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Editorial 4 Rubin 2/06 „Bochum“ und „Russland-Koopera- tion“ – für viele Wissenschaftler in Deutschland und Russland sind dies Synonyme. Bereits in den 1970er Jah- ren begründeten die Ruhr-Universi- tät und das Russikum des Landesspra- cheninstituts (LSI) den Ruf Bochums als beste Adresse, wenn es um Russ- land geht. Dafür sorgten das offene, Osteuropa besonders aufgeschlossene Wissenschaftsleben an der Ruhr-Uni- versität und ein starker Verbund aus Fächern mit Russlandschwerpunkt (Osteuropäische Geschichte, Philoso- phie, Film- und Fernsehwissenschaft, Slavistik). Aber auch das Russikum mit seinem Sprachkursangebot führ- te viele prominente Vertreter aus Wirt- schaft, Medien und Politik sowie un- gezählte Studenten aus ganz Europa auf ihrem Weg in die UdSSR oder nach Russland zunächst nach Bo- chum. Mit der Perestrojka eröffneten sich ganz neue Perspektiven der Zu- sammenarbeit. Mit ihren vielen he- Die Russland-Kooperation der Ruhr-Universität Bochum: Bochums „russische Seele“ Dr. Klaus Waschik Geschäftsführender Direktor des Seminars für Slavistik/ Lotman-Institut für russische und sowjetische Kultur rausragenden und langfristigen Ko- operationsprojekten nahm die Ruhr- Universität bald eine Vorreiterrolle weit über Nordrhein-Westfalen hi- naus ein. Auch ohne „strategische Ent- scheidung“ entwickelten sich die Russlandkontakte zu einem Kernpro- fil der internationalen Arbeit. Mitte der 1990er Jahre nahm die Ruhr-Uni- versität mit fast 50 Kooperationspro- jekten den Spitzenplatz in der Bun- desrepublik ein. „Durch die entstehenden Netz- werke ist die Ruhr-Universität an zahlreichen Standorten Russ- lands präsent und bestens im Wettbewerb der europäischen Universitäten aufgestellt.“ Intensive, von vielen Fakultäten getra- gene Projektaktivitäten bildeten sich innerhalb und außerhalb der offizi- ellen vier Universitätspartnerschaften mit der Lomonosov-Universität, der Russischen Staatlichen Universi- tät für Geisteswissenschaften, Mos- kau, sowie den Staatlichen Universi- täten Minsk und Kemerovo heraus. Durch die entstehenden Netzwerke ist die Ruhr-Universität an zahl- reichen Standorten Russlands prä- sent und bestens im Wettbewerb der europäischen Universitäten aufge- stellt. In den letzten 20 Jahren wur- den an der Ruhr-Universität über 250 Kooperationsvorhaben mit Russland durchgeführt, wobei die Zahl der in- volvierten Hochschullehrer, Wissen- schaftler und Studenten im vierstelli- gen Bereich liegt. Dabei zeichnen sich trotz der gro- ßen Themen- und Disziplinenviel- falt (s. S. 67 bis 69) klare qualita- tive Trends ab: Am Anfang standen Entdeckerfreude und Pioniergeist, der Wunsch, im russischen Reform- prozess mitzuhelfen, was zu einer Vielzahl von Initiativen und Einla- dungen führte. Diese konzentrierten

Editorial - Ruhr-Universität · 2018. 11. 22. · europäische Kulturen (IEK), das Moskauer „Tochterinstitut“ der Ruhr-Universität.“ Das Seminar für Slavistik der Ruhr-Universität

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Editorial

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„Bochum“ und „Russland-Koopera-tion“ – für viele Wissenschaftler in Deutschland und Russland sind dies Synonyme. Bereits in den 1970er Jah-ren begründeten die Ruhr-Universi-tät und das Russikum des Landesspra-cheninstituts (LSI) den Ruf Bochums als beste Adresse, wenn es um Russ-land geht. Dafür sorgten das offene, Osteuropa besonders aufgeschlossene Wissenschaftsleben an der Ruhr-Uni-versität und ein starker Verbund aus Fächern mit Russlandschwerpunkt (Osteuropäische Geschichte, Philoso-phie, Film- und Fernsehwissenschaft, Slavistik). Aber auch das Russikum mit seinem Sprachkursangebot führ-te viele prominente Vertreter aus Wirt-schaft, Medien und Politik sowie un-gezählte Studenten aus ganz Europa auf ihrem Weg in die UdSSR oder nach Russland zunächst nach Bo-chum. Mit der Perestrojka eröffneten sich ganz neue Perspektiven der Zu-sammenarbeit. Mit ihren vielen he-

Die Russland-Kooperation der Ruhr-Universität Bochum:

Bochums „russische Seele“

Dr. Klaus Waschik Geschäftsführender Direktor

des Seminars für Slavistik/ Lotman-Institut für russische

und sowjetische Kultur

rausragenden und langfristigen Ko-operationsprojekten nahm die Ruhr-Universität bald eine Vorreiterrolle weit über Nordrhein-Westfalen hi- naus ein. Auch ohne „strategische Ent- scheidung“ entwickelten sich die Russlandkontakte zu einem Kernpro-fil der internationalen Arbeit. Mitte der 1990er Jahre nahm die Ruhr-Uni-versität mit fast 50 Kooperationspro-jekten den Spitzenplatz in der Bun-desrepublik ein.

„Durch die entstehenden Netz-werke ist die Ruhr-Universität

an zahlreichen Standorten Russ-lands präsent und bestens im Wettbewerb der europäischen

Universitäten aufgestellt.“

Intensive, von vielen Fakultäten getra-gene Projektaktivitäten bildeten sich innerhalb und außerhalb der offizi-ellen vier Universitätspartnerschaften mit der Lomonosov-Universität, der

Russischen Staatlichen Universi-tät für Geisteswissenschaften, Mos-kau, sowie den Staatlichen Universi-täten Minsk und Kemerovo heraus. Durch die entstehenden Netzwerke ist die Ruhr-Universität an zahl-reichen Standorten Russlands prä-sent und bestens im Wettbewerb der europäischen Universitäten aufge-stellt. In den letzten 20 Jahren wur-den an der Ruhr-Universität über 250 Kooperationsvorhaben mit Russland durchgeführt, wobei die Zahl der in-volvierten Hochschullehrer, Wissen-schaftler und Studenten im vierstelli-gen Bereich liegt.Dabei zeichnen sich trotz der gro- ßen Themen- und Disziplinenviel-falt (s. S. 67 bis 69) klare qualita-tive Trends ab: Am Anfang standen Entdeckerfreude und Pioniergeist, der Wunsch, im russischen Reform-prozess mitzuhelfen, was zu einer Vielzahl von Initiativen und Einla-dungen führte. Diese konzentrierten

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sich Mitte der 1990er Jahre zuneh-mend auf längerfristige Strukturent-wicklungsvorhaben zur qualitativen Veränderung von Forschung und Lehre in Russland. Kurz gesagt: Es ging um Hilfe zur (akademischen) Selbsthilfe. Auch die Ruhr-Uni-versität profitierte von ihrer „Russ- land-Orientierung“ durch internatio-nal anerkannte Forschungsergebnisse, neue kreative Produkte, eine verbes-serte Lehre durch Wissenstransfer, neue curriculare Konzepte sowie ein hohes Drittmittelvolumen – von Bo-chumer Wissenschaftlern eigens für diese Kooperation eingeworben. In letzter Zeit verlagert sich der Akzent von der strukturellen Hilfe hin zu stär-ker forschungsbezogenen Projekten und der Gründung gemeinsamer Stu-diengänge im Rahmen des Bologna-Prozesses.

