35
1 Das Ensemble der Moskauer „Theater - Werkstatt Pjotr N. Fomenko“ 24. Februar bis 2. März 2016 THEATERREISE NACH MOSKAU Rückschau nach Brest in Belarus, 16. September 2015. Im Rahmen eines Internationalen Theaterfestivals lernte ich den Moskauer Regisseur Georgy Berdzenishvili kennen. Wir befreundeten uns und wollen 2016, in der angespannten politischen Situation,ein gemeinsames Brechtprojekt erarbeiten. Die Einladung für meine Theaterreise ging formal von Igor Jakowlewitsch Zolotowitzki dem Direktor des „Moskauer Künstertheaters – MChAT“aus. Im „Zentralen Haus der Akteure“ und in der berühmten Moskauer „Theater - Werkstatt Pjotr N. Fomenko“ hielt ich Vorträge über Bertolt Brechts Theaterarbeit im Berliner Ensemble von 1949 bis 1956, zeigte Videos und eine kleine Ausstellung mit BE-Postern, Programmheften und Fotos. Vor und nach den Vorträgen traf ich viele Theaterkollegen aus dem MChAT, dem Pjotr-Fomenko-Theater, dem Wachtangow Theater und dem Theater an der Taganka. Wir sprachen oft über die Krise und wie wir Künstlerkollegen behilflich sein können,die Arbeitskontakte,auch mit ukrainischen Theaterkollegen, zu intensivieren. Der Besuch 1

+Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

  • Upload
    haduong

  • View
    215

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

1

Das Ensemble der Moskauer „Theater - Werkstatt Pjotr N. Fomenko“

24. Februar bis 2. März 2016

THEATERREISE NACH MOSKAU

Rückschau nach Brest in Belarus, 16. September 2015. Im Rahmen eines

Internationalen Theaterfestivals lernte ich den Moskauer Regisseur

Georgy Berdzenishvili kennen. Wir befreundeten uns und wollen 2016, in der angespannten politischen Situation,ein gemeinsames Brechtprojekt erarbeiten. Die Einladung für meine Theaterreise ging formal von Igor Jakowlewitsch Zolotowitzki dem Direktor des „Moskauer Künstertheaters – MChAT“aus. Im „Zentralen Haus der Akteure“ und in der berühmten Moskauer „Theater - Werkstatt Pjotr N. Fomenko“ hielt ich Vorträge über Bertolt Brechts Theaterarbeit im Berliner Ensemble von 1949 bis 1956, zeigte Videos und eine kleine Ausstellung mit BE-Postern, Programmheften und Fotos. Vor und nach den Vorträgen traf ich viele Theaterkollegen aus dem MChAT, dem Pjotr-Fomenko-Theater, dem Wachtangow Theater und dem Theater an der Taganka. Wir sprachen oft über die Krise und wie wir Künstlerkollegen behilflich sein können,die Arbeitskontakte,auch mit ukrainischen Theaterkollegen, zu intensivieren. Der Besuch diente auch der Vorbereitung einer Theaterarbeit von Georgy Berdzenishvili und mir, eine gemeinsame Inszenierung mit dem Titel „EINUNDZWANZIG KOFFER“ über die Brechtfamilie 1941 auf der Durchreise von Finnland über Leningrad, Moskau und Wladiwostok in die USA. Brechts Freundin und Mitarbeiterin Margarete Steffin musste in Moskau zurückbleiben. Schwer TBC-krank starb sie dort am 4.Juni 1941. Sie war 33 Jahre alt. Brecht schrieb das Gedicht:

„Nach dem Tod meiner Mitarbeiterin M.S.“

1

Page 2: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

2

Im neunten Jahr der Flucht vor Hitler

Erschöpft von den Reisen

Der Kälte und dem Hunger des winterlichen Finnland

Und dem Warten auf den Paß in einen anderen Kontinent

Starb unsere Genossin Steffin

In der roten Stadt Moskau.

Mein General ist gefallen

Mein Soldat ist gefallen

Mein Schüler ist weggegangen

Mein Lehrer ist weg

Mein Pflegling ist weg...

Seit du gestorben bist, kleine Lehrerin

Gehe ich blicklos herum, ruhelos

In einer grauen Welt staunend

Ohne Beschäftigung wie ein Entlassener.

Bertolt Brecht, Henry Peter Matthis und Margarete Steffin

im schwedischen Exi

Im Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der 2

Page 3: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

3

Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie zurückzubekommen. Im Berliner Brechtarchiv befinden sich nur einige schlechte Briefkopien…Igor Zolotowitzki schlug vor, unser Vorhaben für das MChAT zu realisieren und im „Zentralen Haus der Akteure“ eine Ausstellung über die Arbeit des Berliner Ensembles von 1949 bis 1990 mit Postern, Fotos, Bühnenbildmodellen, Entwürfen, Kostümen u.a. zu zeigen.

Zolotowitzki beauftrage unterdessen einen Historiker, nach den Dokumenten im Moskauer Zentralarchiv zu suchen.

Einundzwanzig Koffer hatte die Brechtfamilie am 30.Mai 1941 bei ihrer Abreise aus Moskau bei sich…

Tagebuchnotizen

Mittwoch, 24. Februar

Ich fliege um 13:15 Uhr mit MIAT- Mongolian Airlines von Berlin-Tegel nach Moskau Sheretmejewo und werde von Georgy Berdzenishvili und zwei Germanistik-Sudentinnen in Nerzmänteln abgeholt. Vor dem Terminal 2 warten wir auf das Auto von Igor Jakowlewitsch Zolotowitzkij, dem Direktor des Moskauer Künstlertheaters. Die schwarze japanische Limousine hält, der Fahrer entreisst mir meine Gepäckkarre, verläd meine Sachen. Ein Polizist fordert ihn auf vorzufahren. Dabei rammt ihn ein anderes Auto. Wir dürfen nicht abfahren,weitere Polizei wird gerufen. Berdzenishvili organisiert ein Taxi, ich spreche mit den Studentinnen und achte nicht auf das Umladen meines Gepäcks. Wir fahren in die Innenstadt an den Panzersperren vorbei. Bis hierher kam 1941 die Naziwehrmacht. Heute sind die

