 Unter Demokratie verstand eineder führenden Persönlichkeiten,der damalige Justizminister undideologische Vater der türkischenRichterschaft, Mahmut Esat Boz-kurt, folgendes: »Ein deutscherHistoriker sagt, dass sowohl derNationalsozialismus als auch derFaschismus nichts weiter seien alseine mehr oder weniger modifizier-te Version des Mustafa Kemal Re-gimes. In der Tat. Eine sehr zutref-fende Ansicht. Kemalismus ist eineautoritäre Demokratie, so dass sieihre Wurzeln im Volke hat. Die tür-

kische Nation ist wie eine Pyrami-de, der Boden ist das Volk, die Spit-ze bildet der das Volk verkörpern-de Kopf, den wir Führer nennen.Der Führer bezieht seine Autoritätvom Volke. Demokratie ist nichtsanderes als das.« Mahmut EsatBozkurt, Atatürk I

.htilali, Neu-

druck der Auflage 1940, Istanbul2003, 87. Die Verbundenheit derRichterschaft mit Bozkurt ist sotief, dass die kleinsten Kritiken,selbst in Parlamentssitzungen,

schwer bestraft werden. Vgl. dieEntscheidung des 17. Zivilgerichtserster Instanz vom 22.3.2003,Rs. 2002/634, Ents. 2003/861.

19 Recep Peker, Rede auf der4. Parteigeneralversammlung.M. Ö. Alkan, Milli Sef’li Tek-Parti Döneminde Seçimler – 1939ve 1943 Seçimleri, in: BülentTanör Armagani

., hg. von M. Ö.

Alkan, I.stanbul 2006, 360.

20 Die einzige Änderung bestand da-rin, dass man anstelle von »offene

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ersten Reichen des Landes hervorgingen, die dieselbe politischeLinie unterstützten. Sie waren keine Bourgeoisie im eigentlichenSinne, doch entwickelten sie sich zu einer Klasse, die jeder militäri-schen Intervention zivile Unterstützung leistete.23 Deshalb bedeutetder Übergang zum Mehrparteiensystem eigentlich nichts weiter alsdie Duldung der Opposition von vom System ausgeschlossenengesellschaftlichen Schichten durch eine Koalition, welche aus denprivilegierten Teilen der Gesellschaft, des Militärs, der Universitä-ten und der Justiz bestand.

Die soziale Opposition, die außerhalb des politischen Gesche-hens geblieben war, erlangte 1950 mit großer Mehrheit die gesetz-gebende Gewalt durch die Demokratische Partei (DP – DemokratParti).24 Diese Periode, in der die DP 1950 mit 53%, 1954 mit58% und 1957 mit 48% Stimmen mit der Regierungsbildungbeauftragt wurde, ist dadurch gekennzeichnet, dass die parlamen-tarische demokratische Mehrheit die Bürokratie nicht kontrollie-ren konnte, somit keine Regierung im eigentlichen Sinne war.Der Versuch der DP, den Widerstand der Staatsbürokratie undder Elite zu brechen, führte zum Militärputsch vom 27. Mai 1960.Die Putschisten waren eine Koalition, die aus dem Militär, derJustiz, den Universitätsprofessoren und der alten Staatspartei CHPbestand. Diese Koalition ignorierte die Verfassung während dergesamten Einpartei-Diktatur von 1925 bis 1950, setzte der Demo-kratie mit dem Militärputsch 1960 ein Ende und warf dabei der DPkonterrevolutionäre Tätigkeit und ausdrücklich Verletzung derVerfassung vor. Der Ministerpräsident und zwei weitere Ministerwurden von einem Putschtribunal in Form eines außerordentlichenGerichts zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet.25

Todesurteile gegen 11 Personen, darunter den Präsidenten derRepublik, wurden später in lebenslange Haft umgewandelt. DieKoalition, die den Coup mit dem Vorwurf der »Verletzung derVerfassung« begründete, unterließ es nicht, die Verfassung durchden Putsch aufzuheben. In Anbetracht der Tatsache, dass die als»Revolution« verstandenen politischen Präferenzen der Ära derEin-Parteien-Diktatur denjenigen Europas von 1920 bis 1945 ent-sprachen, ist es offensichtlich, dass mit Konterrevolution die libe-rale Demokratie und die freie Marktwirtschaft gemeint waren.26

Die Demokratische Partei war eigentlich keine radikale demo-kratische Partei, die eine effektive Konterrevolution hätte betreiben

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Wahl – geheime Sortierung«, »ge-heime Wahl – offene Sortierungunter richterlicher Kontrolle« ein-geführt hat.

21 Vgl. Yücesahin, Bayar, Özgür,Türkiye’de Sehirlesmenin Mekân-sal Dagi

.li.si.

ve Degisimi, CografiBilimler Dergisi 2004, 2 (1), 25 vd.

22 Es ist bemerkenswert, dass dieLegitimation derjenigen Partei, diedieselbe Auffassung vertritt, die-sen Prozentsatz auch heute kaumübertrifft.

23 Zu einer ähnliche Feststellung be-züglich der Streitkräfte siehe EsraSezer, Das türkische Militär undder EU-Beitritt der Türkei, in: DasParlament, mit der Beilage ›AusPolitik und Zeitgeschehen‹, Aus-gabe 43 vom 22.10.2007, http://www.bundestag.de/dasparlament/2007/43/Beilage/005.html(8.4.2009).

24 Diese Partei wurde von zunächstvier resignierten CHP-Abgeord-neten gegründet. Celal Bayar, der

letzte Ministerpräsident Atatürks,wurde erster Parteivorsitzenderund später Staatspräsident. DiesePartei vertritt die liberale und de-mokratische Tradition, die zu-nächst durch den liberalen Flügelin der ITC sichtbar wurde. Nachdem Richtungswechsel der ITCzu einer ethnisch-diktatorischenIdeologie wurde durch die Libera-len die »Osmanli Ahrar Firkasi«(Osmanische Partei der Freien)gegründet, welche 1908 verbotenwurde. Die Nachfolgerin wurdeunter den Namen »Hürriyet veI.tilaf Fi

.rkasi

.« (Freiheits- und

Bündnispartei) gegründet, die1913–1918 jedoch ebenfalls ver-boten war. Diese Tradition wurdenach der Gründung der Republikzunächst durch »TerakkiperverCumhuriyet Firkasi« (Republika-nische Fortschrittspartei), später inder DP vertreten. Die autoritäreTradition von ITC wird nachhervon CHP vertreten.

25 Mehr dazu Zürcher (Fn. 10)247 f.

26 Daher wird der Verlust der Kon-trollmöglichkeit der Gesellschaftdurch die historische Koalitionaufgrund der ökonomischen Ent-wicklung, der Ausdifferenzierungund der Komplexität ständig alsKonterrevolution verstanden.Professor Sina Aksin, einer derVerteidiger des Militärputschesvom 27. Mai 1960, bezeichnet denVorrang der ökonomischen Ent-wicklung des Landes im Partei-programm des vom Militärputschgestürzten DP ebenso als Konter-revolution. Die Aussagen des Ge-neralstaatsanwalts AbdurrahmanYalcinkaya, der die Verbotsankla-ge gegen die prokurdische ParteiDTP und die RegierungsparteiAKP erhoben hat, gibt noch kla-rere Hinweise auf das Verständnis.In seiner Rede am 5.6.2009, dem17. Ehrentag des Kassationshofs,führte er aus, »man hat es notiert,dass der Laizismus von der Tages-ordnung verschwindet, je mehr diekonservativen Parteien (gesell-schaftskonservativ) der ökonomi-schen Entwicklung Vorrang geben… Leider haben wir keine Vor-schriften, die das Verbot der kon-servativen Parteien ermöglichen«.

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können. Die politische Ideologie der DP basierte auf einer natio-nalistischen und liberalen Tradition, die nicht auf die autoritativeLenkung der Gesellschaft gerichtet war. Diese Ideologie wurdeursprünglich in der ITC vertreten und durch einige enge Mitstreitervon Mustafa Kemal Atatürk während der Verteidigung des Landesund der Verkündigung der Republik befürwortet. Schließlich wur-de die DP Ende 1945 von vier zurückgetretenen Abgeordneten derCHP, darunter dem alten Finanzminister und Ministerpräsidentenzu Lebzeiten Atatürks, gegründet. Daher ist klar, dass die DP nichtgegen die Revolution per se war, sondern Probleme hatte mit derEinstellung, die Revolution in ihrem Ursprungszustand versteinernzu lassen und sie einer demokratischen und liberalen Transforma-tion zu entziehen.