„Zu den besonderen Höhe- punkten der Kooperation gehört zweifellos das mit russischen und französischen Partnern 1995 in Moskau gegründete Institut für europäische Kulturen (IEK), das

Moskauer „Tochterinstitut“ der Ruhr-Universität.“

Das Seminar für Slavistik der Ruhr-Universität gehört zweifellos zu den Pionieren und Promotoren der Zu-sammenarbeit: Einige linguistische Großprojekte, etwa die akustischen Lautdatenbanken und textlinguisti-schen Forschungen, gehen bis in die 1980er Jahre zurück. Mit der Grün-dung des Lotman-Instituts für rus-sische und sowjetische Kultur wurde 1989 ein neues Kapitel in der Russ-landkooperation aufgeschlagen. Be-reits durch seine Struktur auf Wis-senschaftsaustausch angelegt, führ-te das Lotman-Institut inzwischen etwa �0 umfangreiche Forschungs-vorhaben mit einem Fördervolumen von etwa zehn Mio. Euro durch: u.a. zu den deutsch-russischen Kulturbe-ziehungen im 20. Jahrhundert (Fort-führung des Lew-Kopelew-Projekts), zur sowjetischen Kulturpolitik im In- und Ausland, zur Plakat- und Medien-kultur, zur sowjetischen Nachkriegs-

kunst und zur Kulturentwicklung der 90er Jahre. Die Entstehung vielfäl-tiger Kontakte zu Wissenschaft, Wirt-schaft und auch Politik in den Regi-onen Russlands bildeten einen posi-tiven Folgeeffekt. Zu den besonderen Höhepunkten der Kooperation gehört zweifellos das mit russischen und französischen Partnern 1995 in Moskau gegründete Institut für europäische Kulturen (IEK), das Moskauer „Tochterinstitut“ der Ruhr-Universität. Es bietet seit über zehn Jahren einen Zusatzstudiengang im Bereich europäischer Kulturwissen-schaften an. Durch eine kulturwis-senschaftliche Ausbildungseinrich-tung westlichen Standards wollte das Institut, so die Gründungsidee, einen aktiven Beitrag zur Reform der Kul-turwissenschaften in Russland leisten. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten und mancher bürokratischer Hürden kann dieses Ziel nach elf Jahren er-folgreicher Institutstätigkeit mit über 200 Absolventen als weitgehend er-reicht angesehen werden.Bei der Einrichtung des Instituts für europäische Kulturen (IEK) stand das Bochumer Lotman-Institut mit sei-nem interdisziplinären und interkul-turellen Wissenschaftskonzept Pate. Inzwischen hat sich die Brücke „Lot-man-Institut – IEK“ zunehmend zu einer Plattform für gemeinsame For-schung und innovative Ausbildungs-modelle und -instrumente entwickelt, mit dem Ziel, die Qualität der Bochu-mer wie der Moskauer Lehre zu opti-mieren. Die Integration deutscher, vor allem Bochumer Hochschullehrer in Seminare und „Meisterklassen“ des IEK sowie die bislang fünf gemein-sam mit russischen und europäischen Partnern organisierten Sommer- und Winterakademien zum Thema „Russ- land und Europa“ waren erste Baustei-ne. Zusammengefügt werden sollen sie in dem gemeinsamen Master-Stu-diengang „Russische Kultur“, der – in dieser Form einzigartig in Deutsch-land – eine auf russischer und deut-scher Seite inhaltlich wie funktio-nal identische Modulstruktur besitzt. Bochumer wie Moskauer Studierende können damit „bruchfrei“ einen Teil

des Studiums bei dem jeweiligen Part-ner absolvieren – ein Bochum-Mos-kauer Doppeldiplom rückt in greif-bare Nähe.Abgerundet wurde das Russland-Pro-fil der Ruhr-Universität durch öffent-lichen Auftrag: 199� richtete das Mi-nisterium für Wissenschaft und For-schung NRW am Lotman-Institut die Landesbeauftragung für die Wis-senschafts- und Hochschulkoopera-tion mit Russland ein, die bis 2005 Funktionen in Koordination, Projekt-anbahnung und Monitoring erfüllte. Eingang fand diese Aufgabe auch in die Zielvereinbarung II der Ruhr-Universität. Diese Dienstleistung für Hochschulen und Fachhochschulen in NRW zukünftig auszugestalten, bleibt eine Herausforderung für die nächs-ten Jahre.Die Russland-Kooperation hat den Hauch des Exotischen verloren und läuft heute – im Bundesmaßstab – eher Gefahr, aus der Normalität wie-der in die Marginalität abgedrängt zu werden, was nicht zuletzt aus den Schließungen oder massiven Kür-zungen zahlreicher slavistischer Ins-titute resultiert. Dennoch bleibt Russ- land mit seinen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Potentialen ein maßgeblicher Bezugspunkt für Nord-rhein-Westfalen und selbstverständ-lich auch für die Ruhr-Universität. Zukünftige Aktionsfelder liegen da-her sicher auch weiterhin in gemein-samen Forschungsprojekten und -verbünden, aber auch in integrierten deutsch-russischen Studiengängen, vor allem in der Master- und post-gradualen Ausbildung. Die Nutzung russischer Lehrangebote kann – ohne dem „out-sourcing“ akademischer Lehre das Wort reden zu wollen – zu einer interessanten Perspektive in der Hochschulkooperation werden. Dies könnten in Zukunft nicht nur knappe Kassen diktieren, es wäre für manche Wissenschafts- und Technologiebe-reiche – als beidseitiger „brain gain“ – auch ein Gebot der Stunde. Die Ruhr-Universität wird hier ihre führende Stellung in der Russland-Koopera-tion auch weiterhin behaupten.

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News

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Russland-Kooperationen

Quer durch die FakultätenDie Russland-Kooperationen der Ruhr-Universität sind vielfäl-tig und können hier nicht vollständig erfasst werden. Der Bogen spannt sich über fast alle Fakultäten, von der Physik, Astronomie und Elektrotechnik über die Geowissenschaften, Botanik, Chemie, Mathematik, Biologie, Rechts- und Sozialwissenschaften bis in die Geistes-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, die innerhalb der Zusammenarbeit einen „natürlichen“ Schwerpunkt bilden. Stellver-tretend für diese bunte Kooperationslandschaft stehen hier:

* die Kooperation der Fakultät für Mathematik mit der Mos-kauer Staatsuniversität und der Akademie der Wissenschaften (Prof. Zieschang, http://www.ruhr-uni-bochum.de/ffm/), die auch zum Aufbau eines deutsch-russischen Instituts für Wissenschaft und Kultur an der Lomonosov-Universität führte,

* die langjährige Kooperation in der Experimental- und Fest-körperphysik mit Kazan’ (Prof. Zabel, 0234/32-23649, http://www.physik.ruhr-uni-bochum.de/),

* der Aufbau eines literaturwis-senschaftlichen Zusatzstudien-gangs Germanistik in Kazan’ (Prof. Wagner-Engelhaaf),

* das Projekt „Entwicklung, Erprobung und qualitative Eva-luation eines Curriculums zur Deutschlehrerausbildung“ (Prof. Bausch, 0234/32-25182, http://www.rub.de/slf/, Dr. Hel-big),

* gemeinsame Forschungen im Bereich Öffentliches Recht und Rechtssoziologie (Prof. Ipsen, 0234/32-22822, http://www.ruhr-uni-bochum.de/dekanat/jura-2/, PD Dr. Ma-chura, 0234/32-26868, http://www.rub.de/jura/),

* das Projekt Experimentel-le Mineralogie und Petrologie in Russland (Prof. Maresch, 0234/32-23511, http://www.ruhr-uni-bochum.de/gmg/, Dr. Grevel, 0234/32-23517, http://www.mineralogie.ruhr-uni-bochum.de/),

* die langjährige Kooperation der Fakultät Elektrotechnik mit der Universität Minsk (Prof. Schiffner, 0234/32-28062, http://www.aept.ruhr-uni-bochum.de/),

* die Gemeinschaftsfor-schungen zur sowjetischen Geschichte mit der Univer-sität Kemerovo, Tomsk, Bar-naul u.a. (Prof. Bonwetsch, 0234/32-22635, http://www.ruhr-uni-bochum.de/geschichte/Historicum/),

* das „Modell Bochum“ zur Weiterqualifizierung russischer Germanisten (Prof. Klussmann, 0234/32-28863, http://www.ruhr-uni-bochum.de/deutschlandfor schung/, Prof. Eimermacher),

* das Projekt „Philosphische Textedition in Russland: Dilthey, Husserl Heidegger“ (Prof. Haardt, 0234/32-24730, Dr. Plotnikov, 0234/32-25915, http://www.rub.de/philosophy),

* die Kooperationen mit rus-sischen Auslandsgermanisten (Prof. Grosse, 0234/32-22572, http://www.rub.de/germanistik/),

* die Entwicklung computer-gestützter Sprachkurse Wirt-schaftsenglisch für Russen (Prof. Hamblock, Dr. Bukow, 0234/32-23575, http://www.ep3.rub.de/lehrstuhl/people.htm),

* das Kooperationsprojekt zur germanistischen Linguistik (Prof. Fluck, 0234/32-25099, http://www.rub.de/germanistik/) mit der Universität Ulan-Ude,

* das Projekt „Muslim Cul-ture in Russia and Central Asia from the 18th to the 20th Centu-ries“ (Prof. Reichmuth, 0234/32-25125, http://www.rub.de/orient/Dr. von Kügelgen)

* das Internationale „Promo-tionskolleg Ost-West“ (Prof. Klussmann, 0234/32-28863, http://www.rub.de/deutschlandforschung/, Prof. Eimermacher)

* das Kooperationsprojekt zur Dokumentation und Analyse der sowjetischen Kulturpolitik (Prof. Eimermacher, Dr. Waschik, 0234/32-23368, http://www.rub.de/lirsk/) mit sechs russischen Staatsarchiven.