3

Page 4: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

4

Eisenkreuze mit farbigen Neonröhren illuminiert, ein makaberer Eindruck. In einer Seitengasse der Twerskaja ist das Internat der MChAT-Theaterschule.Im Erdgeschoss liegt eine sehr schöne eigenständige Gästewohnung.Viel Nussbaum, mit grosser Küche und Miele – Siemens –Technik,sowie einem angenehmen Bad. Zwei Häuser weiter ist ein 24-Stunden-Supermarkt… Beim ausladen fehlt meine Umhängetasche.Hektisches Hin-und Hertelefonieren. Die Tasche befindet sich in Sheremetjewo. Wie das passieren konnte, war nicht zu klären. Berdzenishvili und ich fahren zum Flughafen. Die Strasse ist verstopft. Meine Unruhe wächst. In der Tasche ist mein Geld, wichtige Sachen u.v.a. Gott sei Dank habe ich den Reisepass in meiner Jackenstasche. Im Flughafen suchen wir ewig nach der Fundstelle…Und dann ist alles sehr einfach. Eine junge schöne unglaublich freundliche Administratorin bringt meine verplombte Tasche. Wir müssen ein Protokoll ausfüllen…Ein Wunder, nichts fehlt. Unterdessen ist es nach Mitternacht. Meine nächtlichen Expeditionen in das Russische Fernsehen beginnen. Wie immer Serien mit tapferen Polizisten, Geheimdienstleuten und Offizieren. Wie immer wird aus allen Rohren geschossen und gemordet. Daneben unsägliche Unterhaltungssendungen,Kitsch,Quatsch und Gefasel in gigantischen Dekorationen. Die Nachrichten sind auf die russischen „Retter Syriens“ spezialisiert. Aus der Ukraine kommt so gut wie nichts. AfD-Demos. Die Kommentatoren erwecken den Eindruck, ganz Deutschland will „die Merkel muss weg“. Die TV-Moderatoren zeigen wie immer einen scharfen provinziellen „Anreisserton“, sehr unangenehm. In Werbespots und Serien werden der Mercedes-Stern, VW oder das BMW-Symbol an den Autos verschwommen gezeigt.Der „Sanktionszirkus“ ist zu vielem Blödsinn fähig.

Moskau, City – Hier befindet sich die „Pjotr-Fomenko-Theaterwerkstatt“

Donnerstag, 25. Februar

4

Page 5: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

5

Um 11. Uhr beginnen wir mit dem Aufbau für meinen Brechtvortrag auf der „Neuen Szene“ des „Pjotr – Fomenko -Theaters“

Pjotr Naumowitsch Fomenko 1932 - 2012

Zur Geschichte der Theaterarbeit Pjotr N.Fomenkos:

http://www.russische-kulturtage.de/fomenkostudio.htm

http://fomenko.theatre.ru/

5

Page 6: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

6

Die NEUE SZENE vor einer Vorstellung

Alles geht sehr schnell. Das Theater ist gut organisiert. Schwierigkeiten bereiten meine Film-Einblendungen. Die Tonloge ist hinten, die DVD müssten in den Computer eingelesen werden u.s.w. Mit einem Laptop an meiner Seite, den Gia Berdzenishvili bedient, kriegen wir das dann schnell hin. Auf der Bühne wurde ein grosser Tisch aufgebaut. Aus der Theaterabteilung des Berliner Stadtmuseums habe ich Fotokopien aller Inszenierungen des Berliner Ensembles von 1949 bis zu Brechts Tod ausgelegt. Der Vortrag konzentriert sich auf Bertolt Brechts schwierige Jahre unter Ulbrichts SED-Politbüro. Mit „Die Tage der Commune“ wollte er 1949 das Berliner Ensemble eröffnen, das wurde ihm ausgeredet und er liess es sich ausreden. Ich singe u.a. die erste,fünfte und sechste Strophe aus:

Resolution der Communarden aus „Die Tage der Commune“.

In Erwägung unserer Schwäche machtetIhr Gesetze, die uns knechten soll'n.

Die Gesetze seien künftig nicht beachtetin Erwägung, dass wir nicht mehr Knecht sein woll'n.

In Erwägung, dass Ihr uns dann ebenmit Gewehren und Kanonen droht,

haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Lebenmehr zu fürchten als den Tod.

In Erwägung, es will Euch nicht glücken,uns zu schaffen einen guten Lohn,

übernehmen wir jetzt selber die Fabriken,in Erwägung, ohne Euch reicht's für uns schon.

In Erwägung, dass wir der Regierung,was sie immer auch verspricht, nicht trau'n,

haben wir beschlossen, unter eig'ner Führunguns ein gutes Leben aufzubau'n.

In Erwägung, Ihr hört auf Kanonen,and're Sprachen könnt Ihr nicht versteh'n,

müssen wir dann eben, ja das wird sich lohnen,die Kanonen auf Euch dreh'n.

6

Page 7: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

7

In Russland wurden „Die Tage der Commune“ bis jetzt nicht gespielt

Olga Rudakowa ist meine Dolmetscherin, eine wunderbare Begleiterin. Mir scheint, wir kennen uns schon ewig. Sie ist mit allen sprachlichen „Wassern gewaschen“. Unsere lachende Harmonie griff sofort auf das Publikum über. Der Raum ist übervoll. Die Gespräche danach wollen kein Ende nehmen. Im Raum sind Theaterstudenten und Dozenten, Akteure, Regisseure und Dramaturgen. Niemand nimmt ein „Blatt vor den Mund“, keinerlei Ängste. Wir reden über die üble Fernsehpropaganda, über Zensur,über die Ukraine und vieles andere,ziehen in die Kantine um. Hier wartet schon das Team einer neuen „Mutter Courage“-Inszenierung auf uns.

Auf Initiative von Polina Kutepowawurde Brechts Courage in den

Spielplan aufgenommen. Sie ist eine wichtige Protagoniistindes Pjotr Fomenko Theaters und spielt die Titelrolle.

