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APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 28/2009 · 6. Juli 2009 Deutschland seit 1990 Everhard Holtmann Signaturen des Übergangs Regina Bittner Kulturtechniken der Transformation Anna Klein · Wilhelm Heitmeyer Ost-westdeutsche Integrationsbilanz Karl-Heinz Paqué Transformationspolitik in Ostdeutschland: ein Teilerfolg Uwe Jun Wandel des Parteien- und Verbändesystems Wolfgang Ismayr Der Deutsche Bundestag seit 1990 Volker Kronenberg „Verfassungspatriotismus“ im vereinten Deutschland Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament

Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 2009,28 - bpb.de · Paul Pierson, Increasing Returns, Path De-pendence, and the Study of Politics, in: American Po-litical Science Review, 95

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APuZAus Politik und Zeitgeschichte

28/2009 · 6. Juli 2009

Deutschland seit 1990

Everhard HoltmannSignaturen des Übergangs

Regina BittnerKulturtechniken der Transformation

Anna Klein · Wilhelm HeitmeyerOst-westdeutsche Integrationsbilanz

Karl-Heinz PaquéTransformationspolitik in Ostdeutschland: ein Teilerfolg

Uwe JunWandel des Parteien- und Verbändesystems

Wolfgang IsmayrDer Deutsche Bundestag seit 1990

Volker Kronenberg„Verfassungspatriotismus“ im vereinten Deutschland

Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament

EditorialIm welthistorischen Umbruch von 1989/91 war die unver-

hoffte Vereinigung von Bundesrepublik und DDR ein Glücks-fall. Die anderen Staaten des zerfallenden Ostblocks hatten nichtdie Möglichkeit, sich einem westlichen „Erfolgsmodell“ staatlichanzuschließen, und beschritten eigene Transformationspfade.

Doch auch Deutschland tut sich seit 1990 mit den Wandlungs-prozessen schwer. Bei oberflächlicher Betrachtung hat sich aufdem Weg in die „Berliner Republik“ im Westen Deutschlandswenig, im Osten fast alles verändert: das Wirtschafts- und Sozial-system, die politische Ordnung, der Alltag. Der häufig ankla-gend verwendete Topos von der ausgebliebenen „Ankunft“ deu-tet an, welche Adaptationsleistungen den Ostdeutschen zugemu-tet wurden. Von gleichen Lebensverhältnissen in Ost und Westsind wir indes noch immer entfernt.

Doch wie viel „innere Einheit“ ist möglich, wie viel ist nötig?Gelebte Leben drohen entwertet, Mentalitäten nicht berücksich-tigt zu werden, wenn nur auf Homogenisierung gezielt wird.Während die vier Jahrzehnte der Teilung in der jungen Genera-tion eine weit geringere Rolle zu spielen scheinen, drücken er-regte Debatten um den „Unrechtsstaat DDR“ aus, wie sehr Bio-graphien in Ost und West immer wieder auf dem Prüfstand ste-hen. Es gilt die unter schwierigeren Bedingungen erbrachteLebensleistung vieler Ostdeutscher ebenso ernst zu nehmen wie(nicht allein materielle) Verlustgefühle mancher Westdeutscher,die sich über Nacht aus einem komfortablen Winkel der Weltpo-litik vertrieben sehen. Deutschland hat sich seit 1990 verändert.Im Verlauf der globalen Wirtschaftskrise steht nun das westliche„Erfolgsmodell“ auf dem Prüfstand.

Hans-Georg Golz

Everhard Holtmann

Signaturen desÜbergangs

Systemwechsel stellen elementare Ein-schnitte dar, zumal dann, wenn sie in Po-

litik und Wirtschaft zeitlich synchron erfol-gen und von heftigen sozialen Verwerfungen

begleitet werden.Vom Wandel erfasstwerden dabei nichtnur staatliche Institu-tionen und parastaat-liche Einrichtungenwie der Bereich sozia-ler Sicherung, sondernauch der gesamteökonomische Sektor,ferner kulturelle Deu-tungsmuster und per-sönliche Überzeugun-gen. Ebenso greifenSystemwechsel derbeschriebenen Grö-

ßenordnung einschneidend in die Lebensla-gen der Betroffenen ein. Aus deren Sicht wer-den vormals sicher geglaubte Entwürfe indi-vidueller Lebensplanung häufig entwertet;folglich müssen auch solche biographischen„Skripte“ im Alltag unter Bedingungen an-haltend hoher Unsicherheit überarbeitet wer-den.

Welche Richtung die Verdichtungen neh-men, die sich im Zuge des Systemwechselsherausbilden, und ob gemachte Reform-schritte unumkehrbar sind, lässt sich nichtexakt vorhersagen. Die Ausgangssituation desSystemumbruchs ist mit Blick auf das „Da-nach“ eine prinzipiell offene Versuchsanord-nung. Der anschließende Entwicklungspfadkann, wie ein vergleichender Blick auf diepostsozialistischen Transformationsstaaten inEuropa seit 1989 anschaulich zeigt, durchausunterschiedlichen, ja gegenläufigen Wegmar-ken folgen. Aus demselben epochalen Sys-temwechsel heraus sind teilweise „defekte“Demokratien (wie in Albanien) und teilweiseauch zu Autokratien sich zurückentwickeln-de Präsidialregime (wie in Weißrussland) ent-standen.

Aus der deutschen Einigung indes ist, trotzdes auch hier enorm schwierigen Struktur-wandels und fortdauernden Anpassungsbe-darfs, eine wirtschaftlich leistungsfähige undpolitisch stabile Demokratie hervorgegangen.Das nunmehr gesamtdeutsche Institutionen-gefüge erweist sich unter ökonomisch wiepsychologisch problematisch bleibendenUmfeldbedingungen als hinreichend elastisch,um die Fliehkräfte sozialer Ungleichheit auf-zufangen.

Doch bekanntlich ist die deutsche Einheit,über zwei Jahrzehnte betrachtet, sprunghaft,erratisch und auch widersprüchlich verlaufen.Es gab nicht den großen historischen Plan,der abzuarbeiten war. Gleichwohl hat derSystemwechsel eine zielgerichtete Entwick-lung genommen, die heute das Stadium einerweitgehend konsolidierten Demokratie undMarktwirtschaft erreicht hat. Dies weist dar-auf hin, dass die Entwicklung eben nicht zu-fallsbedingt („kontingent“) verlaufen ist, son-dern wesentlich als ein Ergebnis von bedach-ten Steuerungsleistungen handelnder Perso-nen angesehen werden muss. Wenn solchestrategischen Eingriffe für eine nachhaltigeUmbildung und Neubildung der Institutio-nen sorgten, haben sie wiederholt den Über-gang zu einer neuen Phase im Verlauf desSystemwechsels eingeleitet.

Wo aber können wir auf der Zeitachse derEinigung „Signaturen“ derartiger Übergängeauffinden? Unter Signaturen verstehen wirZeichen, die Eigenheiten von Zeiten deutlichmachen und sie von anderen unterscheiden.Solche Zeit-Zeichnungen bilden selten stati-sche Punkte als vielmehr häufiger gleitendeProzessgrößen ab. Sie streuen territorial überdie Ebenen von Bund, Ländern und Kommu-nen und sektoral über Politikfelder und ein-zelne Wirtschaftsbranchen. Demgemäß sindsie ungleichzeitig, gleichsam in verschobenerhistorischer Anordnung entstanden.

Signaturen, die im Fortgang des Einigungs-prozesses Übergänge markieren, entstehenaus anerkannten Regulativen sozialen Ge-schehens. Diese unterscheiden sich nach ihrerZwecksetzung und Sinngebung: Es gibtstrukturelle Leitentscheidungen, die auf denWandel formaler Institutionen (Verfassung,Recht, kollektive Organisationen) abheben.Eingebettet in diese verstetigen sich informaleHandlungsmuster, die für steuernde Akteure

Everhard HoltmannDr. phil., geb. 1946; Professorfür Politikwissenschaft an der

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Sprecher des

Sonderforschungsbereichs(SFB) 580 (Gesellschaftliche Ent-

wicklungen nach dem System-umbruch) der Universitäten Jenaund Halle; Institut für Politikwis-

senschaft und Japanologie,Postfach, 06099 Halle (Saale)

[email protected]

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– etwa die neuen politischen Delegationseli-ten in Ostdeutschland – ein ungeschriebenes,aber wichtiges Regiebuch liefern. Unterhalbder Ebene rational-strategischen Handelnsexistieren generalisierte Verhaltensmuster,welche in Krisenzeiten die Funktion von See-lenankern haben: Wer im Gefolge des Um-bruchs „umlernen“ muss und sich dabei vor-mals unbekannten Risiken des Arbeitsplatz-verlusts und des sozialen Abstiegs gegenübersieht, greift für die Deutung von Dissonan-zen, die zwischen eigenen subjektiven Erwar-tungen und objektiv erfahrenen Enttäuschun-gen aufbrechen, bevorzugt auf elementare so-zialmoralische Normen zurück, weil diesevermeintlich auf ewig gültig ansagen, „wasrecht ist“ und „was Not tut“.

Kulturelle Orientierungen, die unangreif-bar scheinen wie letztere, bringen sich in Zei-ten des Umbruchs mit der Kraft moralischerEwigkeitsklauseln in Erinnerung. Das kanndie Demokratiebildung fördern, aber auch er-schweren. Ostdeutschland bestätigt diesesambivalente Bild: Einerseits ist hier die An-zahl der Bürgerinnen und Bürger, die meinen,es gehe in unserer Gesellschaft nicht „ge-recht“ zu, seit langem besonders groß. Aufdem kargen Boden gefühlter Benachteiligungfindet das Grundvertrauen in demokratischeInstitutionen ungünstige Wachstumschancenvor. Andererseits aber pflegen Ostdeutschehäufiger einen Wir-Sinn, ein Verständnis vonGemeinschaftsgeist, das stärker als in West-deutschland in abstrakten Leitbildern des So-zialen gründet. Wohl lässt, wer sich auf „dasallgemein Menschliche“ als Prinzip für seinsoziales Verhalten zurückzieht, damit erken-nen, dass er sich auf das neue Angebot an in-stitutionalisierten sozialen Mitwirkungsmög-lichkeiten (noch) nicht vorbehaltlos einlassenmag. Doch auch das „eher ideelle Bild vomWir“, das dabei gepflegt wird, verringert kei-neswegs dramatisch die Bereitschaft zu bür-gerschaftlichem Engagement. 1

Pfadmodell und Verlaufslogikdes Systemwandels

Die Metapher des Entwicklungspfades ist derTheorie des Historischen Institutionalismus

entlehnt. 2 Der ihr korrespondierende bild-hafte Begriff „sprunghafter“ Entscheidungenverweist darauf, dass im Fortgang des Pfadeswiederholt Verzweigungen (critical junctures)auftauchen, welche die Akteure in offeneEntscheidungssituationen stellen und ihnenWeichenstellungen abverlangen. Die Ent-scheidung ist riskant, weil die Folgen unge-wiss sind. Ein Entwicklungspfad festigt sichin dem Maße, wie die Richtungsentscheidun-gen institutionell verstetigt werden und wiesich weitere „unterwegs“ ausprobierte Mus-ter zur Steuerung und Lösung komplexerProbleme aus Sicht der Beteiligten bzw. Be-troffenen bewähren. Rational handelnde Ak-teure sehen sich in der Regel nicht veranlasst,von einem bewährten Entwicklungspfad ab-zuweichen. Das Handeln der Akteure bewegtsich hinfort in erprobten Wiederholungs-schleifen, das heißt, es kommt zu den Effek-ten von increasing returns, die den Pfad stabi-lisieren.

Die im Pfadmodell skizzierte Verlaufslogikgibt den tatsächlichen Entwicklungsgang derdeutschen Einigung recht gut wieder, auchderen mäandernde Windungen. Wo lassensich Umschlagspunkte „signieren“, an denenkritische Entscheidungen zu fällen waren unddie, verglichen mit der Zeit davor, eine neuePfadqualität markieren? Solche Signaturenhaben sich mehr oder weniger markant einge-prägt. Während sich in der Regel genau be-stimmen lässt, wann Reformen in Politik,Wirtschaft und Verwaltung formell umgesetztworden sind, vollzieht sich Wandel beim Er-zeugen und Überdenken, beim Lernen undVerstetigen von Handlungsmustern undSelbstdeutungen als fließender Prozess. Folg-lich sind phasenbildende Prägungen, die voninformalen Verständigungen und kulturellenOrientierungen ausgehen, weicher gezeich-net. Sie treten erst dann deutlicher zutage,wenn ihre Effekte über längere Zeitabschnittevergleichend betrachtet werden.

Der Neubau von Institutionen und dasNeujustieren von Handlungsmustern stehenfür unterschiedliche und auch unterschiedlichsichtbare Bewältigungsvarianten des System-wandels. Ob sie modellhaft werden und sichbewähren, erweist sich erst in der Längs-

1 Vgl. Michael Corsten/Michael Kauppert/HartmutRosa, Quellen bürgerschaftlichen Engagements, Wies-baden 2008.

2 Vgl. Paul Pierson, Increasing Returns, Path De-pendence, and the Study of Politics, in: American Po-litical Science Review, 95 (2000), S. 251–267.

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schnittbetrachtung. Wie die im Verlauf derdeutschen Einigung situativ auftretendenHerausforderungen (challenges) von den Ak-teuren im Einzelfall angenommen und in Ge-stalt von responses beantwortet worden sind,kann hier nicht ausführlich dargelegt wer-den. 3 Sowohl institutionelle Verfestigungen,die aus der Bearbeitung einigungsbedingterProbleme entstanden, als auch darauf gerich-tete Orientierungen werden in das nachste-hend vorgestellte Drei-Stufen-Modell desEinigungspfades einbezogen. Mit diesemPhasenschema werden die in der Systemwech-selforschung geläufigen Kategorien der „Tran-sition“ und der „Transformation“ um denPhasenbegriff der „Posttransformation“ er-gänzt. 4 Auch für die posttransformatorischeEntwicklungsstufe werden Strukturmerkmaleund Kulturmuster benannt, die diesen drittenÜbergang vornehmlich aus der Sicht der ost-deutschen Umbruchslandschaft „signieren“.

Schöpferische Demontage –die Phase der Transition

Der Begriff Transition bezeichnet in der Lite-ratur den unmittelbaren, abrupten Übergangvom alten zum neuen System. Gewendetgegen herrschende autokratische Zustände,wird die Demokratie ein gewolltes Pro-gramm. 5 Auf der Ebene der handelnden Ak-teure kommt es zu einer Abfolge „zerstöreri-sche(r) Eingriffe“ in hergebrachte Struktu-ren. 6 Während die Fassaden der alten Machtbröckeln, nutzen beherzte oppositionelle Ak-teure die sich öffnenden Gelegenheitsfensterfür subversive Aktionen und rücken in die

Rolle systemüberwindender Entscheider. Ge-handelt wird spontan und improvisiert, an-fangs auch unkoordiniert. Sich überstürzendeEreignisse erfordern kurzfristige Reaktionen.Den Widerstand der alten Gewalten kannniemand sicher einschätzen.

Dieses Szenario der Transition ist kenn-zeichnend für die Entwicklung in Ost-deutschland. Folgende Signaturen des Über-gangs werden schon 1989/90 deutlich: 1. dienachhaltige politisch-moralische Delegiti-mierung der alten staatlichen Macht; 2. dasAufbrechen des ideologischen Deutungsmo-nopols des realsozialistischen Regimes aufder Ebene der Systemziele; 3. Handlungs-starre und Tendenzen opportunistischer An-passung im Apparat des staatlichen Gewalt-monopols; 4. die schrittweise Ersetzung deshegemonialen Parteiensystems und der zen-tralistischen Diktatur durch ein institutio-nelles Interim; 5. eine in der Bevölkerungverbreitete virtuelle „Quasi-Identifikation“mit dem westdeutschen Parteiensystem, 7

die sich dank Westfernsehen und Besucher-verkehr bereits zu DDR-Zeiten aufgebauthatte und die schnelle Angleichung west-und ostdeutscher Parteipräferenzen erleich-terte.

An den institutionellen Zwischenlösungenund Mischformen in Politik und Verwaltunglässt sich beispielhaft zeigen, wie die Ablö-sung alter Systemstrukturen und ihre Erset-zung durch neue Hand in Hand gingen. Wäh-rend noch am Zentralen Runden Tisch undseinen regionalen und lokalen Ablegern derSED die Macht „Stück für Stück abgerungen“wurde, 8 setzte von Westdeutschland ausjener Transfer von Institutionen, Normen,Praktiken, Personen und Finanzmitteln ein,der die Neuordnung der staatlichen Gewaltenunter den Vorzeichen von Demokratie undRechtsstaat maßgeblich von der kommunalenEbene her voranbrachte. Die Maßnahmenzur Demokratisierung der Institutionen undzur Professionalisierung des Personals began-nen gleichzeitig bzw. sind einander dicht ge-folgt. Die Wahlen zur Volkskammer (März

3 Vgl. Heinrich Best, Der Challenge-Response-An-satz als forschungsleitende Perspektive für die Trans-formationsforschung, in: Dorothée de Nève/MarionReiser/Kai-Uwe Schnapp (Hrsg.), Herausforderung-Akteur-Reaktion. Diskontinuierlicher sozialer Wandelaus theoretischer und empirischer Perspektive, Baden-Baden 2007, S. 11–23.4 Die Phasenfolge gründet in Überlegungen im SFB580 der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der anden Universitäten Jena und Halle seit 2001 gesell-schaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruchuntersucht. Vgl. Everhard Holtmann/Helmut Wiesen-thal, Transition-Transformation-Posttransformation(SFB 580 Mitteilungen 31), Jena-Halle 2009.5 Vgl. Wolfgang Merkel, Systemtransformation, Op-laden 1999, S. 15.6 So im Vorwort bei Roland Czada/Gerhard Lehm-bruch (Hrsg.), Transformationspfade in Ostdeutsch-land, Frankfurt/M. 1998.

7 So Carsten Bluck/Henry Kreikenbom, Die Wählerin der DDR: Nur issue-orientiert oder auch partei-gebunden?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 22(1991), S. 395–402.8 So der Bürgerrechtler Tom Sello in der SüddeutschenZeitung vom 8. 5. 2009.

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1990) und zu den kommunalen Vertretungs-körperschaften (Mai 1990) fanden bereits aufder Grundlage demokratischer Wahlgesetzestatt. Während die Runden Tische eher diefür die Initiierung von Systemwechseln typi-sche, dramatisierende Aktion verkörperten, 9

ging es in den laufenden Geschäften derKreis- und Gemeindeverwaltungen vorrangigdarum, ein administratives Umdenken anzu-stoßen, das dem Legalitätsprinzip verpflichtetist.

Diese Zeitspanne der Vor- und Frühge-schichte der deutschen Einheit hat für denEntwicklungspfad entscheidende Weichen ge-stellt. Doch ebenso brachte sie Illusionen,enttäuschte Hoffnungen und Irritationen,selbst versteckte Reformblockaden hervor.Der von der frei gewählten Volkskammer er-arbeitete Verfassungsentwurf blieb ohne kon-stitutionelle Folgen. In Westdeutschland ent-standene Gesetze und Verordnungen erwie-sen sich wiederholt als nur bedingtbrauchbar. Infolge eines nur partiellen Eliten-austauschs in der öffentlichen Verwaltungwurden der alte und der neue Amtsgedankevielerorts zu einem disharmonischen Ge-spann zusammengewürfelt. 10

Die Signaturen der Transition machen denCharakter dieser Phase als Übergang zwi-schen den Systemen anschaulich. Kontinui-tätslinien wurden nicht vollends gekappt.Umgekehrt blieb noch ungewiss, welche Er-rungenschaften der Friedlichen Revolutionsich als langlebig erweisen würden. Wedersind die Nachwirkungen der Vermächtnisse(legacies) der realsozialistischen Ära an denGrenzstellen zur neuen Zeit vollkommen ver-siegt, noch gewannen die Gegenentwürfe derErneuerung schlagartig eine nachhaltige Sta-bilität. Genuine Schöpfungen der Umbruchs-tage wie die Runden Tische, welche histori-sche Bedeutung erlangten, besaßen von An-fang an nur eine zwischenzeitliche Funktion.Diese war erfüllt, als gewaltenteilige Organeetabliert waren.

Institutionenbildung und begrenztkontrollierbare Ungewissheit –

die Phase der Transformation

Der Transition schließt sich die Transformati-on an. Obschon die Phasen des Systemwech-sels gleitende Übergänge abbilden, bedeuteteder 3. Oktober 1990 eine Zäsur. Mit dem Bei-tritt der neuen Bundesländer zum Bundesge-biet gemäß Artikel 23 GG wurde der faktischbereits erfolgte Transfer von Föderalismusund kommunaler Selbstverwaltung, vonrechtsstaatlich gebundener Staatstätigkeit undWohlfahrtsstaatlichkeit verfassungsrechtlichauf Dauer gestellt. Auch das extrakonstitutio-nelle Ordnungsmodell des rheinischen Kapi-talismus stellt einen integralen Teil diesernach Ostdeutschland verlängerten Institutio-nenbildung dar.

Hinfort biegt Gesamtdeutschland aufeinen Entwicklungspfad ein, der die viel be-schriebenen Pfadabhängigkeiten hervor-bringt: Erprobtes bewährt sich, und Bewähr-tes wird zur Gewohnheit. Zwar handeltenAkteure während der Transformationsphaseweiterhin unter Bedingungen von Unsicher-heit, und die Treffsicherheit von Entschei-dungen war nach wie vor begrenzt. Weilaber die latenten sozialen und ökonomischenRisiken insgesamt vertrauter wurden undweil daher in wachsendem Maße auf „mus-terhafte“ Lösungen zurückgegriffen werdenkonnte, bevorzugten die Akteure pfadkon-forme Entscheidungen.

Es ist ein weiteres Kennzeichen der Trans-formation in Ostdeutschland, dass Verfahrenund Praktiken, die bei der Bearbeitung vonunmittelbar aufbrechenden krisenhaften Fol-gen des Umbruchs nicht selten freihändig an-gewandt worden waren, nun verrechtlichtwurden. Transformation bringt auch nachho-lende Regelungsdichte: Es kommt zur „Kodi-fizierung neuer Faktizitäten“. 11 Das neu ge-setzte Recht hat nicht ausnahmslos auf An-hieb überzeugt. Ein Beispiel für ehermisslungenes Gesetzesrecht des Bundes sinddie Regelungen zur Rückübertragung enteig-neter Immobilien an Alteigentümer.

9 Vgl. W. Merkel (Anm. 5), S. 75. Ferner Uwe Thaysen(Hrsg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. 5 Bde.,Wiesbaden 2000.10 Vgl. Everhard Holtmann, Aspekte und Problemedes west-ostdeutschen Verwaltungstransfers, in: BerndWeisbrod (Hrsg.), Grenzland. Beiträge zur Geschichteder deutsch-deutschen Grenze, Hannover 1993,S. 110–120.

11 Roland Czada, Schleichweg in die „Dritte Repu-blik“. Politik der Vereinigung und politischer Wandelin Deutschland, in: Politische Vierteljahresschrift, 35(1994), S. 252.

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Ein anderes Merkmal der Transformations-phase lässt sich in die Formel der verloren ge-henden und wiedergewonnenen Klarheit öf-fentlicher Verantwortlichkeit kleiden: AlteSystemkomplexe in Schlüsselsektoren vonGesellschaft, Politik und Wirtschaft ereiltealsbald ihre Auflösung bzw. „Abwicklung“.Die Folgen waren einschneidend und teilwei-se chaotisch. Als die Industriekombinate zer-fielen, brachen auch betrieblich unterhaltene,breit gefächerte Dienste sozialer und kultu-reller Betreuung weg. Auf anderen, politi-schen Baustellen des Systemwandels wurdenZuständigkeiten, die gemäß den normativenLeitbildern der neuen Ordnung hätten aufge-teilt sein sollen, vorübergehend in einer Handzusammengefasst. Nach den Runden Tischennahmen es auch neu gewählte Kommunalver-tretungen mit dem Grundsatz der Gewalten-teilung anfangs nicht ganz so genau, etwaindem sie die gleichzeitige Wahrnehmungvon Amt und Wahlmandat zuließen.

Eine andere Variante von „verschobenerVerantwortlichkeit“ bei der Organisation derBereitstellung von Gemeingütern wird aufdem Arbeitsmarkt erkennbar: Die Tendenzder Betriebe zur „Externalisierung“, d. h. Per-sonen durch Frühverrentung und Entlassun-gen auszusteuern sowie auf eine externe An-werbung von Arbeitskräften zu setzen, wobeidie eigene betriebliche Ausbildungsleistungtrotz eines absehbaren künftigen Fachkräfte-mangels zurückgefahren wird, 12 läuft defacto auf die Auslagerung von interner Ver-antwortlichkeit hinaus. Solche Formen vonEntdifferenzierung, also der Verringerung,der Vermengung oder des Abstoßens gesell-schaftlich aufgeteilter Funktionen, sind wieihre anschließende Korrektur mutmaßlich ge-nerell eine typische Begleiterscheinung vonSystemwechseln.

Ebenfalls in der Phase der Transformationwerden verloren gegangene Differenzen teil-weise wieder wettgemacht. Auch hierfürzwei ostdeutsche Beispiele: Mittels finanziel-ler Sonderzuweisungen, durch kommunaleKraftanstrengungen und den Aufbau des

Dritten Sektors öffentlicher Wohlfahrt konn-ten Versorgungslücken, die durch den Wegfallbetrieblicher Angebote klafften, in staatlicher,kommunaler oder privater Regie allmählichgeschlossen werden. Dazu trug die „Repara-turgesetzgebung“, die der Verankerung derdemokratischen Basisinstitutionen im erwei-terten Geltungsbereich des Grundgesetzesnachfolgte, insofern bei, als sie den sozial-staatlichen Verfassungsauftrag präzisierte.Und anders als im Beschäftigungssektor, aufdem die Entwicklung zur Externalisierungdes Arbeitsmarktes anhält, kommt es mit dernachjustierten kommunalen Gewaltenteilungund der öffentlich/privat neu organisiertenArbeitsteilung im Bereich sozialer Dienste zuangemessenen Formen von gegliederter Ver-antwortlichkeit und damit zu neuerlicherDifferenzierung.

Geminderte Handlungsrisiken –die Phase der Posttransformation

Im Laufe der Posttransformation verdichtensich die Anzeichen dafür, dass allmählich eine„neue Normallage“ 13 eingekehrt ist. Zwarbleibt das management of uncertainty, 14 dasBemühen, durch unsichere Gewässer zu steu-ern, eine Daueraufgabe. Akteure sehen sichnach wie vor zu „riskanten“ Wahlhandlungengenötigt. Doch rücken jetzt einerseits stärkerglobale – und weniger einigungsbedingte –Anforderungen der Risikokontrolle, wiejüngst die Folgenabschätzung der weltweitenFinanzmarktkrise, in den Vordergrund. Zumanderen gehen den Akteuren zwar nicht dieProbleme aus, aber diese werden handhabba-rer: Nunmehr bestimmen „immer wenigerdie Altlasten aus der Zeit vor der System-transition oder die Probleme des Übergangsselbst, sondern überwiegend die ungeplantenund vielfach unerwünschten Folgewirkungeneines in weiten Teilen durchaus geglücktenTransformationsprozesses den Problemhaus-halt (. . .)“. 15

Ausgedrückt wird damit die Annahme,dass Pfadabweichungen oder gar eine Pfad-umkehr zunehmend weniger wahrscheinlichwerden. Weil sich in der Posttransformation

12 Vgl. SFB 580, Fortsetzungsantrag auf Finanzierungfür die Jahre 2008–2012, Jena-Halle 2007, S. 28 ff.; vgl.ausführlich Christoph Köhler/Olaf Struck/MichaelGrotheer/Alexandra Krause/Ina Krause/Tim Schrö-der, Offene und geschlossene Beschäftigungssysteme,Wiesbaden 2008.

13 Vgl. R. Czada (Anm. 11), S. 259.14 Peter A. Hall/Rosemary C.R. Taylor, Political Sci-ence and the Three New Institutionalisms, in: PoliticalStudies, 44 (1996), S. 951.15 SFB 580 (Anm. 12), S. 17.