* das Bochum-Tomsker Projekt zur Herstellung von Einkris-tallen, Institut für Werkstoffe (Prof. Eggeler, 0234/32-28022, http://www.ruhr-uni-bochum.de/iw/),

* die Russlandforschungen der Arbeitsstelle für vergleichende Bildungsforschung (Prof. An-weiler, 0234/32-26083, http://www.ruhr-uni-bochum.de/paedagogik/, Dr. Kuebart),

Bulkin S. N., Micheeva E. A.: Pluralismus. Alternative. Argument. 1989

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News

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Rubin 2/06Russland-Kooperationen

Aktuelle Forschungspro-jekte am Seminar für

Slavistik/Lotman-Institut

Nach einer Phase strukturel-ler Neuorientierung werden ge-genwärtig folgende Forschungs-vorhaben durchgeführt: Fa-schismus in Polen 1926-1939, Dostoevskij und die russische Emigration, Editionsprojekt: Die Redaktionskorrespondenz der Pariser Exilzeitschrift „Sov-remennye zapiski“, Kontinu-ität und Diskontinuität in der Transition von der Sowjetunion zu Russland, Literaturtheorien im 20. Jahrhundert, Editions-projekt: Michail Bachtins frü-he philosophische Prosa (Prof. Schmid), zwei medien- und kul-turhistorische Projekte zur Pla-katkultur der Revolution und zur Geschichte des frühen sow-jetischen Dokumentarfilms (Dr. Waschik) sowie Forschungen zu deutschen Schriftstellern im sowjetischen Exil (Dr. Hart-mann).In Vorbereitung befinden sich umfangreiche Projektvorhaben zur aktuellen kulturellen und politischen Situation: „Russ-land im Kampf der Kulturen“. (Gegenwärtige und zukünftige Orientierungen Russlands zwi-schen Europa und Islam), „Russland als Design. Symbo-lische Politik und mediale In-szenierung“ (heutige Mecha-nismen und Strategien in Me-dien, Staat und Gesellschaft),

„Sowjetische Lebensstile im 20. Jahrhundert“. Außerdem verfolgt das Institut ein grö-ßeres didaktisches Projekt zur Vermittlung russischer Sprach-kenntnisse (RussianHQ).

Institut für Europäische Kulturen

Das Moskauer „Tochterinsti-tut“ der Ruhr-Universität Bo-chum bietet zum Wintersemes-ter 2006/07 seinen gemeinsam mit dem Lotman-Institut getra-genen Masterstudiengang zur russischen Kultur an. Im Au-gust/September 2006 veranstal-tet das Institut, ebenfalls in Ko-operation mit Bochum, an der Taurischen Nationaluniversität Simferopol eine Internationale Sommerakademie zur Bedeu-tung der Krim in der russischen Kultur unter dem Titel „Russ-lands Traum vom Süden“. Das Institut für Europäische Kul-turen bietet zudem für alle Ein-richtungen der Ruhr-Univer-sität Bochum Service- und Dienstleistungen bei der Kon-taktfindung und Projektanbah-nung mit russischen Partnern aus Hochschule und Wissen-schaft an. Ansprechpartner in Moskau ist die Leiterin des Instituts Frau Kudrjavceva (Tel./Fax: +7-499-9734467; E-Mail: [email protected]).

Links zur Russland-Kooperation

http://www.rub.de/semifslavistik bzw. http://www.rub.de/lirsk Homepage des Seminars für Slavistik bzw. des Lotman-Ins-tituts (RUB)

http://www.owwz.de/ Ost-West-Wissenschaftszent-rum der Universität Kassel

http://www.kulturportal-russland.de/ Kulturportal des Deutsch-Rus-sischen Forums e.V.

http://www.deutsch-russisches-forum.de/ Deutsch-Russisches Forum e.V.

http://www.russlandpartner.de Informationsportal der Deutsch-Russischen Städte-partnerschaften und regionalen Kooperationen

http://www.petersburger-dialog.deInformationsportal zur deutsch-russischen Zusammenarbeit

http://www.ruhr-uni-bochum.de/lirsk/landesbeauftragung/landesbeauftragung.htmPublikationen (download) zur Russlandkooperation 1993 – 2005

http://www.iek.edu.ru Server des Instituts für Europä-ische Kulturen Moskau (in rus-sischer Sprache)

Ansprechpartner für die Russland-Kooperation der Ruhr-Universität Bochum:

Dr. Klaus WaschikSeminar für Slavistik/Lotman-Institut für russische und sow-jetische KulturUniversitätsstraße 150GB 8/15744801 BochumTel.: 0234/[email protected]

Nemkova T. M.: Die Agrarpo-litik der Partei ist die Gewähr unserer Erfolge. 1989

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Geisteswissenschaften

Werben für die UtopieK. Waschik

Wie kein anderes Medium hat das Plakat das politische Leben in Russland abgebildet und mitbestimmt, die Be-findlichkeiten der Bürger und der Machthaber gespie-gelt und beeinflusst. Seine wechselvolle Entwicklung über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg haben rus-sische und deutsche Forscher gemeinsam studiert und analysiert.

Dr. Klaus Waschik, Lotman-Institut für russische und sowjetische Kultur, Fakultät für Philologie

Russische Plakatkunst des 20. Jahrhunderts:

Moskau. September 1919. In Russ- land tobt seit eineinhalb Jahren

ein heftiger Bürgerkrieg zwischen der noch jungen Sowjetmacht und ihren Gegnern, den Armeen der „Weißen Bewegung“ und ihren ausländischen Verbündeten. Das Schicksal der Re-volution steht in diesen Herbstmona-ten auf des Messers Schneide. Weiß-russische Truppen marschieren von Süden und Osten unter General De-nikins und Admiral Koltschaks auf Moskau zu, im Norden droht die Ein-nahme Petrograds durch die Weißgar-disten unter General Judenitsch.

In jenen Tagen des Spätsommers 1919 bemerkt der wohl prominenteste Dichter der Revolution, Vladimir Ma-jakovskij, in Moskau in den staubigen und durch Hunger, Aufstand und Not leergefegten Vitrinen der ehemaligen Luxusgeschäfte Plakate, die nicht nur seine Aufmerksamkeit fesseln, son-dern auch für die nächsten Jahre sein Schaffen nachhaltig verändern. In den Schaufenstern hängen großforma-tige, handgefertigte Plakate, die Sinn und Ziele der Revolution, den militä-rischen Alltag, neue Gesetze und Ver-ordnungen, letztlich die Kernpunkte

Abb. 1:Vladimir Majakovskij:

Die Welt steht auf einem Vulkan (1921)Das Plakat wurde aus Anlass des Dritten

Komintern-Kongresses (Juni/Juli 1921) herausgegeben. Majakovskij gehörte zu

den führenden Künstlern der Russischen Nachrichtenagentur ROSTA, die zwischen

1919 und 1922 zahlreiche Plakate zu Bürgerkrieg und Wiederaufbau in Form

von Bildergeschichten mit gereimten Texten publizierte. Sie bildeten auch die Ursprün-

ge des russischen Zeichentrickfilms. Die mehrbildrigen, Comic-ähnlichen Plakate

wurden als ROSTA-Fenster bezeichnet, da sie oft in den gleichnamigen leeren Schau-

fenstern hingen.