Heissblütige Diskussionen. Wir müssen uns verabschieden, Igor Zolotowitzkij wartet im MChAT auf uns, und verabreden uns mit Polina Kutepowa für den 1. März zu einem Probenbesuch.

Moskauer Künstlertheater MChAT

http://www.mxat.ru/

7

Page 8: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

8

Die prächtigen Jugendstilräume schilderte Michail Bulgakow in seinem „Theaterroman – Aufzeichnungen eines Toten“. Mahagoni, Nussbaum, grünes Leder mit Goldrändern, dunkelgrünes Billardtuch,überall spiegelndes Parkett. Mit viel Geld wurde der alte Glanz wieder hergestellt. Man ist erschlagen von den wunderbaren

Materialien. Das Direktionszimmer ist ein Saal. Absoluter Jugendstil,fast unangenehm kostbar. In den Glasschränken restaurierte Bücher, Andenken von

Gastspielen, Masken, Krimskrams,Gold, Messing, Kupfer,… Brecht wäre geflüchtet.

An der Tür wartet der Direktor,

der unendlich freundliche Igor Jakowlewitsch Zolotowitzkij.

8

Page 9: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

9

Gia Berdzenishvili und er gingen gemeinsam zur Schule, studierten gemeinsam und sind engste Freunde. Ich erzähle ihm von den „Einundzwanzig Koffern“. Er geht sofort mit und schlägt unser Projekt für das MChAT vor.Er will mit Oleg Tabakow darüber reden und festmachen.Er ruft sofort einen bekannten Historiker an, der im Moskauer Zentralarchiv nach den Brecht-Archivalien forschen soll und der will es auch sofort tun. Von so viel Zuwendung fühle ich mich überrollt und bleibe misstrauisch. Schon sitzen wir im Restaurant des Theaters, ebenso vom Jugendstil überladen. Ich bekomme von Igor noch mindestens dreimal die Zusicherung, unsere Brechtidee im MChAT zu realisieren… Im Pjotr-Fomenko-Theater sehen wir Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“. Regie: Iwan Popowskij.

Hermia: Serafima Ogarewa, Lysander: Alexander Mischkow,Helena: Irina Gorbanewa, Demetrius: Juri Butorin[von links]

Handwerker: Andrej Kasanow, Stepan Pjankow,Oleg Nirjan, Nikita Tjunin, Kirill Pirogow[hinter dem Schild]

9

Page 10: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

10

Es geht für mich sofort mit Ärger los. Der Herzog Theseus,Karen Badalow, und die gefangene Königin der Amazonen, Hippolyta,Galina Tjunina, wirken wie „stumpfe Rentner“,sind aber junge Akteure. Von herrschen kann keine Rede sein. Badalow ist der kraftlos Leutseligste den ich jemals sah. Alles in weiss.Wo der gekämpft und gesiegt haben soll, steht in den Sternen. Das Fatale setzt sich fort, Theseus und Hippolyta sind später auch Oberon und Titania. Und dann geht das mit dem fortwährenden Gewedel von Tüchern weiter. Der Regisseur scheint Stoffgeschäfte zu lieben. Tücher aus allen Richtungen, auf dem Bühnenboden, äusserst kunstvoll drapiert und weggezogen. Ununterbrochen flattern Stoffbahnen, verschwinden und neues Wellenschlagen beginnt. Zuerst verblüffend, dann geht es einem zunehmend auf die Nerven. Die Vorstellung wäre unerfreulich, wenn es Hermia, Helena,Lysander und Demetrius nicht gäbe. Vier unglaublich begabte junge Leute, die ihre Bilder in rasender Geschwindigkeit spielen. Serafima Ogarewa – Hermia, Irina Gorbanowa – Helena, Juri Butorin – Demetrius und Alexander Mischkow – Lysander agieren dermassen körperlich artistisch, dem Zuschauer „bleibt die Spucke“weg. Alles sitzt, Sprache,Körperbeherrschung und Zusammenspiel zeigen selten gesehene Talente. Man ist geradezu verliebt in die jungen Leute und dann treffen sie auf die Langweiler Oberon und Puck – Ambarzum Kabanjan. Der ödet mit dem Klischee einer ollen Tucke an und verschmeisst sich dadurch die Gefährlichkeit der Figur. Wie gesagt, Oberon und Titania fallen aus. Ihr Rausch mit dem Handwerker Zettel bleibt Theorie. Sein bombastischer Eselskopf verhindert ausserdem jedes erotische Miteinander.Die fünf Handwerker, Andrej Kasanow, Stepan Pjankow, Oleg Nirjan, Nikita Tjunin und Kirill Pirogow sind in ihren Bildern gut im Partnerspiel. Wenn sie ihren drögen Herrscher in der Piramus - und Thisbe - Vorstellung treffen werden sie zum „DU-DU –Kindertheater“.Das schöne Spiel der vier jungen Akteure werde ich niemals vergessen. Das Publikum im ausverkauften Theater war ideal in den Reaktionen und umgerechnet fast 40 EURO für eine Theaterkarte muss man sich erst einmal leisten können. So angeregt lande ich wieder in meiner Wohnung. Der Einkauf in dem 24-Stunden-Geschäft nebenan haut mich später um. Die Preise liegen fast 1zu1 auf EURO-Niveau.Wie machen die Moskauer das mit ihren schmalen Rubel-Gehältern? Sie ackern oft in mehreren Berufen.

Freitag, 26. Februar 2016

Zentrales Haus der Schauspieler

10

Page 11: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

11

Arbat 35Gia Berdzenishvili und ich sind im „Zentralen Haus der Schauspieler“ mit dem

geschäftsführenden Direktor, dem Schauspieler Alexander Schigalkin verabredet.