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die Vorwarnzeiten, 16 innerhalb derer sich Ri-siken aufbauen, verlängern und weil zudemmit Risikolagen insofern entspannter umge-gangen werden kann, als – anders als früher –genauer abschätzbar ist, wer von bestimmtenLösungsvorschlägen betroffen ist, wird dieBearbeitung der Probleme leichter. Gewöh-nungseffekte ließen sich auf der Ebene der in-dividuellen Bewältigung einigungsbedingterHerausforderungen schon in der Zeitspanneder Transformation nachweisen. Das trifftauch für Regionen zu, in denen die Beschäfti-gungschancen und stützende soziale Infra-strukturen schwach ausgebildet sind. „Wenn(. . .) viele andere Bewohner der Region vonähnlichen Problemen betroffen sind, so sinddie eigenen Probleme nicht mehr so stark fürdas psychische Befinden relevant.“ 17 Zu er-warten ist aber, dass sich die Persönlichkeits-merkmale, die einen selbstsicheren Umgangmit Anforderungen des Wandels begünstigen,im Fortgang der Posttransformationsphase inder Rangfolge verschieben. Kam es zunächstauf die individuelle Ausstattung mit psycho-sozialen Ressourcen wie Selbstvertrauen undsoziale Unterstützung an, so dürfte der Fak-tor Bildung als Chance zur Entwicklung per-sönlicher „Selbstwirksamkeit“ bedeutsamerwerden. 18

Als Signaturen der Posttransformation las-sen sich folgende Vorgänge bzw. Sachverhaltein thesenhafter Form benennen:

1. eine hinreichend hohe Leistungsfähigkeitund eine gefestigte kulturelle Verankerungder staatlich-politischen Einrichtungen: Wieneueste repräsentative Erhebungen bestäti-gen, 19 werden die Strukturentscheidungendes Grundgesetzes sowie die Leitziele einersozial verpflichteten Marktwirtschaft von derbreiten Mehrheit bejaht;

2. relativ stabile Handlungsmuster der Ak-teure: Eingebettet in die neue Ordnung öf-fentlicher Institutionen, die inzwischen weit-hin selbstverständlich in Besitz genommen

wird, haben sich auf der Ebene der Akteurevertraute und durch Erfahrung gehärteteMuster des Agierens und Reagierens ausge-formt;

3. ein Übergang zu „normaler“ Ungleich-heit: Mit dem Abklingen der Anpassungs-krise, die dem wirtschaftlichen Strukturwan-del folgte, setzen sich Mechanismen vertikalersozialer Mobilität stärker durch. Die persön-lichen Chancen und Risiken werden wenigerdurch die zufallsbedingte Zugehörigkeit zumSchicksalskollektiv von Einigungsverlierernbestimmt, sondern mehr an den individuellenNachweis formaler Qualifikation und effekti-ver Leistung gebunden. Solche „normali-sierte“ Ungleichheit, die aus der Dynamikmoderner Leistungsgesellschaften resultiert,überlagert jedoch allenfalls jenes ältere sozialeGefälle zwischen Gewinnern und Verlierernder Einigung, das noch länger sichtbar blei-ben wird;

4. ein steigender Handlungsdruck infolgesich belastend auswirkender Umfeldbedin-gungen: Während sich der Risikograd vonProblemlagen abmindert, wachsen die He-rausforderungen durch kontextuelle Fakto-ren, die nicht oder nur mittelbar einigungsbe-dingt sind. Hierzu gehören die weltweite Ver-netzung der Volkswirtschaften und Märkte,die Alterung der Gesellschaft, die Überschul-dung der öffentlichen Haushalte, die Abwan-derung gut ausgebildeter jüngerer Menschennach Westdeutschland, die niedrige Wahlbe-teiligung sowie eine verbreitete Unzufrieden-heit mit dem Funktionieren der Demokratie.Solche Belastungen können auch Anreizefreisetzen, um kreative Lösungen zu ersin-nen;

5. ein demokratieverträgliches Austragenvon Interessenkonflikten: GesellschaftlicheVerteilungskämpfe und selbst Kontroversenum Wertentscheidungen setzen keine sozialeDynamik frei, die über den Rahmen der Ver-fassungsordnung hinausweist. So sind etwadie zu neuen „Montagsdemonstrationen“ausgerufenen Proteste gegen die Hartz-IV-Gesetze im Sommer 2004 niemals nur in dieNähe einer kritischen Größenordnung sozia-ler Unruhen gekommen. Auch unter den Vor-zeichen der aktuellen Krise des Finanzkapita-lismus wird in Ostdeutschland die Systemfra-ge weder seitens der Eliten noch in derMehrheit der Bevölkerung ernsthaft gestellt;

16 Vgl. Hartmut Rosa/Steffen Schmidt, Which Chal-lenge, Whose Response?, in: D. de Nève u. a. (Anm. 3),S. 53–72.17 Rainer K. Silbereisen/Martin Pinquart (Hrsg.), In-dividuum und sozialer Wandel, Weinheim–München2008, S. 29.18 SFB 580 (Anm. 12), S. 30.19 Siehe zuletzt Konrad Adenauer Stiftung, Demo-kratieverständnis in Deutschland, St. Augustin 2009.

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6. eine Angleichung und Spreizung im Be-schäftigungsmodell: „Unsere vergleichendenAnalysen für Ost- und Westdeutschland zei-gen, dass offene betriebliche Beschäftigungs-systeme und externe Teilarbeitsmärkte nachAbschluss des ersten TransformationssturmsAnfang der 90er Jahre in beiden Landesteilenweiter an Gewicht gewonnen haben.“ Gleich-zeitig sind jedoch mit der in Ostdeutschlandstärker ausgeprägten, kastenähnlichen Spal-tung in Stamm- und Randbelegschaften sowieeiner rascher fortschreitenden Umstellungder Grundsätze innerbetrieblicher Personal-politik von Betriebstreue auf Leistung undErtragskraft auf dem Arbeitsmarkt „sprung-weise neue Muster entstanden“. 20

7. eine wachsende Konvergenz der Elitenund eine sich verbreiternde Kluft zwischenEliten und Bevölkerung auf der Einstellungs-ebene: Die Einstellungen und professionellenOrientierungen ost- und westdeutscher Posi-tionseliten haben sich einander angenähert.Wer in Ostdeutschland in Ämter und Man-date eingerückt ist, verhält sich weitestgehendloyal zu den Normen und Spielregeln desParteienstaates und der repräsentativen De-mokratie. Andererseits vergrößert sich dievertikale Distanz zwischen Eliten und Nicht-eliten in beiden Landesteilen. Speziell Politi-ker stehen häufig unter dem Generalverdachtdes Eigennutzes. 21

Nicht zuletzt diese „innere Distanznahme“,so lautet eine unserer zentralen Annahmen,wird den Entwicklungspfad der Einigung aufunabsehbare Zeit begleiten. Das politischeSystem sowie die Wirtschafts- und Sozialord-nung des posttransformatorischen Deutsch-land erscheinen insgesamt konsolidiert. ZumGesamtbild gehören indes auch konsolidierteProblem- und Konfliktlagen. Die psychologi-schen Hypotheken des Umbruchs sind nochnicht gelöscht. Zudem bauen sich in Gestaltvon Migration, demographischem Wandelund wirtschaftlicher Rezession Herausforde-rungen auf, die das unfertige Werk der Einheitzurückwerfen können. Eine Pfadumkehr er-scheint dennoch ausgeschlossen.

Regina Bittner

Kulturtechnikender Transformation

Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauerwird bilanziert, was aus dem neuen

Deutschland geworden ist und welche Ge-sellschaft sich zwei Jahrzehnte nach demFreudentaumel am Brandenburger Tor for-miert hat. Unter der Überschrift „Noch nichtangekommen“ berich-tete die „Berliner Zei-tung“ schon im Januardes Jubiläumsjahres,dass „im 20. Jahr nachdem Mauerfall (. . .)Deutschland von ei-ner inneren Einheitnoch meilenweit ent-fernt“ sei: „Nur 22Prozent der Ostdeut-schen sehen sich einerrepräsentativen Umfrage zufolge als ,richtigeBundesbürger‘. 62 Prozent hingegen empfin-den sich in einer Art Schwebezustand – derDDR nicht mehr verbunden, aber der Bun-desrepublik auch nicht richtig zugehörig.Eine stärkere Identifikation mit der Bundes-republik gibt es nur bei den unter 25-Jährigen(40 %), mit jedem weiteren Lebensjahrnimmt sie ab. Aber nur elf Prozent, etwajeder neunte, will die DDR zurück.“ 1

Immer wieder geht es, wenn der Zustandder wiedervereinten Nation im öffentlichenDiskurs bewertet wird, um „Ankunft“. Tat-sächlich waren die Bewohnerinnen und Be-wohner der neuen Bundesländer im Zugeder gesellschaftlichen und politischen Trans-formation nach 1990 gezwungen, sich zu be-wegen; in ihren Wertvorstellungen und Deu-tungsmustern, in ihren Jobs, Gewohnheitenund Weltsichten, in ihren Berufen undWohnorten. Für die ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürger hat sich quasi überNacht die komplette Lebenswelt verändert:Institutionen, Regeln, Konventionen, Verhal-tensmuster, Konsumgüter, Lebensstile. Toralf

Regina BittnerGeb. 1962; Kulturwissenschaft-lerin, Leiterin des Internationa-len Bauhaus Kollegs an derStiftung Bauhaus Dessauund deren stellvertretendeDirektorin, Gropiusallee 38,06846 [email protected]

20 Chr. Köhler u. a. (Anm. 12), S. 17 f., S. 19.21 Vgl. Ossip Fürnberg/Everhard Holtmann/TobiasJaeck, Sachsen-Anhalt-Monitor 2007, Halle 2007. 1 Berliner Zeitung vom 21. 1. 2009, in: www.berlin

online.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/20(3. 5. 2009).

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Staud behauptet, dass den Ostdeutschen1990 das widerfuhr, was in der Migrationsli-teratur als Kulturschock bezeichnet wird.Dass sie ihr Land dabei nicht verlassenhaben, macht die Umstellung wahrscheinlichnicht einfacher. Die Ostdeutschen sind ver-gleichbar den Migranten tatsächlich in einer„fertigen“ Gesellschaft mit etablierten Struk-turen und Institutionen gelandet, die wenigInteresse an den Ressourcen der Hinzuge-kommenen hatte. Begriffe wie Ankunft undIntegration, die regelmäßig in der öffentli-chen Debatte aufgegriffen werden, deutendarauf hin, dass sich die Effekte der Wieder-vereinigung vielleicht besser verstehen lassen,wenn man sie als Migrationsprozesse zu be-schreiben versucht.

Der Prozess der „Akkulturation“ verläuftdabei in verschiedenen Phasen: Selbstethni-sierung ist ein wesentliches Moment der Ver-arbeitung des Kulturschocks. Unzufrieden-heit mit den Lebensbedingungen des Gastlan-des, das Gefühl fremdbestimmt zu sein undals Mensch zweiter Klasse behandelt zu wer-den, auch das verbindet die weit verbreiteteErfahrung Ostdeutscher in den 1990er Jahrenmit dem Schicksal von Migranten. Vor diesemHintergrund findet der Rückbezug auf dievertraute Kultur und die Identifizierung miteiner Gruppe statt. Erst nach der „Ankunft“im neuen Land, so stellen Migrationsforscherfest, beginnen Einwanderer ihre Ethnizität zubeschreiben. 2

Im Folgenden wird es darum gehen, dieNeuerfindung Ostdeutschlands nach 1990 aufnationaler und lokaler Ebene zu diskutierenund zu fragen, wie diese Erfahrungen undRessourcen in den gesamtdeutschen Kontexthineinwirken können.

Ankunft wo?

Mit dem Ende der DDR waren ihre Bewoh-ner aufgefordert, sich in ihrem Verhältnis zuGesamtdeutschland, zu ihrer Stadt oder zuihrer Region neu zu definieren. Zu erwartenwar, dass traditionelle Vorstellungen von Na-tion, die vom SED-Staat verweigert wordenwaren, aktualisiert werden. Solche Erwartun-gen fanden ihre Begründung unter anderem

im schnellen Wechsel, mit der im Herbst1989 die Wende von „Wir sind das Volk!“ zu„Wir sind ein Volk!“ vollzogen wurde.

Im Alltag verankerte Identifikationen mitder Nation schienen bereits zu existieren.Auch regionale Identifikationen hätten eineChance gehabt: So tauchte bereits bei denDemonstrationen im Herbst 1989 in Dresdendie sächsische Fahne auf. Generell lässt sichbehaupten, dass die Wiedervereinigung einvon nationalen Ansprüchen getragenes Pro-jekt gewesen ist. Einige Sozialwissenschaftlergehen inzwischen davon aus, Ostdeutschlandsei einer der Fälle, die „am offenkundigstenillustrieren, wie stark und extrem kostspieligsich nationalisierende Mechanismen auf denTransformationsverlauf auswirken können –von der Hast, mit der die Vereinigung betrie-ben wurde, bis zu dem Ziel der vollen Anglei-chung zwischen Ost und West“. 3 Umsomehr musste die seit Mitte der 1990er Jahresichtbare und langfristig wirkende Differenzzwischen Ost und West als Versagen des Na-tionalstaates wahrgenommen werden. Wennaber das an die nationalstaatliche Einheit ge-koppelte Versprechen auf gleiche Lebensbe-dingungen nicht eingelöst werden konnte –welche Identifikationen sind es dann, die denBewohnern zwischen dem Fichtelberg undKap Arkona Orientierung und Halt in denunsicheren Zeiten des Umbruchs bietenkonnten?

Viele Studien zu Ostdeutschland habenherausgearbeitet, dass die Neuverortung derOstdeutschen nach 1990 gerade deshalb einenkonfliktreichen Prozess darstellt, weil es sichum einen doppelten Strukturbruch handelte.Der gesellschaftliche Systembruch fand vordem Hintergrund eines weltweiten Struktur-wandels statt. Der Sprung von einer eher ge-schlossenen Gesellschaft in den globalenRaum hatte unmittelbare Effekte: der braindrain junger, gut ausgebildeter Menschen, dieAnsiedlung von Unternehmen mit globalerArbeitsteilung, neue Mobilitätsoptionen und-zwänge. Neben in globale Wirtschaftskreis-läufe integrierte Inseln von Hightech-Unter-nehmen existieren Räume, die nahezu ohnewirtschaftliche, kulturelle und soziale Dyna-mik in einer „bleiernen Zeit“ verharren.

2 Vgl. Toralf Staud, Die ostdeutschen Immigranten, in:Tanja Busse/Tobias Dürr (Hrsg.), Das Neue Deutsch-land. Zukunft als Chance, Berlin 2003, S. 269 ff.

3 Andreas Pickel, Die Entdeckung der Kultur und dieZukunft der Transformationsforschung, in: BerlinerDebatte Initial, 15 (2004) 5/6, S. 69.

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Ist das der Nährboden, aus dem „Ost-deutschland“ als Transformationsfigur ent-stand? Offensichtlich zwingt die Perspekti-ve längerfristiger und sich wahrscheinlichnoch verschärfender Ungleichheit zwischenden alten und den neuen Bundesländernzu einer anderen Selbsteinordnung der ost-deutschen Gesellschaft. Es sind Enttäu-schungen angesichts wachsender sozialerUngleichheiten, Gefühle der Fremdbe-stimmtheit sowie der eingeschränktenHandlungsmöglichkeiten, die in der Kritikan dem eingeschlagenen Transformations-pfad artikuliert werden. Ist das neue „Wir-Gefühl“ der Ostdeutschen, das seit Mitteder 1990er Jahre in Sozialwissenschaften,Medien und Politik reflektiert wird, ledig-lich Ausdruck dieser kollektiven Enttäu-schungserfahrung? Aus welchem Stoff ist„Ostdeutschland“ als kollektives Identitäts-konstrukt gemacht?

Aus der Akzeptanz schlechterer Lebensbe-dingungen resultiert auch die Behauptungeiner Eigenständigkeit. Bücher wie WolfgangEnglers „Die Ostdeutschen als Avantgarde“sind Versuche, Widerständigkeit, Eigensinnund Innovation dort zu identifizieren, wo an-dere „Duldungsstarre“ attestieren (AlexanderThumfart). Ostdeutschland als kulturellesKonstrukt ist Ausdruck dieser Differenz, dererlebten Ungleichheit und der behauptetenEigenständigkeit. Insofern artikulieren sich inder Rede über Ostdeutschland Erfahrungendes Umgangs mit den Krisen, Verwerfungenund Enttäuschungen, welche die Jahre derTransformation mit sich gebracht haben. Die-sem symbolischen Bezugssystem, so InaDietzsch, liege aber nicht so sehr eine stereo-type Unterscheidung zwischen Ost und Westzu Grunde: Ostdeutschland „hat sich zumeinen als flexibel genug erwiesen, um die Teil-habe an der gesamtdeutschen Nation (undihrem Wohlstand) einzufordern. Zum ande-ren ist es inhaltlich vielseitig genug geworden,um den transitorischen Lebenssituationen imgesellschaftlichen Wandel gerecht zu wer-den.“ Immer neue Deutungen wurden in die-sen „Erfindungsdiskurs“ eingebracht undhaben zu einer Pluralisierung beigetragen. 4

Insofern erfasst das kulturelle Konstrukt„Ostdeutschland“ ganz unterschiedliche Er-

fahrungen mit der Integration in die neue Ge-sellschaft.

Ina Dietzsch betont, dass es der „89er Ge-neration“ gerade nicht um die Konstruktioneiner historischen Kontinuität gehe. Viel-mehr sei „ostdeutsch der Name für Erfah-rungen in einem Zwischenraum, der sich ausdem Verschwinden der DDR und demNicht-Ankommen im vereinten Deutschlandergibt“. Der Begriff der „Zone“ bei JanaHensel hat ähnliche Konnotationen. 5 Ist ost-deutsch also eher Ausdruck einer hybridenKonstellation? Mit der Erweiterung derBundesrepublik auf das ehemalige Territori-um der DDR haben sich die mit dem physi-schen Raum Ostdeutschland verbundenenkulturellen Konnotationen abgelöst und füh-ren als Konglomerat von Vorstellungen undInterpretationen ein Eigenleben. „Ost-deutsch“ meint für die einen nostalgischerRückbezug angesichts transformationsbe-dingter Unsicherheiten und Ungewissheiten;für andere ist es Ausdruck besonderer Risi-kobereitschaft und Kreativität. Insofern hatdas kulturelle Konstrukt die soziale Realitäteiner stark sozial differenzierten, ehemalsaber eher homogenen, „arbeiterlichen“ Ge-sellschaft zum Hintergrund.

Neue Heimat

Mit der Wiedervereinigung wurde das in 14Bezirke gegliederte Raumgefüge der DDRaufgelöst, und an dessen Stelle wurden fünfneue Bundesländer gegründet. In welcher Be-ziehung steht das weniger am Raum denn anideellen und normativen Bezügen ausgerich-tete Konstrukt „Ostdeutschland“ zu regiona-len Bezügen? Können Regionen die„Kompetenz zur Kompensation der Begleit-erscheinungen von Modernisierungs- undGlobalisierungsprozessen in Form sichernderSinnvermittelung und affektiv bindender Be-heimatung“ übernehmen? 6 Und damit Ost-deutschland als Bezugssystem relativieren?

Wolfgang Luutz hat eindrucksvoll gezeigt,dass das „Projekt Sachsen“ auch ein Versuch

4 Vgl. Ina Dietzsch, Die Erfindung der Ostdeutschen,in: Eva Schäfer et al. (Hrsg.), Irritation Ostdeutsch-land, Münster 2005, S. 95.

5 Ebd., S. 97; Jana Hensel, Zonenkinder, Reinbek2002.6 Wolfgang Bergem, Kultur als Identitätsgenerator inostdeutschen Regionen, in: Walter Reese-Schäfer(Hrsg.), Identität und Interesse: Der Diskurs in derIdentitätsforschung, Opladen 1999, S. 198.

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war, zwischen Regionalisierung und Natio-nalisierung zu vermitteln und zugleich Sach-sen für Europa „fit“ zu machen. Mit derAnrufung der großen Geschichte des ältes-ten deutschen Freistaates wurden Zukunfts-projektionen entworfen: Sachsen solle seinenangestammten Platz unter den deutschenRegionen wieder einnehmen, als Raum geis-tig-kultureller Reichtümer und ingenieur-technischer Innovationen. Diese ruhmreicheVergangenheit sei durch zwei Diktaturen le-diglich unterbrochen worden. Regionalesbzw. sächsisches Selbstbewusstsein sei nurzu haben, wenn sich die Bevölkerung vonder verhängnisvollen Verstrickung mit derDDR-Geschichte löse. Zugleich wird Sach-sen als „Land der Erfinder und Tüftler“, alsModellraum präsentiert, der neue Wege be-schreite. 7

Regionen haben als räumliche Bezugsrah-men staatlicher Ordnungspolitik in der DDRkaum eine Rolle gespielt. Die Gliederung inBezirke folgte administrativen Beweggründenwie ökonomische Zusammengehörigkeit undinfrastrukturelle Erschließbarkeit. Überliefer-te Regionalisierungen wurden in den Hinter-grund gedrängt. Gleichwohl weisen alltags-kulturelle und karikaturistische Zuschreibun-gen von „Fischköpfen“ und „Sachsen“, derenDifferenzen nicht nur auf Fußballplätzen aus-getragen wurden, darauf hin, dass auch in derDDR ein Regionalbewusstsein existierte.Umso mehr sind Regionalisierungen in Ost-deutschland als sich aus vielfältigen Ebenenzusammengefügte Verräumlichungen sozialenHandelns zu betrachten. Matthias Middellidentifiziert neben der lokal-lebensweltlichenEbene der Bundesländer eine auf Ostdeutsch-land bezogene Ebene des Regionalisierens,die wiederum „Verbindungen mit nationali-sierenden und transnationalisierenden Per-spektiven“ eingeht. 8

Gleichwohl stellen Regionalforscher fest,dass mit zunehmender Binnendifferenzierungin West- wie Ostdeutschland auch die für dasostdeutsche Regionalbewusstsein charakteris-tische Abgrenzung zum Westen mehr und

mehr zurücktritt: „Ostdeutsches Regionalbe-wusstsein“, so Wolfgang Bergem, unterschei-de sich vom westdeutschen gerade dahinge-hend, „dass die Identifikation mit der eigenenRegion die Selbstverortung als ,Gesellschaftder ehemaligen DDR‘, die Identität vor allemin der Abgrenzung und Negation von etwasAnderem, von Westdeutschland begründet, inden Hintergrund rücken lässt“. Bergem be-hauptet, regionale Identität in Ostdeutsch-land ermögliche zwar eine Unterscheidungzum Westen, aber diese beziehe sich nichtmehr auf die gemeinsame Geschichte derOstdeutschen. Vielmehr entstehe die parado-xe Situation, dass die „Hinwendung zu regio-nalen, also subnationalen Identitäten“ dieOst-West-Differenz relativiert und diese ter-ritorial orientierte Pluralisierung und Diffe-renzierung die nationale, politisch-kulturelleIntegration in die Berliner Republik fördert.„Hybridität, Melange und Transkulturalität“sind für ihn „Schlüsselkategorien zum Ver-ständnis der komplexen Situation kollektiverIdentitäten in Ostdeutschland (. . .). In diesemAmalgam verbinden sich das Empfinden re-gionaler Zugehörigkeit, der aus dem kulturel-len Gedächtnis rekonstruierte Erinnerungs-und Erzählzusammenhang DDR, das Be-wusstsein der Staatsbürgerschaft im Natio-nalstaat Deutschland und die noch wachsendeSelbstwahrnehmung als Europäer.“ 9

Aufschlussreich ist eine Studie über Verän-derungen in den regionalen Identifikationenin Sachsen. Am Beispiel von EinwohnernLeipzigs und des mittleren Erzgebirges gehtdie Dissertation von Jan Skrobanek der räum-lichen Identifikation an beiden Orten nach.Dabei zeigt sich, dass die Identifikation mitder Region wesentlich höher ist als die zurNation oder gar zu Europa. Skrobanek arbei-tet mit Unterscheidungen zwischen Altersko-horten und Qualifikationen und stellt fest,dass mit zunehmendem Alter die Identifikati-on mit der Region, also mit Sachsen, steigt,während das Zugehörigkeitsgefühl zu Europaeher gering ausfällt. Das Gefühl, Ostdeut-scher zu sein, stellt sich als generationenüber-greifendes Phänomen heraus. Der Autorkommt zu dem Schluss, dass bei niedrigenBildungsabschlüssen der Befragten die Identi-fikation mit der Region am höchsten ist, wäh-rend bei höheren Abschlüssen transnationale

7 Vgl. Wolfgang Luutz, Region als Programm: ZurKonstruktion sächsischer Identität im politischen Dis-kurs, Baden-Baden 2002, S. 85.8 Matthias Middell, Regionalisieren ohne Regionalis-mus, in: Ina Dietzsch/Kristina Bauer-Volke (Hrsg.),Labor Ostdeutschland, Berlin 2003, S. 276. 9 W. Bergem (Anm. 6), S. 199.

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Bezüge bzw. Orientierungen am ausgeübtenBeruf vermehrt in den Vordergrund treten.

Bei eingeschränktem Handlungsspielraumist der Radius alltäglichen sozialräumlichenHandelns der Nahbereich. Demgegenüberstehen Akademikern sowie kulturellen undpolitischen Eliten andere Optionen zurIdentifikation zur Verfügung, der regionaleBezug fällt gering aus. Dennoch erweistsich der Bezug zu Ostdeutschland gegen-über der nationalen und europäischenEbene generell als bedeutsamer. Es scheint,als ob Ostdeutschland, eine politisch-admi-nistrativ völlig irrelevante Ebene, eine ver-mittelnde Funktion zwischen Regionalisie-rung und Nationalisierung einnimmt. 10

Wenn mit der Ausdifferenzierung des So-zialraumes Ostdeutschland auch verändertesozialräumliche Identifikationen verkoppeltsind, so ist das kein konfliktloser Prozess.Denn gerade für diejenigen mit geringerenMobilitätsoptionen und Lebenschancenstellt sich der Nahbereich, das Lokale bzw.Regionale, auch als „Falle“ dar.

Franziska Beckers Studie über Görlitz imStadium der Bewerbung als KulturhauptstadtEuropas 2010 beschreibt ein „konfliktreichesAushandlungsfeld von konfligierenden Iden-titätskonstellationen“. Zwischen den „Zuge-zogenen“ wie neuen Dienstleistern, Akade-mikern, politischen Eliten und Touristen, dieim Aufwertungsprozess der Stadt als Kultur-hauptstadt Chancen und Entwicklungspoten-tiale vermuten, und den „Dagebliebenen“, dietrotzig die lokale Verwurzelung verteidigen,bewegen sich die Ortsbezüge in Görlitz. 11

Ähnliche Beobachtungen macht Jörg Dürr-schmidt in der deutsch-polnischen Grenz-stadt Guben/Gubin. Ambivalente Formender „Sässigkeit“ sind zu besichtigen, diedurch die Konfrontation mit Transformati-onsgewinnern auf polnischer Seite auf beson-dere Weise ins Schwingen geraten. „Sich ein-richten“ heißt hier vor allem Totalrückzug,eine Haltung, die an eingeübte Verhaltensmus-ter der „Nischengesellschaft Ost“ anknüpfen

kann. 12 Was Dürrschmidt als Modus der„Sässigkeit“ für die Dagebliebenen herausar-beitet, das Insistieren auf einen Ort der Un-veränderlichkeit und Normalität in einemKontext, der durch das Aufbrechen von Be-zugsrahmen und Soziallandschaften, durchneue soziale Differenzierungen und mobili-sierte Verortungen gekennzeichnet ist, scheintvon ambivalenten kollektiven Identitätskon-struktionen begleitet zu sein. Das GubenerBeispiel ließe sich, um den Begriff von Manu-el Castells zu bemühen, als defensive spacebeschreiben: Räume, die von denen errichtetwerden, die vom Leben in einer sich be-schleunigenden postindustriellen Gesellschaftmehr und mehr ausgeschlossen werden. 13

Ulf Matthiesen hat diese ambivalentenMuster der „Neuverortung“ im Zuge desTransformationsprozesses auf die anthropo-logischen Koordinaten des Eigenen und desFremdem zurückgeführt. GesellschaftlicheUmbrüche wie die in Ostdeutschland hättendiese Koordinaten menschlichen Handelnsgründlich durcheinandergebracht. Was als„Eigenes“ galt, erfährt eine massive Umdeu-tung im Zuge der Abwertung, mit der vieleOrte konfrontiert sind, während das „Frem-de“, ob auf der Ebene international agieren-der Unternehmen, westdeutscher Berateroder Migranten, als Bedrohung wahrgenom-men wird. Am Beispiel des Verflechtungs-raums Berlin-Brandenburg beobachtet erHybridformen: Rekodierungen des Eigenenund Fremden, Lokalen und Translokalen alsVersuche, die Irritationen zwischen Fremd-heit und Nähe neu auszutarieren. „Unterdem starken Transformations- und Globa-lisierungsdruck“, so Matthiesen, „werdenNaherfahrungen offenkundig strukturell be-sonders prekär. Umso dringender bedürfensie der Rekodierung bzw. eines spezifischenre-embedding. Zugleich wird der Einbruchvon unberechenbaren Fremdheitserfahrungenzum chronisch erwarteten Erfahrungshinter-grund.“ 14 So stellt sich die Ankunft in den

10 Vgl. Jan Skrobanek, Regionale Identifikation, nega-tive Stereotypisierung und Eigengruppenbevorzugung– Das Beispiel Sachsen. Diss., Leipzig 2002, S. 159 ff.11 Vgl. Franziska Becker, Die Grenzstadt als Labora-torium der Europäisierung, in: Martina Löw/HelmutBerking (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Städte, Baden-Baden 2005, S. 96 ff.