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Geisteswissenschaften

Das durch die Thyssen-Stiftung unter-stützte deutsch-russische Projekt ver-folgte das Ziel, zentrale Entwicklungs-aspekte des russischen und sowjetischen Plakats vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur jüngsten Gegenwart auf der Ba-sis umfangreicher Originalmaterialien zu analysieren. Im Zentrum stand die Fra-ge nach Charakter, Strukturen und Funk-tionen der russischen und sowjetischen Plakatentwicklung und ihre Einbindung in den Kontext historisch-politischer, ide-ologischer und anderer medialer Systeme der russischen und sowjetischen Kultur. Dr. Nina Baburina (Russische Staatsbib-liothek Moskau) und Dr. Klaus Waschik (Ruhr-Universität Bochum) begannen be-reits 1992 mit Dokumentationsarbeiten zum Aufbau einer digitalen zweispra-chigen Datenbank zum russischen Plakat (Werke und Künstler). Der gegenwärtige Datenbestand umfasst ca. 4.000 Plakate und 1.000 Künstlerviten, zahlreiche Quel-lenmaterialien, Sekundärpublikationen und Ausstellungsverzeichnisse sowie ein Fotoarchiv. Ab 199� wurden die Recher-chen auf Russische Staatsarchive, Künst-lerverbände und Bibliotheken im Hinblick auf die sowjetische Agitations- und Propa-gandapolitik ausgeweitet, die in Koopera-tion mit den ehemaligen zentralen Partei-archiven (RGASPI, RGANI), dem Staats-archiv der Russischen Föderation, dem Staatsarchiv für Literatur und Kunst so-wie dem Staatsarchiv für Kino- und Foto-dokumente (Krasnogorsk) mit Unterstüt-zung der Deutschen Forschungsgemein-schaft durchgeführt wurden.

der neuen sowjetischen Zivilisati-on erklären und Anhänger gewinnen wollen: die „ROSTA-Fenster“ („ROS-TA = Russische Telegrafenagen-tur“), mehrbildrige und an frühe Co- mic-Strips erinnernde Plakate der Rus-sischen Nachrichtenagentur (Abb. 1). Majakovskij schließt sich spontan der Gruppe der ROSTA-Künstler an und wird schnell zu ihrem wichtigsten Protagonisten.Diese Herbsttage sind auch die eigent-liche Geburtsstunde des sowjetischen Plakats, das sich – aus dem Enthusi-asmus der Revolution und den Zwän-gen des Bürgerkriegs geboren – die Propagierung einer zivilisatorischen und politischen Utopie mit weltwei-ter Gültigkeit auf seine Fahnen schrei-ben wird. Wie kein anderes visuelles Medium dieser Zeit wird sich das Pla-kat ins Gedächtnis der Menschen ein-schreiben; es wird Denkweisen und Vorstellungswelten prägen, fordern, verdammen und trösten, zum Wider-stand aufrufen und suggerieren, dass

die geschichtliche Entwicklung der Welt vollbracht sei. Sein Umfeld ist die Kultur des Sehens, seine Aufgabe: Werben für die Utopie. Damit wird die „Kunst der Straße“ zum zentra-len Baustein visueller Kommunikati-on in Russland.

Die Kunst der Straße

Utopie ist dabei nicht nur als poli-tische Vision zu verstehen, Utopie meint auch – vor allem vor 191� – den noch offenen Raum einer wohlent- wickelten bürgerlichen Konsumwelt (Abb. 2), nach 1985 dann die Hoff-nung auf eine demokratischere rus-sische Gesellschaft, zu deren Verwirk-lichung das engagierte politische Pla-kat mit kraftvoller Kritik sowjetischer Missstände beiträgt. Die Utopie der Plakate ist virtueller Raum des his-torisch-politisch Angestrebten, des Sein-Sollenden. Gleichzeitig ist sie jedoch auch die konkrete Bestim-mung des allgemein Wünschbaren in

Abb. 2: Unbekannter Au-tor: Dampffabrik

für Konfekt, Scho-kolade und Ka-

kao. Handels-haus D. Kromskij. Char‘kov. (1912)Werbung für den Luxus einer bür-gerlichen Gesell-

schaft. Die Pro-duktreklame An-

fang des Jahr-hunderts richtete

sich nur an We-nige, eher die be-güterten Schich-

ten der russischen Gesellschaft.

info1

Seit seiner Entstehung Mitte des 19. Jahr-hunderts wurden ca. 400.000 Exemplare veröffentlicht, ca. das Dreifache im Ver-gleich zum deutschen Plakat, darunter viele in unterschiedlichen Sprachvari-anten der ehemaligen Sowjetrepubliken. Zentralen Anteil an diesen Werken, die oft in Auflagen von über 50.000 Exemp-laren gedruckt wurden, besitzen politische Themen. Aber auch der Film- und Veran-staltungswerbung kommt großes Gewicht zu. Systematisch erfasst wurden diese Plakate vor allem nach 1925 durch die ehemalige Lenin-Bibliothek (heute Russische Staats-bibliothek), das Historische Museum, das Museum für die Zeitgeschichte Russlands in Moskau und die Saltykow-Shchedrin-Bibliothek in St. Petersburg.

Russisches und sowjetischesPlakat

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Internationale KooperationRussland

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Geisteswissenschaften

seiner permanenten politischen wie sozialen Veränderung: Die Utopie (von griechisch topos, Nicht-Ort) be-kommt paradoxerweise ein Gesicht, wird verortet.Wie kein anderes Bildmedium wurde das russische Plakat im Verlauf des letzten Jahrhunderts zur emotionalen und kognitiven Veränderung des Indi-viduums und großer Kollektive einge-setzt. Mehr noch: das Plakat diente – verständlich im Kontext einer weitge-hend bildmedienlosen Zeit und einer noch stark agrarisch geprägten Ge-sellschaft – als Institution zur Gewin-nung neuer zivilisatorischer Funda-mente. Deren Bandbreite schloss öko-nomische und politische Handlungs-

normen genauso ein wie Alltags- und Hygiene-Anweisungen, ethische Wer-te, Gefühlsorientierungen und ideolo-gische Denkmuster (s. Abb. 1). Das russische bzw. sowjetische Plakat ver-fügte über keinen propagandistischen Master-Plan, aus dem heraus die 191� anbrechende „neue Welt“ hätte defi-niert werden können. Obwohl Auf-tragsmedium und damit dem poli-tisch-ideologischen Diskurs verhaftet, entwickelt sich das Plakat spontan, oft unkoordiniert, lange Zeit an eigenen stilistischen Traditionen stärker orien-tiert als an Parteiverordnungen oder -aufträgen. Das Plakat entsprach, vor allem in seiner Disziplinierungsfunk-tion, dem sozialen Regelwerk der sich herausbildenden und mehrfachen Um-brüchen ausgesetzten russischen wie

de für die Rezipienten die politisch-ethische Welt hinter den Strukturen der Macht, das Beziehungsmuster, das diese Strukturen zu den sozialen Gruppen aufbauten. Die Durchsich-tigkeit erlaubt daher Einblicke in die Metakommunikation (Aussagen über Beziehungen) zwischen Staat und Par-tei einerseits und den Adressaten an-dererseits in ihrem spannungsvollen Wandel (s. Abb. 4).Übergeht man in diesem Zusammen-hang einmal die vorrevolutionäre Zeit, in der die Produkt- und Veran-staltungswerbung – vergleichbar mit Westeuropa – dominierte, konzent-rierte sich das Bildkonzept der frü-hen nachrevolutionären Jahre vor

allem auf die Zersetzung alter Ord-nungen, aber auch auf die Installati-on eines neuen Grundverstehens der Welt. Das mediale Verfahren, das dieser Kommunikationsform weit-gehend zugrunde lag, bestand in ei-ner Kopie des Neuen in die vorfind-lichen Bewusstseinsstrukturen, eine schnelle Folge einander ablösen-der Bildinhalte, die vor allem militä-rischen und damit mobilisatorischen Funktionen (Russischer Bürgerkrieg) folgten. Wenngleich die direkte Dar-legung (Explikation) fest im Arsenal der Überzeugungsmittel – als Propa-ganda im Gegensatz zur Agitation – vorgesehen war und in den ROSTA-Fenstern auch zahlreich praktiziert wurde, lag das Schwergewicht des Medienkonzepts des frühen Plakats

Abb. 3:Anton Lavinskij:

Panzerkreuzer Potjomkin (1925)Ein Filmplakat zu Sergej Eisensteins

berühmtem Werk. Wie der Regisseur ver-wendete auch Lavinskij das Montagever-

fahren, in dem sich wesentliche Merkmale des konstruktivistisch geprägten Stumm-

filmplakats der 1920er Jahre manifes-tierten – ein Merkmal für die Innovationskraft des Genres.

sowjetischen Gesellschaft. Es formu-lierte selbst oft diese Regeln in bild-lichen Formen oder spielte diese in verständlicher Weise in die Gesell-schaft zurück.Diesem Sog aus politisch-weltan-schaulichem Durchsetzungsanspruch und neu geschaffenen sozialen Kom-munikationsbedürfnissen teilwei-se entziehen konnten sich stärker in-formierende Plakate wie etwa Film-, Theater- und Reklameplakate (Abb. 3). Positiv wirkte sich die relative Machtferne dieser Genres beson-ders auf stilistische Innovation wie kommunikative Frische und Effizi-enz aus, wenngleich es in Zeiten ei-ner massiven ideologischen Über-

wölbung der Gesellschaft kein stilis-tisches Experiment, keinen gewagten thematischen Entwurf ohne eine spür-bare und durch die Auftragsinstanzen kritisch beäugte ideologische Konno-tation geben konnte.