Alexander Alexandrowiitsch Schigalkin

Wir wollen über die Organisation meines Brechtvortrages am 29.Februar reden und die Bertolt Brecht-Ausstellung [siehe oben] genauer verabreden. Im Unterschied zum rasanten Fomenko -Theater bemerkt man hier schnell einen gewissen Muff der Hierarchie. Gia stellt mich dem technischen Leiter vor, der fahrig auf einem Flur hin - und herläuft und nicht stillstehen will. Alles soll kein Problem sein. Den Vorstellungsraum könnten wir nicht sehen, da wird geprobt. Ich bestehe drauf. Wir sollen warten. Alexander Schigalkin hat im Moment keiner Zeit. Wir sollen warten.Wir warten. Ich werde auf einem wackligen Sofa vor einer Dschurnaja plaziert. Sie tauscht mit mir ironische Blicke über das Gehabe des technischen Leiters. Dann verschwindet auch Gia. Das geht so über eine Stunde, dann hat Herr Schigalkin Zeit. Das Büro ist wieder ein Saal aus exotischen Hölzern, die Möbel sind aus poliertem massivem Mahagoni und knarrenden Ledersitzen. Schigalkin spielt sofort Theater des „wahnsinnig Interessierten“. Ich lege über die Brechtausstellung los, komme in Fahrt. Nach cirka 5 Minuten unterbricht er mich. Das wäre „wahnsinnig interessant“, Er müsste aber jetzt sofort zum Kulturminister fahren, der will ihn dringend sprechen. Die Brecht-Ausstellung ist verabredet. Die Details wird er mit Gia aushandeln, ich möchte ihn entschuldigen und weg ist er.Der arme Gia muss meine Schimpfkanonade über sich ergehen lassen… Dann besichtigen wir die Ausstellungsräume.

Die Rotunde ist zweistöckig und hat rechts und links weitereAusstellungsräume. Ideal für Bertolt Brechts Arbeit im Berliner Ensemble.

Auch der runde Vorstellungsraum ist sehr schön. Später sitzen wir im Café des Schauspielerhauses und gelangen über das imperiale Gehabe im gegenwärtigen Russland in einen hitzigen Streit. Gia rennt oft hinaus um zu qualmen. Das Angenehme in der Partnerschaft ist, wir sind nicht nachtragend.

11

Page 12: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

12

In den folgenden Tagen wird es noch öfter hitzige Wortgefechte hageln und schon lachen wir über uns „Theaterschaffende“.

Abends sehen wir im Moskauer Künstlertheater – MChAT,Abkürzung von Московский художественный академический театр.

„DIE MÖWE“ von Anton Tschechow in der Regie von Konstantin Bogomolow.Das Foto zeigt Oleg Tabakow[künstlerischer Intendant des MChAT]als Dr.Dorn und

Marina Zydina als Arkadina.Die Inszenierung ist eine Produktion des „Oleg-Tabakow-Theaters“zu Gast im MChAT.

Konstantin Bogomolow ist ein Regiestar in Russland.

12

Page 13: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

13

Ich sah von ihm vor zwei Jahren im MChAT „DER IDEALE GATTE“ nach Oscar Wilde.Zwei verschämte aber grosskotzig tuende Schwule waren zu sehen, das sollte eine Sensation für Moskau sein. Der verbrämte Provinzialismus triefte aus jedem Knopfloch. Das Paar berührte

sich niemals, trotzdem hielt das Publikum den Atem an.

Igor Mirkubanow spielte LORD, den Geliebten des Ministers[Alexander Krawchenko].In „DIE MÖWE“ ist er Trigorin und das Hauptärgernis.

Igor Mirkubanow und Swetlana Kolpakowa als Nina

Die Szene ist eine Art heruntergekommenes Dorfkino in verblichenen Ölfarben. Im ersten Bild stehen die Bänke mit den Rücklehnen zum Zuschauerraum.Hinten rechts zeigt eine TV-Kamera die Akteure und das Publikum von vorn und projiziert die Bilder auf die gesamte hintere Wand, wie im Kino also. Die Schauspieler kommen, setzen sich und „plaudern“,dann gehen sie wieder. Nina und Treplew[Sohn der heruntergekommenen Gutsbesitzerin Arkadina]treten auch durch den Zuschauerraum auf. Der Regisseur hat die Mimen auf einen „Filmton“ getrimmt. Das heisst, sie murmeln ihre Texte einförmig daher. Vom uralten Oleg Tabakow konnte ich kein Wort verstehen,obwohl ich in der fünften Reihe sass.Emotionen gibt es nicht. Komisch ist die Komödie ebensowenig.Es wird geraunt und bedeutungs -voll vor sich her gestarrt. Gehabe wie in schlechten Fernsehserien. Auf die Lippen beissen, in den Haaren herumfummeln, Beine übereinanderschlagen und wieder zurück. Schon auf dem Programmzettel steht: „Es wird auf der Bühne geraucht“, das heisst, Arkadina und Trigorin haben so etwas wie Pillendöschen bei sich, in denen sie die Asche abstreichen. Alles lähmend und einödend. Nina-Swetlana Kolpakowa ist die wirklich Einzige, die immer wieder versucht, einen frischen Wind auf die Szene zu tragen, Trigorin für sich zu gewinnen.Vergebens. Mirkubanow wirkt wie aus Stein, so auch die Arkadina der Marina Zydina, alles Routine. Beide Akteure strahlen eine unangenehme private arrogante Blasiertheit aus. Mirkubanow wirkt wie benebelt, brabbelt seine Texte ohne Interesse vor sich her. Das alles in einem Spitzentheater Russlands. Gia Berdzenishvili und ich flüchten nach der Pause und spazieren über die strahlend beleuchtete Twerskaja, landen in einem bezaubernden Café und lästern über die miese Inszenierung und die murmelnden Schauspielstars des MChAT. Gia beklagt die Krise des russischen Theaters. In Sowjetzeiten wussten die Theaterleute wogegen und wofür sie kämpfen, im „patriotischen Zeitalter“ der Gegenwart ist das WOGEGEN untergetaucht und drückt sich vorsichtig vielleicht im IDEALEN GATTEN in einer verschämt schwulen Beziehung eines Ministers zu einem Rocksänger aus. Nach dem Feuer der Vier im Sommernachtstraum war der MChAT-Abend wie fauliges Regenwasser.