12 Vgl. Jörg Dürrschmidt/Anna Zinserling, Fall-analysen zum Verhältnis von Transformationspfadenund Formen der Sässigkeit in der polnischen EurocityGuben/Gubin (Arbeitsmaterialien IV, ProjektSchrumpfende Städte), Berlin 2004, S. 35.13 Vgl. Manuell Castells, The Rise of the NetworkSociety, Oxford 1996, S. 402.14 Ulf Matthiesen, Fremdes und Eigenes am Me-tropolenrand: Postsozialistische Hybridbildungen inden Verflechtungsmilieus von Berlin und Branden-

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Regionen Ostdeutschlands als schwierigesTerrain dar, ist die „Neue Heimat“ vor allemeines: unsicher und umkämpft.

Migrant Ostdeutschland –eine Ressource?

Die Selbstethnisierung, die Neuerfindungder eigenen Kultur im Kontext der neuenGesellschaft, ist allerdings nicht so zu verste-hen, dass sich diese mit erfolgreicher Integra-tion im Ankunftsland in der Mehrheitsgesell-schaft aufzulösen beginnt. In der Migrations-forschung ist der Begriff der imaginedcommunity eingeführt worden, um die Netz-werkbeziehungen von Einwanderern zu be-schreiben, die sie mit ihrem Herkunftslandunterhalten. Heute sind neue mobile Migra-tionsmuster zu beobachten, die es Migrantin-nen und Migranten erlauben, mit spezifi-schen Netzwerkstrategien trotz fehlenderstaatlicher Fürsorge erfolgreich auf dem Ar-beitsmarkt zu agieren und auf diese Weisedie fehlende Unterstützung der Ankunftsge-sellschaft zu kompensieren. Beim Pendelnzwischen Staaten werden die Netzwerkmit-glieder so platziert, dass sie die Options-strukturen dieser Länder nutzen können. Einneues „mobiles Migrationsmuster“ ist imEntstehen, das weder durch dauernde Mobi-lität noch durch dauernde Sesshaftigkeit cha-rakterisiert ist und räumlich erweiterte Mi-grantenfamilien hervorbringt. 15

Was hat das mit den Ostdeutschen zu tun?Hat die im Zuge der Selbstethnisierung ein-setzende Identifikation als Gruppe auch dieentsprechenden Netzwerke hervorgebracht,die sie unabhängiger werden ließen von denIntegrationsangeboten der Aufnahmegesell-schaft? Ostdeutschland, wo nach 1990 einkompletter Institutionentransfer stattfand,wurde bescheinigt, dass hier die Ausprägungeigener Institutionen und Netzwerke aufGrund der kompletten Übernahme kaumeine Chance hatte. Zugleich zeichnen sichaber seit Mitte der 1990er Jahre mit dem all-mählichen Rückzug der Transferleistungenneue Tendenzen ab: Der Rückgriff auf Routi-nen und Praktiken, die der alten Wirtschafts-

kultur entstammen, hat innovative Lernpro-zesse in ostdeutschen Regionen und Städtenvorangetrieben. Der Blick auf die Umbrüchein Ostdeutschland zeigt, dass diese nicht aufeine „Logik der Anpassung, Adaption unddamit aufbrechende Konflikte zu reduzieren“sind: „Neben einem solchen dominierendenModus war und ist ebenso eine Reihe offenerSuch- und Lernprozesse zu verzeichnen –institutionelle Persistenzen, hybride Misch-und Übergangsformen, sektorale Erfolgsge-schichten ostdeutscher Organisationen undAkteure usw.“ 16

Als Beispiel für solche hybriden Über-gangsformen wird ein besonderer ostdeut-scher Managertyp identifiziert, der zwar dieMechanismen der Marktwirtschaft begrüßt,gleichwohl in seinem Organisationshandelneher familienähnliche Sozialbeziehungen imUnternehmen bevorzugt, bei denen Gemein-schaftsgeist, Vertrauen und persönlicher Kon-takt zentrale Rollen spielen. Der allmählichsichtbare Erfolg der im Wesentlichen ausklein- und mittelständischen Betrieben be-stehenden ostdeutschen Wirtschaftstrukturwird oft auf ihre Flexibilität und Risikobe-reitschaft nach 1989/90 zurückgeführt. Kar-rieren waren von hohen Risiken und Fehl-schlägen begleitet: „Wir waren am Anfangvier Bekloppte, die sich gesagt haben: Mankann doch das, was man in vier Jahrzehntenaufgebaut hat, nicht aufgeben.“ Ein DessauerUnternehmer: „Da haben wir auf Erfahrun-gen aufgesattelt, auf dem Know-how derMenschen, die hier leben.“ Er gehört zu jenerGeneration von Akteuren, die Michael Hof-mann dem „effizienz- und technikorientier-ten Typus des sozialistischen Managers“ zu-ordnet, die vor allem in den Betrieben undWirtschaftsleitungen beschäftigt waren. 17

Gerade sie haben die Bewährungsprobe desUmbruchs gut bewältigt und gehören zu denwichtigsten Akteuren der Umstrukturierungder ehemaligen DDR-Industrie. Für Angehö-rige dieser Gruppe hatte die „Wende“ durch-aus etwas Befreiendes, so der Geschäftsführerder aus dem Geist der Polysius-Werke in

burg, in: ders. (Hrsg.), An den Rändern der deutschenHauptstadt, Opladen 2002, S. 342.15 Vgl. Ingrid Oswald, Neue Migrationsmuster –Flucht aus oder in „Überflüssigkeit“?, in: Berliner De-batte Initial, 15 (2004) 2, S. 65.

16 Michael Thomas, Umbruch: Gestaltungsheraus-forderungen und Akteure, in: Berliner Debatte Initial,(2008) 3, S. 8.17 Vgl. Michael Hofmann, Sozialkulturelle Milieus ei-ner Industriegesellschaft in Bewegung, in: I. Dietzsch/K. Bauer-Volke (Anm. 8), S. 148.

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Dessau entstandenen Zemat GmbH: „Es gibtin Dessau so einen Unternehmergeist, der istrübergeschwappt aus der Geschichte. Es istdoch gut, dass man nicht mehr so einge-zwängt ist, es gibt doch viele hier, die etwasunternommen haben.“ 18 Hinzu kommt, dassdiese Akteure auf weit reichende informelleund personengestützte Vertrauensbeziehun-gen zurückgreifen können. Für die Hand-lungsmuster lassen sich Parallelen zu „Mi-grantenökonomien“ herstellen: informelleund durch Familiarität geprägte soziale Be-ziehungen, Vertrauen in persönliche Kon-takte und Netzwerke und eine gewisse Reser-ve gegenüber großen Institutionen. Vergleich-bar mit migrantischen Wirtschaftskulturenkonnten diese Akteure mit ausgeprägtem Pio-niergeist zum Teil erfolgreich die mangelndeIntegration in die Umgebungsgesellschaftausgleichen.

Eine weitere Parallele bietet sich an. Ins-besondere in den Metropolen stellen mi-grantische Kulturen mittlerweile eine wich-tige Ressource für Diversivität und Kreati-vität dar. Selbst in Berlin erfuhren ethnischeÖkonomien eine Aufwertung: So hob derZwischenbericht der Enquete Kommissionzur Zukunft Berlins 2006 die innovativenPotentiale „der Multikulti-Schattenwirt-schaft“ in den Stadtteilen hervor. 19 UlfHannerz hat herausgearbeitet, dass derMarkt ein wichtiger Mechanismus derÜbertragung bzw. Übersetzung im Kontextglobalisierter Kulturproduktion ist. 20 Ethni-sche Kulturen von Little India bis ChinaTown werden marktförmig und auf dieseWeise konsumierbar gemacht.

Auch „Ostdeutschland“ ist durch unter-schiedliche Formate in den vergangenenzwanzig Jahren zu einem vermarktbarenProdukt geworden, das sich nicht nur andie Zielgruppe in den neuen Bundesländernrichtet. Neben Reeditionen ehemaligerDDR-Labels von „Caro“ bis zur „Schlager-süßtafel“ von „Zetti“ und ostdeutschenSouvenirs liefern auch Fernsehfilme undMagazine immer wieder neue Versionen

eines Ostdeutschlands, das sich gut verkau-fen lässt. Ostdeutsch ist eine kulturelle Res-source auf dem nach Innovationen hei-schenden Markt geworden.

Ähnlich den ethnischen Ökonomien kom-men hier weder die Entstehungsbedingungennoch die dahinter liegenden konfliktreichenRealitäten zur Sprache – das gehört zum Me-chanismus der Umkodierung ethnischer Kul-turen in die kulturelle Form der Konsumier-barkeit. So ist auch – und das kritisieren mitt-lerweile viele Kulturproduzenten – dasDDR-Bild der Medien merkwürdig homogenund lässt kaum Zwischentöne zu. Gleichwohlschafft der Markt eine Transfer- und Überset-zungsleistung, auch wenn dabei die DDR imwahrsten Sinne des Wortes besser verdaulichwird.

Hotel Deutschland

Der Begriff des „Hotels“ wird aufgegriffen,um die unterschiedlichen Formen des An-kommens, Bleibens und Gehens in transna-tionalisierten Metropolen zu beschreiben,und vielleicht hat er auch eine gewisse Rele-vanz für das wiedervereinigte Deutschland.Mit der Feststellung vom „Noch nicht ange-kommen“ sind Vorstellungen verbunden, diedavon ausgehen, Integration sei erst dannmöglich, wenn die mit Ostdeutschland ver-bundenen Erfahrungen, Erinnerungen undWertmuster zurückgelassen werden. Doch imZuge der Transformation hat sich das einstmit einem bestimmten Territorium und mitbestimmten politischen Strukturen assoziierteGebilde „Ostdeutschland“ abgelöst und führtals hybrides Konglomerat von Wertvorstel-lungen, Erfahrungen, Bildern und Erinnerun-gen ein Eigenleben, das weniger auf eineDDR verweist, in die man sich zurücksehnt,als vielmehr auf einen Schwebezustand:weder Herkunft noch Ankunft.

Von den Migranten ließe sich für dasSelbstverständnis des wiedervereinigtenDeutschlands lernen: Dieser „Transit“ mussnicht als problematischer Zustand, der zuüberwinden ist, bewertet werden, sondernvielmehr als Ressource, welche die Gesell-schaft erweitert und bereichert.

18 Mitschrift Podiumsdiskussion, Dessau, 6. 2. 2009.19 Vgl. Alexa Färber, Vom Kommen Bleiben Gehen,in: dies., Hotel Berlin. Formen urbaner Mobilität undVerortung. Berliner Blätter. Ethnografische und Eth-nologische Beiträge, 37 (2005), S. 15.20 Vgl. Ulf Hannerz, Transnational Connections,London–New York 1996.

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Anna Klein · Wilhelm Heitmeyer

Ost-westdeutscheIntegrationsbilanz

Fast 20 Jahre nach dem Fall der BerlinerMauer sind abwertende Einstellungen

gegenüber schwachen Gruppen in Ost- undWestdeutschland nachwie vor unterschiedlichausgeprägt. Die Analy-sen zum Thema „Grup-penbezogene Menschen-feindlichkeit“ (GMF),d. h. zu abwertendenEinstellungen gegen-über Minderheiten undschwachen Gruppen inder Gesellschaft, 1 bestä-tigten immer wieder,dass in Ostdeutschlandrassistische, islamopho-be und fremdenfeind-liche Einstellungen wei-ter verbreitet sind alsin Westdeutschland.Aus welchen Gründen

kommt es zu dieser unterschiedlichen Ein-stellungsverteilung?

Im Forschungsprojekt „GruppenbezogeneMenschenfeindlichkeit“ rückte diese Diffe-renz bereits mehrfach in den Fokus von Ur-sachenanalysen. Wir konnten anhand derDaten der jährlich erhobenen repräsentativenBevölkerungsbefragungen zeigen, dass dieunterschiedlichen Lebensbedingungen undwechselseitigen Wahrnehmungen in den bei-den Landesteilen die unterschiedlichen Ein-stellungen gegenüber schwachen Gruppenbegründen. 2 Anlässlich der nun fast 20-jähri-gen gemeinsamen Geschichte von Ost- undWestdeutschland richten wir unseren Blickhier auf die Integrationsbilanz, d. h. auf dieFrage nach dem gesellschaftlichen Zusam-menwachsen. Konnten annähernd gleicheTeilhabechancen in beiden Landesteilen eta-bliert werden? Wie ist das Verhältnis derDeutschen zueinander, und wie hängt dieseswechselseitige Verhältnis mit Einstellungengegenüber Minderheiten und schwachenGruppen in Deutschland zusammen?

Soziale Desintegration

Das Zusammenwachsen zweier unterschiedli-cher Gesellschaften ist abhängig von indivi-duellen Integrationschancen und den als „ge-recht“ empfundenen Gelegenheitsstrukturenzur Wahrnehmung dieser Chancen. Sinddiese nicht vorhanden, und kommen Unge-rechtigkeits- und Benachteiligungsgefühleauf, dann kann sich Solidarität weder zwi-schen Deutschen in Ost- und Westdeutsch-land noch gegenüber schwachen Gruppen inder Gesellschaft entwickeln. Der Blick aufdie Entwicklungen der Integrationsmöglich-keiten in Ost- und Westdeutschland stehtdaher im Mittelpunkt, will man die Frage be-antworten, ob der Vereinigungsprozess „ge-lungen“ ist.

Die Theorie Sozialer Desintegration gehtvon drei Dimensionen aus, in denen Integra-tion gelingen oder misslingen kann. 3 Sie the-matisiert erstens die Einbindung auf der so-zialstrukturellen Ebene (funktionale System-integration). Hier gerät der Zugang zuwichtigen gesellschaftlichen Teilsystemen,etwa dem Arbeitsmarkt oder Bildungsinstitu-tionen, in den Blick. Aus dieser Einbindungerwächst ein subjektives Gefühl positionalerAnerkennung. Konnte Integration in Ost-und Westdeutschland in diesem Bereich er-reicht werden, oder, anders gefragt: Haben

Anna KleinDipl. Päd., geb. 1979;

wissenschaftliche Mitarbeite-rin im Projekt „Gruppenbezo-gene Menschenfeindlichkeit“

am Institut für interdiszipli-näre Konflikt- und Gewalt-

forschung (IKG), UniversitätBielefeld, Universitäts-

straße 25, 33615 [email protected]

Wilhelm HeitmeyerDr. phil. habil., geb. 1945;Professor für Sozialisation

und Leiter des IKG (s.o.)[email protected]

1 Zur Konzeption des Syndroms „GruppenbezogeneMenschenfeindlichkeit“ vgl. Wilhelm Heitmeyer,Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theo-retische Konzeption und erste empirische Ergebnisse,in: ders. (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 1, Frank-furt/M. 2002, S. 15–34.2 Vgl. z. B. Sandra Hüpping/Jost Reinecke, Abwärts-driftende Regionen. Die Bedeutung sozioöko-nomischer Entwicklungen für Orientierungslosigkeitund Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, in:Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge5, Frankfurt/M. 2007, S. 77–101; Christian Babka vonGostomski/Beate Küpper/Wilhelm Heitmeyer, Frem-denfeindlichkeit in den Bundesländern. Die schwierigeLage in Ostdeutschland, in: ebd., S. 102–129; CarinaWolf/Ulrich Wagner/Oliver Christ, Die Belastungs-grenze ist nicht überschritten. Empirische Ergebnissegegen die Behauptung vom vollen Boot, in: WilhelmHeitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 3,Frankfurt/M. 2005, S. 73–91.3 Vgl. Reimund Anhut/Wilhelm Heitmeyer, Desin-tegration, Anerkennung und die Rolle sozialer Ver-gleichsprozesse, in: Wilhelm Heitmeyer/Peter Im-busch (Hrsg.), Integrationspotenziale einer modernenGesellschaft: Analysen zur gesellschaftlichen Integra-tion und Desintegration, Wiesbaden 2005, S. 75–100.

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Ostdeutsche in ihrer Wahrnehmung dieselbenZugangschancen wie Westdeutsche?

Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit ver-läuft seit Beginn der Vereinigung eindeutig.Die Quoten in Ostdeutschland liegen deutlichhöher, und die Differenz nimmt nicht ab.Schaut man auf die regionalen Entwicklungen,so ist erkennbar, dass ein Großteil der Kreise,in denen seit 2002 eine negative wirtschaftli-che Entwicklung stattgefunden hat und einehohe Abwanderung festgestellt werden kann,im Osten Deutschlands liegt. 4 Angesichts die-ser objektiv schlechteren wirtschaftlichenLage ist es kaum überraschend, dass Ostdeut-sche ihre Situation hinsichtlich der eigenenwirtschaftlichen Lage schlechter einschätzenals Westdeutsche und häufiger Angst vor Ar-beitslosigkeit haben (Abbildung 1).

Die Theorie Sozialer Desintegration be-trachtet zweitens die Ebene der institutionel-len Sozialintegration. Hier geht es um dieFrage nach einem gerechten Interessenaus-gleich zur Vermeidung sozialer Spaltung undder Gewährleistung politischer Partizipation.Unsere Ergebnisse bilden die subjektiv nichtgelungene Durchsetzung von sozialer Ge-rechtigkeit ab. Sowohl die wahrgenommenenGefühle der Machtlosigkeit als auch dieWahrnehmung sozialer Spaltung sind jeweilsin den vergangenen sieben Jahren stabil unter-schiedlich zwischen Ost- und Westdeutsch-land – und hinsichtlich der sozialen Spaltungmit einem aufholenden Trend im Westen (Ab-bildung 2). Wenn diese Machtlosigkeit alsausbleibende Chancen zu politischer Partizi-pation und die Entwicklung immer stärkerersozialer Spaltung als Ausdruck der mangel-haften Durchsetzung von Gerechtigkeitsprin-zipien gesehen werden, dann muss sich diesauch auf Einstellungen zur Demokratie nie-derschlagen.

Die dritte Dimension der Theorie SozialerDesintegration fokussiert auf die sozial-emo-tionale Ebene, in der es um die Herstellungemotionaler Bindungen im sozialen Nahraumgeht (kulturell-expressive Sozialintegration).Auch hier finden wir eine subjektiv höhereDesintegrationsbelastung in Ostdeutschland(Abbildung 3).

Abbildung 1: Funktionale Systemintegrati-on – Entwicklung der Mittelwerte in denGMF-Surveys 2002, 2005 und 2008 in Ost-und Westdeutschland

1

1,5

2

2,5

3

3,5

4

West Ost West Ost West Ost West OstNegative Zukunfts-

erwartungena

Weniger als einen

gerechten Anteila

Schlechte wirtschaftliche

Lage

Sorgen und Ängste vor

Arbeitslosigkeit

2002 2005 2008

a Diese beiden Items wurden mit einer dreistufigenAntwortskala gemessen, so dass die Mittelwerte zwi-schen 1 und 3 liegen.In allen Jahren zeigt sich nur bei „negativen Zu-kunftserwartungen“ kein signifikanter Unterschiedzwischen Ost- und Westdeutschland, bei allen ande-ren Items besteht in jedem Jahr ein signifikanterUnterschied mit einer Irrtumswahrscheinlichkeitvon p < 0,01.

Abbildung 2: Institutionelle Sozialintegra-tion – Entwicklung der Mittelwerte in denGMF-Surveys 2002, 2005 und 2008 in Ost-und Westdeutschland

1

1,5

2

2,5

3

3,5

4

West Ost West OstMachtlosigkeit in Politik und

Gesellschaft Soziale Spaltung

2002 2005 2008

Bei beiden Skalen besteht in jedem Jahr ein signifi-kanter Unterschied in den Mittelwerten zwischenOst- und Westdeutschland mit einer Irrtumswahr-scheinlichkeit von p < 0,01. 4 Vgl. S. Hüpping/J. Reinecke (Anm. 2).

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Betrachtet man diese Beschreibungen ent-lang der Dimensionen der Theorie SozialerDesintegration, dann zeigen sich klare Unter-schiede in Ost- und Westdeutschland. Die so-zialen Desintegrationsängste und -gefahren inOstdeutschland sind höher, mitsamt den Aus-wirkungen auf die Einstellungen zueinander,zum politischen System und gegenüberschwachen Gruppen. Allerdings zeigt sich beieinigen Indikatoren ein aufholender Trend inWestdeutschland, insbesondere hinsichtlichder Wahrnehmung sozialer Spaltung undmangelnder sozialer Unterstützung.

Benachteiligungsgefühle:Relative Deprivation

Ähnlich wie die Theorie Sozialer Desintegra-tion argumentiert auch die Theorie RelativerDeprivation. 5 Darin wird jedoch nicht die ob-jektive Teilhabemöglichkeit von Personen in

den Mittelpunkt gerückt, sondern die relativePosition von Personen oder Gruppen inner-halb einer Gesellschaft. Es geht hier um diesubjektive Wahrnehmung, im Vergleich zu an-deren ungerechtfertigt benachteiligt zu sein.Unterschieden wird die individuelle relativeDeprivation, der Vergleich der persönlichenSituation mit der Lage anderer Personen ausder eigenen Gruppe („Persönliche Lage imVergleich zu anderen Deutschen“) und die fra-ternale relative Deprivation, der Vergleich derEigengruppe im Vergleich zur Situation eineranderen Gruppe (hier: „Lage der Ostdeut-schen im Vergleich zur Situation der West-deutschen“). Dieses Gefühl der Benachteili-gung erzeugt Missgunst gegenüber der Grup-pe, die angeblich zuviel bzw. mehr erhält.

Benachteiligungsgefühle könnten sich un-mittelbar negativ auf schwache Gruppen aus-wirken, wenn diesen die Schuld an der Be-nachteiligung gegeben wird. Insofern ist er-wartbar, dass Personen, die sich benachteiligtfühlen, vermehrt zur Abwertung schwacherGruppen neigen. Die Abwertung schwacherGruppen verhilft dazu, die eigene Aufwer-tung in der gesellschaftlichen Gesamthierar-chie zu betreiben. Dazu bietet das Gefühl dereigenen Benachteiligung eine Legitimierungfür die Abwertung und Diskriminierung an-derer. Allerdings erscheint es wahrscheinlich,dass dies insbesondere solche schwachenGruppen betrifft, die auch als Konkurrentenum Statuspositionen wahrgenommen werden.Dies gilt zuallererst für die Gruppe der Aus-länder, denn fremdenfeindliche Einstellungenwerden häufig im Zuge von Konkurrenzlogi-ken begründet: „Die vermeintliche Überfor-derung der gesellschaftlichen Reichtumspro-duktion wird auf die Existenz und Ansprüchevon Ausländern zurückgeführt.“ 6

Welche Bedeutung haben Benachteili-gungsgefühle für das Verhältnis der Ost- undWestdeutschen zueinander? Sind sich Ost-und Westdeutsche einander fremd? Und wiewird die Vereinigung nach fast 20 Jahren be-urteilt? Dazu haben wir in einer repräsentati-ven Bevölkerungsumfrage im Juni 2008 eine

Abbildung 3: Kulturell-expressive Sozialin-tegration – Entwicklung der Mittelwerte inden GMF-Surveys 2002, 2005 und 2008 inOst- und Westdeutschland

1

1,5

2

2,5

3

3,5

4

West Ost West OstGenerelle sozial-emotionale

DesintegrationMangelnde soziale

Unterstützung

2002 2005 2008

Für die „Generelle sozial-emotionale Desintegration“zeigt sich ein signifikanter Unterschied in den Mittel-werten zwischen Ost- und Westdeutschland für 2002mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p < 0,01. 2008besteht ein signifikanter Unterschied bei einer Irr-tumswahrscheinlichkeit von p < 0,05. Die Skala „Man-gelnde soziale Unterstützung“ wurde hier für alleJahre aus zwei Items gebildet. Ost- und Westdeutsch-land unterscheiden sich in den Jahren 2002 und 2005signifikant mit p < 0,01, im Jahr 2008 besteht kein si-gnifikanter Unterschied.

5 Vgl. Samuel A. Stouffer et al., The American Soldier:Adjustment during army life, Vol. 1, Princeton 1949;Walter G. Runciman, Relative deprivation and social

justice: A study of attitudes to social inequality intwentieth century England, Berkeley 1966.6 Joachim Bischoff/Bernhard Müller, ModernerRechtspopulismus, in: Joachim Bischoff/Klaus Dörre/Elisabeth Gauthier (Hrsg.), Moderner Rechts-populismus. Ursachen, Wirkungen, Gegenstrategien,Hamburg 2004, S. 17.

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Reihe von Fragen gestellt, die das Verhältnisvon West- und Ostdeutschen zueinander undderen Meinungen zur Wiedervereinigungnäher beleuchten. 7

Gut die Hälfte der Bürgerinnen und Bürgerin Ost- und Westdeutschland sind der An-sicht, dass die „Wende“ viele Nachteile fürden jeweiligen Landesteil gebracht hat. Ost-deutsche sehen sich von Benachteiligung ge-genüber Westdeutschen betroffen (Tabelle 1).Rund 64 Prozent der Ostdeutschen geben an,sich als Bürgerinnen und Bürger „2. Klasse“zu fühlen. Zudem sind 77 Prozent der Ost-deutschen der Ansicht, dass sie im Vergleichzu den Westdeutschen „weniger als ihren ge-rechten Anteil“ bekommen, und fast drei Vier-tel fühlen sich auch heute noch gegenüber denWestdeutschen benachteiligt. Umgekehrthegen nur wenige Westdeutsche ein Gefühlder Benachteiligung gegenüber Ostdeutschen.

Die erheblichen Benachteiligungsgefühlevon Ostdeutschen gegenüber Westdeutschenwerden in Umfragen immer wieder sichtbar.Schon 1992 gaben 81 Prozent der Ostdeut-schen an, sehr viel oder etwas weniger alsihren gerechten Anteil am Lebensstandard inder Bundesrepublik zu bekommen; im Jahr2002 sahen dies noch 60 Prozent so. 8 Zudemkönnen wir zeigen, dass Benachteiligungsge-fühle unter jüngeren Ostdeutschen wenigerverbreitet sind als in der älteren Generation.

Von einem eindeutigen positiven Trend isttrotzdem nicht auszugehen, da sich immerwieder erhebliche Skepsis zeigt, die sich bis-weilen auch vergrößert. Im Hinblick auf dieAngleichung der Lebensverhältnisse glaubtenzu Beginn der 1990er Jahre in beiden Landes-teilen nur knapp über zehn Prozent, die Le-bensverhältnisse würden sich nie oder erst inzehn Jahren angleichen, im Jahr 2004 warenaber 68 Prozent der Ostdeutschen und 43Prozent der Westdeutschen dieser Meinung. 9

Folgen für schwache Gruppen

Was haben die Probleme der deutschen Ein-heit mit Gruppenbezogener Menschenfeind-lichkeit zu tun? Das schwierige Verhältnisder Ost- und Westdeutschen zueinanderschlägt sich auf andere, insbesondere aufschwache Gruppen nieder. Knapp die Hälftealler Westdeutschen und mehr als zwei Drit-tel der Ostdeutschen fordern, mehr Geld fürdie Einheit statt für die Integration von Aus-ländern auszugeben. Die gefühlte Benachtei-ligung führt dazu, dass dritten Gruppen we-niger gegönnt wird und diesen gegenüberRestriktionen gefordert werden. Gefühlte Be-nachteiligung steht in einem deutlichen Zu-sammenhang mit allen Facetten abwertenderEinstellungen gegenüber schwachen Grup-pen, die wir als Syndrom GruppenbezogenerMenschenfeindlichkeit bezeichnen: „Da an-genommene Ungleichwertigkeit den gemein-samen Kern aller (. . .) Elemente ausmacht,sprechen wir von einem Syndrom Gruppen-bezogener Menschenfeindlichkeit.“ 10

Tabelle 1: Ausmaß gefühlter Benachteiligung nach der „Wende“; Angaben in ProzentWest Ost

trifft eher bzw. voll und ganz zuDie „Wende“ hat den Ost-/Westdeutschen vieleNachteile gebracht. (n. s.)