Nach dem Militärputsch vom 27. Mai 1960 wurde unterBeteiligung der CHP, der Universitäten und der Justiz eine neueVerfassung entworfen.27 Diese neue Verfassung wurde währendder Militärdiktatur28 in einem Referendum mit einer Mehrheit von61,5% angenommen. Der Ausschluss aller sozialen Oppositionvon der Ausarbeitung der Verfassung bedeutete ein Demokratie-defizit und einen Legitimationsmangel, was den ganzen späterenpolitischen Prozess determinieren sollte.

Da der Verzicht auf ein Mehrparteiensystem im Zeitalter derDemokratien keine rationale Option war, wurde eine Verfassungausgearbeitet, die den formalen demokratischen Prozessen ent-sprechen, aber im Kern verfassungsrechtliche Garantien für diehegemonialen Positionen der »Koalition« beinhalten sollte. DieEin-Parteien-Ideologie sollte diesmal zu einer unantastbaren undunbestreitbaren Staatsideologie erhoben werden. BürokratischeMechanismen als Verfassungsorgane sollten die geeigneten Rechts-mittel haben, die Staatsideologie gegen die Volksvertretung zu ver-teidigen.29

In diesem Rahmen wurden die wichtigsten institutionellenKomponenten der Einpartei-Ideologie, nämlich die Streitkräfteund die Justiz, aus der demokratischen Legitimationskette heraus-genommen und mit absoluter Autonomie ausgestattet.30 DemMilitär wurde als einer konstitutionellen Institution die Möglich-keit verschafft, die demokratische Politik zu bevormunden. Zudiesem Zweck wurde ein Nationaler Sicherheitsrat (MGK) einge-richtet, in dem der Chef des Generalstabs und die Kommandeureder Streitkräfte sehr einflussreich waren. Durch diese Institution

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27 Englische Fassung siehe http://www.anayasa.gen.tr/1961consti-tution-text.pdf (04.06.2009).

28 Gesetz-Nr. 157 und 158. Mehrdazu Kemal Gözler, Türk Ana-yasa Hukuku, Bursa 2000, 82.

29 Soysal bezeichnet den Putsch vom27. Mai 1960 als Rückschlag derbürokratischen Intelligenzia,Mümtaz Soysal, Anayasani

.n

Anlami., 6. Basi

., Ankara 1986, 64.

30 Bezüglich des Militärs siehe HeinzKramer, Demokratieverständnisund Demokratisierungsprozesse inder Türkei, in: Südosteuropa Mit-teilungen 44/1 (2004) 30–43.Wenn man bedenkt, dass der Pos-ten des Staatspräsidenten in der

Türkei bis 1989 nur von Generä-len besetzt war, darf die formelleErnennungskompetenz des Staats-präsidenten bei den Führern derStreitkräfte kaum als Vorhanden-sein einer gewissen demokrati-schen Legitimation hininterpretiert werden. Im Bereichder Justiz fehlte selbst diese for-melle Ernennungskompetenz.

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konnte das Militär alle innen- und außenpolitischen Probleme imRahmen der »nationalen Sicherheit« einbeziehen und so die grund-legenden politischen Entscheidungen entweder selbst treffen odertreffen lassen. Der Generalstabschef war und ist dem Minister-präsident nicht untergeordnet, ist ihm nur verantwortlich. Diegesetzlichen Kontrollmöglichkeiten wurden vom Verfassungsge-richt, dem wichtigsten Instrumentarium des Militärputsches, imJahre 1966 beseitigt.31 Dieses System wurde in der noch gültigenVerfassung von 1982 konsolidiert. Die praktische Funktionsweisegarantierte bis 1989 die Wahl des Staatspräsidenten ausschließlichaus den Reihen der Generäle. Der erste Präsident der Republik warder Führer des Putsches, General Cemal Gürsel. Ein wesentlicherPunkt: Nach dem Militärputsch wurde ein Gesetz verabschiedet,32

das dem Militär nicht nur die Aufgabe der Verteidigung des Vater-landes, sondern auch der politischen Grundentscheidungen auf-trug. Unter den politischen Grundentscheidungen sind nur diejeni-gen zu verstehen, die in den 20er und 30er Jahren und während derMilitärdiktatur ab dem 27. Mai 1960 getroffen worden waren.Dass solche Gesetze der Prüfungskompetenz des Verfassungsge-richts entzogen waren, kann daher nicht überraschen.

Die Justiz wurde vollständig vom Einfluss der demokratischenVertretung freigestellt, die 1924 begonnene ideologische Homoge-nisierung auf Verfassungsebene verewigt. Sie durfte als homogeneStruktur die Politik nunmehr im Namen des »Gesetzes«, in Wirk-lichkeit im Namen der Staatsideologie überwachen. PutschtreueRichter wurden zu Mitgliedern des hohen Rats der Justiz als adhoc-Gericht (Putschtribunal) ernannt, welche dann die Hinrich-tung der demokratischen Vertreter beschlossen, während einigeandere wichtige Stellungen im Staatsrat oder im Kassationshoferhielten. Sieben Richter aus dem Kreis des Putschtribunals erhiel-ten die Ernennung zu Mitgliedern des neu gegründeten Verfas-sungsgerichts.33 Die ideologische Haltung des Richtertums kommtbis heute in jedem öffentlichen Auftritt und in jeder politikrelevan-ten Entscheidung zum Vorschein.

Darüber hinaus gewährte man den öffentlich finanziertenUniversitäten eine absolute Autonomie außerhalb der parlamenta-rischen Kontrolle. Des Weiteren wurden diejenigen Universitäts-professoren, die die politischen Rahmenbedingungen und den Wegfür den Militärputsch vorbereitet hatten, unter ihnen namhafteVerfassungs- und Staatsrechtler,34 mit der Vorbereitung einer Ver-

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31 K. 1966/19.32 Nach Art. 35 des Gesetzes über die

türkischen Streitkräfte Nr. 211 istes »die Aufgabe der Streitkräfte,das türkische Vaterland und die inder Verfassung festgesetzte Re-publik zu schützen und prüfend zubeobachten.«

33 Der Vorsitzende Richter SalimBasol wurde 1962 zum Verfas-sungsrichter ernannt. Diese Auf-gabe hatte er bis 1970 inne. Aus

diesem Kreis wurden ebensoMahmut Celalettin Kuralmen,I.brahim Hilmi Senil, Necdet Da-

ri.ci.oglu, Abdullah Üner, Hasan

Gürsel und Nihat Saçli.oglu Ver-

fassungsrichter. Recai Seçkin, demder Vorsitz des Putschtribunalsangeboten worden war, war von1966 bis 1972 Mitglied. Erwäh-nenswert ist auch, dass eine Reihevon Persönlichkeiten (zum BeispielÖmer Lütfi Akadli

., Ahmet Akar,

Mustafa Ekrem Tüzemen undMuhittin Gürün) von der verfas-sunggebenden Versammlung nachCoup d’État vom 27. Mai zuMitgliedern des Verfassungsge-richts ernannt wurden.

34 Die 1954 gegründete Zeitschrift»Forum« war ein Anziehungs-zentrum für Professoren und Stu-denten.

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fassung beauftragt.35 Die Bilanz der Universitäten hat sich bis voreinigen Jahren kaum geändert.

Eine weitere Institution des Militärputsches, welche als Garantfür die Koalition agieren sollte, war die zweite Kammer des Parla-ments, der Senat der Republik. Geschaffen durch die Verfassungvon 1961, besteht der Senat der Republik aus den Senatoren aufLebenszeit, also aus Putschisten, den Senatoren, die vom Staats-präsidenten, i. d. R. einem Ex-General, ernannt werden, und denSenatoren, die zwar durch allgemeine Wahl bestimmt werden, aberpraktisch nur aus dem Kreis der Gesellschaft kommen, die ideolo-gisch und soziologisch die Legitimationsbasis für die Staatsparteiausmacht.36

Politischen Parteien wurden formale konstitutionelle Garan-tien gewährt. Sie durften nunmehr nur durch das Verfassungsge-richt verboten werden, und zwar nur aus den in der Verfassungvorgesehenen Gründen. Betrachtet man jedoch die Struktur, dieMission des Verfassungsgerichts und die Praxis des Gerichts in denletzten 48 Jahren seit seiner Gründung, ist es eindeutig, dass dasGericht keine große Garantie darstellte.37

Das türkische Verfassungsgericht ist jedoch die auffallendsteInstitution, die den Charakter der oben beschriebenen ideologi-schen Grundentscheidung aufweist und beim Militärputsch in dieVerfassung aufgenommen wurde.