Samstag, 27. Februar 2016

Gia Berdzenisjvili und ich treffen uns in der Küche meiner Gästewohnung. Erstmals sind die Germanistikstudenten Tanja und Igor dabei.Sie haben wenig deutsche Kontakte und sprechen im dritten Studienjahr ein sehr dürftiges Deutsch. Wir besprechen die Konzeption der „EINUNDZWANZIG KOFFER“. Sämtliche Brechttexte müssen in der russischen Übertragung völlig neu durchgesehen werden. Sie wurden in der Breschnew-Ära absolut entschärft übersetzt, ihrer Schlagkraft beraubt.Das entdeckten wir während meiner Brechtinszenierungen in Tschetschenien/Inguschetien. Ich lese Texte

13

Page 14: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

14

aus Brechts nächtlichen Gesprächen über das Theater: „DER MESSINGKAUF“ vor. Tanja und Igor versuchen Vergleiche mit der russischen Fassung. Ein mühseliger Nachmittag. Auf unsere versierte Übersetzerin Olga Rudakowa wartet viel Arbeit. Abends sehen wir im Theater an der Taganka „Der Meister und Margarita“ nach Michail Bulgakows Roman.

http://taganka.theatre.ru/

https://de.wikipedia.org/wiki/Juri_Petrowitsch_Ljubimow

Juri Ljubimows Inszenierung „Der Meister und Margarita“ ist aus dem Jahr 1977 und wurde 2014,nach seinem Tod, wiederaufgenommen. Ich sah die Bulgakow-Adaption erstmals im Januar 1979. Wir waren mit dem Meininger Schauspielensemble zu Gast in Moskau. Juri Ljubimow lernte ich über den mit mir befreundeten Autor Juri Valentinowitsch Trifonow kennen. Seine Novelle DER TAUSCH inszenierte Ljubimow im Taganka Theater. Er nahm mich zur Probe mit. Alle Gäste mussten sich auf den Wänden von Ljubimows Büro verewigen [siehe das Foto]. So stehe ich da auch… Seine Theaterarbeit war in der politischen Brisanz mein stetes Vorbild. „Hamlet“ zum Beispiel mit Wladimir Wyssozki,Alla Demidowa als Gertrud und Wenjamin Smechow als Claudius. Er spielte in der Bulgakow-Adaption den Messere Voland…Ljubimows HAMLET ging Ende 1976 unserer Meininger Adaption voran. Ich spielte Claudius. Wir waren in der politischen und künstlerischen Herausforderung ganz gut. Die STASI-Bezirksverwaltung begann Akten gegen uns anzulegen…So aufgeladen sehe ich „Der Meister und Margarita“ und bin schon nach wenigen Minuten entsetzt. Wäre nicht die brillante Bühnentechnik die den gewaltigen Bilderbogen fehlerfrei,wirklich genial zusammenhält, sähe ich hier nur Provinztheatermimen in routiniertester Langeweile.Der Meister ist doppelt besetzt, Margarita gar

14

Page 15: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

15

dreifach, so auch die meisten anderen Rollen. Man spielt nicht miteinander,sondern sagt mehr oder weniger kunstvoll,immer auf der Rampe, die Texte auf. Der Pontius Pilatus von Iwan Rjutschikow ist das Schlimmste. Er röhrt und bramarbasiert als Knattermime, ganz egal, mit wem er es auf der Bühne zu tun hat. Er steckt hinter einem goldgrünglänzenten Bilderrahmen, kann also nur frontal in das Publikum hineindonnern, er sieht seine Partner nicht. So sind die Gespräche mit Jeschua Ha Nozri [Jesus], Filipp Kotow, das reinste Chargentheater.Jeschua monologiert im Klischee des ach so verletzlichen zerlumpten Heiligen. Beide zersetzen die politische scharfe Auseiandersetzung über Macht und Gewalt des Staates bis zur Unkenntlichkeit. Jeschua ist bei Bulgakow kein Leisetreter der Kirchenklischees. Er hat die Wucherer und Betrüger aus dem Tempel gejagt und fordert den Hegemon Pontius Pilatus heraus. Der ist von der Ehrlichkeit Jeschuas überzeugt, muss ihn aber aus Angst vor dem Oberherrscher in Rom zum Tode verurteilen. Im jämmerlichen Spiel der beiden Protagonisten geht jeder Gegenwartsbezug flöten.

Pontius Pilatus – Iwan Rjutschikow

Jeschua Ha Nozri – Filipp Kotow

So gehr es mir aber auch oft beim Meister[Dmitri Wyssozki] und Margarita [Maria Matwejewa].Von einer grossen Liebe kann keine Rede sein. Alles geht aneinander vorbei. Da die Vorstellung kaum zur

15

Page 16: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

16

Ruhe kommt, immer rast etwas hin und her, oder ein gewaltiges Uhrpendel aus Messing ist in Bewegung, haben der Meister und seine Margarita keinen ruhigen Moment mit den Zuschauern.Die grosse Liebesbehauptung bleibt „Theorie“. Dmitri Wyssozki ist am besten im Zusammenspiel während der Irrenhausszenen mit dem Poeten Besdomny – Konstantin Ljubimow. Sie sitzen seitlich auf einer Art Balkon und bekommen Zeit für ihre Geschichten und für ein dichtes Partnerspiel. Maria Matwejewa ist für die Margarita Nikolajewna zu alt und zu routiniert. Im Zusammenspiel mit den Teufelsgestalten im Ball des Satans gewinnt sie an Statur im Vulgären der Hexe. Liebenswert ist diese Margarita keineswegs. Der Messere Voland - Michail Lukin ist,im Unterschied zu Wenjamin Smechow in unseren siebziger Jahren, viel zu jung und „schmalbrüstig“. Der Satan wirkt wie ein Teufelsschüler. Man fragt sich, warum der unbedarfte junge Mann diese weltbekannte dämonische Figur spielt?

Michail Lukin – Voland

Besdomny – Konstantin Ljubimow, Der Meister – Dmitri Wyssozki

16

Page 17: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

17

Margarita Nikolajewna – Maria Matwejewa

Am besten haben mir die Teufelsfiguren Korowjew – Timur Badalbejli und

Asassello – Sergej Trifonow gefallen.