55,9 57,3

Irgendwie sind Ost-/Westdeutsche „Bürger 2. Klasse“. (**) 13,1 63,9Die West-/Ostdeutschen werden gegenüber den Ost/West-deutschen benachteiligt. (**)

24,2 73,0

... weniger als ihren gerechten AnteilIm Vergleich dazu, wie West-/Ostdeutsche leben:Wie viel, glauben Sie, erhalten die Ost-/Westdeutschen? (**)

21,0 77,0

N = 1777, n Ost = 648, n West = 1129; **: Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland sind signifikant beip < ,01; n.s.: Unterschiede sind nicht signifikant.

7 Ausführlich dokumentiert sind diese Ergebnisse inWilhelm Heitmeyer, Leben wir immer noch in zweiGesellschaften? 20 Jahre Vereinigungsprozess und dieSituation Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit,in: ders., Deutsche Zustände. Folge 7, Frankfurt/M.2009, S. 13–49.8 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport2004. Zahlen und Fakten über die BundesrepublikDeutschland, Bonn 2005.

9 Vgl. Elisabeth Noelle, Eine Aufgabe der Geschichte.Das Zusammenwachsen der Deutschen macht keineFortschritte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom21. 6. 2004, S. 5, Institut für Demoskopie Allensbach.10 W. Heitmeyer (Anm. 1), S. 21.

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Aufgrund des auffälligen Befunds, nachdem insbesondere fremdenfeindliche, islamo-phobe und rassistische Einstellungen in Ost-deutschland weiter verbreitet sind, analysie-ren wir im Folgenden, ob die Verbreitung ab-wertender Einstellungen gegenüber diesendrei Gruppen auf die in Ostdeutschland ver-breiteteren Benachteiligungsgefühle zurück-zuführen sind.

Unter fremdenfeindlichen Einstellungenverstehen wir die Abwehr von Gruppenan-gehörigen anderer ethnischer Herkunft, diezum einen auf (vermutete) Konkurrenz um(knappe) Ressourcen und zweitens auf dieEtikettierung von „kultureller“ Rückständig-keit ausgerichtet ist. Betrachtet man dieAussagen zur Messung fremdenfeindlicherEinstellungen, so zeigt sich: Insgesamt sindOstdeutsche deutlich häufiger der Meinung,dass zu viele Ausländer in Deutschlandleben, und sie stimmen ebenfalls häufigerder Aussage zu: „Wenn Arbeitsplätze knappwerden, sollte man die in Deutschland le-

benden Ausländer wieder in ihre Heimat zu-rückschicken.“ (Abbildung 4) Vergleichtman nur Personen, die sich gegenüber demanderen Teil Deutschlands benachteiligt füh-len, dann verschwinden die Unterschiede,d. h. Westdeutsche, die sich gegenüber Ost-deutschen benachteiligt fühlen, sind ebensofremdenfeindlich eingestellt wie Ostdeut-sche, die sich gegenüber Westdeutschlandbenachteiligt fühlen. Da die Benachteili-gungsgefühle in Ostdeutschland viel weiterverbreitet sind, kommt es zu höheren Ge-samtwerten.

Ähnliches zeigt sich für islamophobe Ein-stellungen. Islamophobie definieren wir alsBedrohungsgefühle und ablehnende Einstel-lungen gegenüber der Gruppe der Muslime,ihrer Kultur und ihren öffentlich-politischenwie religiösen Aktivitäten. Auch hier sind,vergleicht man die Gesamtbevölkerung inWest- und Ostdeutschland, die Ostdeut-schen ablehnender: 34 Prozent sind der Mei-nung, man sollte Muslimen die Zuwande-rung nach Deutschland untersagen, währenddies nur 21 Prozent der Westdeutschen mei-nen. Stellt man einen Vergleich aller Perso-nen in West- und Ostdeutschland an, diesich benachteiligt fühlen, dann relativiertsich diese Differenz; unter Personen mit Be-nachteiligungsgefühlen sprechen sich ebensoviele Ostdeutsche wie Westdeutsche gegendie Zuwanderung von Muslimen aus, unddie Angst vor Überfremdung ist unter sichbenachteiligt fühlenden Westdeutschen sogarstärker verbreitet.

Schließlich zeigt sich bei rassistischenEinstellungen ebenfalls der Einfluss von Be-nachteiligungsgefühlen. Rassismus bezeich-net Einstellungen, welche die Abwertungvon Gruppenangehörigen fremder Herkunftauf der Basis konstruierter „natürlicher“Höherwertigkeit der Eigengruppe vorneh-men. Es ist der Versuch, eine Dominanz ge-genüber Gruppen auszuüben, die auch anbiologischen Unterschieden festgemachtwerden. Der Aussage, dass „Weiße zu Rechtführend in der Welt“ seien, stimmen Ost-deutsche ähnlich häufig zu wie Westdeut-sche. Betrachtet man nur Personen mit Be-nachteiligungsgefühlen, dann sind die Zu-stimmungswerte in Westdeutschland höher.Einzig bei der Frage, ob Aussiedler bessergestellt werden sollten als Ausländer, da siedeutscher Abstammung sind, zeigt sich

Abbildung 4: Fremdenfeindliche Einstel-lungen (GMF-Survey 2008, Zustimmung inProzent, Zusammenfassung der Antwort-kategorien „stimme eher zu“/„stimme vollund ganz zu“)

36

62

30

49

20

71

35

72

01020304050607080

Es leben zuviele Ausländer in Deutschland

Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in

Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat

zurückschicken

Ost WestOst (Benachteiligte) West (Benachteiligte)

n Personen mit Benachteiligungsgefühlen Ostdeutsch-land = 453; n Personen mit BenachteiligungsgefühlenWestdeutschland = 339. Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschland sind auf Basis der Mittelwertefür beide Aussagen zur Fremdenfeindlichkeit signifi-kant bei p < ,01. Unterschiede zwischen Personen mitBenachteiligungsgefühlen aus Ost- und Westdeutsch-land sind für beide Aussagen nicht signifikant.

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keine Angleichung oder Umkehr der Werte.Auch in der Gruppe der Personen mit Be-nachteiligungsgefühlen sind Ostdeutscherassistischer eingestellt. Allerdings wirdauch hier der Einfluss der Benachteiligungs-gefühle deutlich, da die Werte in dieserGruppe höher sind.

Die Analysen zeigen, dass die starken Be-nachteiligungsgefühle in Ostdeutschlandwesentlich zur Erklärung der weiter ver-breiteten fremdenfeindlichen, islamophobenund rassistischen Einstellungen beitragen.Wären die Benachteiligungsgefühle in West-deutschland ähnlich verbreitet wie in Ost-deutschland, so wäre auch mit einer ähnli-chen Verbreitung fremdenfeindlicher, isla-mophober und rassistischer Ressentimentszu rechnen.

Welche Bilanz lässt sich ziehen?

– Nach wie vor zeigen sich in Ostdeutsch-land höhere Desintegrationsbelastungen so-wohl auf der sozialstrukturellen als auch aufder institutionellen und sozio-emotionalenEbene.

– Das subjektive Gefühl der Benachteiligunggegenüber Westdeutschen ist unter Ostdeut-schen sehr verbreitet.

– Desintegrationsbelastungen und Benachtei-ligungsgefühle haben Auswirkungen auf denGrundwert der Gleichwertigkeit aller Men-schen. Personen, die sich selbst nicht aner-kannt und benachteiligt fühlen, sind eherbereit, andere abzuwerten. Die höheren Desin-tegrationsbelastungen und Benachteiligungs-gefühle in Ostdeutschland können erklären,warum abwertende Einstellungen gegenüberschwachen Gruppen in Ostdeutschland ver-breiteter sind.

Unsere Ergebnisse zeigen, dass in Ost- undWestdeutschland dieselben Mechanismen ab-wertende Einstellungen befördern. Desinte-grationserfahrungen und Benachteiligungsge-fühle begünstigen in Ost- wie Westdeutsch-land abwertende Einstellungen gegenüberMinderheiten. Das Ausmaß der tatsächlichenDesintegration und der subjektiven Wahrneh-mung von Benachteiligung ist jedoch in Ost-deutschland weit höher – mitsamt den Kon-

sequenzen für schwache Gruppen. Hinzukommt die strukturelle Desintegration, dennin Regionen, in denen Arbeitslosigkeit, wirt-schaftliche Rückentwicklung und Abwande-rung der jüngeren, gebildeteren Bevölke-rungsanteile Realität ist, sind Benachteili-gungsgefühle nicht nur eine subjektiveWahrnehmung.

Hier sind politische Konzepte gefragt, dieeine strukturelle Stärkung auf den Weg brin-gen. Wenn dies jedoch nicht von den demo-kratischen Parteien geleistet wird, sondernwenn im kommunalpolitischen Bereich vorallem die NPD sichtbare Arbeit leistet, dannkönnen sich fremdenfeindliche Einstellungenweiter verbreiten und zur Normalität wer-den. Wo sich die Probleme dermaßen ver-dichten, wird es für demokratische Akteureimmer schwieriger, gegen abwertende Ein-stellungen einzutreten.

Es bleibt zu erwähnen, dass sich auch inWestdeutschland strukturschwache Regionenbefinden, deren Zustand sich angesichts dermassiven Wirtschaftskrise verschärfen dürfte.Dies wird sich auch in den Wahrnehmungender Bevölkerung niederschlagen. Desintegra-tionsbedrohungen werden weiter wachsenund sowohl in West- als auch in Ostdeutsch-land die Situation schwacher Gruppenschwieriger und zum Teil gefährlicher ma-chen.

21APuZ 28/2009

Karl-Heinz Paqué

Transformations-politik in

Ostdeutschland:ein Teilerfolg

M ezzogiorno ohne Mafia“, so sah Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt 2005

den Zustand der ost-deutschen Wirtschaft.„Supergau DeutscheEinheit“, titelte imselben Jahr der Jour-nalist Uwe Müller.Diese negative Sichtder deutschen Einheitist nicht berechtigt;im Kern sind es drei

Gründe, die eine positivere Bilanz verlangen:

1. Der Aufbau Ost war unvermeidlich, undzwar im Wesentlichen genau so, wie er ge-schah: mit sofortiger Währungsunion, mit zü-giger Privatisierung, mit massiver Wirtschafts-förderung. Realistische Alternativen gab esnicht, und zwar wegen der hohen Mobilitätder Arbeitskräfte als Frucht und Preis derFreiheit. Die Deutschen haben den richtigenWeg gewählt. Sie können darauf stolz sein.

2. Die Ergebnisse sind besser, als gemeinhinangenommen, aber schlechter, als in den frü-hen 1990er Jahren erwartet worden war. Also:ein Teilerfolg. Dass es nicht mehr ist, liegtnicht am Versagen der Politik, sondern amFlurschaden von 40 Jahren Sozialismus. Vier-zig Jahre Abschottung vom Weltmarkt habeneinen hohen Preis, der lange nachwirkt – imOsten Deutschlands und in Mitteleuropa.

3. Der ostdeutschen Industrie fehlt es nochan Innovationskraft. Dies ist der Hauptgrundfür den Ost/West-Rückstand der Produktivi-tät. Dagegen sind die betriebliche Flexibilitäthoch und die Lohnstückkosten niedrig. Dasbietet Chancen im Standortwettbewerb, aberdie Politik muss sich neu orientieren. Die

Stärkung der industriellen Innovationskraftmuss in den Vordergrund rücken. 1

Der Weg:Aufbau Ost statt Erweiterung West

Der Fall der Berliner Mauer vor 20 Jahren warnicht nur ein großer Sieg der Freiheit. Er warauch ein Startsignal der Mobilität: Von nun ankonnte jeder ostdeutsche Arbeitnehmer seinRecht auf Freizügigkeit wahrnehmen, in denWesten umsiedeln und dort eine Arbeit auf-nehmen. Die Existenz dieser neuen Alternati-ve hatte weit reichende Folgen, die nur seltenin ihrer ganzen Tragweite gewürdigt wur-den. 2 Sie schlossen von vornherein für Ost-deutschland einen „evolutionären“ Weg aus,wie er in Mittel- und Osteuropa beschrittenwurde, mit einem Lohnniveau, das damalsunter 20 Prozent und bis heute unter einemDrittel Westdeutschlands liegt. Bei Löhnen indieser Größenordung hätte sich Ostdeutsch-land schnellstens entleert: Millionen von leis-tungsfähigen Arbeitskräften wären in denWesten gewandert. Es hätte keinen „AufbauOst“, sondern eine „Erweiterung West“ gege-ben. Der Osten wäre verödet. Politisch undmoralisch kam dies nicht in Frage. Es war zuRecht jenseits aller Vorstellungskraft undwurde auch nie ernsthaft diskutiert.

Damit aber gab es bei jeder politischen Ent-scheidung ein kategorisches Ceterum Censeo.In Anlehnung an Cato den Älteren lautete es:„Und im Übrigen muss eine massive Abwan-derung verhindert werden!“ Dies schränkteden Raum für die Politik drastisch ein. AlleWeichenstellungen mussten schnell und ent-schlossen erfolgen, sie mussten glaubwürdigund irreversibel sein. Und sie mussten imOsten den Wert der Arbeit in absehbarer Zeitdeutlich dem westlichen Standard annähern.Damit waren die Weichen für drei Grundsatz-entscheidungen gestellt: schnelle Wirtschafts-

Karl-Heinz PaqueDr. sc. pol., geb. 1956; Finanzmi-nister a. D., Professor für Volks-

wirtschaftslehre an der Otto-von-Guericke-Universität Mag-

deburg, Postfach 4120,39018 Magdeburg.

[email protected]

1 Die Kürze dieses Beitrags erzwingt eine bisweilenapodiktische Darstellung. Eine umfassende Interpreta-tion entlang derselben Grundlinien sowie die nötigenstatistischen Belege liefert mein Buch „Die Bilanz.Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit“.Es wird im September 2009 im Carl Hanser Verlag,München, erscheinen.2 Ausnahmen sind unter wenigen anderen Klaus vonDohnanyi, Das Deutsche Wagnis. Über die wirt-schaftlichen und sozialen Folgen der Einheit. München1990, und Walter Heering, Acht Jahre deutsche Wäh-rungsunion. Ein Beitrag wider die Legendenbildung imVereinigungsprozess, in: APuZ, (1998) 24, S. 20–34.

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und Währungsunion, zügige Privatisierungund massive Wirtschaftsförderung.

Mitte 1990 wurde im Osten die DM einge-führt. Diese Entscheidung schuf ein Maxi-mum an Vertrauen in die Stabilität des Gel-des, denn die Deutsche Bundesbank hatte– zusammen mit der Schweizer Nationalbank– weltweit den besten Ruf als stabilitätsorien-tierte Institution ihrer Art. Ab sofort gab esauch im ostdeutschen Wirtschaftsraum diedenkbar solideste Grundlage für jedwedeökonomische Kalkulation.

Die Währungsunion war eine mutige Ent-scheidung. Sie erfolgte gegen die Meinungnamhafter Wirtschaftswissenschaftler, insbe-sondere des Sachverständigenrats zur Begut-achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwick-lung. Es gab zwei wesentliche Gegenargu-mente: Zum einen beseitige eine Währungs-union für immer die Möglichkeit, über eineÄnderung des Außenwerts der Währung anindustrieller Wettbewerbsfähigkeit zu gewin-nen. Zum anderen sorge der Umrechungskursvon eins zu eins für hohe Lohnkosten, mitder Folge eines ebenso massiven Produkti-onseinbruchs der ostdeutschen Industrie.Noch heute werden diese Argumente vonKritikern hervorgebracht, um die Währungs-union als eine der Ursünden der deutschenEinheit zu brandmarken. 3

Diese Kritik übersieht, dass das Niveau derLohnkosten längst nicht mehr durch den Wech-selkurs steuerbar war, und zwar letztlich auseinem zentralen Grund: der innerdeutschenMobilität der Arbeitskräfte nach dem Mauer-fall. Der Umrechungskurs von einer Mark(Ost) zu einer DM sorgte für ein Lohnniveauim Osten von einem Drittel des Westniveaus,was übrigens in etwa einigen – allerdings irre-führenden – Ost/West-Vergleichen der Arbeits-produktivität entsprach. Doch selbst diesesDrittel war noch zu niedrig, um leistungsfähigeArbeitskräfte im Osten davon abzuhalten, sichnach Westen zu orientieren. Es kam schnell zuLohnanpassungen nach oben. Ein Umrech-nungskurs von zwei Mark (Ost) für eine DMhätte dagegen den Lohn auf ein Sechstel (!) desWestens gedrückt. Es ist nicht vorstellbar, dasssich auf diese Art die Situation kurzfristig hättestabilisieren lassen. Das Gleiche gilt für den Fall

der Beibehaltung der Mark (Ost) zu einemKurs in dieser Größenordnung.

Kurzum: Alle Ostdeutschen rechnetenlängst in DM. Sie lebten bereits in dem, wasÖkonomen einen DM-Standard nennen wür-den. Für sie zählte nur mehr der Wert in harterWestwährung, denn sie konnten westdeutscheWaren kaufen und, wenn nötig, durch Abwan-derung auch die nötige Währung im Westenselbst verdienen. Sie waren eben frei. Nur dieEinschränkung der Freizügigkeit – kombiniertmit einer nicht-konvertiblen Mark (Ost) –hätte sie dazu zwingen können, ihrem eigenenGüterangebot als Produzenten und Konsu-menten treu zu bleiben. Aber das hätte eineneue Mauer bedeutet, und das war undenkbar.Als sinnvoller Weg blieb nur die Währungs-union. Sie war insofern nicht nur politisch undmoralisch geboten, sondern auch ökonomischrichtig. 4 Was danach kam, war die Konse-quenz der Freiheit, nicht der Währungsunion.

Es folgte der Zusammenbruch der ostdeut-schen Industrie. Er vollzog sich in einer ers-ten Welle im Jahr 1990 und dann noch weiterbis zu einem Tiefpunkt im Jahr 1992. Parallelbegann die Treuhandanstalt ihre Arbeit, undzwar unter der Leitlinie: Privatisieren vor Sa-nieren. Als Holding praktisch aller ehemalsvolkseigenen Betriebe der DDR gelang ihrder Verkauf in Rekordgeschwindigkeit. Biszu ihrer Auflösung Ende 1994 war der Groß-teil der fast 14 000 Unternehmen bzw. Teilevon Unternehmen privatisiert, ein giganti-scher Kraftakt mit Folgen: ein Defizit vonüber 200 Mrd. DM, der Abbau von etwa 2,5Millionen industriellen Arbeitsplätzen, zahl-reiche kriminelle Machenschaften und eineschwere Diskreditierung in Teilen der ost-deutschen Bevölkerung, die das marktwirt-schaftliche Aufräumkommando als eine Artkolonialistische Liquidation interpretierten.Emotional war dies verständlich, zumal diePraktiken der Treuhandanstalt nicht immerRespekt vor der vierzigjährigen Arbeitsleis-tung im Sozialismus erkennen ließen.

Aus volkswirtschaftlicher Sicht muss aller-dings das Urteil über die Treuhandanstalt er-heblich positiver ausfallen. Es gelang ihr,einen industriellen Kern zu schaffen, der zu-kunftsfähig war. Die Investitions- und Be-schäftigungszusagen der Käufer wurden im

3 Am prominentesten Helmut Schmidt, Auf dem Wegzur deutschen Einheit, Reinbek 2005, S. 114. 4 So überzeugend W. Heering (Anm. 2).

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Wesentlichen erfüllt, zum Teil sogar überer-füllt. Die Geschäftsmodelle erwiesen sich inder großen Mehrzahl als tragfähig. Ein be-trächtlicher Teil der ostdeutschen Industrie-betriebe, die heute rentabel arbeiten, sindehemalige Unternehmen der Treuhandanstalt.Hinzu kommt eine wichtige „negative“ Leis-tung: Es kam nicht zum befürchteten Überle-ben von maroden Industriestätten, deren lau-fende Produktion aufgrund des politischenDrucks dauerhaft subventioniert werdenmusste. Genau dies wäre die große Gefahrgewesen, hätte man langsamer privatisiert,was seinerzeit namhafte Ökonomen forder-ten 5 und noch heute gelegentlich als der bes-sere Weg dargestellt wird. 6

Parallel zur Treuhandaktivität lief die Wirt-schaftsförderung an: Ausbau und Renovierungder Infrastruktur gleich welcher Art sowieFörderung von Neuansiedlungen und Erwei-terungsinvestitionen der Industrie, und zwarauf allen Ebenen, durch die ostdeutschen Län-der und Kommunen, den Bund und die Euro-päische Union. Tatsächlich wirkte diese Förde-rung. Es gab zunächst einen Boom der Bau-wirtschaft, der zügig zur Erneuerung desBaubestands der Städte führte, dabei allerdingslängerfristig zu hohen Leerständen, weshalbdie Förderung zu Recht immer stärker auf dasverarbeitende Gewerbe konzentriert wurde.Gleichzeitig gab es ein deutliches Wachstumder industriellen Wertschöpfung, in den ver-gangenen Jahren sogar auch wieder der Be-schäftigung. 7 Wurden 1992 gerade noch 3,4Prozent der gesamtdeutschen Industriepro-duktion im Osten erstellt, so betrug 2008 derAnteil wieder fast zehn Prozent. Während dieBauwirtschaft seit Mitte der 1990er Jahreschrumpft, gewann das verarbeitende Gewer-be wieder einen prominenten Platz.

Stellt man die Ausgangsbedingungen inRechnung, so fällt es nicht leicht, einen realis-tischen alternativen Weg aufzuzeigen. Dasspezifisch ostdeutsche Problem lag von An-fang an in der Bereitschaft der Menschen zum

Abwandern. Diese machte es unmöglich,jenen Teil der Industrie zu erhalten, dessenProduktpalette am Weltmarkt nur einen sehrkleinen Bruchteil der westdeutschen Wert-schöpfung pro Arbeitsplatz erwirtschaftete.Dieser Teil der Industrie musste – anders alsin Mittel- und Osteuropa – unter dem Druckder Verhältnisse verschwinden.

Das Ergebnis:Werkbänke ohne Gewerkschaften

Wo steht der Osten heute? Schaubild 1 zeigtdie Entwicklung der Arbeitsproduktivitätvon 1991 bis 2008, und zwar für das verarbei-tende Gewerbe (die „Industrie“) und die Ge-samtwirtschaft, jeweils im Verhältnis zumNiveau des Westens. Das Bild macht deutlich,dass von einer Stagnation des Aufholprozes-ses nicht die Rede sein kann, zumindest nichtin der Industrie. Dort nahm bis in die aller-jüngste Zeit die Bruttowertschöpfung pro Er-werbstätigem kontinuierlich zu – von untereinem Viertel des Westniveaus 1991 überrund zwei Dritteln um die Jahrtausendwendebis auf zuletzt 78,3 Prozent im Jahr 2008. 8

Gesamtwirtschaftlich dagegen verlief derAufholprozess schleppender, nach anfänglichrasantem Tempo. Das liegt vor allem amSchrumpfen der Bauwirtschaft, an der Stagna-tion der Dienstleistungsgewerbe und am Rück-gang staatlicher Aktivität. Dabei handelt es sichum nötige Anpassungen: Nur durch einenStrukturwandel weg von der binnenmarkt-orientierten Produktion von Bauleistungen undDiensten hin zum exportfähigen verarbeitendenGewerbe kann der Osten aus der Transferab-hängigkeit herauswachsen. Motor des Wachs-tums muss die (transferunabhängige) Industriesein. Die Entwicklung geht deshalb volkswirt-schaftlich in die richtige Richtung. 9

Im verarbeitenden Gewerbe kam es trotzder Produktivitätsfortschritte nicht zu Lohn-steigerungen. Die ostdeutschen Industrie-löhne folgten fast exakt dem westdeutschenTrend. Das Arbeitnehmerentgelt pro Er-

5 Allen voran Gerlinde Sinn/Hans-Werner Sinn,Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschenVereinigung, München 19933, Kap. IV.6 Vgl. H. Schmidt (Anm. 3), S. 214 ff.7 Es ist in der Wirtschaftswissenschaft strittig, ob dieArt der Förderung zu einer zu hohen Kapitalintensitätder ostdeutschen Produktionsstätten führte. DieTheorie spricht dafür, die empirische Evidenz aller-dings nicht. Siehe dazu K.-H. Paqué (Anm. 1), Kap. 3.

8 Pro Arbeitsstunde lag die Produktivität im verar-beitenden Gewerbe bei 71,0 Prozent des Westniveaus,weil im Osten die durchschnittliche Arbeitszeit in derIndustrie 2008 um etwa zehn Prozent länger war.9 Siehe dazu im Detail K.-H. Paqué (Anm. 1), Kap. 4,und Harald Simons, Transfers und Wirtschafts-wachstum. Theorie und Empirie am Beispiel Ost-deutschland, Marburg 2009.

24 APuZ 28/2009

werbstätigen liegt deshalb seit den späten1990er Jahren bei konstant 67 bis 68 Prozentdes Niveaus im Westen (Schaubild 2, obererTeil). Entsprechend sind die Lohnstückkos-ten, definiert als das Verhältnis von Arbeits-kosten zu Arbeitsproduktivität, kontinuier-lich gesunken (Schaubild 2, unterer Teil).2008 lagen sie bei 86 Prozent des Westni-veaus. Industriell ist also der Osten – was dieLohnstückkosten betrifft – ein höchst wett-bewerbsfähiger Standort geworden, trotz desfortdauernden Rückstands der Produktivität.Dies gilt umso mehr, als auch die Lohnent-wicklung im Westen im internationalen Ver-gleich recht moderat ausfiel.

Diese Entwicklung bedarf der Erklärung,denn sie ist in den 1990er Jahren so nicht vor-hergesagt worden. Der Grund liegt in derErosion des Flächentarifvertrags: Wegen derhohen Arbeitslosigkeit gelang es im Ostenweder den Arbeitgeberverbänden noch denGewerkschaften, einen hohen Organisations-grad zu erreichen. Tatsächlich ist der Anteilder Industrieunternehmen, die tarifvertrag-lich gebunden sind, nach allen Maßstäben ex-trem niedrig. Offenbar haben sich betriebsna-he Lösungen durchgesetzt, die ein hohes Maßan Flexibilität gewährleisten und die Löhneauf einem wettbewerbsfähigen Niveau halten.

Es bleibt der zählebige Ost/West-Rück-stand der Arbeitsproduktivität. StatistischeBeobachtungen und empirische Studienhaben gezeigt, dass dieser Rückstand kaumnoch mit Mängeln der Verfügbarkeit vonTechnologie und Kapital zusammenhängt,ebenso wenig mit einem Rückstand im Aus-

bildungs- und Qualifikationsniveau der Ar-beitskräfte. Etwa 300 000 Ostdeutsche pen-deln täglich zur Arbeit in den Westen und er-reichen dort mühelos die Produktivität ihrerKollegen. Tatsächlich sprechen alle Indiziendafür, dass der Grund für den Rückstand inder Art der Produkte liegt, die im Osten her-gestellt werden.