Beispiele aus den westlichen Demokratien, insbesondere dasdeutsche Bundesverfassungsgericht, wurden bei der Errichtung destürkischen Verfassungsgerichts berücksichtigt. Während die Ein-richtung der Verfassungsgerichte in beiden Ländern eine Reaktionauf die Vergangenheit darstellt, sind jedoch wichtige Unterschiedezu erkennen, wenn man die Frage aufwirft, auf »was« diese rea-giert haben.

Während man in Deutschland vor allem auf eine totalitäreEinpartei-Diktatur reagierte, die ein demokratisches System abge-schafft hatte, war die Reaktion in der Türkei ausschließlich auf diedemokratische Politik gerichtet, die gegen die Praxis der Einpartei-Diktatur war. Zweitens war das deutsche Bundesverfassungsge-richt zum Schutze der demokratischen Politik vorgesehen, vorallem gegen einen bürokratischen »Anti-Parlamentarismus«, wäh-rend das türkische Verfassungsgericht selbst ein Teil des büro-kratischen Systems war und die Aufgabe hatte, die bürokratischenMechanismen sowie die Staatsideologie gegen die demokratische

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35 Die Verfassungskommission be-stand fast ausschließlich aus die-sen Professoren.

36 Denn diejenigen, die über 40 wa-ren und über einen Hochschulab-schluss verfügten, gehörten nur zudiesem Gesellschaftskreis.

37 Siehe dazu auch die Feststellungder European Commission forDemocracy through Law (VeniceCommission), Opinion on theconstitutional and legal provisions

relevant to the prohibition of po-litical parties in Turkey, adoptedby its 78’th Plenary Session 13–14March 2009, Prg. 78, 82, 85 vd.

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Politik zu schützen.38 Mit anderen Worten, während in den west-lichen Demokratien das Grundbedürfnis, das zur Etablierung desVerfassungsgerichts führte, der »Schutz der Demokratie« war, ginges in der Türkei um den »Schutz vor Demokratie«. Drittens: Wäh-rend alle Mitglieder des deutschen Bundesverfassungsgerichts vondemokratischen Vertretern gewählt wurden, durften in der Türkeinach der Verfassung von 1961 die demokratischen Vertreter nurein Drittel des Gerichts wählen, und zwar nur aus den Reihen derRichter, bevor diese unzulängliche Möglichkeit in der Verfassungvon 1982 vollständig verschwand. Der vierte Unterschied bestehtdarin , dass die Verfassungsbeschwerde, welche die Grundrechteauch gegen die Justiz schützt, als eine grundlegende Funktion derdeutschen Verfassungsgerichtsbarkeit akzeptiert wird, wohingegenin der Türkei auf diese Institution verzichtet wurde. Denn alleinigesZiel des Gerichts war, das demokratische Parlament einer ideo-logischen Prüfung zu unterziehen. Von daher hat es die Herr-schaftselite nicht gestört, dass über 63 Grundrechtsartikel in derVerfassung nicht umgesetzt werden konnten.39

So wurde das Verfassungsgericht als Produkt einer korpora-tistischen, ethnizistischen und autoritären/totalitären politischenBewegung nach dem Militärputsch von 1960 in die Verfassungaufgenommen, mit der Aufgabe, die Staatsideologie aus den 30erJahren diesmal im Gewande des Rechts und der Verfassung zuverteidigen.40

Schließlich nahmen die Väter der Verfassung von 1961 diedemokratische Politik als eine Bedrohung ernst, wollten derenEinfluss so weit wie möglich begrenzen und konstruierten dem-entsprechend ein dysfunktionales parlamentarisches System. Diesepolitische Struktur erfuhr 1971 einige Veränderungen, nachdemdas Militär seine innere Hierarchie aufgebaut hatte und am12. März 1971 eigenständig ein Memorandum verkündete. Dasbedeutete das Ende der Koalition. Das Militär löste sich von derCHP, der Justiz und den Universitäten, übernahm die alleinigeRolle der Vormundschaft, zwang die Politik durch Verfassungs-änderungen von 1971 bis 1973, den ideologischen Staat mit demBegriff des Sicherheitsstaats anzureichern. In dieser Zeit bemühtesich das Militär, die Unterstützung der sozialen Opposition ein-zuholen, tendierte politisch nach Mitte-rechts, während die alteStaatspartei CHP sich zum ersten Mal als eine Partei dem Volknäherte und sich für eine Mitte-links Position entschied, in der die

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38 Belge (Fn. 2) 667.39 Das Bemühen um die Einführung

der Verfassungsbeschwerde imJahre 2005 ist am Widerstand derHohen Richter und der CHP ge-scheitert.

40 Belge (Fn. 2) 657.

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herkömmlichen ideologischen Ansätze nicht im Vordergrund stan-den. Das Verfassungsgericht, bei dem Begriffe wie Freiheit in den60er Jahren eher negativ Erwähnung fanden, entdeckte gegen dieneuen tonangebenden Kräfte, »das Militär und die Mitte-Rechts-Parteien«, die Freiheit als ein neues Mittel für immanente Politik.41

Am 12. September 1980 putschte das Militär und setzte derDemokratie ein Ende. Die Verfassung von 1961 wurde abgeschafft.Alle politischen Parteien, einschließlich der CHP, wurden aufgelöstund ihr Eigentum beschlagnahmt. Weil die Putschisten per se gegendie Politik waren, verzichteten sie auf eine verfassungsgebendeVersammlung. Die ernannten, vermeintlich »unpolitischen« Büro-kraten und Fachleute wurden zu einer beratenden Versammlungeinberufen, welche einen Verfassungsentwurf vorzubereiten hatten.Der Nationale Sicherheitsrat, bestehend aus fünf Generälen, revi-dierte diesen Entwurf und gab ihn direkt zur Volksabstimmungfrei.42 In einem Umfeld, in dem jegliche Kritik an der Verfassungverboten war und die Folgen eines »Neins« zur Verfassung imUnklaren gelassen wurden, stimmten 91% der Bevölkerung zu unddie Verfassung trat 1982 in Kraft. Darüber hinaus ließ sich derAnführer des Putsches, der Generalstabschef, zum Präsidenten derRepublik wählen.

Das Militär, welches mit dem Militärputsch vom 12.9.1980zur einzigen Determinante des politischen Systems wurde, schufdie Rahmenbedingungen für einen nahezu »permanenten Putsch«.Der gestärkte Nationale Sicherheitsrat konnte nun dem MinisterratAnweisungen geben. Das Militär erweiterte seine Befugnisse, indemman den Übergang zur Ausnahmeregierung vereinfachte, undwurde obligatorisch in viele zentrale Entscheidungsstrukturen ein-gebunden.43 Alle grundlegenden Gesetze zur Regelung der sozialenund politischen Angelegenheiten, die während des Putsches erlassenwurden, blieben dem Kompetenzbereich des Verfassungsgerichtsentzogen.44 Die kollektiven und intellektuellen Freiheiten wurdenquantitativ erweitert, doch inhaltlich auf ein Minimum reduziert;die Auflösung politischer Parteien wurde erleichtert; die unabän-derlichen Bestimmungen der Verfassung wurden um ethnisch-na-tionalistische und chauvinistische Elemente bereichert.45 Die Ideo-logie der Staatspartei bekam einen militaristischen Charakter.