Korowjew – Timur Badalbejli

17

Page 18: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

18

Sergej Trifonow spielt Asassello

Beide sind süchtig nach Partnerbeziehungen. Beide spielen im absoluten Stil des einstmals weltberühmten Theaters an der Taganka. Strenge Figurenprofile und dabei unglaublich artistisch [Korowjew] und magisch unheimlich [Asassello].Warum der nicht den Satan spielt, ist ein undurchschaubares Rätsel.In der Pause wurde ich für meine Begleiter unheimlich. Die Trauer über den Niedergang des Theaters machte mich stumm.Ljubimows Ensemble hatte viele Jahre die Fahne des Widerstands gegen die Breschnew -Typen hochgehalten und uns geholfen, Opposition zu wagen.Bulgakows Roman, Ljubimows Theaterarbeit,das LENKOM THEATER unter Mark Sacharow und die Inszenierungen des STARY THEATERS im polnischen Kraków halfen uns zu einem eigenen künstlerischn Profil. An diesem Abend sah ich hier nichts mehr von aktuellen politischen Kämpfen. Das Haus ist,so hörte ich, immer ausverkauft. Man folgt der Vorstellung wie eine Andacht aus längst vergangenen Zeiten. Aber welche Kraft hätten die Texte Michail Bulgakows im Moskau der „patriotischen Gegenwart“! Abgestumpft. Ich konnte nicht schlafen.

Szenenfoto – „Der Meister und Margarita“

Sonntag, 28. Februar 2016Ich bin erst abends zu einer Probe mit Gia Berdzenishvili in seinem Ensemble verabredet. Also mache ich mich mit der Metro auf den Weg nach Kunzewo. Von der nahen Station Belorusskaja fahre ich mit der braunen Ringlinie bis zum Umsteigebahnhof Kirowskaja und wechsele auf die blaue Linie Richtung Kunzewskaja um. Früher endete hier die Metro, heute kann man weiter bis Kruilatzkaja fahren. Kunzewo wurde 1932 durch den Bau von Stalins Datscha nach Moskau eingemeindet.

Stalins Datscha

Auf dem alten Friedhof wurden unter anderem die sowjetischen Autoren Juri Valentinowitsch Trifonow[1925 -1981] und Wladimir Fjodorowitsch Tendrjakow[1923-1984] begraben. Ihre

18

Page 19: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

19

oppositionellen Bücher machten sie für die Bürokratie suspekt. Sie waren keine Ehrenbürger,durften nicht auf dem prominenten Nowodewitschi-Friedhof im Moskauer Stadtinneren beigesetzt werden. In den achtziger Jahren wirkte mein erster Besuch auf dem heruntergekommenen Friedhof wie eine „Strafexpedition“. Heute sehe ich unter anderem die Gräber von Nonna Mordjukowa [„Die Kommissarin“], Ramón Mercader, dem Mörder Lew Trotzkis. Der britische Spion Kim Philby liegt hier und die Autoren Warlam Schalamow, Wenedikt Jerofejew, Dmitri Wolkogonow und Anatoli Rybakow. Dann stehe ich vor den Gräbern der Filmregisseurin Larissa Schepitko [Aufstieg] und von Alexander Kaidanowski, dem Stalker in Andrej Tarkowskis Film.

https://de.wikipedia.org/wiki/Juri_Walentinowitsch_Trifonow

19

Page 20: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

20

https://de.wikipedia.org/wiki/Wladimir_Fjodorowitsch_Tendrjakow

Über meine Bekanntschaft und Freundschaft mit Juri Trifonow erzähle ich ausführlich auf meiner Webseite. Über ihn lernte ich auch Wladimir Tendrjakow kennen. 1982 inszenierte ich in einer DDR-Erstaufführung „ABRECHNUNG“ nach Tendrjakows Novelle.Die progressive sowjetische Literatur wurde durch den Berliner Verlag „VOLK&WELT“ vertrieben und half uns, oppositionell durch die schwierigen Zeiten zu kommen. Das Ministerium für Staatssicherheit häufte bis Anfang November 1989 Aktenstapel über unsere Theaterarbeit . Sowjetische und polnische Künstler standen uns solidarisch zur Seite. Ich fühle mich an diesem Sonntag auf dem Friedhof in Kunzewo etwas „von Gott verlassen“. Goethes Strophen der Zueignung aus „FAUST EINS „stehen vor mir:

Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?Ihr drängt euch zu! nun gut, so mögt ihr walten,Wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt;Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttertVom Zauberhauch, der euren Zug umwittert…

Sie hören nicht die folgenden Gesänge,Die Seelen, denen ich die ersten sang;Zerstoben ist das freundliche Gedränge,Verklungen, ach! der erste Widerklang.Mein Lied ertönt der unbekannten Menge,Ihr Beifall selbst macht meinem Herzen bang,Und was sich sonst an meinem Lied erfreuet,Wenn es noch lebt, irrt in der Welt zerstreuet…

Schnell fort aus Kunzewo.

Abends sitze ich mit dem Germanistik-Sudenten Igor in der Repetitions-Probe von Gia Berdzenishvilis Inszenierung „Wind“ in einem kleinen Moskauer Kellertheater auf dem Kutusowski-Prospekt.

Rückschau: Brest, 16. September 2015

Wir sahen das Gastspiel einer Moskauer privaten Theaterschule. Sie zeigten die Musical-Choreografie-Performance: WIND.Vier Mädchen und vier Jungen wirbelten uns 80 Minuten wortlos im wahrsten Sinne des Wortes auf. Mit ihnen spielten 6 Musiker auf den ungewöhnlichsten Musikinstrumenten. Alles Gebrauchsgegenstände für eine von mir bisher niemals gehörte Musik. Mittendrin agierten die vier Paare. Die jungen Akteure konnten vom klassischen Tanz über den Fandango,Tango,Rock - sie konnten schlichtweg alles in höchster Profession. Es entstehen Formationen und werden sofort zerstört, führen zu einem nächsten ungewöhnlichen Arrangement.Der Regisseur Georgy Berdzenishvili und ich haben uns sofort befreundet.Wir wollen zusammen ein Brechtprojekt mit erarbeiten… So schrieb ich in meinem Tagebuch für „Theater der Zeit“.