Darauf verweisen vor allem die Rückständeder ostdeutschen Industrie in der For-schungs- und Exportorientierung. So bleibtdie industrielle Forschung und Entwicklung(F&E) immer noch sehr stark auf den Westenkonzentriert. Im Jahr 2006 lag der Anteil derErwerbstätigen, die in F&E tätig sind, in Ost-deutschland mit 0,43 Prozent nur etwa beider Hälfte des westdeutschen Niveaus von0,88 Prozent. Diese Anteile haben sich seitMitte der 1990er Jahre kaum verändert. DieRe-Industrialisierung des Ostens war alsobisher nicht mit einer stärkeren Forschungs-orientierung verbunden. Auch die industrielleExportorientierung ist im Osten noch immerschwächer als im Westen. Im Jahr 2008 lagdie Exportquote im Westen bei fast 46 Pro-zent, im Osten bei etwa 33 Prozent. Aller-dings ist hier ein nachhaltiges Aufholen fest-zustellen: So stieg die ostdeutsche Export-quote von gerade 12 Prozent Mitte der1990er Jahre auf etwa 20 Prozent im Jahr2000 bis aktuell über 33 Prozent.

Die beiden verbleibenden Strukturschwä-chen der ostdeutschen Industrie hängen mitei-nander zusammen. Sie haben eine gemeinsameUrsache, die sich ansatzweise aus der Eigen-

Schaubild 1: Arbeitsproduktivität im Ost/West-Vergleich (Ost in Prozent von West)

100 %

75 %

50 %

25 %

0 %

1991

1995

2000

2005

2008

Bruttowertschöpfung pro Erwerbstätigenim verarbeitenden GewerbeBruttowertschöpfung pro Erwerbstätigenin der Gesamtwirtschaft

Quelle: alle Schaubilder eigene Berechnungen.

Schaubild 2: Löhne u. Lohnstückkosten imOst/West-Vergleich (Ost in Prozent von West)

65 %

55 %

45 %

35 %

200 %

160 %

120 %

80 %

1991 19

95 2000

2005

2008

Löhne

Lohnstückkosten

25APuZ 28/2009

tümer-, Betriebsgrößen- und Beschäftigten-struktur des verarbeitenden Gewerbes in Ost-deutschland ablesen lässt. Dort hatten 2005mehr als vier Fünftel aller Betriebe mittel- undostdeutsche Eigentümer, und deren Betriebs-größe lag im Durchschnitt bei gerade zwölfBeschäftigten – eine Größe, bei der es schwie-rig ist, eine hohe Forschungsintensität und Ex-portquote zu erreichen. 48 Prozent der Be-schäftigten arbeiteten in diesen (relativ kleinen)Betrieben, 47 Prozent dagegen in den (durch-schnittlich größeren) Betrieben westdeutscherund ausländischer Eigentümer. Bei diesen istaus vielerlei anekdotischer Evidenz zu schlie-ßen, dass die meisten zwar durchaus mit neues-ter Technologie produzieren, aber ihre For-schungsabteilungen im Westen behielten undeher standardisierte Bereiche zur Herstellungin den Osten verlagerten. Die ostdeutscheIndustrie ist noch immer zum Großteil eineverlängerte Werkbank des Westens. Sie stehtdamit dort, wo sich typischerweise die Indus-trie in strukturschwächeren Gebieten befindet.Sie ist in ihren Märkten zu den gegebenenLöhnen wettbewerbsfähig, aber sie hatCharakteristika, die nicht die gleiche Wert-schöpfung erlauben wie in (westdeutschen)Ballungszentren.

Alles in allem lässt sich das Ergebnis ambesten als Teilerfolg bezeichnen: Eine neueindustrielle Basis ist geschaffen, aber siereicht noch nicht aus, um westdeutsche Stan-dards zu erfüllen, und zwar weder von derGröße noch von der Innovationskraft her. Al-lerdings ist der westdeutsche Standard auchsehr anspruchsvoll. Man darf nicht vergessen,dass der Osten Deutschlands bis 1989 übervierzig Jahre lang Teil einer sozialistischenArbeitsteilung war, die sich gegen die Welt-wirtschaft abschottete. Dabei gab es nicht nureine gigantische Verschwendung von Res-sourcen, sondern auch einen schleichendenVerlust von industrieller Innovationskraft.Selbst bestausgebildete Ingenieure konntennach 1990 aus eigener Kraft keine neue Pro-duktpalette entwickeln und auf dem Welt-markt platzieren. Es bedurfte in praktischallen Industriebranchen eines völligen Neu-aufbaus, und dies unter dem Damokles-schwert der hohen Mobilität von Fachkräf-ten, die jede Zögerlichkeit der Anpassung mitAbwanderung beantwortet hätten.

Es ist aufschlussreich, zum Vergleich einenBlick nach Tschechien zu werfen – jenem

Land, das als hoch entwickelte Industriere-gion die größte strukturelle Ähnlichkeit zuOstdeutschland aufwies. Wo steht die tsche-chische Industrie heute? Bei etwa 30 Prozentder Produktivität und gut 20 Prozent desLohnniveaus von Westdeutschland, und damitweit schlechter als in der Zwischenkriegszeit.Tschechien hatte keinen „Aufbau Ost“ imSinne eines massiven Hilfsprogramms durcheinen benachbarten Westen; es hatte keinenZugriff auf einen Pool von modernen Unter-nehmen aus demselben Kulturraum zur Fi-nanzierung von Direktinvestitionen. Insofernist der Rückstand nicht verwunderlich. Aller-dings zeigt er auch, dass die postsozialistischeAufgabe des Aufholens gegenüber dem Wes-ten offenbar viel schwieriger ist, als Anfangder 1990er Jahre erwartet wurde.

Die Aufgabe:Stärkung der Innovationskraft

Ein zentrales Ziel der deutschen Einheit warund ist, eine ostdeutsche Wirtschaft aufzubau-en, die ausreichend stark ist, um den Verbrauchder Region durch eigene Produktion zu finan-zieren. Erst wenn dies geschafft ist, lässt sichvon einem Ende der Transferökonomie spre-chen. Der Osten muss – in Begriffen der Au-ßenwirtschaft formuliert – seine „Leistungsbi-lanz“ zum Ausgleich bringen. Nur dann lebter nicht mehr über seine Verhältnisse. Wir defi-nieren dabei die „Leistungsbilanz“ einer Re-gion als Differenz zwischen Produktion undVerbrauch, wobei sich der Verbrauch aus demprivaten Konsum, dem Staatsverbrauch undden Investitionen zusammensetzt. 10

Tatsächlich hat der Osten – kaum bemerktvon der Öffentlichkeit – im Bemühen um denAusgleich seiner Leistungsbilanz enormeFortschritte gemacht (Schaubild 3, obererTeil). Lag Mitte der 1990er Jahre der Ver-brauch noch um rund 100 Mrd. Euro höherals die Produktion, so schrumpfte das Defizitbis 2006 auf gut 30 Mrd. Euro. Es ist seitherwahrscheinlich noch weiter gesunken. Vonder fast totalen Transferabhängigkeit der1990er Jahre hat sich die ostdeutsche Wirt-schaft also längst gelöst, insbesondere dank

10 In strenger außenwirtschaftlicher Terminologieumfasst die „Leistungsbilanz“ auch die „Trans-ferbilanz“. Wir weichen bewusst davon ab, gerade weiluns der verbleibende „Transferbedarf“ Ostdeutsch-lands interessiert.

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der kontinuierlichen Erholung des verarbei-tenden Gewerbes. Was heute an Defizit inder Größenordung von zehn Prozent desProduktionswertes verbleibt (Schaubild 3,unterer Teil), ist allein auf Pendler und die ge-setzlich begründeten Transfers im Renten-und Sozialsystem zurückzuführen. Bedenktman, dass diese Transfers gesetzlich festge-schrieben sind und zumindest bei den Renteneine späte Folge der hohen Erwerbsbeteili-gung zu DDR-Zeiten darstellen, 11 so ist dieseine respektable Bilanz. Sie kann noch nichtbefriedigen, aber sie zeigt, dass es substan-zielle Fortschritte gibt. Weitere müssen fol-gen. Dafür bedarf es einer weiteren Rückfüh-rung des Verbrauchs, allen voran des Staats-konsums und der öffentlichen Investitionen,was im Rahmen des 2019 auslaufenden Soli-darpakts II ohnehin nötig ist. Hier hat bereitsein Konsolidierungskurs eingesetzt, vor allembeim Personalabbau im öffentlichen Dienst.

Noch wichtiger ist die weitere Stärkung derindustriellen Produktivität. Dies muss einSchwerpunkt der Politik werden. Dabei bedarfes der Umschichtung von Mitteln: weg vonProjekten der Infrastruktur und Arbeitsbe-schaffung, hin zu Maßnahmen, die der ost-deutschen Industrie zu mehr Innovationskraftverhelfen. Es geht dabei vor allem um das Ent-stehen neuer Zentren der privaten Forschungim Zusammenspiel mit öffentlichen Wissen-schaftseinrichtungen, die sich zu industriellenBallungszentren verdichten können. Dabeisind alle politischen Ebenen des deutschen Fö-deralismus gefordert:

� Die Bundespolitik muss darauf hinwirken,dass wissenschaftspolitische Exzellenzpro-gramme keine negativen regionalpolitischenNebeneffekte haben. Der Osten darf nichtwegen seiner schwierigen Startposition vonder Entwicklung neuer Schwerpunkte öffentli-cher und privater Forschungszusammenarbeit

abgehängt werden. Daneben muss die Bundes-politik dafür sorgen, dass das hohe Maß an Fle-xibilität und Betriebsnähe, das die ostdeutscheIndustrie auszeichnet, als Standortvorteil er-halten bleiben kann. Jede Form der Re-Regu-lierung des Arbeitsmarkts (z. B. durch flächen-deckende Mindestlöhne) ist schädlich.

� Die Landes- und Kommunalpolitik mussstandortpolitische Schwerpunkte setzen, dieBallungsvorteile von Industrien gewährleisten,ohne die Chancen für neue Entwicklungen zuverschließen. Die kommunalen Entschei-dungsträger brauchen Freiräume, um bei derAnwerbung von Investoren mit westdeut-schen und ausländischen Städten und Gemein-den konkurrieren zu können. Dies gilt insbe-sondere für jene Regionen, die nicht in unmit-telbarer Nähe zu Ballungszentren liegen.

Es geht wirtschafts- und standortpolitisch umeine pragmatische Mischung von anspruchs-voller Innovationspolitik, einfacher Anwer-bung von Investoren und pragmatischer Stär-kung des vorhandenen industriellen Mittel-stands. Auch von dieser Mischung darf mansich keine Wunder versprechen. Die Flur-schäden des Sozialismus zu beseitigen ist einesehr langwierige Aufgabe. Und diese zu lösenbleibt ein großes nationales Ziel.

Schaubild 3: Leistungsbilanzdefizit desOstens

100

75

50

25

0

75 %

50 %

25 %

0 %

1991

1995

2000

2005

2008

Prozent des Bruttoinlandsprodukts

Milliarden Euro

11 Vgl. dazu Gerhard Ritter, Der Preis der deutschenEinheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des So-zialstaats, München 2006. K.-H. Paqué (Anm. 1) lieferteine grobe Schätzung der jährlichen Transferver-pflichtungen im Renten- und Sozialsystem, die ver-nünftigerweise als Spätfolge des DDR-Sozialismus an-gesehen werden können. Für die Renten ergibt sich einTransfervolumen von 21 Mrd. Euro, für das Sozial-system von 35 Mrd. Euro, insgesamt also 56 Mrd.Euro, als das tatsächliche „Leistungsbilanzdefizit“ imJahr 2006. Der Beitrag von Pendlerströmen liegt beischätzungsweise 8 Mrd. Euro.

27APuZ 28/2009

Uwe Jun

Wandel desParteien- und

Verbändesystems

Sowohl im deutschen Parteien- als auch imVerbändesystem sind seit der politischen

Vereinigung 1990 Veränderungen erkennbar,die im Erosionsprozess der beiden Großpar-teien CDU und SPD und der traditionellenVerbände im Wirtschafts- und Sozialsektor

ihren markantestenAusdruck finden.Während Großpartei-en und -verbände anMitgliedern und Wäh-lern bzw. an ökono-mischem Einfluss ver-lieren, befinden sichkleinere Parteien undspezifische Interessen-

organisationen erkennbar im Aufwind. Dieseweit gehende Parallelität der Schwächungvon Großorganisationen ist mit Blick auf dieVeränderungen des Parteien- und Verbände-systems nicht überraschend, da gesamtgesell-schaftliche Entwicklungen diesen Prozessenzu Grunde liegen.

Die Frage, wie diese Veränderungen imEinzelnen zu erklären sind, soll im Vorder-grund dieser Skizze stehen. Nicht zentral be-handelt werden die veränderten Interaktionenvon Parteien- und Verbändesystem, ohnediese aber auszublenden. Ebenso wird nichtausführlich eingegangen auf die unmittelba-ren Auswirkungen der politischen Vereini-gung für das Parteien- und Verbändesystem,wiewohl Konsequenzen und Folgewirken desInstitutionentransfers von West- nach Ost-deutschland keineswegs negiert werden.

Erosion der Großorganisationen

Die gesellschaftliche Anbindung von Groß-parteien und -verbänden hat sich gelockert;das Ausmaß, in dem diese die Gesellschaftdurchdringen, ist gesunken. Individualisie-rung, Pluralisierung von Lebensstilen und

Wertegemeinschaften, die so genannte Bil-dungsexpansion mit der Zunahme höhererformaler Bildungsabschlüsse, die Säkularisie-rung und der Rückgang industrieller Beschäf-tigung sowie die Stärkung des tertiären Sek-tors haben zum Zerfall der lange prägendenStrukturen der deutschen Gesellschaft beige-tragen und zur Abnahme traditioneller Wer-tebindungen und Organisationsloyalitätengeführt. Insbesondere auf die Entstehung derKonfliktlinien Arbeit/Kapital und Staat/Kir-che zurückgehende Großorganisationen sindvom Zerfall der traditionellen Milieus starkbetroffen. Sie müssen sich mit schrumpfen-den Mitgliederzahlen und geringerer Identifi-kation mit ihnen abfinden. Dies betrifft dieSPD und die Gewerkschaften wie die CDUund die Kirchen gleichermaßen, wenn auchin unterschiedlicher Intensität und auf ver-schiedenen Ursachen beruhend.

Der Zerfall des sozialdemokratischenMilieus geht einher mit gravierenden Verän-derungen der Arbeitswelt hin zu wissensba-sierter Produktion und zu Dienstleistungsbe-rufen, zu Flexibilisierung der Arbeitsverhält-nisse und zu erhöhter Mobilität derArbeitnehmer. Die Klammer gemeinsamer Er-fahrungen in der Arbeitswelt wird brüchiger,Wertvorstellungen erodieren. Die im Deut-schen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammen-geschlossenen Arbeitnehmervertretungen ha-ben erheblich an Mitgliedern verloren, zwi-schen 1993 und 2003 allein knapp 24 Prozent.Trotz mittlerweile erreichter Stabilisierunghaben sich die Einzelgewerkschaften „vonden weltweit stabilsten Gewerkschaften zudenen mit den größten Mitgliederproblemenentwickelt“. 1

Nicht anders sieht es auf Arbeitgeberseiteaus, wo geradezu von einer Verbandsfluchtgesprochen werden kann. 2 In Ostdeutsch-land treten viele Unternehmen der Bundes-vereinigung der Deutschen Arbeitgeberver-bände (BDA) gar nicht erst bei. Der Organi-sationsgrad in den traditionellen Wirtschafts-und Sozialverbänden ist so stark gesunken,dass Beobachter „allgemeine Organisations-

Uwe JunDr. disc. pol., geb. 1963; Profes-

sor für Politikwissenschaft(Westliche Regierungssysteme)

an der Universität Trier,54286 Trier.

[email protected]

1 Anke Hassel, Gewerkschaften, in: Thomas vonWinter/Ulrich Willems (Hrsg.), Interessenverbände inDeutschland, Wiesbaden 2007, S. 177.2 Vgl. Wolfgang Schroeder, Arbeitgeberverbände, in:ebd., S. 210; siehe auch Werner Bührer, Unter-nehmerverbände und Staat in Deutschland, in: APuZ,(2006) 15–16, S. 23.

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müdigkeit“ 3 und die „Notlage einzelner Ver-bände und ganzer Verbandssektoren“ 4 kon-statieren.

Nicht anders ist das Bild bei den Großpar-teien: SPD und CDU verlieren seit Jahrenkontinuierlich Mitglieder, hinzu tritt eineÜberalterung der Mitgliedschaft. 5 Poten-zielle Mitglieder sehen ihre spezifischen In-teressen in Großorganisationen kaum nochadäquat berücksichtigt. Hausgemachte Pro-bleme kommen hinzu – so verlor die SPDüberdurchschnittlich viele Mitglieder imZuge der Regierungspolitik der „Agenda2010“ des damaligen Bundeskanzlers Ger-hard Schröder. 6 Die Gewerkschaften habenlange Zeit den Anschluss an den Struktur-wandel des Arbeitsmarktes verpasst, die Ar-beitgeberverbände erst spät die Möglichkeitentdeckt, eine Mitgliedschaft ohne Bindungan Flächentarifverträge anzubieten. Mitglied-schaften werden vermehrt zweck- und pro-jektorientiert verstanden und ohne Anreizeentweder nicht eingegangen oder rasch wie-der beendet. Selektive, ergebnisbezogene An-reize, also solche, die auf persönliche Vorteileabzielen, haben bei jüngeren Mitgliedern einedeutlich höhere Bedeutung im Vergleich zuanderen Beitrittsmotiven. 7 Verbände sindvermehrt dazu übergegangen, materielle An-reize für Mitglieder anzubieten – ein Weg,der Parteien kaum zur Verfügung steht.

Während die Veränderungen auf dem Ar-beitsmarkt Gewerkschaften und SPD stärkerbetroffen haben, verlieren Kirchen undCDU/CSU aufgrund der fortschreitendenSäkularisierung der Gesellschaft an Gewicht.Es ist zwar weder den Kirchen noch derUnion verborgen geblieben, dass sich die Al-tersgruppen der unter 50-Jährigen von deninstitutionellen, kulturellen und normativenPrägungen des Katholizismus bzw. Protes-

tantismus entfernt haben, doch eine der Ent-wicklung entgegenwirkende Strategie habensie bis heute nicht gefunden. 8

Bei aller Auflösung der traditionellen Mi-lieus soll aber keineswegs behauptet werden,dass sich über viele Jahrzehnte bewährte Ko-operationsmuster zwischen Parteien und Ver-bänden vollständig aufgelöst hätten. 9 Zwarhat eine partielle Entkoppelung der beidenAkteurstypen der Interessenvermittlungstattgefunden, 10 dennoch bestehen Loyali-tätsmuster fort. Die SPD versucht angesichtsder Parteienkonkurrenz der Linken in jüngs-ter Zeit vermehrt ihre Kooperation mit denGewerkschaften zu revitalisieren. 11 DieUnion ist weiterhin auf Katholiken mit hoherKirchgangshäufigkeit als Stammwähler zurGewinnung von Mehrheiten angewiesen.

Veränderungen im Parteiensystem

Seit 1990 ist eine „fluide Wettbewerbssitua-tion“ 12 entstanden, die durch eine relativeUnbestimmtheit der Konkurrenzlage zukennzeichnen ist, mit großen Unsicherheitenfür die politischen Parteien sowohl mit Blickauf Stimmenanteile wie auf Regierungsbil-dungen. 13

Zunächst ist mit Blick auf den Wandel desParteiensystems eine zunehmende Fragmen-tierung zu nennen. Fragmentierung be-schreibt die effektive Zahl relevanter Parteienin einem Parteiensystem. Sie ist seit den1970er Jahren – wenn auch nicht kontinuier-

3 Ulrich von Alemann/Florian Eckert, Lobbyismusals Schattenpolitik, in: APuZ, (2006) 15–16, S. 5.4 Alexander Straßner, Funktionen von Verbänden inder modernen Gesellschaft, in: APuZ, (2006) 15–16,S. 11.5 A. Hassel (Anm. 1) beobachtet eine besonders ge-ringe Organisationsneigung bei jüngeren Arbeit-nehmern (S. 178).6 Vgl. Uwe Jun, Sozialdemokratie in der Krise: DieSPD auf der Suche nach einer neuen Identität, in: Ge-sellschaft – Wirtschaft – Politik, 53 (2004), S. 325–340.7 Vgl. Markus Klein, Partizipation in politischen Par-teien, in: Politische Vierteljahresschrift, 47 (2006),S. 51.

8 Vgl. Franz Walter, Im Herbst der Volksparteien?,Bielefeld 2009, S. 45 ff.9 Vgl. Bernhard Weßels, Organisierte Interessen undRot-Grün: Temporäre Beziehungsschwäche oder zu-nehmende Entkoppelung zwischen Verbänden undParteien?, in: Christoph Egle/Reimut Zohlnhöfer(Hrsg.), Ende des rot-grünen Projektes, Wiesbaden2007, S. 163.10 Vgl. Theo Schiller, Verbände und Parteien, in: T. v.Winter/U. Willems (Anm. 1), S. 459.11 Vgl. Daniel Delhaes, Genossen kämpfen um die alteMitte, in: Handelsblatt vom 30. 4.-3. 5. 2009, S. 5.12 Oskar Niedermayer, Das fluide Fünfparteiensystemnach der Bundestagswahl 2005, in: ders. (Hrsg.), DieParteien nach der Bundestagswahl 2005, Wiesbaden2008, S. 9.13 Siehe zur Entwicklung des deutschen Parteien-systems auch Thomas Saalfeld, The German PartySystem since 1998: Cooperation and Competition un-der Growing Uncertainty, in: Alister Miskimmon/William E. Paterson/James Sloam (eds.), Germany’sGathering Crisis, Basingstoke 2009, S. 80–105.

29APuZ 28/2009

lich – angestiegen. Dazu haben wesentlichbeigetragen das Aufkommen der Grünen zuBeginn der 1980er Jahre und das Hinzutretendes Nachfolgers der DDR-Staatspartei SED,die PDS, die seit 2007 mit der Fusion mit derWahlalternative für Soziale Gerechtigkeit(WASG) den Namen Die Linke angenommenhat. Die erhöhte Fragmentierung ist auf diegenannten gesellschaftlichen Entwicklungenzurückzuführen. Sie ist Ausdruck einer Re-präsentationskrise der Großparteien. DieseEffekte sind verstärkt worden durch eine par-tielle Erosion der politischen und gesell-schaftlichen Mitte: weit verbreitete, subjekti-ve Gefühle der Statusbedrohung in Teilen derMittelschichten. 14 Bei den unteren sozialenSchichten ist der Glaube an den sozialen Auf-stieg stark zurückgegangen. 15 Aus Sicht einesnicht unerheblichen Teils der Wählerschaftsind die Großparteien für diese subjektivwahrgenommenen sozialen Schieflagen undStatusbedrohungen mitverantwortlich. Dennstaatliche Verantwortung für soziale undwirtschaftliche Fragen wird von weiten Teilender Wählerschaft eingefordert. Diesen „gro-ßen Erwartungen an die Politik“ 16 könnendie Großparteien aus Sicht der Wählerinnenund Wähler kaum noch entsprechen.

Die gestiegene Fragmentierung und Aus-differenzierung des Parteiensystems hatteAuswirkungen auf dessen Polarisierung;damit gemeint sind programmatisch-ideolo-gische Differenzen. In der sozioökonomi-schen Wettbewerbsdimension positionierensich die Parteien entlang des Kontinuumszwischen Marktliberalismus und Staatsinter-ventionismus. In der kulturellen Wettbe-werbsdimension stehen sich libertäre Wertewie Toleranz, Selbstentfaltung, kollektiveFreiheitsrechte, Emanzipation, Pazifismus,kulturelle und politische Inklusion und auto-ritäre Wertstellungen wie der Vorrang innererund äußerer Sicherheit, kultureller Mehr-heitsidentitäten oder restriktiver Kriminali-tätsbekämpfung gegenüber. Deutlich wird,dass die kleineren Parteien jeweils einen Polfür sich beanspruchen: Die FDP tritt für„klare“ marktwirtschaftliche Prinzipen ein,die Linke für Staatsinterventionismus in der

Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Grünenfür libertäre Werte, insbesondere für die kul-turelle Anerkennung aller gesellschaftlichenGruppen im Sinne partizipatorischer Pari-tät, 17 die rechtsextremen bzw. rechtspopulis-tischen Parteien wie die NPD für autoritäreWerte und eine Abgrenzung gegenüber frem-den Kulturen bzw. kulturellen Minderheiten.Diese programmatisch-ideologische Positio-nierung findet in der Selbstbeschreibungihren Ausdruck: Die FDP sieht sich als einzi-ge Marktpartei, die Linke als einzige Sozial-staatspartei, die Grünen sehen sich als Parteikultureller Vielfalt und Toleranz, die rechts-extremen bzw. rechtspopulistischen Parteienals „nationale Alternative“.

Die Großparteien CDU/CSU 18 und SPDsind dagegen im Sinne des Ansatzes der CatchAll Party als Parteien der politischen Mitte zubezeichnen, welche unterschiedliche Meinun-gen, Werthaltungen und Anschauungen auszu-balancieren versuchen, um mehrheitsfähig zusein und (nahezu) alle gesellschaftlichen Grup-pen und Segmente bei Wahlen für sich gewin-nen zu können. In beiden Wettbewerbsdimen-sionen liegen beide Parteien nicht so weit aus-einander, dass nicht Kompromisse erzielt undein Konsens hergestellt werden könnte. DieserKonsenswille wird verstärkt durch die prinzi-pielle Bereitschaft der Großparteien zur Regie-rungsbeteiligung, wie sie in der derzeitigenGroßen Koalition prägnant zum Ausdruckkommt. 19 Diese Nähe im Parteienwettbewerbwurde durch externe Einflüsse weiter ver-stärkt: Die Globalisierung der Finanz- undKapitalmärkte sowie der Handelsströme mitihren vielfältigen ökonomischen, gesellschaft-lichen und politischen Auswirkungen habenzu gestiegenen Anforderungen der Politikge-staltung bei abnehmenden Spielräumen für na-tionalstaatliche Politik geführt. Nicht seltenkönnen nationalstaatliche Regierungen nur

14 Vgl. Renate Köcher, Schleichende Veränderung, in:Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 8. 2008.15 Vgl. Gero Neugebauer, Politische Milieus inDeutschland, Berlin 2007.16 Ebd., S. 138.

17 Vgl. Nancy Fraser, Redistribution or recognition?A Philosophical Exchange, London 2003.18 Beide Parteien werden hier gemeinsam betrachtet,wiewohl beide als eigenständige Formationen agierenund auch strukturelle und inhaltlich-programmatischeDifferenzen bestehen.19 Vgl. Uwe Thaysen, Regierungsbildung 2005: Mer-kel, Merkel I, Merkel II?, in: Zeitschrift für Parla-mentsfragen, 37 (2006), S. 582–610; Uwe Jun, The Re-form Corridor: Government Coalition Building in2005 and the implications for policy and voters, in: A.Miskimmon u. a. (Anm. 13), S. 158–180; Frank De-cker, Die Bundesrepublik auf der Suche nach neuenKoalitionen, in: APuZ, (2007) 35–36, S. 26–33.

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noch an anderen Orten getroffene Entschei-dungen, etwa auf supra- oder transnationalerEbene, nachvollziehen. Die „Politik der mate-riellen Interessenbefriedigung“ 20 stößt ange-sichts geringerer Wachstumsraten und hoherVerschuldung der öffentlichen Haushalte anengere Grenzen.

Die Amtszeit Gerhard Schröders hat zudemeine wesentliche Positionsverschiebung derSPD in der ökonomischen Konfliktdimensionmit sich gebracht: Als Regierungspartei vertrittdie SPD spätestens seit 2003 zu weiten Teilenpragmatisch zentristische Positionen, ohnesich vollständig von sozialdemokratischenTraditionsbeständen zu lösen. Die Folgen sindeine Identitätskrise und konzeptionelle Defi-zite. Das Hamburger Programm von 2007konnte diese Lücke nicht schließen. Glaub-würdigkeitsprobleme auf Grund nicht gehalte-ner Wahlversprechen und offen ausgetrageneinnerparteiliche Kontroversen über den Um-gang mit der Linken nach der Landtagswahl inHessen im Januar 2008 haben zur schwierigenSituation der SPD beigetragen. Diese hat sichaufgrund des selbstbewussten und partiell po-pulistischen Auftretens der Linken und ihrerWahlerfolge auch in westdeutschen Ländernverstärkt. Immerhin ist es Franz Münteferingnach seiner Rückkehr ins Amt des Parteivor-sitzenden im Herbst 2008 gelungen, die SPDin Umfragen und innerparteilich zu stabilisie-ren sowie genuin sozialdemokratische Themenwieder in den Vordergrund zu rücken, ohneden Modernisierungskurs der KanzlerjahreSchröders (insbesondere ab 2003) grundsätz-lich in Frage zu stellen.