Die Militärputschisten reformierten das Verfassungsgerichtnach eigenen Präferenzen. Das Recht des Parlaments, einige Mit-glieder zu benennen, wurde beseitigt und die ohnehin schwache

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41 Ausführlicher Belge (Fn. 2) 676 ff.Ein eindeutiges Beispiel liefert eineEntscheidung aus dem Jahre 1971,in der die Immunitätsaufhebungeines Senators annulliert wurde.Der Senator war einer der Kom-plizen des Putschversuches vom9. März und wurde aufgrund sei-nes Beitrages zum Militärputschvom 27. Mai 1960 Senator. SieheK. 1971/62. http://www.anayasa.gov.tr/eskisite/kararlar/iptalitiraz/k1971/K1971-67.htm.

42 Für die deutsche Fassung der Ver-fassung siehe http://www.tuerkei--recht.de/Verfassung2001.pdf(27.12.2010).

43 Ein Mitglied des Hochschulrats,zwei Mitglieder des Verfassungs-

gerichts und ein Mitglied desstaatlichen Rates für Fernsehenund Radio kommen aus militäri-schen Kreisen. Ferner gibt es auspraktischen (!) Gründen in Ver-waltungsräten jeder Stiftungsuni-versität ständig einen Ex-General.Es werden auch für die hohenVerwaltungsbeamten, Richter,Journalisten und Geschäftsleuteständig Kurse in der Sicherheits-akademie des Militärs veranstal-

tet, die den Teilnehmern in denStaatsangelegenheiten zu Gutekommen sollen. Für Informatio-nen siehe die Webseite der Türki-schen Kriegsakademien http://www.harpak.tsk.mil.tr/pageCon-tainer.aspx?PID=2 (08.06.2009).

44 Dieselbe Regelung gab es auch inder Verfassung von 1961.

45 Zum Beispiel die Präambel und dieersten vier Artikel der Verfassung.

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demokratische Legitimation beendet. Die Zahl der Mitglieder desMilitärs und der Bürokraten wurde erhöht. Die gerichtliche Über-prüfung aller während der Militärherrschaft verabschieden Ge-setze,46 der Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft sowie der Be-schlüsse des Hohen Militärrates wurde untersagt.

Statt wie bisher eine »romantische« Ideologie des 27. Mai 1960zu beschützen, bekam das Gericht die Aufgabe, nunmehr eine mehrmilitaristische Version der Staatsideologie zu verteidigen. Diesepragmatische Perspektive der Putschisten führte zur Schaffungeiner im Vergleich zur Verfassung von 1961 effizienteren Legislativeund Exekutive. Einige Befugnisse des Verfassungsgerichts wurdenzugunsten der Legislative und der Exekutive beschnitten, ein-schließlich der formalen Überprüfung von Gesetzen und Verfas-sungsänderungen und der Dekrete mit Gesetzeskraft während derAusnahmezustände. Eine zwar vom Militär stark kontrollierte,aber starke, handlungsfähige Exekutive und ein effektives Parla-ment waren vorgesehen. Zusammen mit dem Wunsch, die Türkeials eine freie Marktwirtschaft zu einem integralen Bestandteil derkapitalistischen Weltwirtschaft zu machen, dürften diese als einigegrundlegende Unterschiede des Militärputsches vom 12. September1980 von seinem Vorgänger vom 27. Mai 1960 erachtet werden.47

2. Normative Dimension

Nach der Verfassung von 1961 setzte sich das neu gegründeteVerfassungsgericht aus fünfzehn Mitgliedern zusammen, von de-nen acht Berufsrichter sein sollten.48 Als die anderen Wahlgremiensich auch für die Ernennung von Berufsrichtern entschieden, wurdedas Verfassungsgericht nur mit Fachrichtern besetzt. Nach Artikel147 der Verfassung hatte nur das Gericht die Kompetenz, Gesetzeund die Geschäftsordnung des Parlaments zu überprüfen. DasVerfassungsgericht wurde als Oberster Gerichtshof ermächtigt,über den Präsidenten der Republik und die Mitglieder des Minister-rates sowie hohe Richter zu urteilen. Es darf jedoch nicht vergessenwerden, dass, obwohl viele Politiker am Gericht zur Verantwor-tung gezogen wurden, es nie zu einer Anklage gegen hohe Richterkam. Sicherlich war dies kein Beweis für die absoluten Unfehlbar-keit der hohen Richter.49

Ferner ist das Verfassungsgericht nicht befugt, Streitigkeitenzwischen Verfassungsorganen zu entscheiden. Auch die Institution

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46 In der Zeit von 12. September1980 bis zum 6. Dezember 1983wurden Gesetze in der Regel zu-nächst als Initiative des Minister-rates, der aus Ex-Generälen undputschtreuen Bürokraten bestand,von einer Verfassungskommissionbearbeitet. Diese setzte sich ausMilitäroffizieren und Militärrich-tern zusammen, die militärischeDisziplin und die hierarchischeStruktur sind in den Protokollen

leicht zu erkennen. Verabschiedetwurden die Gesetze schließlichvom Staatsoberhaupt, dem Vor-sitzenden des Putschkomitees. Aufdiese Weise hatte man vor deroffiziellen Geschäftsübernahmeder Türkischen Großen National-versammlung (Das Parlament) am7. Dezember 1983 alle politischund gesellschaftlich relevantenNormen vorweggenommen undsie den »Zivilen«, welche sich

nunmehr Gedanken allein überdas Ökonomische machen sollten,oktroyiert. Alle Gesetze zum Jus-tizwesen inklusive der Verfas-sungsgerichtsbarkeit, aber auchdas Vereinsgesetz, das Versamm-lungsgesetz, das Gesetz über Streikund Aussperrung, das Arbeitsge-setz, das Wahlgesetz, das Parteien-gesetz, das Rundfunk- und Fern-sehgesetz, das Umweltgesetz, dasGendarmeriegesetz, das Gesetzüber den Nationalen Nachrich-tendienst, alle Notstandsgesetze,das Gesetz über die Feststellungder Militär- und Sicherheitszonesowie alle Gesetze bezüglich desHochschulwesens sind Beispielefür Normen, die keine demokrati-sche Legitimation haben und biszur Verfassungsänderung von2001 vom Verfassungsgerichtnicht überprüft werden durften.Für die konkreten Angaben s.Nuri Alan, Anayasani

.n I

.dari

Yargi.da Somutlasti

.ri.lmasi

., Dani

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tay Dergisi, Sayi.

92 (1997) 25.47 Das könnte der Grund dafür sein,

dass sich die Kemalisten und diekemalistische Linke halbherziggegen den Militärpusch vom12. September 1980 aussprachen,während sie den Militärputschvom 27. Mai 1960 als Revolutionpriesen.

48 Art. 145 TV 1961.49 Bis 2009 wurde in 12 Fällen 17

Ministern und mit ihnen 92 Bü-rokraten der Prozess gemacht.Siehe dazu http://www.anayasa.gov.tr/general/icerikler.asp?contID=368&menuID=&ID=368(26.5.2009). Angesichts der Ge-setze über den Kassationshof, denStaatsrat und die MilitärischenGerichtshöfe ist es kaum möglich,die hohen Richter vor das Verfas-sungsgericht zu bringen.

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der Verfassungsbeschwerde, durch die der Demokratie und denFreiheiten zuwiderlaufende Handlungen und Entscheidungen derJustiz und der zivilen oder militärischen Bürokratie überprüftwerden könnten, war nicht vorgesehen. Es wäre auch nicht logischgewesen und hätte den oben erwähnten politischen Präferenzenwidersprochen. Daher gehört zur Aufgabenbeschreibung des Ge-richts nur die Aufsicht über die demokratisch legitimierte Politik.Alle anderen Kräfte, die zu der historischen Koalition gehören,waren 2004 strikt gegen die Bemühungen, Verfassungsbeschwer-den in die Verfassung einzuführen. Dass die Koalition, zu der auchdie hohen Justizorgane gehören, ihre ablehnende Haltung gegen-über der Verfassungsbeschwerde mit dem Argument des Verstoßesgegen die »Unabhängigkeit der Justiz« und das »Gewaltenteilungs-prinzip« erklärte, überraschte jeden Wissenschaftler aus Europa.Doch diese Haltung sollte nicht überraschen, wenn man weiß, dassdie Justiz als Teil der Koalition unter »Unabhängigkeit der Justiz«die vom geschriebenen Recht freie Entscheidungshoheit und dieUnabhängigkeit von den Grundfreiheiten sowie der demokrati-schen Legitimationskette versteht und unter Gewaltenteilung diegleichberechtigte Teilhabe an der Staatsführung.50