20

Page 21: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

21

Die Rechenbrettnummer wird heute hier probiert.Aus einfachen Klapperbewegungen entwickelt sich ein rasanter Tanz. Die jungen Akteure sind alltags in verschiedenen Moskauer Ensembles engagiert. WIND-Gastspiele in Tula und Woronesch stehen bevor. Der vertraute Umgang mit Gia ist sehr schön. Der Grusinier wird sehr schnell leidenschaftlich laut. Mit seinen Spielern flüstert er fast. Alle sind fantastisch musikalisch und reagieren auf seine leisen Verbesserungen ohne überflüssige Kommentare. Ich fühle mich wie zu Hause. Geduldig verändern sie kleinste Details.Drei Stunden vergehen wie im Fluge. Nach der Probe sprechen wir nur wenig,Gia wird von einem Spieler mitgenommen und Igor bringt mich zur Metrostation Belorusskaja.

Georgy Berdzenishvili in „WIND“

21

Page 22: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

22

Montag, 29. Februar 2016

Moskau, das „Zentrales Haus der Akteure“

Arbat 35, gegenüber vom Wachtangow Theater

Hier ist um 14:00 Uhr mein zweiter Vortrag über die Theaterarbeit Bertolt Brechts im Berliner Endemble von 1949-1956. Den Ablauf habe ich etwas anders gestaltet, Olga Rudakowa und ich wollen uns nicht langweilen. Wir kommen gegen 11:30 Uhr an. Nichts wurde vorbereitet,im Vorstellungsraum finde gar eine Probe statt. Die Mitwirkenden wissen nicht, dass wir hier arbeiten wollen. Der nervöse technische Leiter wird geholt, die Akteure müssen maulend ihre Probe beenden. Dann geht die Vorbereitung völlig problemlos weiter. Der verantwortlich Techniker war Offizier in der DDR und spricht ein absurd lustiges deutsch. Schnell wird alles geordnet, Tische für meine Fotos werden aufgebaut, der Video-Beamer mit einem Laptop gekoppelt und an die Tonanlage angeschlossen. Das Filmbild ist besser als im Fomenko-Theater, der Ton ebenso. Gia warnt uns, er weiss nicht wie viele Zuschauer uns erwarten. Im Foyer steht zwar eine grosse Hinweistafel, aber trotzdem??? Es kommen 63 Interessierte. Aus dem Wachtangow-Theater ist eine Gruppe da. Sie interessieren sich für die „EINUNDZWANZIG KOFFER“ und wollen unbedingt mitspielen.Da ist Darja Pawlowa, Intendantin eines Moskauer „Erundaria Theaters“ und Mitglieder des „Master-Akteur-Projektes-LANDE“, alles enthusiastische junge Leute. Olga und ich fühlen uns sauwohl.

22

Page 23: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

23

Rechts oben sitzt ein strenges älteres Paar, die ihren Brecht aus den abgeschliffenen russischen Übertragungen kennen wollen. Vom Stück „Die Tage der Commune“ haben sie noch nie etwas gehört und sind sehr skeptisch. Die Lieder stimmen sie weicher. Nach über drei Stunden wechseln wir in den Club des Hauses. Gia hat für den Abend eine Vorstellung der Schauspielschule des MChAT verabredet, daraus wird nichts. Wir haben so viel zu besprechen und auch zu feiern, wir sagen den Vorstellungsbesuch ab. Es wird sehr spät. Die Metro nach Mitternacht ist unheimlich. Durch das viele Gelaufe in hallenden Gängen und die wenigen Leute ist man zufrieden über die unendlichen schnellen Rolltreppen wieder auf die Strasse zu kommen.In den Vorräumen sitzen streitende betrunkene Obdachlose… Im nächtlichen russischen Fernsehen sehe ich die OSCAR-Verleihung,komplett vom ersten russichen Kanal übertragen. Schon tagelang vorher fiel mir auf, dass ständig Aufnahmen von Putin und Obama ohne jede Häme zu sehen waren. FORD-Reklame tauchte auf und andere US-Firmen. Der Krieg in Syrien bringt der Putin-Administration die Hoffnung,so nehme ich an, mit den USA wieder auf gleicher Höhe zu agieren. Am nächsten Tage gratuliert Putin Leonarde DiCaprio sogar persönlich zum OSCAR-Gewinn. Frau Merkel hat im Moment schlechtere Karten. Gegen ihre Flüchtlings-Politik feuert die russische Propaganda aus allen Rohren. Mein Ausflug in das DOLBY THEATRE von Los Angeles dauert bis gegen 3:00 Uhr morgens.