Die Janusköpfigkeit des Plakats

Die Janusköpfigkeit des Plakats – vi-suelle „Erweiterung“ der normie-renden Machtstrukturen einerseits und Welterschließungsmechanis-mus sozialer Gruppen andererseits – machte das Plakat als Medium trans-parent. Die Medialisierung als solche bewirkte unweigerlich Durchsichtig-keit, den Blick hinter die konkret ver-mittelte Nachricht. Erkennbar wur-

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Abb. 4: Galina Shubina: Weit ist mein Heimatland (1938)Das Motiv stammt aus dem Film „Zirkus“ von Georgij Aleksandrov (1936), ebenso wie das gleichnamige bekannte Massenlied der 30er Jahre. Im Film wie im Plakat wird die idyllische Vision einer sorgen- und konfliktfreien Gesellschaft entwickelt, der Prototyp der stalinisti-schen Utopie. Film, Plakat und Lied bildeten ein abgestimmtes Medi-enkonzert, mit dem Optimismus und Zuversicht, gleichsam als Gegen-gewicht zu Terror und Verfolgung, vermittelt werden sollten. In die-sem krassen Gegensatz zeigte sich die Absicht hinter der Darstellung.

Abb. 5:Jurij Bondi: Ich glaube, wir werden den hun-dertsten Jahres- tag begehen (1920)Das Plakat hing im ROSTA-Fens-ter in Kostroma und wurde zum dritten Jahrestag der Oktoberre-volution heraus-gegeben. Bondi überträgt die Dy-namik der revo-lutionären Zei-tenwende auf das graphische Me-dium.

nicht hier. Kopie des Neuen und Er-setzung des Alten generierten das Pa-thos, aber auch die Effizienz, mit der das Plakat zielgerichtet und bewusst eine antibürgerliche Haltung einnahm und damit auch die Kommunikations-stilistik veränderte (Abb. 5). Konterkariert wurde die Vereinfa-chung der visuellen Kultur für das Volk (Plebejisierung) allerdings durch den Anspruch der Avantgarde auf eine künstlerische Komplexitätssteige-rung. Dieser Anspruch wuchs gerade in einer Zeit der Reproduzierbarkeit, in der das Werk nicht mehr der Aura des Originals verpflichtet war. Dieser Widerspruch wurde erst durch die Un-terdrückung der letzten Avantgarde-tendenzen durch die Partei Ende der 1920er Jahre „aufgelöst“.Ende der 1920er Jahre befindet sich die Sowjetunion in einem gewalt-samen Industrialisierungsprozess ungeheurer Ausmaße. 1928 beginnt der erste Fünfjahrplan, der das vor-mals weitgehend agrarische Russland an die Spitze der europäischen Indus-triemächte katapultieren soll. Jetzt ist eine Propaganda gefragt, die Arbeit heroisiert und Konsumverzicht plau-sibilisiert. Das künstlerisch wertvolle, in seiner Abstraktion jedoch für seine Rezipienten oft unverständliche Pla-kat der Avantgarde gerät zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik. Mit einer Parteiverordnung versucht man 1931, der Lage Herr zu werden und das Pla-

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Abb.6:Vladimir Ko-

nonov: Vergiss nicht die eine

Wissenschaft – Brot wird aus

der Erde und der Hände Arbeit ge-

boren (1979)Das Plakat ist

ein typisches Beispiel für das spätsowjetische Plakat, das – in

pathetischen Lo-sungen und hero-ischen Posen er-starrt – nur noch geringe Überzeu-gungskraft besaß. Diese Zeit Leonid Brezhnews sollte später als „Ära des Stillstands“

in der sowje-tischen Gesell-

schaft bezeichnet werden.

Abb. 7:Viktor Maer: Ohne Titel (1988)Das Plakat stand formal im Kontext der Anti-Alkoho-lismus-Kampag-ne Michail Gor-batschows, ver-weist aber nicht auf die Produkti-onsausfälle oder gesundheitlichen Schäden, die durch den Alkoholmiss-brauch entstehen, sondern thema-tisiert des Elend vernachlässigter Kinder, die un-ter alkoholabhän-gigen Eltern zu lei-den haben.

kat endgültig in den Dienst der Re-volution zu stellen. Mit spektakulären Auftritten formuliert Gustav Klucis seine Theorie des Photomontagepla-kats, durch das ein Restbestand kons-truktivistischen Denkens – gegen die Vorherrschaft sozialistisch-realisti-scher Wunschbilder – in der visuellen Kultur Russlands für einige Jahre er-halten werden kann (s. Abb. �) Dennoch: Das nun folgende Medien-modell setzte stärker auf Integration, bedingt durch den Kontext des indus-triellen Aufbaus, der vor allem iden-tifikatorische Leistungen voraussetzte (s. Abb. 4).

Uniformität des visuellen Gedächnisses

Das Medium Plakat musste, wollte es in der jetzt neuen Situation Erfolg ha-ben, seinen Rezipienten integrieren, aber auch in das Bewusstsein des Re-zipienten integriert werden. Die Ge-schwindigkeit der Plakatproduktion und die Anzahl der verlegten Exemp-lare nahmen ab, dafür wuchs die Uni-formität des visuellen Gedächtnisses, womit das sowjetische Plakat der 1930er bis 1950er Jahre den Stan-dards totalitär kontrollierter Massen-kommunikation entsprach.„Keine Angst vor Symbolen“, so lau-tete zusammenfassend die Formel, mit der die Plakatkünstler der 1950er Jah-re das kulturelle Tauwetter im Plakat einläuteten und den Kanon des partei-lichen Bildverständnisses aufweich-ten, nachdem es in den 19�0er und �0er Jahren keine bedeutenden Me-dienumbrüche gegeben hatte. „Kei-ne Angst vor Kritik“ stellte indes das Credo der späten 1980er Jahre dar. Angestiftet durch Gorbatschows Poli-tik der Glasnost durchbricht das sow-jetische Plakat die vormals heilig ge-haltenen Areale des politischen Ta-bus, und wieder magnetisiert es die Menschen der Straße, die es wie be-reits zur Zeit der ROSTA-Fenster vor den Vitrinen der (erneut) leeren Ge-schäfte oder skandalumwitterten Aus-stellungen innehalten lässt (Abb. �). Einen erneuten Wandel im medialen Grundverständnis des Plakats zeitigte

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Abb.8: Vera Korableva, Komm, Genosse, zu uns in die Kolchose (1930)Das Plakat entstand kurz vor der Kollek-tivierung der sowje-tischen Landwirtschaft und sollte die Bau-ern überzeugen, den staatlich eingerichte-ten Kolchosen beizu-treten. Da sich die ur-sprünglich als freiwil-lig ausgegebene Ak-tion schnell zu einer Zwangsmaßnahme entwickelte, bemühten sich die Plakatkünst-ler, ein heiteres, zu-kunftweisendes Bild des ländlichen Lebens zu zeichnen.

daher das Plakat der Perestrojka: In gewisser Weise kehrte es zu dem Mo-dell der frühen 1920er Jahre zurück und konzentrierte sich in seiner ide-ologiekritischen Funktion wiederum auf Zersetzung und Zerfall, diesmal allerdings der Normen- und Verhal-tenswelt der Sowjetzeit. Und erneut waren es Muster des Kopierens neuer Einstellungen und Bewertungen in das oftmals unvorbereitete, wenngleich nicht hierfür generell verschlossene Rezipientenbewusstsein, mit denen die Kritik an Brezhnev, Stalin, später Lenin und der Oktoberrevolution ve-hement vorgebracht wurde.