Die Tatsache, dass die zivilgesellschaftliche Opposition von1965 an ständig die Mehrheit in der Nationalversammlung stellte,mit ein paar kurzen Ausnahmen die politische Reflexion derKoalition immer in Opposition war, veranschaulicht eine interes-sante Funktionsweise bei der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit:Die Oppositionspartei im Parlament, d. h. die Vertreter der Koali-tion im Parlament, erhebt beim Verfassungsgericht eine Annullie-rungsklage aufgrund eines Verfassungsverstoßes. Im Gerichtsver-fahren, in dem die Regierung kein rechtliches Gehör hat, wird dasangefochtene Gesetz, welches nicht im Einklang mit der Ideologieund Interessen der Koalition steht, aufgehoben und im Namen von»Verfassung und Recht« die verfassungsmäßige Ordnung wieder-hergestellt. Das Verfassungsgericht hat in diesem Zeitraum sogarunter Inkaufnahme des Verfassungsbruchs die Verfassungsänder-ungen annulliert.51

Die letzte Kompetenz des Gerichts ist zu entscheiden, ob einePartei verfassungswidrig und somit zu verbieten ist. Unter der Ver-fassung von 1961 wurden insgesamt sechs Parteien verboten,52 bisheute sind es insgesamt 25. Es sind diese Prozesse, in denen dieDurchsetzung der staatlichen Ideologie durch das Gericht am

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50 Siehe dazu die Eröffnungsredenverschiedener Gerichtspräsidentenseit 2004.

51 K. 1970/31; K. 1975/87; K. 1976/46; K. 1977/4; K. 1977/117;K. 2008/116 und zuletzt K. 2010/87.

52 I.sçi-Çiftçi Partisi (1968), I

.leri Ülke

Partisi (1971) und Büyük AnadoluPartisi (1972) wurden wegen for-meller Rechtswidrigkeit, Milli Ni-zam Partisi (1971), Türkiye I

.sçi

Partisi (1971) und Türkiye EmekçiPartisi (1980) wegen Verstoßesgegen die staatlichen Ideologieverboten.

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effektivsten vollzogen wird. Die rechtlich-ideologischen Präferen-zen, die das Verfassungsgericht damals etabliert hat, gelten bisheute ohne wesentliche Änderungen.

Die Prinzipien der bürgerlichen Freiheiten und die Unabhän-gigkeit der Justiz erfuhren mit der noch gültigen Verfassung von1982 weitere Dämpfer. Bis zu den jüngsten Verfassungsänderungenim September 2010 wurden entsprechend der Verfassung von 1982alle Verfassungsrichter durch den Präsidenten der Republik er-nannt, entweder unmittelbar oder auf Vorschlag bestimmter Insti-tutionen. Die Kompetenzen unterschieden sich nicht wesentlichvon denen in 1961. Die Verfassungsbeschwerde konnte erst imSeptember 2010 durch eine Volksabstimmung in die Verfassungeingeführt werden.

Der Militärputsch hat nicht versäumt, den ideologischen Rah-men für das Parlament festzulegen, wobei er es in diesem Rahmeneffektiver gestaltete. Die ideologische Richtlinie ist in der Präambelals Grundsatz niedergelegt, und das Verfassungsgericht verweistmit Nachdruck in allen kritischen politischen Entscheidungen aufdiese Richtlinie. § 5 (bisher § 7) der Präambel sieht vor, »dasskeinerlei Aktivität gegenüber den türkischen nationalen Interessen,der türkischen Existenz, dem Grundsatz der Unteilbarkeit vonStaatsgebiet und Staatsvolk, den geschichtlichen und ideellen Wer-ten des Türkentums und dem Nationalismus, den Prinzipien undReformen sowie dem Zivilisationismus Atatürks geschützt wird«und es ist auch von der Justiz nicht zu erwarten, dass sie Ent-scheidungen außerhalb dieses ideologischen Rahmens trifft.

Allerdings ist hier festzustellen: Während das Grundkonzeptder Verfassung von 1961, um die grundlegende Philosophie desCoup d’État vom 27. Mai zu schützen, eine schwache Legislativeund Exekutive vorsah, bevorzugt die Verfassung von 1982 eine,wenngleich im vom Militär festgelegten Rahmen, handlungsfähigeRegierung und ein Parlament und begrenzt einige Befugnisse desVerfassungsgerichts. Die Kompetenz des Gerichts zur Überprüfungder Gesetze und Verfassungsänderungen wurde sowohl zeitlich alsauch inhaltlich beschränkt. Ihm wurde untersagt, die Verfassungs-änderungen inhaltlich zu überprüfen, die Verordnungen mit Ge-setzeskraft zu prüfen53 und durch Annullierungen Praktiken zuschaffen, die einer gesetzgeberischen Tätigkeit gleich kämen.54

Diese Einschränkungen werden jedoch, wie betont werden muss,durch das Verfassungsgericht seit der Mitte der 1990er Jahren

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53 Art. 148 TV 1982.54 Art. 153, Abs. 2 TV 1982.

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ignoriert. Es begann alle Privatisierungsgesetze zu annullieren, mitdem Argument, diese seien nicht im öffentlichen Interesse und dasstaatliche Eigentum bedürfe genauso wie das private Eigentum desVerfassungsschutzes (sic!). Neben diesen Schritten in Richtung desstaatskapitalistischen Denkens der 60er Jahre dominierte durchperiodische Parteiverbote und die Kriminalisierung des politischenLebens eine ideologische Homogenisierung im Staatsgeschehen.

Trotz des ausdrücklichen Verbots in der Verfassung wurde imJahre 2008 die Verfassungsänderung inhaltlich überprüft, annul-liert und der demokratischen Politik eine kategorische Absageerteilt. Diese Blockade war nichts weiter als die Rückkehr zumStaatsverständnis des Militärputsches vom 27. Mai 1960.55 Dieskonnte erst nach der Verfassungsänderung vom 2010, die in einerVolksabstimmung angenommen wurde, überwunden werden.

III. Der Staat und der Einzelne in der Rechtsprechungdes Gerichts

Der Staat, der in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtesdefiniert wird, führt seine Legitimität nicht auf den Einzelnenzurück. Nach der Präambel der Verfassung ist der Staat »heilig«und »erhaben«. In einem Urteil über »die Beleidigung des Türken-tums und der Staatsorgane« (Art. 159 des türkischen StGB a. F.)bezeichnete das Verfassungsgericht den Staat als das Größte undHeiligste innerhalb der Gesellschaft.56 In den Parteiverbotsent-scheidungen war der Staat Inhaber »natürlicher Rechte«, an eineranderen Stelle Inhaber des »Eigentumsrechts« und das Gesetzge-bungsorgan durfte in dieses Recht nur als letztes Mittel und durchein Parlamentsgesetz eingreifen.57 Als Grund der ungleichen Be-handlung der Ausländer bei der Wahrnehmung der Jedermann-Grundrechte wird der »Schutz des Staates« angegeben.58 Der Staatist somit ein Konstrukt im hegelschen Sinne.

Stellt man sich einen Staat als »erhaben« und »heilig« vor, ist esauch nicht schwer davon auszugehen, dass die Haltung des Staatesund der Verfassung gegenüber der Meinungs-, Überzeugungs-,Vereinigungsfreiheit sowie der Freiheit politischer Betätigung undden Forderungen nach demokratischer Partizipation nicht allzupositiv sein kann. Einige Beispiele: In der Verfassung von 1961wurde die Meinungsfreiheit als ein unbeschränkt gewährleistetesGrundrecht anerkannt. Diese recht liberale Einstellung der Ver-

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55 Osman Can, Özellestirmeler veAnayasa: Bir Liberal DönüsümSerüveni, in: Ankara BarosuUluslar arasi

.Hukuk Kurultayi

.

2008, Cilt 4, Ankara 2008, 188 ff.56 K. 1978/13, AYMKD 16, 31 ff.57 K. 1994/42, K. 1996/47.58 K. 1985/7.