Auf Seiten der Union lässt sich ebenfalls eineVerunsicherung nach der Bundestagswahl 2005bzw. der bayerischen Landtagswahl 2008 aus-machen. Als Hauptursache des aus Sicht derUnion enttäuschenden Wahlergebnisses 2005wird von vielen Christdemokraten die Vernach-lässigung sozialer Themen im Wahlkampf be-trachtet; das Image einer „Partei der sozialenKälte“ habe ihnen an der Wahlurne geschadet.Der Kurs in der Regierungspolitik, unabhängigvon der Notwendigkeit, mit der SPD Kompro-misse anstreben zu müssen, ist entsprechendvon Vorsicht in wirtschafts- und sozialpoliti-schen Reformen geprägt. Die CDU präsentiert

sich nicht mehr als neoliberal orientierte Re-formpartei, wie das noch auf dem LeipzigerParteitag 2003 geschah. Die derzeitige Dyna-mik im linken Parteienspektrum verdeckt ihrDilemma: Sie kommt ohne einen zielgerichte-ten Gesamtentwurf aus, steht deshalb abergleichzeitig unter „Sozialdemokratisierungsver-dacht“, weil sie sich partiell auch von traditio-nellen Wertvorstellungen gelöst hat, etwa in derFamilienpolitik, ohne ein kohärentes christde-mokratisches Werteverständnis neu zu definie-ren. Sowohl SPD als auch CDU/CSU wollenmit diesem an der „Mitte“ orientierten Kursoffenkundig keine möglicherweise wahlent-scheidenden Gruppen verprellen.

Eine Folge der Konkurrenz beider Groß-parteien um ähnliche Wählergruppen und derNotwendigkeit des Zusammenwirkens beider Problemlösung sowie der zunehmendenUnberechenbarkeit des Wählerverhaltens isteine inhaltlich nur in einzelnen Issues abwei-chende Haltung der Parteien mit einem er-heblichen Ausmaß an Pragmatismus, der eherauf Annäherung denn auf hohe Polarisierungschließen lässt. Dies schließt nicht aus, dass esaufgrund der Konkurrenzsituation gerade beivon den Parteien als wahlentscheidend wahr-genommenen Themen symbolische und mög-licherweise auch substanzielle Differenzengibt, wie sie etwa bei der Reform des Ge-sundheitswesens zu Tage treten. Die GroßeKoalition hat zwei Gesichter: Eins ist aufNichtöffentlichkeit, Kompromisse und kol-lektive Zielerreichung gerichtet, das anderewird durch Publizität, Konflikt- und Wettbe-werbsorientierung sowie personalisiertesStreben nach Gewinn charakterisiert. Die an-gesichts durchaus vorhandener programmati-scher Gemeinsamkeiten nicht nur als reinesZweckbündnis zu verstehende Große Koali-tion könnte angesichts der Tatsache, dass Er-probungsphasen anderer Koalitionskonstella-tionen einen längerfristigen Zeithorizont er-fordern, mehr als nur ein kurzes Intermezzoim Parteiensystem bedeuten.

Damit sind wir beim letzten Aspekt: derKoalitionsbildung. Segmentierung eines Par-teiensystems misst den Anteil der politischmachbaren gegenüber den rechnerisch mögli-chen Koalitionsformationen. Für die vergan-genen 30 Jahre lässt sich ein Anstieg der Seg-mentierung konstatieren. Von der Vereini-gung Deutschlands bis zum Jahre 2005 hattedie Lagerbildung Hochkonjunktur, nachdem

20 Frank Decker, Politikverdrossenheit ohne Ende?Zur Krise der deutschen Parteiendemokratie, in: Ge-sellschaft – Wirtschaft – Politik, 54 (2005), S. 114.

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Koalitionen auf Bundesebene ausschließlichin den jeweiligen Lagern gebildet wordensind. Dem „bürgerlichen Lager“ (CDU/CSU, FDP) standen die in der sozioökono-mischen Konfliktdimension „links“ davonangesiedelten Parteien SPD und Bündnis 90/Grüne gegenüber. Diese politische Verortunghat sich seit der Bildung der Großen Koaliti-on 2005 zu Teilen aufgelöst, mit folgendenKonsequenzen: 1. Die beiden großen Parteienhaben sich inhaltlich trotz rhetorisch-medi-aler Kontroversen aufeinander zu bewegt; 2.Den etablierten Kleinparteien eröffnen sichneue strategische Optionen der Koalitionsbil-dung, die aber pfadabhängig anhand bisheri-ger Wettbewerbsstrukturen strategisch zuplanen sind; 3. Koalitionskonstellationen er-scheinen unübersichtlicher, was erheblicheSpielräume mit sich bringt, gleichzeitig abervermehrt innerparteiliche Kontroversen her-vorruft.

Der zweite Aspekt kann insbesondere mitBlick auf Bündnis 90/Grüne veranschaulichtwerden. Seinen expliziten Ausdruck findet erim Beschluss der Bundesdelegiertenkonferenzunmittelbar nach der Bundestagswahl 2005,nach dem die Partei sich für alle Koalitionsop-tionen öffnen will. Hatte das Sondierungsge-spräch mit der Union nach der Bundestags-wahl 2005 noch einen primär symbolischenCharakter, zeugt die Bildung der ersten Koali-tion mit der CDU auf Länderebene in Ham-burg im Jahr 2008 von ernstem Bemühen, denParteitagsbeschluss umzusetzen. Da auch ihreAnhängerschaft bürgerlicher geworden unddas Bürgertum breiter gefächert ist, 21 erschei-nen Teilen der Bündnisgrünen solche strategi-schen Überlegungen keineswegs mehr als poli-tischer Verrat. Allerdings sind inhaltliche Dif-ferenzen zwischen der Union und den Grünenunübersehbar: Für die Wähler der Grünensind ökologische Fragen und soziale Gerech-tigkeit prioritär, die Parteimitglieder sind „so-zialstaatsaffin“ und bevorzugen libertäreWerte. Dem „steht ein deutlich leistungsorien-tierteres und autoritäreres Wertesystem aufSeiten der Union“ 22 gegenüber. Während es in

Fragen der Wirtschafts-, Finanz- und Steuer-politik durchaus Überschneidungen mit derUnion gibt, 23 grenzen sich die Bündnisgrünenin der kulturellen Wettbewerbsdimension vonCDU und CSU ab.

Problematischer erscheint eine Koalitions-bildung zwischen den Bündnisgrünen und derFDP, da sich zum einen beide Parteien alsHauptkonkurrenten im Parteiensystem sehenund sich zum anderen im Selbstverständniskulturelle Differenzen offenbaren. WährendMitglieder der Grünen einer Stärkung öffentli-cher Aufgaben in der Daseinsvorsorge denVorrang geben, hegen FDP-Mitglieder Grund-skepsis gegenüber staatlicher Daseinsvorsorge.Zudem lässt das Primat der Ökonomie, das dieFDP programmatisch in den Vordergrundrückt, die ökologisch orientierte und sozial-staatsaffine Mehrheit bei den Grünen vor einerengen Kooperation mit der FDP zurück-schrecken. Die FDP wiederum hat nach demExperiment der „Äquidistanz“ zu beidenGroßparteien ihre Nähe zur Union wiederhervorgehoben und durch Regierungsbildun-gen mit CDU und CSU in den Bundesländernuntermauert, will jedoch keinesfalls in Abhän-gigkeit von der CDU geraten. Sowohl beiBündnisgrünen wie bei Liberalen ist die koaliti-onsstrategische Absicht erkennbar, mittelfristigdie abnehmende Attraktivität der Großparteienzu nutzen und über die Rolle der Funktionspar-tei hinaus für Regierungsbildungen den Aus-schlag geben zu können. Dabei müssen die Par-teiführungen zwischen strategischen Überle-gungen einerseits und den Werten undMeinungen ihrer Mitglieder und (Stamm-)Wähler andererseits abwägen und sind gebun-den an ihre bisherige Position im Wettbewerb.

Veränderungen im Verbändesystem

Die Veränderungen im Verbändesystem kön-nen an drei zentralen Prozessen verortet wer-den: zunehmende Fragmentierung, Professio-nalisierung und Europäisierung.

In den vergangenen Jahrzehnten war eineExpansion des Verbändewesens zu beobach-ten. Konstatiert wird eine „ständig zuneh-mende Zahl der Verbände, vertikal in Form

21 Vgl. Melanie Haas, Innovation mit einer neuenbürgerlichen Partei? Die Grünen nach der Bundes-tagswahl 2005, in: Uwe Jun/Henry Kreikenboom/Viola Neu (Hrsg.), Kleine Parteien im Aufwind,Frankfurt/M. 2006, S. 201–222.22 Christian Lorenz, Schwarz-Grün auf Bundesebene– Politische Utopie oder realistische Option?, in:APuZ, (2007) 35–36, S. 39.

23 Vgl. Ingolfur Blühdorn, New Green Pragmatism inGermany – Green Politics beyond the Social Demo-cratic Embrace, in: Government and Opposition, 39(2004), S. 583.

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zunehmender Differenzierung und Speziali-sierung von gesellschaftlichen Interessen, ho-rizontal in Form einer Ausdehnung verband-licher Organisierung auf immer mehr gesell-schaftliche Bereiche“. 24 Peter Lösche siehtsogar eine „Tendenz zur Anarchisierung dereinst übersichtlichen Verbändelandschaft“. 25

Die steigende Fragmentierung äußert sichzum einen in zahlreichen Neugründungen,zum anderen aber auch in Abspaltungen.Dabei ist es keineswegs ausschließlich zueiner Spezialisierung von organisierten öko-nomischen Interessen gekommen, wenn auchspezielle branchen- oder berufsbezogene In-teressenvertretungen besonders spektakulärin Erscheinung traten, man denke etwa anden Marburger Bund oder die Gewerkschaftder Lokomotivführer.

Überdies ist eine Professionalisierung derVerbände in Deutschland „unverkennbar“. 26

Gemeint ist hier weniger ein soziologischesVerständnis im Sinne eines Professionsver-ständnisses, sondern, dass zunehmend profes-sionelle Expertise in Anspruch genommenwird. Diese beruht auf Fach-, Organisations-oder Vermittlungskompetenz. Wie bei politi-schen Parteien kann von einer „doppelten Pro-fessionalisierung“ gesprochen werden: Einer-seits eignen sich die Hauptamtlichen in denVerbänden zunehmend mehr Expertise an,etwa in Fragen des Lobbying, der inhaltlichenAusgestaltung ihres Aufgabengebietes oderder medialen Vermittlungsformen; die Profes-sionalisierung des Dienstleistungsangebots miterhöhter Serviceintensität der Verbände zeigtebenfalls eine steigende Tendenz. 27 Anderer-seits greifen Verbände vermehrt auf externeExpertise in Form von Public Affairs Agentu-ren, Kommunikationsspezialisten, Unterneh-mensberatungen oder Rechtsanwaltskanzleienzurück, die zudem selbständig ihre DiensteUnternehmen, Nichtregierungsorganisationenoder anderen Auftraggebern anbieten und zuVerbänden nicht selten in Konkurrenz tre-ten. 28 Das Projektlobbying hat zugenommen.Insbesondere Wirtschaftsverbände sehen sich

dem Druck einer stärkeren Professionalisie-rung auch dadurch ausgesetzt, dass (Groß-)Unternehmen ihre Lobbytätigkeit nicht seltenselbst in die Hand nehmen. Durch direkte For-men des Lobbyings können Interessen eindeu-tiger und spezifischer gegenüber Ministerienund Parlamenten vertreten werden. Währendder Verband durch die Aggregation und Selek-tion von Einzelinteressen stärker konsens-orientiert gegenüber allen Mitgliedern agierenmuss, kann das Unternehmen ohne solcheZwänge handeln.

Der Zwang zur Professionalisierung derVerbände ist des Weiteren durch Prozesse derMedialisierung der Politik 29 gestiegen, da stra-tegische Kommunikation bedeutungsvollergeworden ist, um Aufmerksamkeit zu generie-ren, Interpretationen und Deutungsmuster inder Medienöffentlichkeit zu platzieren unddurchzusetzen sowie kommunikative Vorteilein Konkurrenzsituation mit anderen Akteurenzu erlangen. 30 Zudem kann die strategischeMobilisierung von Öffentlichkeit durch medi-ale Formen erreicht und verstärkt werden.Umfangreiche Daten zur Expansion der Ab-teilungen für Öffentlichkeits- und Pressearbeitin den Verbänden liegen bisher nicht vor, dochspricht vieles für eine Ausweitung der Ver-bandstätigkeit im kommunikativen Sektor. 31

Damit sind die Auswirkungen der Professio-nalisierung anzusprechen: Zuwächse an profes-sionellen Ressourcen können Mitgliederverlus-te relativieren, Dienstleistungs- und Vermitt-lungsangebote verstärken, zweckrationalereFormen der Mitgliedschaft begünstigen undletztlich eine veränderte Austarierung in derWahrnehmung von Verbänden als Lobbyorga-nisationen, gesellschaftliche Interessenvertreterund Dienstleistungsorganisationen bewirken.Der Kompetenzgewinn der EuropäischenUnion (EU) hat zur Folge, dass sich die Verbän-de unmittelbar Einfluss auf den Entscheidungs-prozess in Brüssel sichern wollen. Die EU hatfür Verbände erheblich an Bedeutung gewon-nen, ohne dass von einem Bedeutungsverlustder nationalstaatlichen oder regionalen Ebenegesprochen werden kann. Entstanden ist24 Ulrich Willems/Thomas von Winter, Interessen-

verbände als intermediäre Organisationen, in: dies.(Anm. 1), S. 26 f.25 Peter Lösche, Verbände und Lobbyismus inDeutschland, Stuttgart 2007, S. 129.26 Ebd., S. 59.27 Vgl. U. Willems/T. v. Winter (Anm. 24), S. 38.28 Vgl. Thomas Leif/Rudolf Speth, Lobbyismus inDeutschland, in: Forschungsjournal Neue Soziale Be-

wegungen, 16 (2003), S. 24 f.; Rudolf Speth, MachtvolleEinflüsterer, in: Das Parlament vom 6. 4. 2009.29 Vgl. dazu etwa Winfried Schulz, Politische Kom-munikation, Wiesbaden 2008, S. 31 ff.30 Vgl. auch Stefan Brieske, Kommunikation imSchatten des Lobbying, Osnabrück 2007.31 Vgl. www.fischerappelt.de/webEdition (8. 5. 2009).

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vielmehr ein „lobbyistisches Mehrebenensys-tem“ 32 mit einer Korrelation der Verbandsakti-vitäten auf den verschiedenen Ebenen. Die mei-sten verfolgen zumindest eine duale Strategie:Sie haben ihre Präsenz auf europäischer Ebeneerheblich verstärkt, entweder durch Eröffnungeigener Büros in Brüssel, durch die Beauftra-gung von professionellen Beratungsfirmen oderdurch verstärkte Mitarbeit in den europäischenDachverbänden.

Europäisierung der Verbandsarbeit bedeu-tet eine verstärkte Orientierung der Verbändeauf die Institutionen der EU, deren formaleund informale Regeln, Verfahren, Paradig-men, Handlungen, Werte und Normen in In-halte, Strukturen und Instrumente der ver-bandlichen Arbeit einfließen. Hauptan-sprechpartner ist die Kommission, weil sieüber das Initiativrecht zur Gesetzgebung ver-fügt und die Verbände frühzeitig Einfluss aufden Gesetzgebungsprozess nehmen wollen.Etablierte, ressourcenstarke und hoch spezia-lisierte Interessenorganisationen genießendabei Vorteile bei der Einflussnahme, weil siein Brüssel deutlich präsenter und engagiertersind. 33 Hier hat sich herauskristallisiert, dasswirtschaftliche Interessen im produzierendenGewerbe, im Dienstleistungssektor und inder Agrarwirtschaft den Hauptanteil der ver-bandlichen Interessenvertretung auf europä-ischer Ebene ausmachen. 34 Nach einhelligerAuffassung ist der Grad der Professionalisie-rung der Verbände in Berlin derzeit (noch?)geringer zu veranschlagen als auf europä-ischer Ebene: 35 „Brüssel ist zur Metapherund zum Mekka der Lobbyisten geworden,hier lassen sich die neuesten Trends im Lob-byismus erspüren und erkennen.“ 36

Wolfgang Ismayr

Der DeutscheBundestag seit 1990

Dem Deutschen Bundestag kommt imVerfassungssystem der „alten“ Bundes-

republik wie auch seit dem 3. Oktober 1990im vereinigten Deutschland eine zentraleRolle zu. Auch in derpolitischen Praxis hater in hohem Maßedazu beigetragen,dass sich die Bundes-republik zu einer sta-bilen Demokratie ent-wickelt konnte. Aller-dings haben sichStellung und Funktio-nen des Parlamentsim Laufe der Zeitdeutlich verändert. Neben einer Fülle höchstanspruchsvoller Aufgaben, die mit der deut-schen Vereinigung verbunden waren, sah sichder Bundestag Wandlungsprozessen und He-rausforderungen gegenüber, die zwar schonfrüher eingesetzt haben, in den vergangenenzwanzig Jahren jedoch weiter an Bedeutunggewonnen haben. Hierzu gehören die Expan-sion und der Wandel der Staatstätigkeit unddie damit einhergehende Bürokratisierung,das wachsende Partizipationsinteresse derBürgerinnen und Bürger sowie die Vervielfäl-tigung und Kommerzialisierung des Ange-bots elektronischer Massenmedien.

Einerseits hat sich die politische Aktions-und Resonanzfähigkeit einer vielfältiger orga-nisierten Bürgerschaft qualitativ gewandelt.Andererseits sind mit zunehmendem Be-wusstsein der weit reichenden ökologischen,ökonomischen und sozialen Folgen undWechselwirkungen neuer technischer Ent-wicklungen auch die Anforderungen an dieGestaltungsfähigkeit und das Verantwor-tungsbewusstsein der politischen Entschei-dungsträger gewachsen. Dies gilt auch unterden Bedingungen der Globalisierung, die eineSicherung des Primats der Politik erschweren.Zudem schränkt die zunehmende Übertra-gung von Rechtsetzungskompetenzen auf die

Wolfgang IsmayrDr. phil., Dr. rer. pol. habil.,geb. 1942; Professor fürPolitikwissenschaft (em.),Philosophische Fakultät derTechnischen UniversitätDresden, 01062 [email protected]

32 Martin Sebaldt/Alexander Straßner, Verbände in derBundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004, S. 258.33 Vgl. Rainer Eising, Nationale Verbände und sozialeBewegungen in Europa, in: T. v. Winter/U. Willems(Anm. 1), S. 534.34 Vgl. Nils Bandelow, Europäisierung der Interes-senvermittlung, Intermediäre Interessenvermittlung inder Europäischen Union, www.nilsbandelow.de/In-ternet/inter11pr.pdf (9. 5. 2009).35 Vgl. Christian Lahusen, Institutionalisierung und

Professionalisierung des europäischen Lobbyismus, in:Zeitschrift für Parlamentsfragen, 35 (2005) 4, S. 777–794.36 P. Lösche (Anm. 25), S. 116.

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Europäische Union die Handlungsmöglich-keiten der nationalen Parlamente ein. 1

Wie hat der Deutsche Bundestag auf dieseWandlungsprozesse und Herausforderungenals Institution reagiert? Wie hat sich die Stel-lung des Bundestages im politischen Systemverändert?

Nach der deutschen Vereinigung gelten diewichtigsten, 1949 beschlossenen Regelungendes Grundgesetzes hinsichtlich des Verhältnis-ses von Bundestag, Bundesregierung und Bun-despräsident weiter. Nach wie vor ist der Bun-destag als einziges zentralstaatliches Organdirekt vom Volk gewählt und damit in bevor-zugter Weise demokratisch legitimiert und ver-antwortlich. Eine Direktwahl des Staatsober-hauptes oder einer zweiten Kammer wie in ei-nigen anderen (west-)europäischen Ländernkennt das Grundgesetz nicht. 2 Im Unter-schied zu den meisten anderen parlamentari-schen Demokratien wird der Regierungschefformell vom Parlament gewählt (Art. 63 GG).Die Wahl kann auch am Staatsoberhaupt vor-bei erfolgen, das nur für den ersten Wahlgangdas Vorschlagsrecht hat. Ein rechtsverbindli-ches Misstrauensvotum ist im Unterschied zurWeimarer Republik und zu zahlreichen westli-chen Demokratien nur gegenüber dem Regie-rungschef – nicht gegenüber einzelnen Mini-stern – und nur als „konstruktives Misstrau-ensvotum“ möglich (Art. 67 GG). EineParlamentsauflösung kann im Verlauf einerWahlperiode nur durch ein Zusammenwirkenvon Regierungschef, Parlamentsmehrheit undStaatsoberhaupt erfolgen (Art. 68 GG). Im-merhin dreimal (1972, 1982 und 2005) wurdenNeuwahlen auf dem Wege der Vertrauensfrageherbeigeführt; die beiden jüngeren Vorgängewaren heftig umstritten. Ein 1991 von der„Gemeinsamen Verfassungskommission vonBundestag und Bundesrat“ aufgegriffener Vor-schlag, das Recht des Bundestages auf Selbst-auflösung mit Zweidrittelmehrheit im Grund-gesetz zu verankern, ist wider Erwarten ge-scheitert. 3 Nach wie vor verzichtet das

Grundgesetz auf direktdemokratische Sach-entscheidungsverfahren mit Ausnahme derNeugliederung des Bundesgebiets nachArt. 29 GG. Wurden direktdemokratischeVerfahren im Zuge eines „Demokratisierungs-schubs“ in den 1990er Jahren mittlerweile inallen Bundesländern und Kommunalverfas-sungen eingeführt, sind Vorstöße zur Veranke-rung von Volksbegehren und Volksentscheidim Grundgesetz bisher an der fehlenden Zwei-drittelmehrheit gescheitert.

Mit den genannten Bestimmungen zur Wahlund Abwahl des Regierungschefs wurden dieverfassungsmäßigen Grundlagen eines parla-mentarisch-demokratischen Regierungssys-tems geschaffen. Demnach ist die Regierungnicht nur in ihrer Aktionsfähigkeit, sondernauch in ihrem Bestand vom Vertrauen der Par-lamentsmehrheit abhängig. 4 Als verfassungs-politische Konsequenz dieser Grundentschei-dung gilt unter parteienstaatlich-pluralisti-schen Bedingungen eine enge Verbindung derRegierung mit der sie tragenden Parlaments-mehrheit. Aufgabe der Opposition ist es, dieRegierung und die Mehrheitsfraktionen öf-fentlich zu kontrollieren und zur Politik derRegierungsmehrheit Alternativen zu formulie-ren. Auch in der Parlamentspraxis der Bundes-republik setzte sich bis zu einem gewissenGrad dieser „neue Dualismus“ von Regie-rungsmehrheit und Opposition durch. BeiBundestagswahlen konnten die Wähler zu-meist auch eine Entscheidung für oder gegeneine bestimmte Koalition und einen Kanzler(-kandidaten) treffen. Wie schon die Erfahrun-gen seit den 1980er Jahren zeigen, könnten al-lerdings angesichts der jüngsten Entwicklungzu einem Fünfparteiensystem mit der mögli-chen Alternative von Dreierkoalitionen oderGroßen Koalitionen künftig Festlegungen aufein Regierungsbündnis erst nach der Wahl dieRegel werden. Die veränderte Parteienkonstel-lation hat zur Folge, dass sich parlamentarischeAbstimmungsprozesse schwieriger gestalten.

Schon bisher war es weder analytisch nochnormativ angemessen, Modellvorstellungendes britischen „Westminster-Systems“ sche-matisch auf das politische System der Bundes-republik zu übertragen. Dies gilt auch für fastalle anderen westeuropäischen Staaten. 5 Die

1 Vgl. Roland Sturm/Heinrich Pehle, Das neue deut-sche Regierungssystem, Wiesbaden 20052.2 Vgl. W. Ismayr, Die politischen Systeme West-europas im Vergleich, in: ders. (Hrsg.), Die politischenSysteme Westeuropas, Wiesbaden 20094, S. 16 ff.,S. 32 ff.3 Vgl. Helge Lothar Batt, Verfassungsrecht und Ver-fassungswirklichkeit im vereinigten Deutschland, Op-laden 2003, S. 242 ff.

4 Vgl. Winfried Steffani, Parlamentarische und präsi-dentielle Demokratie, Opladen 1979, S. 52 f.5 Vgl. W. Ismayr (Anm. 2), S. 54 ff.

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auf Bundesebene üblichen Koalitionsregierun-gen, die starke Stellung des Bundesverfassungs-gerichts, das föderative System und die spezifi-sche Rolle des Bundesrates sowie zunehmendauch die Verlagerung von Kompetenzen zurEU bedingen vielfältige Aushandlungsprozesse,die das Parteienkonkurrenzsystem zum Teil re-lativieren. Der Wechsel zwischen stärker kon-kurrenz- und konkordanzdemokratischen Pha-sen je nach parteipolitischer Zusammensetzungdes Bundesrates erweist sich als spezifischesMerkmal des deutschen Parlamentarismus. In-wieweit sich dies angesichts der zahlreichenVerfassungsänderungen im Rahmen der Föde-ralismusreform von 2006 langfristig ändernwird, bleibt abzuwarten. 6

Fraktionenparlament

Charakteristische Merkmale des Bundestagessind seine Ausprägung als Fraktionenparla-ment und die fachliche Ausdifferenzierung,die im Laufe der Zeit deutlich zugenommenhaben. Dies gilt – trotz mancher nicht wir-kungsloser Reformschritte – auch für diedamit einhergehende fraktionsinterne Hierar-chisierung. Begünstigt durch die Fünfpro-zent-Sperrklausel des Wahlgesetzes, liegt dasfaktische Monopol der Rekrutierung der Par-lamentarier bei den Parteien. Durch das engeZusammenwirken von Regierung und Mehr-heitsfraktionen bedingt, sind nicht nur derBundeskanzler, sondern auch die Bundesmi-nister – von seltenen Ausnahmen abgesehen –herausragende Vertreter ihrer Partei. Die Ab-geordneten einer Partei schließen sich bei derKonstituierung des Bundestages zu Fraktio-nen zusammen, wobei eine Mindeststärkevon fünf Prozent der Abgeordneten gilt (§ 10Geschäftsordnung des Bundestages/GOBT).Ihre Rechte können sie überwiegend nur alsMitglieder einer Fraktion wirksam ausüben.

Seit der Parlamentsreform 1969/70 wurdendie Minderheitenrechte schrittweise ausgebaut– eine Entwicklung, die sich auch nach derdeutschen Vereinigung fortsetzte. Die Stär-kung der Opposition vollzog sich dabei imWesentlichen über einen Ausbau von Frakti-onsrechten, womit den Bedingungen einesMehrparteienparlaments mit auch untereinan-der konkurrierenden Oppositionsfraktionen

Rechnung getragen wird. Der Bundestag warsomit auf die Entwicklung zum Fünfparteien-parlament gut vorbereitet. Von Änderungsan-trägen abgesehen, bedürfen alle Vorlagen (Ge-setzentwürfe, Anträge) der Unterstützungdurch eine Fraktion oder von fünf Prozentaller Abgeordneten (§§ 75, 76 GOBT). Hinge-gen sind den einzelnen Abgeordneten nur we-nige Rechte geblieben. Will ein Abgeordneterinitiativ werden, muss er sich um Unterstüt-zung in der eigenen Fraktion bemühen. 7 DieGeschäftsordnungsreform 1980 trug der fakti-schen Entwicklung zum Fraktionenparlamentauch dadurch Rechnung, dass viele Rechteauch formell von der Fraktion selbst geltendgemacht werden können. 8 Zwar können ein-zelne Parlamentarier im Unterschied zu vielenanderen westeuropäischen Demokratien kei-nen Gesetzentwurf einbringen. Jedoch wurdeim Unterschied zu einigen anderen Parlamen-ten durch Geschäftsordnungsreformen sicher-gestellt, dass Gesetzentwürfe im parlamentari-schen Verfahren grundsätzlich nicht anders be-handelt werden als Regierungsentwürfe. 9 Sokönnen Oppositionsfraktionen die Beratungeigener Vorlagen auch gegen den Willen derMehrheit durchsetzen, seit 1995 bereits nachdrei Wochen (§ 20 Abs. 4 GOBT).