Plakate steuern, worüber nachzudenken sei

Für das russische Plakat zu allen Epo-chen seiner Entwicklung gilt, dass es als visuelles Medium eine zentra-le Thematisierungsaufgabe wahrge-nommen hat: Plakate steuerten, wo-rüber nachzudenken und wie zu han-deln sei, wie das Beispiel in Abb. 8 von 1930 zeigt. Sie lenkten millio-nenfache Wahrnehmung, legten die Zielbildung von Aufmerksamkeit fest. Was durch Plakate auf die Ta-gesordnung gesetzt wurde, ordnete die Aufmerksamkeit und damit letzt-endlich auch die Perspektivierung des Wahrzunehmenden. Wenn daher heu-te nach Strukturen visueller Gedächt-nisse Russlands gefragt wird, ist die Institution Plakat, zumindest bis zum Triumphzug des Fernsehens, die Do-mäne, auf die noch lange zurückge-griffen werden muss. In unmittelbarer Verbindung zu den medialen Basiskonzepten des Plakats stehen seine kommunikativen Aus-richtungen. Die Konzepte, auf denen die Plakate des 20. Jahrhunderts be-ruhen, zeigen den Wechsel von Appell und Admiration der politischen Macht, Überzeugungsanspruch und Identi-tätsstiftung, das Wertesystem bestim-mender Macht und kritischer Distanz. Aus Sicht der leid- wie freudvollen russisch-sowjetischen Zeitgeschich-te wird dieser Wandel erklärbar und verständlich. Man muss davon ausge-hen, dass jede Epoche diejenige medi-

ale Form von Plakat hervorbringt, die den sozialen wie politischen Struk-turen dieser Zeit am ehesten ent-spricht; in diesem Eingepasstsein in die Mentalitäten der Zeit liegt auch der Wert des Plakats als Erkenntnis- objekt für nachfolgende Generationen.

Die vollständige Vereinnahmung des Mediums Plakat in den 1930er Jah-ren modelliert totalitäre Machtansprü-che und ihre Durchsetzung. Die vor-sichtige stilistische Erneuerung in den 19�0er Jahren dokumentiert hingegen eine Gesellschaft, die erstmals wieder

Werben für die Utopie.

2003 erschien eine illustrierte Geschichte des russischen Plakats (in deutscher Spra-che) und parallel eine DVD, die neben er-gänzenden Abbildungen (ca. 1.100 Plakate und Fotografien) auch ein Virtuelles Mu-seum des russischen Plakats, 1�9 weiterführende Texte zur russischen und sowjetischen Kunst- und Zeitgeschichte, 24 multimediale Präsentationen (chronologische und thema-tische Einführungen), diffe-renzierte Such- und Album-funktionen sowie ein Glossar umfasst. Eine seiten- und tex-tidentische russische Ausga-be konnte mit Unterstützung des Ministeriums für Wirt-schaft und Arbeit NRW 2004 in Moskau erscheinen. Parallel fanden 2003 (Folk-wang-Museum, Essen), 2004 (Museum für Zeitgeschich-te Russlands, Moskau) und 2005 (Städtische Galerie Bie-tigheim-Bissingen) drei Re-

trospektiven des russischen Plakats statt. Seit 2004 befinden sich zahlreiche Bild-, Text- und Multimedia-Ressourcen des Pro-jekts in deutscher und russischer Sprache auch im Internet (www.russianposter.ru), die gegenwärtig für Weiterbildungs -Vor-haben aufbereitet werden.

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Abb. 9:Miron Luk’janov: Herzlich willkommen im

Marlboro-Land (1997)Das Plakat reagiert ironisch auf die Ame-rikanisierung der russischen Gesellschaft in den 1990er Jahren und demonstriert – nicht ohne damit heftige Reaktionen beim Publikum auszulösen – den Sieg des ame-

rikanischen way of life über nationale Hei-ligtümer Russlands wie hier den Kreml.

Experiment und Freiraum zulässt. Die radikale Systemkritik des Perestrojka-Plakats macht glauben, dass es gera-de diese Kritik ist, die den Geist und die Bedürfnisse dieser Zeit bestimmt (Abb. 9). Selbstverständlich ist das russische Massenplakat kein kulturelles Ni-schenprodukt; es kann daher auch kein Medium der Abweichung sein, sieht man an dieser Stelle von den weißgardistischen Plakaten im Bür-gerkrieg und manchen postsowje-tischen Werken ab. Unterstellt man je-doch seine grundsätzliche Fähigkeit, den kulturellen main stream zu kons-tituieren – durchaus unter Berücksich-tigung der spezifischen Machtinter-essen seiner Auftraggeber – liefert es zwangsweise diejenigen Bilder, die in den Köpfen der Menschen haf-ten bleiben, da es keine alternativen Bilder gibt. Plakate werden damit auch zu Lehrstücken aus der Schule des Sehens, die die bildhafte Erinne-rung vieler Generationen in Russland dominierten. Der durch die Ikonen-kunst Jahrhunderte lang geprägte Mo-dus des Sehens, der dem Sichtbaren stets den Status eines Zugangs zum Wahren, Eigentlichen, Wirklichen zu-maß, prägte noch im 20. Jahrhundert eine kaum zu hintergehende Form der Wahrnehmung: Das Wort, vor allem das politische, war flüchtig, mehrdeu-tig, oft auch gefährlich. Das Bild hin-gegen bot vermeintliche Sicherheiten, die in dem Vertrauen begründet wa-

ren, dass das, was man sehen konnte, nicht falsch sein durfte. Aus der Un-terstellung einer unmanipulierten In-tegrität des Visuellen generierten auch Plakate ihre überzeugende Kraft und Bedeutung. Mehr noch: Sie wurden zeitweilig zum Ersatz für eine leid-voll erfahrbare Wirklichkeit, für die die sowjetische Zeitgeschichte, vor allem in den Jahren des Terrors und der Verfolgung, nur allzu viele Bei-spiele bereithielt.

Plakate boten optimistische Alternativen

Das Plakat bot im Gegensatz zu den dunklen Seiten Stalinscher Herrschaft positive, optimistische Alternativen an, wobei nicht vorschnell unterstellt werden darf, dass sie unbedingt als Lug und Trug enttarnt worden wären. Folgt man der Hypothese, dass es ge-rade diese positiven Alternativen wa-ren, die als zeittypisches Symbol be-wusstseinsbildend wurden, obwohl oder gerade weil sie als konstruierte Schokoladenseite einer Angst einflö-ßenden Staatsmacht verstanden wur-den, lässt sich die subtile Macht die-ser Bilder ohne direkten Appell, ohne Ruf nach Veränderung oder Neuem, durchaus nachvollziehen. Plakate wa-ren damit – aus der Sicht der Sehenden – auch Formen der Bewältigung von Wirklichkeit, therapeutische Kom-pensation für Terror und Verfolgung, Kriegsleid und Vernichtung. Auf diese

Weise verwiesen Plakate auf die Pro- blembestimmungen einer Kultur und offerierten Problemlösungsvisionen der Künstler als verlängerte Sprach-rohre von Partei, Politik und sozialen Institutionen. Die Ignoranz des Pla-kats bzw. seiner Auftraggeber gegen-über den real wachsenden Problem-feldern in der Gesellschaft oder ihre nur unscharfe Thematisierung kenn-zeichnet allerdings auch den Beginn eines langwierigen Glaubwürdigkeits-verlustes, dem das sowjetische Plakat spätestens seit Ende der 19�0er Jah-re ausgesetzt war. Der Modus des Se-hens emanzipierte sich, der verstehen-de Blick junger gebildeter Menschen der 19�0er und 19�0er Jahre konnte nicht mehr das Gleiche sehen, was 40 Jahre zuvor noch den etablierten Er-fahrungen entsprochen hatte. Natürlich handelt es sich bei den Bil-dern, die das Plakat im 20. Jahrhun-dert ausmachen, um Konstruktionen von Wirklichkeiten, doch dies ist nur ein Aspekt: der der allmächtigen Bild-maschine in Gestalt des sowjetischen Agitprop. Die andere Seite, die das sehende Subjekt einbezieht, verweist auf die Fundamente eines Selbstbil-des, in dem Normen wie Werthal-tungen, Verhaltens- und Denkmuster, letztendlich Entwürfe des Individu-ums verankert sind. Und gerade hier-in liegt ihr großer, weit über kunst- oder politikgeschichtliche Sinnstif-tung hinausgehender kulturhisto-rischer Wert.