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fassung59 konnte sich jedoch nicht durchsetzen, da zwei Jahre nachihrem Inkrafttreten das Verfassungsgericht kurz nach Aufnahmeseiner Tätigkeit die Schrankenlosigkeit der Meinungsfreiheit nurauf diejenigen Meinungen bezogen hat, die sich in der geistigenWelt des Einzelnen bewegen. Nach der Judikatur des Gerichts solltedas forum externum vom forum internum unterschieden und dasNachaußenbringen der Meinungen »in jeder Hinsicht« Schrankenunterworfen werden können, weil die das Gesellschaftsleben be-treffenden Meinungen und Überzeugungen die Gesellschaft inUnruhe bringen und dadurch die Gesellschaftsordnung und dieSicherheit des Staates erschüttern könnten.60 Bei diesen beidenUrteilen ging es um die verfassungsrechtliche Kontrolle einer Norm,die jegliche Kritik am Militärputsch vom 27. Mai 1960, einschließ-lich bloßer Andeutungen, verbot. Das Gericht hat sie für verfas-sungskonform erklärt.

In einer weiteren Entscheidung des gleichen Jahres stellte dasGericht fest, dass das Einfuhrverbot ausländischer Publikationen inArtikel 31 des Pressegesetzes die Meinungsfreiheit nicht berühreund von keiner Art von Freiheit erfasst werden durfte.61 Im Jahr1964 betrachtete das Gericht Art. 312 Abs. 2 des türkischen Straf-gesetzbuches, der dem Richter erlaubt, Aussagen über die Existenzvon ethnischen, regionalen, sprachlichen und religiösen Unter-schieden zu bestrafen, mit der Begründung als verfassungskon-form, dass »die Verfassung keine Meinungen erlaubt, die denFrieden und Harmonie unter den Bürgern stören könnten«.62 InEntscheidungen über die später abgeschafften Artikel 141 und 142des türkischen Strafgesetzbuches, welche aus dem faschistischenStrafgesetzbuch Italiens übernommen wurden und die sozialisti-sche Propaganda und Vereinigungen unter Strafe stellten, entschiedes, dass »die Propagierungen der Meinungen, die den RevolutionenAtatürks, welche die Grundstruktur und Philosophie der Verfas-sung ausmachen, und dem Bewusstsein der Treue zu ihnen wider-sprechen, außerhalb der Grenzen der verfassungsrechtlich garan-tierten Meinungsfreiheit liegen«.63 Der ideologische Zusammen-hang ist aus der Zitierung der Protokolle des Putschgremiums indieser Entscheidung leicht erkennbar. Ferner: Art. 163 des türki-schen Strafgesetzbuches, welcher die Äußerung von religiösen oderanti-laizistischen Meinungen verbot, wurde mit der Begründungfür verfassungskonform erachtet, dass das »Verbot von Meinun-gen, die unmittelbar durch die Verfassung selbst verboten worden

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59 Nach genauem Studieren der Ge-setzesmaterialien kann schwer an-genommen werden, dass dieIntention des subjektiven Verfas-sungsgebers mit dem des objekti-ven übereinstimmt. Der auch vomVerfassungsgericht zitierte Spre-cher der Verfassungskommissionder verfassungsgebenden Ver-sammlung, Prof. Muammer Ak-soy, stellte fest, dass nur diejenigenMeinungen von der Meinungs-

freiheit der Verfassung erfasstwürden, die mit der Verfassung inEinklang stünden.

60 K. 1963/83, AYMKD 1, 194 ff;dieselbe K. 1963/84, AYMKD 1,210 ff.

61 K. 1963/178.62 K. 1964/9.63 K. 1965/40; K. 1980/59.

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sind, keine Verletzung der Meinungsfreiheit ist«.64 Dies entsprichtgenau der ideologischen Haltung der Putschisten.

Dass sich diese Haltung wie ein roter Faden durch alle Ent-scheidungen über religiöse und politische Freiheiten zieht, liegt aufder Hand. In seiner Entscheidung über das Kopftuchverbot an denUniversitäten führte das Verfassungsgericht aus: »die Verfassung,welche auf der türkischen Revolution basiert und in dieser Strukturdem Laizismusprinzip einen besonderen Wert und Vorrang gibt,hat das Laizismusprinzip gegenüber den Freiheiten sorgfältig ge-schützt und nicht zugelassen, dass dieses Prinzip den Freiheitengeopfert wird.«65 Das Gericht versteht die Begriffe Laizismus undFreiheit als zwei unversöhnliche Phänomene, aber bleibt die Er-klärung schuldig, warum ein Verständnis von Laizismus, das in derFreiheit eine substantielle Bedrohung sieht, besser ist als eintotalitäres Regime. In einer Parteiverbotsentscheidung erklärt dasGericht die Beziehung zwischen dem Laizismus, der Präambel undden Prinzipien von Atatürk folgendermaßen: »Der Laizismus istder Ausgangspunkt der Revolution Atatürks, und dieses Prinzipbildet den Eckstein der Revolutionen. Mit anderen Worten, dasgeringste Zugeständnis an das Laizismusprinzip kann die Revolu-tionen Atatürks von ihrer Umlaufbahn abbringen und sie zunichtemachen. Deshalb … ist es notwendig geworden, in dieser Hinsichteinen absoluten Befehl in die Präambel niederzuschreiben.«66

Das Verfassungsgericht hat in seinen relativ liberalen Ent-scheidungen ab 1985 gegenüber den marktwirtschaftlichen Grund-sätzen der Verfassung eine gewisse Vorsicht bei der Frage derPrivatisierungen geübt,67 wobei es seine Zurückhaltung mit denökonomischen Ansichten von Atatürk erklärt. Doch ab dem Jahr1994 kehrte das Gericht zu den Ansichten des Putsches vom27. Mai 1960 zurück, vertrat nunmehr statt ökonomischem Libe-ralismus die Ansichten des Staatskapitalismus und gab dem Ge-danken der »nationalen Sicherheit« und dem »Grundrecht desStaates auf Eigentum« Vorrang.68

Ab 1985 beschränkte das Gericht die Möglichkeit des Verkaufsvon Immobilien an Ausländer, indem es ein anachronistischesSouveränitätsverständnis zwischen »Sicherheit« und »Landbesitz«vorbrachte.69 Die grundsätzliche Begründung in der Rechtspre-chung war folgendermaßen: »Man darf sich nicht darauf verlassen,dass die rechtliche Möglichkeit der Rücknahme der Ländereien beiAusländern weiter besteht, denn die Ausländer genießen jeden

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64 K. 1980/48.65 K. 1989/12.66 K. 1989/12.67 K. 1985/4 und K. 1985/16.68 Beschluss über die Privatisierung

von Telekom K. 1994/65–2. DiePrivatisierung konnte erst 2005durchgeführt werden, nachdemdas Gericht seine Rechtsprechunggeändert hatte, s. K. 2005/104.

69 K. 1985/7; K. 1986/24; K. 2005/14 und zuletzt K. 2007/48.

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Augenblick den Schutz ihrer eigenen Staaten«, und »Innerhalb dervon der Verfassung vorgesehenen Rechtsordnung sollten die na-tionalen Interessen einen absoluten Vorrang genießen.«

Die abneigende Haltung gegenüber Parlamentarismus unddemokratischer Vertretung erkennt man an Praktiken wie derpermanenten Verhinderung von Privatisierungen und der Annul-lierung aller Gesetze, welche der Exekutive die Möglichkeit vonVerwaltungsverordnungen einräumen, weil sie »unbestimmt« seienund gegen das Verbot der Übertragung von Gesetzgebungskom-petenz verstießen. Dass solche Praktiken zu einer übermäßigenVerrechtlichung und zum Verlust an Effektivität und Ermessens-spielraum der politischen Entscheidungsträger führten, ist nie be-anstandet worden. In solchen politisch relevanten Entscheidungentritt der oben genannte Paragraph der Präambel, der gleichzeitigeinen chauvinistisch-ethnozentrischen Charakter widerspiegelt,ständig in Erscheinung. Denn für das Gericht besteht der Sinn derPräambel darin, die eigene politische Vorstellung der politischenParteien wirkungslos zu machen. Das Gericht hat keine Vorstel-lung, wie in einem – wenn auch formal – demokratischen Land diepolitischen Parteien regieren können, ohne ihrer eigenen Vorstel-lung von Politik Wirksamkeit zu verschaffen.70 Es passt aber zudem Bild der staatlichen Elite, dass die Grundentscheidungen überdie nationalen Interessen des Landes nur von der oben genanntenKoalition, dem eigentlichen Staat, getroffen werden dürfen.