Die Fraktionen prägen auch die Willensbil-dung in den für die Arbeitsplanung zuständi-gen Gremien. So liegt die Bestimmung der Ta-gesordnung und der Debattengestaltung beimÄltestenrat. Dort sind neben den Mitgliederndes Präsidiums die Fraktionen mit ihren Parla-mentarischen Geschäftsführern und weiterenAbgeordneten im Verhältnis ihrer Stärke ver-treten (§§ 6, 12 GOBT). Vereinbarungen überdie Arbeitsplanung kommen hier und in weite-ren interfraktionellen (Vor-)Absprachen derErsten Parlamentarischen Geschäftsführer nurzustande, wenn ein Konsens zwischen denFraktionen hergestellt werden kann. Die ein-gespielte parlamentarische Praxis führt – imVergleich zu einigen anderen westlichenDemokratien 10 – in der Regel zu einer ange-

6 Vgl. hierzu u. a. Reimut Zohlnhöfer, Effekte der Fö-deralismusreform I auf die Gesetzgebung, in: Zeit-schrift für Politikwissenschaft, 19 (2009) 1.

7 Vgl. Wolfgang Ismayr, Der Deutsche Bundestag,Opladen 20012, S. 47 ff.8 Vgl. Jürgen Jekewitz, Politische Bedeutung, Recht-stellung und Verfahren der Bundestagsfraktionen, in:Hans-Peter Schneider/Wolfgang Zeh (Hrsg.), Parla-mentsrecht und Parlamentspraxis, Berlin 1989, S. 1041.9 Vgl. Wolfgang Ismayr, Gesetzgebung in den Staatender Europäischen Union im Vergleich, in: ders. (Hrsg.),Gesetzgebung in Westeuropa, Wiesbaden 2008, S. 20 f.10 W. Ismayr (Anm. 2), S. 36 f.

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messenen Berücksichtigung der Interessen derOppositionsfraktionen. Andererseits hat siedazu beigetragen, dass die Ersten Parlamenta-rischen Geschäftsführer ihre Stellung als „Ma-nager des Parlaments“ ausbauen konnten. 11

Seit 1994 ist der Anspruch jeder Fraktionauf Mitgliedschaft im Präsidium des Bundes-tages gesichert (§ 2 Abs. 1 GOBT), womit dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen erstmalseine Vizepräsidentin stellen konnte. Bei derLeitung der Plenarsitzungen wechseln sichder Bundestagspräsident und die (derzeitsechs) Vizepräsidenten ab; im Präsidium han-delt der Bundestagspräsident zunehmend alsPrimus inter pares. 12

Arbeitsteilung und Koordination

Hatte seit den 1950er Jahren der Ausbau desSozial- und Interventionsstaates zur Expansi-on der Staatstätigkeit geführt, sind die Vielfaltund Komplexität der Gesetzgebungs- undKontrollaufgaben mit der deutschen Vereini-gung, aufgrund technologischer Entwicklun-gen und im Zuge der Globalisierung noch ge-wachsen. Um seinen Aufgaben gerecht zuwerden, haben der Bundestag und seine Frak-tionen strikt arbeitsteilige Strukturen ausge-bildet. Mit dieser Entwicklung geht auch dieProfessionalisierung der Abgeordnetentätig-keit einher. Mit der Vergrößerung des Bun-destages auf regulär 656 Abgeordnete nachder deutschen Vereinigung hatte sich die Not-wendigkeit einer ausgeprägten Arbeitsteilungnoch erhöht. Auch nach einer moderaten Ver-ringerung seiner regulären Mitgliederzahl auf598 im Interesse verbesserter Arbeitsfähigkeitist der Bundestag eines der größten Parla-mente.

Der Schwerpunkt der parlamentarischenArbeit liegt bei den (derzeit 22) StändigenAusschüssen, deren Beschlussempfehlungenan das Plenum faktisch meist Entscheidungs-charakter haben. Die Kompetenzverteilungder Fachausschüsse und der korrespondieren-den Arbeitsgruppen der Fraktionen entsprichtweitgehend der Ressortgliederung der Regie-

rung. Die Besetzung der Ausschüsse sowie dieRegelung des Vorsitzes wird – im Verhältnisihrer Stärke – von den Fraktionen vorgenom-men (§§ 57, 12 GOBT). Somit werden die Op-positionsfraktionen auch bei der Verteilungder Ausschussvorsitze angemessen berück-sichtigt, was nur in etwa der Hälfte der west-europäischen Parlamente der Fall ist. 13

Strukturen und Willensbildung der Fraktio-nen weisen Gemeinsamkeiten, aber auch be-merkenswerte Unterschiede auf. 14 Selbstver-ständlich prägt die Rolle als Regierungs- oderOppositionsfraktion die Arbeitsweise. Beiden großen Fraktionen SPD und CDU/CSUbilden jene Arbeitsgruppen, die jeweils die derFraktion angehörenden Mitglieder eines Aus-schusses umfassen, die arbeitsintensivenBasisorganisationen, bei den kleinen Fraktio-nen FDP, Bündnis 90/Die Grünen und DieLinke die umfassenderen Arbeitskreise. 15 Mitder fachlichen Spezialisierung nimmt auch derKoordinationsbedarf zu. Der Behandlung inder Fraktionssitzung gehen mehrstufige Ko-ordinationsverfahren voraus. Sie sollen eineoptimale Abstimmung und konzeptionelleArbeit ermöglichen, was gleichwohl nur teil-weise gelingt. Hierbei spielen der Vorstandsowie der (zuvor tagende) GeschäftsführendeVorstand eine wichtige Rolle. Bei diesen Gre-mien liegt die politische Führung und Ge-schäftsführung der Fraktionen. 16 Hektik undZeitdruck in den Sitzungswochen sichern denErsten Parlamentarischen Geschäftsführernerheblichen Einfluss.

Zudem sind die Regierungs- und Frakti-onsebene durch verschiedene informelle Ko-alitionsgremien miteinander verklammert.Eine sehr bedeutende Rolle spielt seit den1970er Jahren die Große Koalitionsrunde(seit 1998: Koalitionsausschuss). 17 Die Regie-rungs-, die Fraktions- und die Parteiebenesind an diesem „informellen“ Gremium mitihren führenden Vertretern beteiligt. 18

11 Vgl. Sönke Petersen, Manager des Parlaments. Par-lamentarische Geschäftsführer im Deutschen Bundes-tag, Opladen 1999; Suzanne S. Schüttemeyer, Frak-tionen im Deutschen Bundestag 1949–1997, Opladen1998, S. 74 ff.12 Vgl. W. Ismayr (Anm. 7), S. 148 ff.

13 Vgl. W. Ismayr (Anm. 2), S. 36.14 Vgl. Uwe Kranenpohl, Mächtig oder machtlos?Kleine Fraktionen im Deutschen Bundestag 1949 bis1994, Opladen 1999.15 Vgl. W. Ismayr (Anm. 7), S. 99 ff.; Jürgen vonOertzen, Das Expertenparlament, Baden-Baden 2005.16 Vgl. W. Ismayr (Anm. 7), S. 123 ff.17 Vgl. Wolfgang Rudzio, Informelles Regieren – Ko-alitionsmanagement der Regierung Merkel, in: APuZ,(2008) 16, S. 11–17.18 Vgl. W. Ismayr (Anm. 7), S. 142 ff.

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Neue Herausforderungen

Gesetze sind auch unter Bedingungen derGlobalisierung und Europäisierung das do-minante Steuerungsmittel des demokrati-schen Rechts- und Sozialstaats. Allerdingssind die Gesetzesfunktionen wie auch derGesetzgebungsprozess einem bedeutendenWandel unterworfen, der insbesondere durchdie Entstehung eines Mehrebenensystems miteiner immer größeren Bedeutung der euro-päischen Ebene bedingt ist. 19 Die Privatisie-rung und Auslagerung öffentlicher Leistun-gen führte offenbar nicht zu nennenswertenEntlastungen von Gesetzgeber, Administrati-on und Budget. Häufig kann sich der Staatdamit nicht seiner „Gewährleistungsverant-wortung“ entledigen. 20

Bei der Gesetzgebung und Kontrolle siehtsich der Bundestag einer fachlich stark ausdif-ferenzierten Ministerialverwaltung mit nach-geordneten Behörden gegenüber, deren wis-senschaftliche Beratungskapazität erheblichzugenommen hat. Bundestag und Fraktionenhaben auf die Komplexität ihrer Aufgaben imZuge der technologischen Entwicklung, derEuropäisierung und der Globalisierung nichtnur mit fachlicher Ausdifferenzierung rea-giert. Vielmehr wurde seit der Parlamentsre-form 1969/70 die personelle und informati-onstechnische Ausstattung 21 des Bundestagesund seiner Fraktionen sowie der Kontrollin-strumente in einem im internationalen Ver-gleich sehr beachtlichen Umfang ausgebaut.

Anstöße für Evaluierungen im Bereich derExekutive gehen häufig vom Bundestag aus, derzunehmend Interesse an zuverlässigen Informa-tionen über Gesetzeswirkungen und Folgenab-schätzungen zeigt. Die parlamentarischen In-formations- und Kontrollinstrumente (Anfra-gen, Anträge) werden auch dazu genutzt,entsprechende Auskünfte zu verlangen. Wach-sende Bedeutung kommt der Anforderung vonRegierungsberichten zu, die einmalig oder peri-

odisch dem Parlament vorzulegen sind. 22 Diestark angewachsene Zahl öffentlicher Anhörun-gen der Bundestagsausschüsse, aber auch derFraktionen dokumentiert ein wachsendes Inte-resse (vor allem der Opposition) an regierungs-unabhängigem Erfahrungs- und Expertenwis-sen über Wirkungsweise und Auswirkungengeltender Rechtsnormen, die Folgenabschät-zung geplanter Gesetze und alternative Lö-sungsmöglichkeiten. 23 Als bedeutsam hat sichdie bereits 1969 eingeführte Regelung erwiesen,wonach bei überwiesenen Vorlagen bereits einViertel der Ausschussmitglieder eine öffentlicheAnhörung erzwingen kann (§ 70 GOBT).

Eine wichtige Innovation stellen Enquete-Kommissionen dar, in denen Wissenschaftlerund andere Sachverständige mit Abgeordnetengleichberechtigt beraten und Berichte an dasPlenum beschließen (§ 56 GOBT). Seit ihrerEinführung 1969 haben sich die grundsätzlichdiskurs- und problemlösungsorientiert angeleg-ten Enquete-Kommissionen bewährt. Bisherwurden 34 Enquete-Kommissionen mit derAufgabe eingerichtet, komplexe Entwicklun-gen zu erfassen und Gestaltungsvorschläge zuerarbeiten. Schwerpunkte waren neue Techno-logien und ihre ökologischen, ökonomischenund sozialen Folgen. 24 Nach 1990 wurden auchzwei Enquete-Kommissionen zur Aufarbei-tung der DDR-Vergangenheit eingesetzt.

Die Verflechtung von Außen- und Innenpo-litik bestimmt auch die Arbeit des Bundesta-ges. Die Außenpolitik ist immer umfangrei-cher und komplexer geworden. Sie reicht unterden Bedingungen der Globalisierung und Eu-ropäisierung weit über die klassischen Felderder Friedens-, Sicherheits- und Außenhandels-politik hinaus und umfasst immer mehr einst-mals rein innenpolitische Fragen. 25 Gestärktwurde die Rolle des Bundestages durch ein Ur-teil des Bundesverfassungsgerichts (1994), wo-nach für jeden Auslandseinsatz der Bundes-

19 Vgl. Wolfgang Wessels, Gesetzgebung in der Euro-päischen Union, in: W. Ismayr (Anm. 9), S. 653 f.20 Vgl. Gunnar Folke Schuppert, Der Gewähr-leistungsstaat, Baden-Baden 2005.21 Vgl. Uli Schöler/Thomas von Winter, Die Wissen-schaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, in:Uwe Andersen (Hrsg.), Der Deutsche Bundestag,Schwalbach/Ts. 2008, S. 99–132; Helmar Schöne,Fraktionsmitarbeiter, in: Zeitschrift für Parlaments-fragen (ZParl), 36 (2005) 4, S. 791–808.

22 Vgl. W. Ismayr (Anm. 7), S. 396 ff.23 Vgl. Michael F. Feldkamp, Datenhandbuch zur Ge-schichte des Deutschen Bundestages 1994 bis 2003,Baden-Baden 2005, S. 479 ff.; vgl. Klaus von Beyme,Der Gesetzgeber, Wiesbaden 1997, S. 239.24 Vgl. W. Ismayr (Anm. 7), S. 413 ff.; Ralf Altenhof,Die Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundes-tages, Wiesbaden 2002.25 Vgl. Wolfgang Ismayr, Bundestag, in: SiegmarSchmidt/Gunther Hellmann/Reinhard Wolf (Hrsg.),Handbuch zur deutschen Außenpolitik, Wiesbaden2007, S. 181 ff.

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wehr die Zustimmung des Bundestages einzu-holen sei. 26 Während auf eine Grundgesetzän-derung verzichtet wurde, beschloss der Bun-destag nach zehnjähriger Praxis ohne gesetzli-che Grundlage Ende 2004 das „Parlamentsbe-teiligungsgesetz“. 27 Seit dem Urteil desBundesverfassungsgerichts hat es mehr als 40Entscheidungen über den Einsatz der Streit-kräfte im Ausland gegeben, wobei die Zustim-mung des Bundestages ungeachtet oft heftigerAuseinandersetzungen im Vorfeld zumeist mitbreiter Mehrheit erfolgte.

Die europäische Integration hat zu einer um-fangreichen Verlagerung von Rechtsetzungs-kompetenzen auf die EG/EU geführt. 28 Zumeinen ist die große Zahl der dem Bundestag zu-geleiteten EU-Vorlagen weiter angestiegen.Zum anderen werden etwa 40 Prozent aller ver-abschiedeten Bundesgesetze durch einen euro-päischen Impuls beeinflusst. 29 Durch die Be-stimmungen der zeitgleich mit der Ratifizie-rung des Maastrichter Vertrages (1993)beschlossenen Art. 23 (n.F.) und Art 45 GG istneben dem Bundesrat auch die Stellung desBundestages gegenüber der Bundesregierungim europapolitischen Willensbildungsprozessdeutlich gestärkt. Für die in Form eines zu rati-fizierenden Vertragsgesetzes erfolgende Über-tragung von Hoheitsrechten ist seither die Zu-stimmung des Bundestages (wie auch des Bun-desrates) mit Zweidrittelmehrheit erforderlich.

Die Bundesregierung hat den Bundestag„umfassend und zum frühestmöglichen Zeit-punkt über alle Vorhaben im Rahmen derEuropäischen Union, die für Deutschlandvon Interesse sein können“, zu unterrichtenund dessen Stellungnahmen zu EU-Vorlagenzu „berücksichtigen“. Allerdings kam es bis-her nur selten zu solchen Stellungnahmen. In-wieweit die im September 2006 getroffene„Vereinbarung zwischen dem DeutschenBundestag und der Bundesregierung über dieZusammenarbeit in Angelegenheiten derEuropäischen Union“ die „Europatauglich-

keit“ des Parlaments in der Praxis stärkenwird, bleibt abzuwarten. Neben Verbesserun-gen der Informationsvermittlung weist der2. Monitoringbericht zur Umsetzung der Un-terrichtungspflichten durch die Bundesregie-rung 30 noch Defizite insbesondere hinsicht-lich einer Bewertung zu Rechtsetzungsaktenauf.

Beim Ausbau der Kontrollinstrumentewurde den Funktionsbedingungen des parla-mentarisch-demokratischen RegierungssystemsRechnung getragen. Die Entwicklung kommtden Oppositionsfraktionen zugute, deren Kon-trollprobleme angesichts zunehmender Staats-tätigkeit und damit einhergehender Expansionder Ministerialbürokratie freilich auch gewach-sen sind. Seit der Präsenz zweier untereinanderkonkurrierender Oppositionsfraktionen in den1980er Jahren ist die Anzahl der Kontrollinitia-tiven erheblich angestiegen. So haben die Op-positionsfraktionen in den vier Wahlperiodenvon 1990 bis 2005 91 Prozent der 420 GroßenAnfragen und 99 Prozent der 6062 Kleinen An-fragen an die Bundesregierung eingereichtsowie vier von fünf der 332 Aktuellen Stundenverlangt. Die Großen Anfragen zu meist bedeu-tenden Themen sind neben eigenen Gesetzent-würfen das wichtigste Instrument der Opposi-tion zur Durchsetzung größerer Plenarde-batten. Häufig nutzen die (Oppositions-)Fraktionen auch die Möglichkeit, kurzfristigeine Aktuelle Stunde mit kurzen Debattenbei-trägen zu aktuellen Themen durchzusetzen. 31

Der Deutsche Bundestag gehört zu denwenigen westeuropäischen Parlamenten, indenen ein Untersuchungsausschuss von einerMinderheit – einem Viertel seiner Mitglieder– durchgesetzt werden kann. Hingegen stehtdieses Recht in den meisten osteuropäischenLändern einer parlamentarischen Minderheitzu, wobei nicht zuletzt die deutsche Regelungals Vorbild diente. 32 Diese Regelung wurdebereits 1949 im Grundgesetz verankert. Un-tersuchungsausschüsse wurden infolgedessenim Bundestag vergleichsweise häufig einge-setzt (bisher 36-mal). Sie dienten vornehmlichder Aufklärung von Missständen, wobei sie

26 Vgl. BVerfGE 90, 286 ff.; entsprechend BVerfGE104, 151, 191.27 BGBl. I, 23. 4. 2005, S. 775 f.; vgl. Dieter Wiefels-pütz, Das Parlamentsheer, Berlin 2005.28 Vgl. W. Wessels (Anm. 19), S. 653 f.29 Vgl. Annette E. Töller, Mythen und Methoden. ZurMessung der Europäisierung der Gesetzgebung desDeutschen Bundestages jenseits des 80-Prozent-My-thos, in: ZParl, 39 (2008) 1, S. 3–18; M. F. Feldkamp(Anm. 23), S. 601 f.

30 Deutscher Bundestag, Verwaltung.- Zeitraum: 1. 9.2007–31. 8. 2008; vgl. Axel Schäfer u. a., Stärkung derEuropatauglichkeit des Bundestages, in: Integration,(2007) 1, S. 44–49.31 Vgl. W. Ismayr (Anm. 7), S. 331 ff.32 Vgl. Wolfgang Ismayr (Hrsg), Die politischen Sys-teme Osteuropas, Wiesbaden 20092.

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überwiegend von der Opposition beantragtund als „Kampfinstrumente“ zur politischenProfilierung genutzt wurden. Erst 2001 kamein immer wieder gefordertes Untersu-chungsausschussgesetz zustande. 33

Kommunikationsfördernde Vorschläge zurVitalisierung und diskursiven Fundierungparlamentarischer Debatten und zur Öffnungparlamentarischer (und gouvernementaler)Willensbildungsprozesse wurden zum Dauer-thema von Parlamentsreformbemühungen. Inmehreren, oft erst nach Jahren durchsetzba-ren Reformschritten konnten Verfahrensän-derungen erreicht werden, die aber nur teil-weise die erwartete Wirkung brachten. Ver-bessert wurde die kommunikative Chancen-gleichheit der Oppositionsfraktionen: Sowurde das Prinzip von „Rede und Gegenre-de“ in der Geschäftsordnung verankert undseit den 1970er Jahren jeweils zu Beginn derWahlperiode ein Schlüssel für die Aufteilungder Redezeit für die Koalition (Regierung,Koalitionsfraktionen) und die Oppositions-fraktionen vereinbart.

In den 1980er Jahren konnte eine diskussi-onsfreundliche Regelung für Zwischenfragenund Kurzinterventionen durchgesetzt und 1995noch verbessert werden, die sich auch bewährthat (§ 27 Abs. 2 GOBT). Um das öffentliche In-teresse an Plenardebatten zu wichtigen Themenzu erhöhen und die Glaubwürdigkeit des Bun-destages zu verbessern, wurde im Rahmen derGeschäftsordnungsreform 1995 eine seit lan-gem geforderte „Plenar-Kernzeit“ eingeführt.In Sitzungswochen werden in einer Kernzeitam Donnerstagvormittag, die von anderen Ter-minen freizuhalten ist, und in Erwartung einermöglichst breiten Präsenz der Parlamentarier inder Regel zwei wichtige Themen behandelt.Diese Plenardebatten werden regelmäßig vomseit 1997 bestehenden Ereignis- und Dokumen-tationskanal „Phoenix“ direkt übertragen.

Doch insgesamt stehen Reformbemühun-gen zur Verbesserung der Kommunikations-fähigkeit und Transparenz insbesondere seitder Vervielfältigung und Kommerzialisierungder elektronischen Medien seit den 1980erJahren Entwicklungen gegenüber, die eine an-gemessene Wahrnehmung der Plenardebatten

und der parlamentarischen Willensbildunginsgesamt erschweren. Politik wird voneinem zunehmenden Teil der Bevölkerung of-fenbar primär in personalisierter, ritualisierterund verkürzter Form wahrgenommen. Be-mühungen zur verbesserten öffentlichenWahrnehmung der parlamentarischen Wil-lensbildung sind eine schwierige Daueraufga-be des Bundestages.

Der Verknüpfung von Bürgeraktivitätenund parlamentarischen Verfahren könnenneue Foren und Formen der Bürgermitwir-kung und des öffentlichen Diskurses dienen.Die 2005 eingeführten Neuregelungen des Pe-titionsverfahrens insbesondere für Massenpe-titionen und „öffentliche Petitionen“ sind einpositives Beispiel. Der Petitionsausschuss istseit der Reform von 1975 im Grundgesetz ver-ankert (Art. 45c) und verfügt gegenüber derExekutive über ausgeprägte Inspektionsrech-te. Von den zahlreichen Einzeleingaben sindMassen- und Sammelpetitionen zu unterschei-den: Aktivbürger tragen gemeinsam Anliegen– häufig zur Gesetzgebung – an das Parlamentheran. 34 Bei Petitionen, denen sich innerhalbvon drei Wochen mindestens 50 000 Personenanschließen, werden Petenten in öffentlicherAusschusssitzung angehört – ein inzwischenmehrmals praktiziertes Verfahren. Seit 2005können Petitionen auch per E-Mail einge-reicht werden. Zudem können seither ineinem partizipationsfreundlichen Verfahren,das 2008 vereinfacht und auf Dauer gestelltwurde, über die Internetseite des Bundestages„öffentliche Petitionen“ eingereicht, mitge-zeichnet und diskutiert werden.

Fazit

Auf neue Herausforderungen hat der Bun-destag auch nach der deutschen Vereinigungdurch zahlreiche kleine Reformen reagiert,die sich insgesamt gesehen als bedeutsame in-stitutionelle Anpassungsleistung darstellenund teilweise innovativen Charakter haben.Entscheidend war, dass eine Reihe von Neu-regelungen intensiv genutzt wurden, was frei-lich nicht für alle Verfahrensänderungen gilt.

33 Vgl. Dieter Wiefelspütz, Das Untersuchungsaus-schussgesetz des Bundes, in: ZParl, 32 (2002) 3, S. 551–572.

34 Vgl. Wolfgang Ismayr, Vitalisierung der Demo-kratie durch Petitionen?, in: Reinhard Bockhofer(Hrsg.), Demokratie wagen – Petitionsrecht ändern!,Bremen 2003, S. 60–73.

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Volker Kronenberg

„Verfassungs-patriotismus“im vereintenDeutschland

Im geschichtspolitischen Jubiläumsjahr2009 hat Patriotismus in Deutschland

Konjunktur. Ausge-rechnet jener Be-griff, mit dem sichdie BundesrepublikDeutschland in denersten Jahrzehntenihrer Existenz ver-ständlicher Weise soschwer getan hat:Deutsche Teilung,europäische Integra-

tionsbestrebungen, vor allem aber die histori-sche Hypothek des Nationalsozialismus unddie in deutschem Namen begangenen einzig-artigen Verbrechen ließen deutschen Patrio-tismus historisch obsolet, wenn nicht gar ge-fährlich erscheinen. Wenn überhaupt, wurdeihm nur mit dem Präfix der „Verfassung“ Be-rechtigung zuerkannt. 1

Kaum eine Debatte entzweite die politisch-kulturelle Öffentlichkeit der Bonner Repu-blik tiefer als jene geschichtspolitische Groß-kontroverse namens „Historikerstreit“, die1986 entbrannte und zwei Jahre später, imunmittelbaren Vorfeld der revolutionären Er-eignisse in der DDR 1989, ihren vorläufigenAbschluss fand. Gegenstand der Kontroversewar unter anderem der vermeintliche Gegen-satz von Verfassung und Nation als Bezugs-größe eines zeitgemäßen, freiheitlichen Pa-triotismus in der Bundesrepublik. Kein Zwei-fel, dass die nationale Perspektive desPatriotismus angesichts einer dominantenSelbstwahrnehmung der Bundesrepublik als„postnationaler Demokratie unter National-staaten“ 2 Ende der 1980er Jahre jenem vonJürgen Habermas popularisierten Verständniseines „Verfassungspatriotismus“ im politisch-kulturellen, aber auch im wissenschaftlichen

Raum, signifikant unterlegen war. Als intel-lektuelle Speerspitze einer „posthumen Ade-nauerschen Linken“ 3 wies Habermas jede„konventionelle Form“ nationaler Identitätzurück und proklamierte einen dezidiert uni-versalistischen „Verfassungspatriotismus“ als„einzigem Patriotismus“, der die Bundesre-publik „dem Westen nicht entfremde“ 4.

Die nationalstaatliche, „deutsche“ Perspek-tive war hinter eine postnationale europäischezurückgetreten. Paradox, aber wahr: Ebendas Postnationale entpuppte sich in dem Mo-ment, als es mit der Friedlichen Revolution inder DDR 1989 auf die realpolitische Probegestellt wurde, „als entschieden selbstbezügli-che provinziell-nationale Denkfigur“. 5 Unddoch blieben auch in den Folgejahren derdeutschen Einheit geschichtspolitische Vor-behalte gegenüber der Nation und gegenübereinem nationalen Patriotismus spürbar, wieAndreas Rödder vermerkt: „,Deutschlandeinig Vaterland‘ (. . .), drei Worte aus demText der Hymne des sozialistischen deut-schen Staates mit gesamtdeutschem Anspruch(. . .) bezeichneten im unversehens vereintenDeutschland eine wesentlich schwierigereAufgabe, als man es 1989/90 erwartet hat-te.“ 6 Symptomatisch für diese Schwierigkeitmag jenes Verdikt Maxim Billers stehen, dernoch ein Jahrzehnt nach der Wiedervereini-gung apodiktisch behauptete, wer überDeutschland räsoniere, wer es intellektuellbestimmen und somit auch feiern und konsti-

Volker KronenbergPriv.-Doz., Dr. phil., M.A., geb.

1971; Akademischer Direktor amInstitut für Politische Wissen-

schaft und Soziologie der Uni-versität Bonn, Lennéstraße 25,

53113 [email protected]

1 Vgl. Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutsch-land. Perspektiven für eine weltoffene Nation, Wies-baden 20062.2 Karl Dietrich Bracher, Politik und Zeitgeist. Ten-denzen der siebziger Jahre, in: ders./Wolfgang Jäger/Werner Link (Hrsg.), Republik im Wandel 1969–1974.Die Ära Brandt, Stuttgart 1986, S. 406.3 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nachWesten. Bd. II: Deutsche Geschichte 1933–1990, Bonn2004, S. 445.4 Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung.Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeit-geschichtsschreibung, in: Historikerstreit. Die Doku-mentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit dernationalsozialistischen Judenvernichtung, München19918, S. 75.5 Alexander Cammann, 1989 neu entdecken. Die ver-drängte Gründungsrevolution der Berliner Republik,in: Undine Ruge/Daniel Morat (Hrsg.), Deutschlanddenken, Wiesbaden 2005, S. 62.6 Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. DieGeschichte der Wiedervereinigung, München 2009,S. 12.