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Am 23. Juli 2001 erreichen wir, von Petropavlovsk-Kamtschats-

kij kommend, die entlegene Sied-lung Mil‘kovo. Wir bringen die Fra-ge mit: Wer von den älteren Bewoh-nern spricht noch das Kamtschada-lische, die eigenartige, vom Itelme-nischen beeinflusste Sonderform des Russischen? Man bringt uns zu Ksen-ja Vasil’evna, geboren eben dort 1927. Sie fasst ohne weiteres Vertrauen und

Am Ter’schen Ufer am Südrand der Halbinsel Kola liegt die Siedlung Varzuga. Bochumer Slavisten wa-ren dort der Sprache der Pomoren, einer russischen Sprachvariante, auf der Spur. Viele Dialekte, die sie von mehr als zwanzig Expeditionen quer durch Russ-land auf Tonträgern mit nach Hause brachten, sind vom Untergang bedroht. Fast tausend Audiotapes halten nun alles dauerhaft fest – im Linguistischen Laborato-rium (LiLab) werden die regional und sozial geprägten Sprachformen als Datenbank bald Forschung, Lehre und allen Interessierten zugänglich sein.

Prof. Dr. Dr. h.c.Christian Sappok, Seminar für Slavistik/Lotman-Ins-titut für russische und sowjetische Kultur, Fakultät für Philologie

Expeditionen in die Welt untergehender Dialekte:

Eine Datenbank fürs Ohr

C. Sappok

Abb. 1:Siedlung Varzuga

führt uns, im Erzählen geübt, durch ihre Lebensgeschichte. Wir sitzen ne-ben ihr, und ein winziges Mikrophon bringt alles auf das digitale Tonband. Alles? Wäre nicht die Videokamera besser geeignet, diesen Reichtum an Erfahrungen und Erinnerungen ein-zufangen? Wir meinen nicht. Bei ihr fließt alles unmittelbar und direkt in die Welt des Erzählens, und wie auf der Bühne sehen wir die Situation vor

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uns: den Priester, den die Enkelin als Klempner aus ihrem Betrieb wieder-erkennt, die zweifelnde Ksenja, die sich doch noch einmal in die Toten-messe begibt und den Kopf schüttelt: Wo er singen soll, spricht er, wo er sprechen soll, singt er... (s. Info 1). Vier Stunden sitzen wir so und kön-nen nicht aufhören, als Sprecher und Hörer auf dieser akustischen Bühne zu agieren, auf der die Hauptstim-me geprägt ist von regionaler Eigen-art, auf der sich Textbausteine zu-sammenfügen wie die Replikenfolge eines Bühnenstücks. Dies erlebt auch jeder, der die Aufnahme später hört – wenn er bereit ist, sich in die äußers-te Peripherie der russischen Sprach-gemeinschaft versetzen zu lassen. Um diese Art akustischer Reise zu erleben und anderen zugänglich zu machen, sind wir seit nunmehr 15 Jahren quer durch Russland unterwegs.

Aufstand gegen eine Tradition

Der Anreiz zur dieser – für Philolo-gen eher ungewöhnlichen – Verfah-rensweise ist der Aufstand gegen eine Tradition: „Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.“, so verführt der Teufel den Gelehrten Faust dazu, auf Schriftstücke zu vertrauen, und so hat er scheinbar auch die Philologen dazu gebracht, sich auf Gegenstän-de zu beschränken, die als geschrie-bene Dokumente entstanden sind oder nachträglich aufgeschrieben wurden. Selbst Dialektsprecher und Kinder, die Schriftliches selbst nicht nutzen, ken-nen Philologen nur über die Schrift. Wie wirklich gesprochen wird, was über Lautsprache mitgeteilt wird, das bekommt der Philologe meist nicht zu hören. Und wenn doch, dann wird das flüchtige akustische Sig- nal schnell in das stabile Schriftge-wand gepresst, um es ruhig, aber sei-nes eigentlichen Lebens beraubt, un-tersuchen zu können. Hat man sich doch den Zugriff auf die Lautgestalt erkämpft, dann fehlt nicht selten das technische Rüstzeug zum professio-nellen Umgang mit der akustischen und visuellen Kommunikation. Das

Christian (Foto rechts): 001 А в церковь вы ходите? Und gehen Sie in die Kirche?Ksenja (Foto links): 002 Нет,нехожу(siesagt:хозу).Сейчасянехожу.Вопервыхявампрямо(siesagt Nein, ich geh nicht. Jetzt geh ich nicht. Erstens sage ich Ihnen geradeheraus: Bei прамо)скажу:Унассвященниканету. uns gibt es keinen Pfarrer.003 Нету.Этовотунасвотэтослужиткакой,онникакойнесвященник. Es gibt keinen. Der, der bei uns Messe liest, das ist gar kein Pfarrer. 004 Япростооткрытоскажу:Раньшеонработал...вот,вотэтипроводят,их,что он? Ich sage ganz offen: Früher war er... die so was machen ... wie heißt das? техник,сантехник? Techniker, Klempner?005 Вотонработалэтим.Янезнала. Das war seine Arbeit. Ich jedenfalls hab es nicht gewusst.006 Аменявнучкаяко-десказала,чтобатюшкаНиколай,говорит,абабушка, Und meine Enkelin hat gesagt: Was für ein Väterchen Nikolaj, sagt sie, ach Oma, ачëэтотНиколай,яговорю,да... was für ein Nikolaj, und ich sag , ja ...007 Онаговорит:Даэтотсантехник,унасназаводеработает. Sie sagt: Das ist doch der Klempner, er arbeitet bei uns im Betrieb.008 Аяиговорю:Леля,как?Яговорю:Давонэто...Акто,говорит,егопоставлял? Und ich sage: Ljolja, wie? Ist denn das ...Aber wer, sagt sie, hat ihn denn eingesetzt? Яговорю,откудазнаю? Woher, sag ich, soll ich das wissen?

Das normale „Nein“ der Ksenja Vasil’evna

Am Beispiel des kleinen Wörtchens „Nein“ erkennenwir,welchgroßenUnterschiedder Laut ausmacht. Ksenja antwortet in Textbeispiel002aufdieFrage„Undge-henSieindieKirche?“miteinem„Nein“,dasganznormalundneutralklingtwiederTonhöhenverlauf(Intonationskurve,oben)

inderGrafikzeigt:Dem„Nejt“entsprichteinleichterAnstiegderTonhöhe,diemitdem„–u“amSchlussdesWortes„cho- zu“abfällt.Typischkamtschadalischsindhierz.B.Zischlaute(хозуstattхожу)undder Verlust des palatalen /r’/ (прамо statt прямо)imTextbeispiel002.

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Anastasijas „Nein“ in Textbeispiel 0003 ist emotionsgeladen und signalisiert Abwehr und Unverständnis gegenüber der Frage „Und hatten Sie Handschuhe?“. Die Ab-wehrhaltung bezieht sich hier auf den In-terviewer, der aus der Fremde kommend keine Ahnung habe, dem man alles genau erklären müsse und der doch nicht wirklich verstehen könne, was in Anastasijas Welt wichtig und unwichtig, vertraut und nicht vertraut, voraussetzbar oder unbekannt ist. In dieser Intonation kommen die Gren-zen und Barrieren zwischen Gesprächs-partnern, Gesellschaftsgruppen bis hin zu ganzen Kulturkreisen zum Ausdruck. Das Instrument der Intonationsanalyse macht die lautsprachliche Seite der Gruppenzu-gehörigkeit messbar und kann somit die auditive Interpretation bestätigen.

0001 Ch.: Тяжеловытягивать? War es schwer, (diese Wurzeln) auszureißen? A.V.:Всякоебывает! Mal so mal so.0002 Всеженщинами,женщинытутвсевместеработают. Alles mit Frauen, die Frauen arbeiten da alle zusammen.0003 Ch.: Аперчаткибыли? Und hatten sie Handschuhe? A.V.:Не(т),какиеперчатки! Nein, was für Handschuhe denn!0004 Привычнырукинаши. Ganz gewöhnlich unsere Hände.0005 A.V.: Так что ... Also .. Ch.: Тяжело. .. war es schwer.0006 A.V.:Авотзато–крепче. Aber dafür war man auch kräftiger.

Seminar für Slavistik/Lotman Insti-tut an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität setzt alles daran, die- se Situation zu verändern. Was ist zu tun?Zunächst noch einmal zurück zum vertrauten Schriftlichen. Auch hier genügt es nicht, es „getrost nach Hau-se zu tragen“. Man muss es abheften, beschriften, paginieren, etwas daraus exzerpieren, um es anderweitig zu verwenden ... Heute kann man auch Akustisches nach Hause tragen, schon bei unseren Kindern ist der MP3-Player nicht mehr wegzudenken. Die Speichermenge scheint unbegrenzt, umfasst meist Tausende von Songs, die andere aufgenommen haben und kommerziell vertreiben. Wie aber nimmt man selber etwas auf, und wie

verwaltet man das Aufgenommene? Wie kann man es abheften, paginie-ren, exzerpieren und anderen zu hö-ren geben? Und wie schafft man eine handhabbare Ordnung, die auch ande-re verstehen und nutzen können?