Dass das Gericht weiterhin den Schutz einer ideologischenStaatsordnung im Namen des »Rechts« weiterführt, wodurch dieForderungen nach Freiheit und demokratischer Partizipation ver-hindert werden, ist nur durch eine methodologische Verbiegungmöglich. Um dieses Ziel zu erreichen, übergeht das Gericht bei derAuslegung die konkreten freiheitsgarantierenden Artikel und stütztsich auf die allgemeinen Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Staats-ziele, Laizismus und Delegationsverbot der gesetzgeberischen Auf-gaben. Bemerkenswert ist, dass über 4 / 5 der Annullierungsurteiledes Verfassungsgerichts ausschließlich auf allgemeinen Grundsät-zen basieren. Indessen darf eine Praxis, die nur auf Grund allge-meiner Rechtsregeln funktioniert, nicht als Rechtmäßigkeitsprü-fung bezeichnet werden.

Das Gericht versucht der ideologischen Bevormundung Effek-tivität zu verschaffen, indem es nicht nur den Tenor, sondern auchdie ganze Entscheidungsbegründung als bindend erachtet. Die sub-

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70 K. 1985/7.

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jektive Meinung des Gerichts erhält Verfassungsrang, obwohl es alsVerfassungsorgan vor allen anderen Organen an die Verfassunggebunden ist. Wenn man bedenkt, dass die Begründung einer Ent-scheidung aus mehreren Paragraphen und hunderten von Sätzenbesteht, bekommt das Gericht damit die Möglichkeit, durch jedeEntscheidung hunderte von Verfassungsbestimmungen zu schaffen,die die Gesetzgebung, ja sogar die Verfassungsgebung bindensollen. Das würde sicherlich als eine »unbegrenzte und unkontrol-lierte konstituierende Gewalt« eines Gerichtes definiert werden.

Die Haltung des Gerichts gegenüber den politischen Parteienist die einer absoluten Einhaltung der grundlegenden ideologischenPräferenzen. Bis heute hat das Gericht 25 Parteien verboten. Vierwurden während der Militärintervention vom 12. März 1971,71

eine am Vorabend des Staatsstreichs am 12. September 198072 unddrei während und nach der als »postmoderner Putsch« beschriebe-nen Militärintervention vom 28. Februar 1997 aufgelöst.73 Zuletztist eine prokurdische Partei verboten worden. Mit der Ausnahmeder letzten zwei Parteiverbotsklagen im Jahre 2008 sind alleParteien, bei denen ein – wenn auch latenter – Verstoß gegen dieStaatsideologie festgestellt wurde, vom Verfassungsgericht verbo-ten worden.

Keine dieser Parteien wurde mit der Begründung aufgelöst, sieverstoße gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Indiesem Zusammenhang sind bislang keine rechtsextremistisch-nationalistischen Parteien, korporatistischen und militaristischenParteien oder Parteien, die den Militärputsch notfalls als legitimbetrachteten, verboten worden. Sondern es wurden diejenigenParteien kriminalisiert und verboten, die Freiheit und demokrati-sche Partizipation forderten. Genauer gesagt, die nationalistisch-kemalistische Wahrnehmung des unitären Staates und die Vor-stellung eines Laizismus, wie er in keinem der demokratischenund säkularen westlichen Ländern jemals verwirklicht wurde unddaher mehr »metaphysisch-klerikal« als säkular ist, sind die eigent-lichen Verbotsgründe für die Parteien mit gesellschafts-konservati-vem, sozialistischem, liberalem oder ethnisch-kulturellem Charak-ter. Die Regierungspartei entging knapp einem Verbot, weil sie sichdie Mühe gab, eine neue Verfassung vorzubereiten. Diese auf derBeseitigung der Opposition gerichtete Praxis spiegelt das 100 jäh-rige Paradigma wider, das lange vor der Gründung des Verfas-sungsgerichts etabliert wurde.

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71 Milli Nizam Partisi, I.leri Ülke

Partisi und Türkiye I.sçi Partisi

wurden 1971, Büyük AnadoluPartisi 1972 verboten.

72 Türkiye Emekçi Partisi wurdekurz vor dem Militärputsch 1980verboten.

73 Refah Partisi wurde 1998, Demo-kratik Kitle Partisi 1999 und Fa-zilet Partisi 2001 verboten.

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Weiter kann festgestellt werden, dass alle Verfassungswidrig-keitsbehelfe gegen die antidemokratischen Normen des Gesetzesüber politische Parteien, das von den Militärputschisten verab-schiedet wurde, vom Verfassungsgericht zurückgewiesen wur-den,74 während alle Normen, welche die Parteien vor einem Verbotschützen sollten, mit der Begründung annulliert wurden, ein Verboterschwerende Normen würden das Regime in Gefahr bringen.75

Die ideologischen Argumente überschatteten die rechtlichen, oderin vielen Entscheidungen waren nur die ideologischen festzustellen.Parteiverbote waren kein Ergebnis einer soziologischen und poli-tikwissenschaftlichen Gefahrenanalyse, sondern automatische Fol-ge des Widerspruchs gegen die Staatsideologie.76

In der Rechtsprechung wurden die Begriffe »Demokratie« und»Freiheit« in der Regel als Instrumente der feindseligen Hand-lungen vorgestellt, gegen die alle staatlichen Organe entschlossenkämpfen sollten.77 Einige Beispiele: Anspruch auf die Anerken-nung der Forderungen nach Pluralismus und Minderheitenrechteführe zum Zerfall des Staates;78 es sei daher notwendig, alle Texteund Reden von Parteien zu diesem Zweck strikt zu unterbinden;79

jede Handlung und jeder Diskurs im Widerspruch mit dem Na-tionalismus Atatürks zerstöre die Einheit des Landes.80 Auf deranderen Seite gibt es überraschenderweise Entscheidungen, indenen Rassismus negativ dargestellt wird. Allerdings ist das Ver-ständnis des Gerichts vom Rassismus nicht derjenige der gemein-europäischen demokratischen Kultur. Was in diesen Entscheidun-gen als »rassistisch« bezeichnet wird, ist z. B. die Aussage darüber,dass »es in der Türkei sich von der Mehrheit unterscheidendeEthnien gibt, deren Kultur und Rechte zu verteidigen sind«.81 DieMehrheit der prokurdischen Parteien wurde u. a. wegen Rassismusverboten. Diese verdrehte Wahrnehmung ist so tief verwurzelt, dassdie Anträge solcher Parteien auf Wiederaufnahme der Verhandlungnach der Verletzungsfeststellung des EGMR ohne Prüfung in derSache abgelehnt wurden.82

Ein wichtiger Begriff in der Demokratie, »Konsens«, wird indenjenigen Fällen zur Begründung herangezogen, die politischbrisant sind und in denen die Verteidigung der Staatsideologie aufdem Spiel steht. In solchen Fällen bedeutet Konsens, die Regie-rungspartei zu zwingen, die Zustimmung der politischen Parteides Vertreters der historischen Koalition, namentlich der CHP,einzuholen. In der berühmt-berüchtigten »367-Entscheidung« im

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74 Muhafazakâr Parti, K. 1983/4;Emek Partisi, K. 1997/1; Demo-kratik Bari

.s Hareketi Partisi,

K. 1997/3; Demokratik Kitle Par-tisi, K. 1999/1 und zuletzt HADEP,K. 2003/1.

75 K. 1998/1; K. 2000/50.76 Ähnlich die Feststellung der oben

genannten Venedig-Kommission,Prg. 33.