Dienstag, 01.März 2016

Wir sind wieder im MChAT verabredet und nähern uns der Konzeption für die EINUNDZWANZIG KOFFER. Margarete Steffins trauriges Schicksal rührt meine Gesprächspartner . Die Frauengeschichten um Brecht sind in Russland völlig unbekannt. Seine Biografie steht auf dem Stand der siebziger Jahre. Dass er niemals Mitglied einer Kommunistischen Partei war löst sogar Verwirrung aus. Hier müssen dringend die Bücher von Jan Knopf übersetzt werden und in das gesellschaftliche Bewusstsein gelangen. Wir suchen unter anderem das Grab von Margarete Steffin und Archivalien ihrer Freundin und Pflegerin Maria Osten, Lebensgefährtin des am 2.Februar 1940 erschossenen Journalisten Michail Kolzow. Grete Steffin starb am 4. Juni 1941. Am 25.Juni 1941 wurde Maria Osten verhaftet und am 16.September 1942 in Saratow erschossen. Arkadi Waksberg berichtet in seinem Buch „Die Verfolgten Stalins. Aus den Verliesen des KGB“[Rowohlt 1993], dass auch Margarete Steffin vom Geheimdienst NKWD beobachtet und überwacht wurde…Gia bringt die Nachricht, dass wir im Fomenko-Theater nicht an einer „Mutter Courage“-Probe teilnehmen können. Der Intendant hätte sie abgesagt. Es wäre in Russland nicht üblich, Theaterproben vor der Premiere zu öffnen. Ein Quatsch, bei Juri Ljubimow oder im Moskauer LENKOM-Theater Mark Sacharows durften wir jederzeit Proben besuchen. Meine Erzählung über Brechts geöffnete Theaterräume hat also nichts bewirkt. Als Ersatz läd uns die Intendanz in eine Vorstellung von Alexander Ostrowskis Komödie „Wölfe und Schafe“ ein. Ich werde mit der Studentin Tanja hingehen. Gia hat mein Formular für die Grenzbeamten verschmissen. Ich brauche vom MChAT einen Stempel über meine Aufenthaltsdauer.Er wollte das erledigen, hat es vergessen und das Formular steckt in seiner anderen Jacke. Also muss er in das ferne Zuhause fahren und den Zettel für den Stempel holen. Wieder ist das Fomenko-Theater ausverkauft. Der liebenswürdige junge Administrator weist uns erneut die Intendantenloge an. Tanja freut sich, nun schon zweimal ins Theater gehen zu können. Vierzig bis fast 50 Euro Eintrittsgeld sind für die Studentin unmöglich. Ermässigungen gibt es keine

23

Page 24: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

24

https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Nikolajewitsch_Ostrowski

“Wölfe und Schafe“ ist in unseren Breiten nicht sehr bekannt. Ein Inhaltsüberblick:

Die Fäden werden in dieser Komödie, der ein wahrer Gerichtsfall zugrunde liegt, von einer gewissen Murzawetzkaja [Madlen Dschabrailowa] gezogen, die zur Sanierung ihres eigenen Gutes ein Auge auf das Vermögen der jungen, reichen und leidlich unbedarften Witwe Jewlampia Nikolajewna Kupawina [Polina Kutepowa] geworfen hat. Ihr Verbündeter in den unredlichen Machenschaften ist das Ex-Mitglied des Kreisgerichtes Wukol Naumytsch[Tagir Rachimow], ein mit allen Wassern gewaschenes Schlitzohr. Der kürzeste Weg, um an das Vermögen der jungen Witwe zu gelangen ist, sie mit dem verblödeten und zum Suff neigenden Neffen Apollon Wiktoritsch[Rustam Juskajew] zu vermählen. Doch der stellt sich derart ungeschickt an, dass die Witwe auf das Werben des Ex-Soldaten nicht anspringt. Nun ist das Talent von Klawdi Gorjetzki[Kirill Pigorow] gefragt, Wukol Naumytschs Neffe und Meister in der Kunst der Kalligrafie. Ein Dokument wird gefälscht, das die Witwe Kupawina um ihr Vermögen bringen könnte, wäre da nicht Wassili Iwanytsch Berkutow[Karen Badalow]. Er hatte der jungen Witwe bereits zu Lebzeiten ihres Gatten den Hof gemacht und die lustige Witwe im Sturm erobert. Nun ist er gekommen, um sie und ihren beträchtlichen Besitz im Handstreich zu nehmen. Das gelingt und plötzlich stellen die lokalen „Wölfe“ fest, dass sie unversehens zu „Schafen“ geworden sind. Es gibt aber auch andere Strategien, sich zu sanieren, wie die verarmte Verwandte von Murzawetzkaja, Glafira Alexejewna [Galina Tjunina] beweist. Lediglich mit weiblicher Raffinesse erobert sie Michail Borissowitsch Linjajew[Alexej Kolubkow], einen ehrenamtlichen Friedensrichter, ein Mann, der die Vorzüge der physischen aber auch der mentalen Horizontalen zu schätzen weiß. Sein Erwachen ist ein ebenso böses…

24

Page 25: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

25

Kupawina – Polina Kutepowa, Anfusa – Galina Kaschkowskaja,

Murzawetzkaja – Madlen Dschabrailowa [von links]

Kupawina – Polina Kutepowa, Anfusa – Galina Kaschkowskaja,

Linjajew – Juri Stepanow, Berkutow – Karen Badalow,

Glafira – Galina Tjunina [von links]

25

Page 26: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

26

Berkutow – Karen Badalow, Kupawina – Galina Kutepowa

Glafira – Galina Tjunina, Kupawina – Polina Kutepowa

26

Page 27: +Moskau.docx · Web viewIm Moskauer Zentralarchiv lagern Original - Briefe und Dokumente Brechts und der Nachlass Margarete Steffins. Den Brechterben gelang es bis heute nicht, sie

27

Linjajew – Juri Stepanow, Glafira – Galina Tjunina

Murzawetzkaja – Madlen Dschabrailowa, Tschugunow – Tagir Rachimow

Ich schwärme für die wunderbaren Frauen in Pjotr Fomenkos Inszenierung[Premiere am 22. 5.1992]. Madlen Dschabrailowa,Polina Kutepowa[sie spielt die Mutter Courage], Galina Tjunina und Galina Kaschkowskaja. So ein unroutinierts Ensemblespiel der vier Schauspielerinnen habe ich in den letzten Jahren nicht gesehen. Die Männer können, bei aller Bemühung, nicht mithalten,sie spielen sie glattweg an die Wand.Wie stolz kann ein Theater sein, wenn sie so begabte Akteure vorstellt. Die Ausstattung war konventionell, etwas muffig, gab nicht so recht den passenden Rahmen für die grossartigen Frauen.Sie rissen uns mit. Das ausverkaufte Theater jubelte…Mit diesem unvergessenen Abend beende ich meine Moskauer Theaterreise. Am nächsten Morgen um 11:00 Uhr reise ich zurück nach Berlin. Mein Dreimonatsvisum gilt bis Ende Mai. Wir treiben unsere EINUNDZWANZIG KOFFER voran.Bald bin ich wieder in Moskau.

11.März 2016 – Peter Krüger

27