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tuieren wolle, werde jedes Mal als Brandstif-ter und Mörder enden. 7

Im zwanzigsten Jahr des Mauerfalls wirktBillers Misstrauen gegenüber einem Patriotis-mus in und für Deutschland geradezu anachro-nistisch. Grundlegendes hat sich fast wie imZeitraffer gewandelt; hartnäckige Vorbehaltebegrifflicher wie substantieller Art sind weit-gehend überwunden, und der Patriotismusscheint zum Bestandteil der deutschen Staats-räson zu avancieren. Als Anzeichen für einenderartigen Wandel mag exemplarisch folgen-des Plädoyer gelten, das Charlotte Knoblochjüngst formuliert hat: „Nur wer sein Land be-jaht, sich mit seiner Nation und ihrer Ge-schichte identifiziert, wird sich einmischen.Und die Gestaltung der Gegenwart nicht denEwiggestrigen überlassen. Darum ist es wich-tig, einen neuen Patriotismus zu entwickeln.“ 8

Ist mit dieser veränderten Perspektive nunauch der „Verfassungspatriotismus“ als Identi-tätskonzept Deutschlands obsolet geworden?Hat, cum grano salis, die nationszentrierteüber die verfassungszentrierte Perspektive ob-siegt und erstere letztere ersetzt? Keineswegs,auch wenn bzw. gerade weil der „Verfassungs-patriotismus“ nach 1990 immer stärker aufsein Ursprungskonzept, wie es Dolf Sternber-ger 1979 formuliert hat, zurückgeführt wird.

Von Habermas zu Sternberger

Anlässlich des dreißigjährigen Inkrafttretensdes Grundgesetzes hatte Sternberger in einemviel beachteten Beitrag in der „FrankfurterAllgemeinen Zeitung“ die „gemischte Verfas-sung“ im Sinne der freiheitlichen demokrati-schen Grundordnung zur Bezugsgröße einesspezifisch bundesrepublikanischen Patriotis-mus erklärt und keinen Zweifel daran gelassen,dass dieser keineswegs ein Notbehelf sei, keinErsatz für einen nationalen Patriotismus. 9

Sternberger machte vielmehr darauf aufmerk-sam, dass Patriotismus in einer europäischenHaupttradition schon immer und wesentlich

etwas mit Staatsverfassung zu tun gehabt habe,ja, dass Patriotismus ursprünglich und wesent-lich „Verfassungspatriotismus“ gewesen sei.

Eben dieser Sternberger’schen Deutung des„Verfassungspatriotismus“ im Sinne Montes-quieus nähert sich nun auch Habermas an,wenn er betont, entgegen eines „weit verbrei-teten Missverständnisses“ heiße „Verfassungs-patriotismus“, „dass sich Bürger die Prinzipiender Verfassung nicht allein in ihrem abstraktenGehalt, sondern konkret aus dem geschichtli-chen Kontext ihrer jeweils eigenen nationalenGeschichte zu Eigen machen“ sollten und esim Übrigen „im eigenen Interesse des Verfas-sungsstaates“ liege, „mit allen kulturellenQuellen schonend umzugehen, aus denen sichdas Normbewusstein und die Solidarität vonBürgern speist“. 10 An die Stelle abstrakter,„universalistischer Verfassungsprinzipien“jenseits nationaler Eigenheiten tritt heute einPatriotismus, der sehr wohl, unter Zugrunde-legung eines politischen Nationenbegriffs, na-tional fundiert sein kann und sich zugleich,ohne dass dies einen Gegensatz darstellt, so-wohl in den weltoffen-konkreten Verfassungs-normen des Grundgesetzes widerspiegelt alsauch in der europäischen bzw. westlichen Kul-turtradition verwurzelt weiß.

Dass die alten Streitmuster entlang des Ge-gensatzes „Verfassung“ und „Nation“ heutezugunsten eines weitgehend konsensuellenVerständnisses von Patriotismus weichen, hatverschiedene Gründe. Zum einen sind das diewährend der rot-grünen Regierungszeit er-folgte Rückbesinnung auf die „Nation“ dies-seits einer postnationalen Europaidee sowie,damit verbunden, die Proklamation eines frei-heitlichen Patriotismus innerhalb einer demo-kratischen Nation; zum anderen die enormenintegrationspolitischen und demographisch-zuwanderungspolitischen Herausforderungender deutschen Gesellschaft, 11 wie sie in der sogenannten „Leitkulturdebatte“ 12 zu Tage tre-

7 Vgl. Maxim Biller, Deutschbuch, München 2001,S. 83 f.8 Charlotte Knobloch, Jüdische Identität in Deutsch-land. Vortrag, 15. 1. 2009, Akademie für Sozialethikund öffentliche Kultur in Bonn.9 Vgl. Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus.Rede bei der 25-Jahr-Feier der Akademie für PolitischeBildung, in: ders., Schriften X (hrsg. von Peter Haungsu. a.), Frankfurt/M. 1990, S. 17–31.

10 Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen desdemokratischen Verfassungsstaates?, in: ders., Zwi-schen Naturalismus und Religion. PhilosophischeAufsätze, Frankfurt/M. 2009, S. 106–118.11 Vgl. Volker Kronenberg, Integration in Zeiten desWandels. Demographische Krise und Zuwanderung alsgesellschaftspolitische Herausforderungen, in: Zeit-schrift für Politik, (2005) 2, S. 169–178.12 Vgl. Norbert Lammert (Hrsg.), Verfassung – Pa-triotismus – Leitkultur. Was unsere Gesellschaft zu-sammenhält, Hamburg 2006.

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ten. Des Weiteren gehören dazu die Notwen-digkeit einer Neujustierung des Staat-Bürger-Verhältnisses sowie die Erfordernis einer Sti-mulierung der bürgerschaftlichen Selbsthilfe-bereitschaft und ihrer Fähigkeiten im Diensteeiner solidarischen Verantwortungs- und Zi-vilgesellschaft. Nicht zuletzt und psycholo-gisch bedeutsam ist die schwarz-rot-goldeneBegeisterung im Zuge der Fußballweltmeis-terschaft 2006. Es handelt sich um beispiel-hafte, unterschiedlich gelagerte und doch mit-einander verwobene Faktoren, die dazu ge-führt haben, dass die republikanischeTugend 13 des „Patriotismus“ heute im Stern-berger’schen Sinne nicht nur konzediert, son-dern positiv akzentuiert wird 14 – jenseits alt-bekannter politischer „Lagergrenzen“.

Rot-grüne Neujustierungen

Wer hätte unmittelbar vor Beginn der rot-grü-nen Regierungszeit 1998 vermutet, dass wenigspäter ein „Patriotismus von links“ 15 rekla-miert, eine Wiederannäherung an die Nationgesucht, ja die Berliner Republik zum „Vater-land“ 16 erklärt wird? Die Katharsis der Regie-rungserfahrung hat zu derart überraschendenund signifikanten geschichtspolitischen Neu-justierungen im linksdemokratischen Lager ge-führt, dass Eckhard Fuhr das „Ende der Nach-kriegszeit“ als „Leitmotiv“ 17 der Ära Schröderbezeichnet. Tatsächlich wurde dieses Leitmotivim Zeitraum von 1998 bis 2005 immer wiederangeschlagen, sei es, dass deutsche Soldaten inden ersten Kampfeinsatz seit 1945 geschicktwurden, sei es, dass mit Gerhard Schröder eindeutscher Bundeskanzler erstmals an den Jubi-läumsfeierlichkeiten der Alliierten zum Siegüber Hitler-Deutschland teilnahm.

Nimmt man den „deutschen Weg“ im Irak-Konflikt – selbstverständlich und normal, wieEgon Bahr meinte 18 –, die Reminiszenz an den

„patriotischen Widerstand“ gegen Hitler 19

oder die Adaption des Interessenbegriffs:Schröder akzentuierte die geschichts-politischen Koordinaten des wiedervereintenDeutschlands in Abgrenzung zu seinem Amts-vorgänger Helmut Kohl neu – unerwartetselbstbewusst, natürlich auch den Handlungs-zwängen folgend. Dass ein vereinigtes Europaund ein vereintes Deutschland, dass Integrati-on und Nation sich keineswegs widerspre-chen, sondern vielmehr bedingen, diese Ein-sicht wuchs für Rot-grün in dem Maße, in demdas politische Projekt einer „Europäischen Fö-deration“, wie Außenminister Joschka Fischeres in seiner viel beachteten Humboldt-Redeim Jahr 2000 skizziert hatte, zunehmend anden realpolitischen Befindlichkeiten einer he-terogenen Europäischen Union zerstob. Da-rüber, wie die Physiognomie des „europäi-schen Deutschlands“ à la Thomas Mann zuBeginn des 21. Jahrhunderts angesichts signi-fikant veränderter weltpolitischer („11. Sep-tember 2001“), europapolitischer („EU 27“)und innen- bzw. gesellschaftspolitischer Rah-menbedingungen aussehen soll, muss(te) einneuer Konsens gefunden werden. So unabge-schlossen dieser Findungsprozess bis heuteauch ist, so unzweideutig hat sich auch imrot-grünen Lager zweierlei Erkenntnis durch-gesetzt: erstens, dass Patriotismus und Euro-päismus keine Gegensätze sind; zweitens, dassder moderne, integrierte und zugleich souve-räne Nationalstaat nach wie vor die abstrak-teste politische Vergemeinschaftungsform ist,welche individuellen Rechtsschutz gewährt,demokratische Verfahren garantiert sowieeine demokratische Öffentlichkeit herzustel-len vermag – und damit, als Konsequenz unddurchaus funktional, auch der republikani-schen, ergo: patriotischen Pflege bedarf.

Eben darum geht es im Patriotismus-Dis-kurs der vergangenen Jahre: um die Sensibili-sierung des Bürgers hinsichtlich der Notwen-digkeit, für seine Patria, für das Land, in daser entweder geboren wurde oder für das ersich willentlich entschieden hat und dem ersich zugehörig fühlt, tätig einzustehen, imAlltäglichen ebenso wie in Ausnahmesitua-tionen, wenn es um das große Ganze geht,etwa um die Verteidigung und Zukunftssiche-rung der Nation als staatlich verfasster Be-wusstseinsgemeinschaft aller Bürgerinnen

13 Vgl. Maurizio Viroli, Die Idee der republikanischenFreiheit, Zürich 2002.14 Vgl. Ralf Fücks: Patriotismus und Republik, in: DasParlament vom 16. 10. 2006.15 Vgl. Peter Glotz u. a., Patriotismus von links(= Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, [2005] 3),Berlin 2005.16 Vgl. Eckhard Fuhr, Wo wir uns finden. Die BerlinerRepublik als Vaterland, Berlin 2005.17 Vgl. ders., Was ist des Deutschen Vaterland?, in:APuZ, (2007) 1–2, S. 4.18 Vgl. Egon Bahr, Der deutsche Weg. Selbst-verständlich und normal, München 2003.

19 Vgl. Peter Grafe, Aus dem Bann des National-sozialismus, in: P. Glotz u. a. (Anm. 15), S. 26 f.

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und Bürger. Sei es das seit Jahren immer wie-der bemühte „Böckenförde-Paradoxon“, 20

sei es klassisch-antik die Warnung des Aristo-teles, dass der Bürgerstaat auf Institutionenund Tugenden älterer Art beruht, die er selbstnicht zu schaffen vermag – eine moderne De-mokratie, eine freiheitliche Republik kannohne dieses Fundament, ohne einen morali-schen Unterbau aus Familie, Schule, Verei-nen, ohne Verantwortungsfähigkeit der Bür-ger, ohne Liebe zur Freiheit und ohne einegewisse Vaterlandsliebe auf Dauer nicht funk-tionieren.

Der Patriotismus verweist uns auf eineKultur verantwortungsbewusster Freiheit derBürgergesellschaft und auf deren Primat ge-genüber dem bürokratischen bzw. allzustän-digen Wohlfahrts- und Interventionsstaat.Keineswegs zufällig orientiert sich der Begriffder „Bürgergesellschaft“ 21 an der unschein-baren Wirklichkeit des common sense, desfunktionierenden Gemeinsinns, wie er in derpolitischen Kultur des Westens zu beobach-ten und historisch von Alexis de Tocquevilleanhand der „Demokratie in Amerika“ 22 ver-mittelt worden ist. Es gelte, Inspiration undMotivation zu patriotischem Handeln zuerwecken, wenn Menschen einander als Bür-ger zu Gesicht bekommen. Solidarität undGemeinsinn bedürfen eines Fundamentesspezifischer Gemeinsamkeit, die über die Zu-gehörigkeit zum Menschengeschlecht hinaus-greift, und sie verdichten und verfestigen sichin personalen wie funktionalen Beziehungenwie Familie und Betrieb, im lokalen, regiona-len Bereich, auf nationaler Ebene. 23 Ebendies – so Max Weber – charakterisiert Nation:„dass gewissen Menschengruppen ein spezifi-

sches Solidaritätsempfinden anderen gegen-über zuzumuten ist“. 24

Was eint uns?

Reicht in einem modernen, weltoffenen undtoleranten Deutschland heute die Identifikati-on mit dem Grundgesetz bzw. die Beachtungseiner Artikel aus, oder ist darüber hinauseine Integration notwendig, die kulturellenPluralismus als selbstverständlich anerkennt,zugleich die Forderung nach Assimilation zu-rückweist und doch den Gefährdungen einesfreiheitlichen, demokratischen Gemeinwe-sens durch die Existenz von fragmentierten,nicht durch einen Wertekonsens geeinte Par-allelgesellschaften Rechnung zu tragen sucht?Das Ringen um das richtige Maß und diestets neu auszulotende Mitte stehen im Zen-trum dieser Debatte. Dabei ist der Ton heuteleiser und der Tenor abwägender gewordenals in der Kontroverse um den „ungenauen,missverständlichen, irreführenden“ (SalomonKorn) Begriff der „Leitkultur“ im Jahr 2000.

Dass man sich fünf Jahre später nicht inparteipolitischen und ideologischen Reflexenerschöpfte oder sich mit semantischer Klein-arbeit am Begriff „Leitkultur“ begnügte, hatunzweifelhaft mit einem gesellschaftlichenProblemdruck zu tun, der sich mit verschie-denen Ereignissen exemplarisch verband: seies die im Herbst 2004 angestoßene Debatteüber „Allahs rechtlose Töchter“ 25 inDeutschland, seien es die Diskussionen umdie Berliner „Rütli-“ und „Hoover-Schule“.Seien es, im internationalen Kontext zwar,doch hierzulande stark beachtet, der religiösmotivierte Mord an dem niederländischenFilmemacher Theo van Gogh im November2004, nicht zuletzt auch der so genannte „Ka-rikaturenstreit“: Wofür stehen wir? Wer sindwir? Was eint uns? Darüber nachzudenkenzwangen uns diese Ereignisse, die in ihrem jeeigenen Kontext zu betrachten sind und diedoch zugleich das politisch-kulturell-gesell-schaftliche Selbstverständnis der Bundesrepu-blik berühren. 26

20 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehungdes Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders.,Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie,Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt/M.19922, S. 92–114, hier: S. 112; vgl. auch ders., Der sä-kularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigungund seine Probleme im 21. Jahrhundert, München2007.21 Vgl. Warnfried Dettling, Politische Konsequenzenaus der Debatte um die Bürgergesellschaft, in: DanielDettling (Hrsg.), Die Zukunft der Bürgergesellschaft.Festschrift für Warnfried Dettling, Wiesbaden 2008,S. 214–225.22 Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie inAmerika (hrsg. v. Theodor Eschenburg), Stuttgart1959.23 Vgl. Josef Isensee (Hrsg.), Solidarität in Knappheit,Berlin 1998.

24 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (hrsg. vonJohannes Winckelmann), Tübingen 19885, S. 528.25 Vgl. Der Spiegel, 47 (2004).26 Vgl. Volker Kronenberg, Zwischenbilanz einerdeutschen Debatte, die notwendig ist: Leitkultur, Ver-fassung und Patriotismus – was eint uns?, in: BernhardVogel (Hrsg.), Was eint uns? Verständigung der Ge-

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„Leitkultur“ und „Multikultur“, langeZeit als strikte theoretische Gegensätze be-griffen, entpuppten sich im Verlauf der De-batte jenseits der semantischen Ebene alsScheinalternativen bei der Lösung gesell-schaftlicher Probleme. „Gerade eine de factomultikulturelle Gesellschaft wie unsere“, soformuliert Jörg Lau einen sich abzeichnen-den sachlichen Konsens, „braucht eine Leit-kultur. Es geht darum, die neue Vielfalt die-ses Landes – in kultureller, ethnischer undreligiöser Hinsicht – anzuerkennen und mitihr leben zu lernen, ohne dabei in einenWerte-Relativismus abzugleiten.“ 27 Seien esdie von Lau exemplarisch genannten „jünge-ren Intellektuellen mit Migrationshinter-grund“ wie Seyran Ates, Feridun Zaimogluoder Zafer Senocak, die mit Begriffen wieLeitkultur, Nation und Patriotismus „er-staunlich unbefangen“ umgehen und „keinVerständnis für die deutsche Verdruckstheit“in diesen Fragen haben, diese „sogar füräußerst schädlich hielten“ und einen „frei-heitlichen Patriotismus“ ebenso wie die„Orientierung auf eine Leitkultur“ in der defacto multikulturellen deutschen Gesell-schaft für möglich und wünschbar halten, 28

oder sei es Renate Künast, die angesichts„jahrzehntelang verdrängter Integrationspro-bleme“ einräumt, „der Grundbestand an Re-geln und geteilten Überzeugungen, der dieGesellschaft zusammenhält“, dieser „Mini-malkonsens“ könne „nicht nur aus Paragra-phen bestehen“ 29 – zunehmend setzt sich,von rot-grüner ebenso wie von liberal-kon-servativer Seite getragen, eine konsensuelleÜbereinstimmung dahingehend durch, dassdie Verpflichtung auf gemeinsame Werte,Rechte und Pflichten zur Regelung des Zu-sammenlebens die entscheidende Vorausset-zung dafür darstellt, dass es eine von Zu-wanderung geprägte Gesellschaft ihren Bür-gern ermöglicht, „nicht mehr nurnebeneinander existieren“, sondern „gemein-sam friedlich und sicher leben“ 30 zu kön-nen.

Insoweit „Multikultur“ kulturellen Plura-lismus unter Anerkennung eines verbindli-chen Wertefundaments meint, ist die Gegen-sätzlichkeit von „Multi-“ und „Leit-“Kulturtatsächlich eine scheinbare. Insoweit jedochMultikulturalismus die Existenz eines ge-meinsamen Fundamentes an Werten, Rechtenund Pflichten zu negieren und stattdesseneine Parallelität von verschiedenen, auch ge-gensätzlichen Kulturen zu etablieren sucht,steht dieser einem toleranten, Pluralismus an-erkennenden kulturellen Leitbild diametralentgegen.

Dieses spiegelt sich in der freiheitlichen de-mokratischen Grundordnung der Bundesre-publik wider, wohl wissend, dass der imGrundgesetz niedergelegte Katalog der Men-schen- und Bürgerrechte für sich allein nochkeine humanistische Tradition schafft, die ausMenschen rechtstreue Bürgerinnen und Bür-ger macht. Hier ist vor allem Bildung gefor-dert, die Werte wie Toleranz, Respekt, Parti-zipation, Solidarität anschaulich und prakti-kabel macht, Bildung, die in Schulen, sei es inForm von Staatsbürgerkunde, von Politik-oder Sozialwissenschaftskursen oder in ver-pflichtenden Einbürgerungskursen vermitteltwird. Bildung, die wesentlich das Beherr-schen der deutschen Sprache und der Grund-züge deutscher und europäischer Geschichtebeinhalten muss; Bildung, zu der Religions-unterricht und damit, für Kinder muslimi-schen Glaubens, Islam-Unterricht an deut-schen Schulen in deutscher Sprache gehörensollte. Ein gemeinsinnorientierter Bewusst-seinswandel, der sich symbolisch imschwarz-rot-goldenen WM-Sommer 2006zum Ausdruck brachte, zeichnet sich ab, lässtaber nicht bei jedem, bei manchem Intellek-tuellen indes umso überraschender, ein neues„Deutschlandgefühl“ 31 entstehen.

Jenseits des Gefühligen geht es um die Be-antwortung der Frage, wer als Bürger wel-chen Beitrag freiwillig, solidarisch, patriotischfür seine res publica leistet. Die Frage ver-weist auf die Neujustierung des Staat-Bürger-Verhältnisses und damit auf eine Stimulierungder bürgerlichen Selbsthilfebereitschaft undihrer Fähigkeiten im Dienste einer solidari-schen Verantwortungs- und Zivilgesellschaft,

sellschaft über gemeinsame Grundlagen, Freiburg i.Br.2008, S. 188–209.27 Jörg Lau, Selbstachtung und Selbstverbesserung.Der Patriotismus der Berliner Republik, in: Merkur(Sonderheft 9/10) 2006, S. 800–812.28 Zit. nach ebd.29 Renate Künast, Grundwerte und Teilhabe. Wirbrauchen eine Debatte – aber nicht über „Leitkultur“,in: N. Lammert (Anm. 12), S. 129.30 Seyran Ates, Stellungnahme, in: ebd., S. 31.

31 Vgl. Reinhard Mohr, Das Deutschlandgefühl. EineHeimatkunde, Reinbek 2005.

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wie sie beispielsweise von Udo Di Fabio, 32

Meinhard Miegel 33 oder Paul Nolte 34 in denBlick genommen werden. Eine solche Gesell-schaft will ihrerseits den Staat und seine klas-sischen Funktionen keineswegs ersetzen, siesucht ihn vielmehr auf diese zu reduzieren.Es geht nicht um die Abkehr vom Sozialstaatoder um die Errichtung eines „Nachtwächter-staates“, vielmehr sucht eine bürgerliche Ver-antwortungsgesellschaft Konsequenzen da-raus zu ziehen, dass sozialstaatliche Umver-teilung die Gesellschaft auf Dauer nichtzusammenzuhalten vermag. Es geht um eineneue Balance von Eigenverantwortung undkollektiver Absicherung, wie sie auch Bun-despräsident Horst Köhler vorschwebt, derin impliziter Entgegensetzung zu GustavHeinemanns Diktum vom „schwierigen Va-terland“ bei seiner Amtseinführung 2004 be-kannte, sein Land zu „lieben“.

Die Bundesrepublik als Vaterland

Von Heinemann zu Köhler, von Habermaszu Sternberger, von Bonn nach Berlin – esgeht um patriotische Diskurse um Verfassungund Nation, die im 60. Jahr des Grundgeset-zes und im 20. Jahr des Mauerfalls stattfindenim Bewusstsein einer selbstverständlichenAnnahme des vereinten Deutschlands alsHeimat durch die nachwachsende Jugend –die so genannte „Generation ’89“ ist inzwi-schen volljährig – und einer fortschreitendenVersöhnung der Intellektuellen mit der „ge-glückten Demokratie“. 35 Eine Versöhnungmit und ein verfassungspatriotischer Stolz aufeben jenen Staat, der das Bekenntnis zur Ver-gangenheit, zu Krieg und Schuld, zu Verant-wortung und Aussöhnung zur Staatsräson er-hoben hat, bedeutet aber nicht, im Bewusst-sein der Ereignisse von 1848, 1919, 1944,1953 oder 1989, „Auschwitz“ zum alleinigenGründungsmythos der Bundesrepublik zumachen. Dass dieses singuläre Verbrechenseinen zentralen Platz im Geschichtsbewusst-sein unseres Landes behalten wird, versinn-

bildlicht eindrucksvoll das 2005 eingeweihteHolocaustmahnmal im Herzen Berlins.

Deutschland im Jahr 2009: Verwobene Pro-zesse in Politik, Gesellschaft und Kulturhaben zu einem neuen Nachdenken über Pa-triotismus geführt, zu einem moderaterenTon und einem sachlicheren Tenor in der öf-fentlichen Debatte, und fokussieren vielleichtals Folge dessen die Erfahrung von „1989“,wie Norbert Frei jüngst meinte: „auch des-halb, weil das ,Wir‘ seitdem in sein Recht ge-setzt wurde, mithin eine reale Möglichkeitgeworden ist.“ 36 Dieses „Wir“, das die Deut-schen in Ost und West ebenso umfasst wieEingewanderte, die dauerhaft in Deutschlandleben wollen, ist „aufgefordert, eine Ordnungund Gesellschaft zu gestalten auf die sie mitRecht stolz sein können. Ein darauf gründen-der Patriotismus stünde nicht in Gefahr,nationalistisch zu werden, sondern würde diezivilen Kräfte im Land stärken.“ 37

Deutschland seit 1990: Geschichtsbewussteund gesellschaftlich geweitete Perspektivengeben zur Hoffnung Anlass, künftig wenigerüber Patriotismus reden, ihn beschwörenoder problematisieren zu müssen als vielmehrseine Lebendigkeit konstatieren zu können.Er gilt der freiheitlichsten Republik, die es jeauf deutschem Boden gab. Diese Republikwird gelebt im Sinne Ernest Renans als plébis-cite de tous les jours, sie wandelt und entwi-ckelt sich. Sie ist als „europäisches Deutsch-land“ realpolitische Wirklichkeit. Sie ist dasWerk staatspolitischer Klugheit, von Adenau-er über Brandt, Schmidt und Kohl bis Mer-kel. Sie gründet auf Recht und Gemeinwohlund formuliert eine überzeugende Antwortauf die Frage, was der Deutschen Vaterlandsei.

32 Vgl. Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, Mün-chen 2005.33 Vgl. Meinhard Miegel, Epochenwende. Gewinntder Westen die Zukunft?, Berlin 2005.34 Vgl. Paul Nolte, Generation Reform. Jenseits derblockierten Republik, München 20044.35 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Ge-schichte der Bundesrepublik Deutschland von ihrenAnfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006.

36 Norbert Frei, Der Erinnerungstisch ist reich ge-deckt. Geschichtsaufarbeitung in Deutschland, in: DieZeit Nr. 14 vom 2. 4. 2009.37 Klaus Schroeder, Die veränderte Republik.Deutschland nach der Wiedervereinigung, Stamsried2006, S. 642.

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APuZNächste Ausgabe 29–30/2009 · 13. Juli 2009

Ungarn

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Krisztián UngváryBelastete Orte der Erinnerung

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Deutschland seit 1990 APuZ 28/2009

Everhard Holtmann3-9 Signaturen des Übergangs

Auf der Basis aktueller Forschungsergebnisse wird der Prozess der deutschen Ei-nigung als Entwicklungspfad dargestellt, auf dem sich die drei Phasen der Transi-tion, Transformation und Posttransformation unterscheiden lassen.

Regina Bittner9-15 Kulturtechniken der Transformation

Im Zuge der Transformation führt „Ostdeutschland“ als hybrides Konglomeratvon Wertvorstellungen und Erinnerungen ein Eigenleben, das weniger auf dieDDR verweist als auf einen Schwebezustand: weder Herkunft noch Ankunft.

Anna Klein/Wilhelm Heitmeyer16-21 Ost-westdeutsche Integrationsbilanz

In Ost- und Westdeutschland befördern dieselben Mechanismen abwertende Ein-stellungen. Das Ausmaß von Desintegration und wahrgenommener Benachteili-gung ist jedoch in Ostdeutschland höher – mit Folgen für schwache Gruppen.

Karl-Heinz Paqué22-27 Transformationspolitik in Ostdeutschland: ein Teilerfolg

Der Aufbau Ost war unvermeidlich, und zwar so, wie er geschah: mit sofortigerWährungsunion, mit zügiger Privatisierung und massiver Wirtschaftsförderung.Die Ergebnisse sind besser, als angenommen, aber schlechter, als erwartet.

Uwe Jun28-34 Wandel des Parteien- und Verbändesystems

Im Parteien- und Verbändesystem sind Veränderungen erkennbar, die auf eine Schwä-chung der Großorganisationen hindeuten: einerseits Fragmentierung und Polarisie-rung, andererseits Ausdifferenzierung, Professionalisierung und Europäisierung.

Wolfgang Ismayr34-40 Der Deutsche Bundestag seit 1990

Auf die neuen Herausforderungen nach der deutschen Vereinigung hat der Bun-destag durch zahlreiche Reformschritte reagiert, die teilweise innovativen Cha-rakter haben. Eine Reihe von Neuregelungen werden intensiv genutzt.

Volker Kronenberg41-46 „Verfassungspatriotismus“ im vereinten Deutschland

Im geschichtspolitischen Jubiläumsjahr 2009 hat Patriotismus in DeutschlandKonjunktur. Inwiefern kann der Verfassungspatriotismus Dolf Sternbergers einzukunftsfähiges Identitätskonzept der Berliner Republik darstellen?