77 K. 1989/12.78 K. 1971/3.

79 K. 1971/3; K. 1995/1.80 K. 1993/1; K. 1992/1.81 TBKP K. 1991/1; ÖZDEP

K. 1993/2; SBP K. 1995/1; STPK. 1993/3; DKP K. 1999/1.

82 Entscheidungen vom 8.1.2008K. 2008/2 (HEP); K. 2008/3(ÖZDEP) und K. 2008/4 (TBKP).

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Jahre 2007 wurde ein Zustand erreicht, in dem das Parlament nichtin der Lage war, den Präsidenten der Republik zu wählen, solangedie CHP das Plenum boykottierte.83 Ferner ist das Gericht derMeinung, dass ohne Konsens beschlossene Verfassungsänderungenkeine Gültigkeit haben dürfen, da solche Akte u. a. gegen dieunabänderbaren Normen verstoßen würden.84 Diese Interpreta-tion der Verfassung war eindeutig verfassungswidrig, da es demGericht expressis verbis verboten war, die Verfassungsänderunginhaltlich zu prüfen. Auf der anderen Seite war die Verfassungs-änderung mit einer historischen Mehrheit von drei Vierteln (411von 518 Stimmen und drei von fünf im Parlament vertretenenParteien) verabschiedet worden, die die verfassungsrechtlich vor-gesehene Konsensgrenze (3/5) weit übertraf. Dies entsprach einerMehrheit von fast 80% der Gesellschaft. In beiden Fällen gab dasGericht den Annullierungsanträgen der CHP statt und brachte dasSystem durch die Usurpierung der Kompetenzen des Parlaments ineinen äußerst instabilen Zustand. Rechtlich und praktisch war dieMöglichkeit der Lösung der gesellschaftlichen Probleme wie derethnischen und religiösen Minderheiten, Reformen in Richtung derEU und Neuaufbau des Staates unmöglich geworden. Diese Hürdekonnte erst nach der gesellschaftlichen Mobilisierung und demenormen Druck der Öffentlichkeit während der Volksabstimmungim Sommer 2010 überwunden werden.

IV. Fazit und neue Tendenzen

Wo alle Verfassungen und 80% der gesellschafts- und politik-relevanten Gesetze Produkte der Militärdiktaturen oder der Ein-partei-Diktatur sind, wo die Justiz als Ganzes der demokratischenLegitimation entzogen und der Staat nicht pluralistisch, sondernhomogen aufgebaut ist, kann keine Demokratie und kein Gesell-schaftsfrieden entstehen. Die Zitierung des Rechts kann keinendemokratisch-freiheitlichen Charakter und keine demokratisch-freiheitlichen Effekte haben, da das ganze Rechtssystem Ausflussdemokratischen Willens des Volkes ist. Die Referenzen der Justizkönnen unweigerlich nur dazu dienen, eine bürokratisch-elitäreHegemonie aufrechtzuerhalten, die sich vom Misstrauen gegenüberDemokratie, Pluralität, Freiheit und universellen Werten nährt. Dasmacht immer noch das Bild der Türkei aus. Im Bericht der Venedig-Kommission aus dem Jahre 2009 ist festgestellt worden, dass das

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83 K. 2007/54.84 K. 2008/116

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türkische Verfassungsgericht den demokratischen Werten mehrSchaden zufügt als die Parteien, die von ihm verboten wurden.85

In der Tat ist der Kampf im Namen der Demokratie undFreiheit in erster Linie ein Kampf gegen diese bürokratische Hege-monie. Die Geschichte der türkischen Demokratie ist zugleich dieGeschichte des demokratischen Kampfes gegen eine elitär-büro-kratische Hegemonie über einen Zeitraum von 100 Jahren. Indiesem Kampf hat sich das Verfassungsgericht nie von seinemGründungszweck distanzieren können und war ausnahmslos nurein Teil des als »Republikanische Allianz«, »Historischer Block«oder »Putschkoalition« bezeichneten, elitär-bürokratischen Appa-rats der Bevormundung. Dass das Gericht bislang keine großeAnerkennung und Verinnerlichung in der Gesellschaft genossenhat, ist auch ein Beweis, dass die gesellschaftliche Pluralität keinenWiderhall im Gericht gefunden hat. Im aufschlussreichen Berichtder Venedig-Kommission wird dies mit prägnanten Sätzen vorge-tragen.86

Das Gericht vertritt im politischen Diskurs über die Konzeptevon Freiheit und Demokratie in der Regel eine negative Haltung.Es ist sogar sehr schwierig, Entscheidungen vorzulegen, in denendas Gericht Begriffe wie Freiheit und Demokratie juristisch defi-niert. Aus diesem Grunde ist es auch schwierig, in der Türkei eineüber das Ausmaß eines Artikels hinausgehende deskriptive Studieüber Themen wie Demokratie und Menschenrechte in der Recht-sprechung des Verfassungsgerichts zu finden. Auf der anderen Seitejedoch spielt das Gericht die Rolle des kompromisslosen Beschüt-zers der Grundsätze wie »Atatürkismus«, »Säkularismus«, »un-teilbare Einheit des türkischen Staates mit seiner Nation undseinem Territorium« und »Schutz der militärischen und zivilenBürokratie«. Insbesondere die politisch relevanten Entscheidungensind grundsätzlich mit diesen Begriffen gesättigt, und wissenschaft-liche Monografien konzentrieren sich eher auf solche vom Gerichtverewigten und heiliggesprochenen Begriffe.

Der Aktivismus des Gerichts tritt nicht in den Fällen derGrundrechte und Freiheiten hervor, sondern dann, wenn es umdie ideologische und administrative Struktur des Staates geht.87

Das Gericht setzt sich kaum bei den Normen, wo es um Grund-rechte an sich geht, mit dem Gesetzgeber auseinander. Es ist derBeschützer einer Staatsideologie, die sich in den 20er und 30erJahren geformt hat und durch periodische Militärputsche bis in

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85 Venice Commission, Prg. 108,http://www.venice.coe.int/docs/2009/CDL-AD(2009)006-e.asp.

86 Prg. 87–88.87 In dieser Richtung s. Mehmet

Turhan, Anayasa Yargi.si.ni.n De-

mokratik Hukuk DevletindekiI.slevi ve Mesrulugu, in: Anayasa

Yargi.si.

I.ncelemeleri I, hg. von

Mehmet Turhan und HikmetTülen, Ankara 2006, 60 ff.;Belge (Fn. 2) 656.

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die Gegenwart behaupten konnte. Es ist Beschützer einer Raisond’État, die im 21. Jahrhundert anachronistisch erscheint.

Allerdings ist das Fortbestehen dieses anachronistischen Para-digmas angesichts der gesellschaftlichen und politischen Entwick-lungen nicht mehr möglich. Nach dieser Bilanz des Verfassungs-gerichts in der Türkei, insbesondere der letzten 3 Jahre, wurde2010 eine neue und riskante Phase von Verfassungsänderungengestartet. Dies war deshalb riskant, da sie genau die Reformierungdes Verfassungsgerichts zum Gegenstand hatten und das Gerichtseine verfassungswidrige Rechtsprechung sicher hätte wiederholenkönnen.

Durch die Verfassungsänderung erhöhte sich die Zahl derMitglieder des Gerichts von 11 auf 17 und dem Parlament wurden3 Kontingente gewährt, welche letztendlich mit einfacher Mehrheitbesetzt werden konnten. Alle anderen Mitglieder sollen weiterhinvom Staatspräsident ernannt werden. Die Kontingente des Militär-kassationshofs und des Militärischen Verwaltungsgerichtshofsblieben erhalten. Das Gericht bekam zum ersten Male in der tür-kischen Geschichte die Kompetenz der Verfassungsbeschwerde.Die Möglichkeit der Ernennung erstinstanzlicher Richter zum Ver-fassungsgericht war auch ein Novum. Dies war ein Zeichen derEnthierarchisierung der Justiz.

Das Verfassungsgericht konnte die Verfassungsänderung nichtannullieren, welche nach einer historischen gesellschaftlichen Mo-bilisierung mit einer Mehrheit von 58% in einer Volksabstimmungangenommen wurde.

Insgesamt gesehen hat die neue Komposition die Frage derdemokratischen Legitimität nicht vollständig gelöst. Aber die poli-tischen Folgen sind revolutionär. Die Anhänger der bürokratisch-elitären Hegemonie haben keine Mehrheit mehr im Gericht. DasGericht kann nicht mehr als Beschützer der Staatsideologie fungie-ren und keinen Paradigmenwechsel verhindern. Das ist der histo-rische Moment, in dem sich die Gesellschaft zum ersten Mal inihrer Geschichte eine neue Verfassung gibt und ihren Frieden aufder Grundlage eines im freien deliberativen Diskurs beschlossenen»Contract Social« finden kann.

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* Professor für Verfassungsrecht(Istanbul) und ehemaliger bericht-erstattender Richter am türkischenVerfassungsgericht.