Keine Domäne der Toningenieure mehr

Früher – seit Edisons Phonographen 1877 oder dem Tonbandgerät von AEG und BASF 1935 – war dies die Domäne der Toningenieure und der Experimentalphonetiker. Heute kann jeder mitmachen, der einen PC besitzt und die Buchsen Line-in und Line-out sowie den Mikrophoneingang und den Kopfhörerausgang zu nut-zen bereit ist. Als Ergebnis erhält man

Lautfiles, die mit einer reichen Aus-wahl von Software weiter bearbeitet werden können und das „Schwarz auf Weiß“ auf überraschende Weise bunt färben (s. Info 1 und Info 2).Unser Seminar hat sich frühzeitig das Ziel gesetzt, auf der Grundlage neuer Technologien das lautsprachliche Ma-terial bzw. die lautsprachliche Kom-munikation innerhalb der russischen Sprachgemeinschaft zu konservieren und als Datenbank für Forschung, Lehre und für alle Interessenten zur Verfügung zu stellen. Dafür nutzen wir Audiotechnik, Interviewtechnik und Softwareeinsatz als professio-nelle Werkzeuge und beziehen Nach-bardisziplinen wie die Psychoakustik, die Informationstechnologie und So-ziologie unterstützend ein. Denn wie

Das emotionale „Nein“ der Anastasija Vasil‘evna

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bei den visuellen Kommunikations-formen, etwa der „Russischen Plakat-kunst des 20. Jahrhunderts“ (s. S. 6 bis 12), erfordert das ein breites Netz partnerschaftlicher Kooperation. Schließlich kam unserem Vorhaben die Perestrojka zugute. Tiefgreifen-de gesellschaftliche Umwälzungen in Russland lieferten auch dem Fach Slavistik neue Impulse: Die Kon-takte waren plötzlich nicht mehr nur auf Moskau und Leningrad fixiert, es öffneten sich bisher unerschließbare landschaftlich, sprachlich und kultu-rell geprägte Räume Russlands. Be-reits 1991 konnten wir mit Kollegen vom Institut für Russische Sprache der Akademie der Wissenschaften (AdW), Moskau, zu einer ersten Dia-lektexpedition aufbrechen. Damit war der Sprung vom Schreibtisch in die Feldarbeit getan.Zur gleichen Zeit unterstützte die Ruhr-Universität den Aufbau eines Linguistischen Laboratoriums (LiLab, s. Info 3) an unserem Seminar und stellte dafür angemessene Räumlich-keiten zur Verfügung. Wer die enorme Konzentration kennt, die das Anhö-ren und Verarbeiten des „Rohmateri-

Von Marija Petrovna Azjorina, Jg. 1899, der ältesten Gesprächspartnerin, bis zu den Ja-kutischen Nomadenkindern spannt sich der Bogen (s. Abb. 2 und 3 im Text) – etwa tau-send Digitale Audiotapes halten alles, was an Eindrücken und Interviews auf 22 Ex-peditionen quer durch Russland gesammelt wurde, für heutige und zukünftige Nutzer fest. Noch in diesem Sommer finden zwei weitere Reisen in die Dör-fer Chavanga und Tetri-no am Südrand der Kola-Halbinsel, und an den Fluss Mezen’ und dessen Neben-fluss Pjoza in Nordrussland statt.Im Linguistischen Labora-torium (LiLab) wird das auf den Expeditionen gesam-melte Material aufbereitet – in Fragmente geschnitten, als Laufiles bzw. Tracks auf CD übertragen und visuell dargestellt (Spektrogramm, Intonationskontur, Intensi-tätsverlauf). Bis alles auf ei-

ner Datenbank zur Verfügung steht, erfolgt der Datentransfer auf traditionellem Wege, über die Publikation von Lautchrestomathi-en (Textsammlungen mit Audio-CD-Beila-ge) und durch die Präsentation von Probe-daten über Internet: (www.ruhr-uni-bochum.de/LiLab).LiLab besteht aus einem großen Laboratori-um, das das Lautarchiv, die Arbeitsplätze so-

wie den Server zur Verbindung mit dem Re-chenzentrum der Ruhr-Universität beher-bergt. Hier ist der Sitz der Publikation „Bul-letin der russischen Lautdatenbank“(BFF), einer 1988 von Prof. Dr. Lija Vasil’evna Bondarko (Lehrstuhl für Phonetik an der Staatsuniversität St. Petersburg) und Prof. Dr. Christian Sappok gegründeten Reihe wissenschaftlicher Publikationen und Ma-

terialsammlungen. Ein wei-terer Raum dient der Bear-beitung und Archivierung von Bild- und Videomaterial und schließlich gehört zum LiLab auch ein schallisoliertes La-bor, in dem computergesteu-erte Perzeptionsexperimente durchgeführt werden können.Im Hauptraum des LiLab fin-den auch Veranstaltungen zur computerunterstützten Lauta-nalyse statt. Hier wurde u. a. in einem Hauptseminar zur russischen Landeskunde und Dialektologie das Konzept der LiLab-Homepage entwickelt.

Abb. 2: Marija Petrov-na Azjorina, geb. 1899 im Chu-tor Poplavka am Fluss Medvedica, (Nebenfluss des Don) ist die ältes-te Gesprächspart-nerin im LiLab.

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LiLab – Laboratorium und Institution

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als“ erfordert, die Empfindlichkeit ge-genüber Fremdgeräuschen, der weiß, man braucht Platz, mehr als einen Lesetisch in der Bibliothek. Seit sei-ner Gründung wird das LiLab zudem durch die Hertz Stiftung, den Deut-schen Akademischen Austauschdienst (DAAD), die Deutsche Forschungs-gemeinschaft (DFG) und die VW-Stiftung gefördert.

Akustische Datenbank

Beim Aufbau einer akustischen Da-tenbank sind einzelne Schritte zu be-achten: (1) Informanten auswählen, im Gespräch/Interview deren Interes-sen erkunden und das eigene Interes-se – etwa an untergehenden Dialekten und Erinnerungen an alte Zeiten – ein-bringen; (2) das Gespräch technisch einwandfrei aufnehmen, d.h. Studio-qualität trotz schwieriger Feldbedin-gungen erreichen; (3) ein Informati-onsnetz über die Entstehungssituation der Aufnahme aufbauen, Daten über die Interviewten und die Gesprächs-situation sammeln und für nachfol-gende Recherchen bereithalten; (4) die Aufnahme in Fragmente schnei-

Abb. 3: Die jüngsten Interviewten sind Nomaden-kinder der Großfamilie („obschtschina“) Nutendli im Jakutischen Rajon Nishne-Ko-lymsk.

Abb. 4: Von der Siedlung Varzuga am Südrand der Halbinsel Kola bis zum entlegenen Dorf Milkovo auf Kamtschatka – 23 rote Punkte auf der Karte dokumentieren LiLab-Expe-ditionen quer durch Russland.

den und auf neue Datenträger über-tragen, bis aus einem etwa zweistün-digen Digitalen Audiotape (DAT-Ton-band) eine überschaubare Menge an Lautfiles bzw. Tracks auf CD vorliegt; (5) die Lautfiles (Fragmente) visuell darstellen (Spektrogramm, Intonati-onskontur, Intensitätsverlauf), d.h. die subjektiven Höreindrücke durch ob-jektive Messdaten ergänzen; (6) den Kommunikationsprozess auditiv in-terpretieren und auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Apparates beschreiben. Einblick in die tägliche Arbeit im Linguistischen Laboratori-um geben Info 1, 2 und 5.Doch der aufwendigste und aufre-gendste Bereich bleibt die Materi-

algewinnung: Im Sommer 1999 war eine Gegend Russlands Ziel einer Expedition, die wohl kaum ein Sla-vist oder ein Bewohner Zentralruss-lands kennt noch von ihr gehört ha-ben dürfte – die Siedlung Gizhiga am Ufer des Ochotskischen Meeres (s. Abb. 4) nördlich von Jamsk (Ex-pedition 2002), gegenüber der Nord-küste der Halbinsel Kamtschatka (Ex-pedition 2001).Hier ist die russische Sprach- und

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Kulturgemeinschaft der Kamtscha-dalen zu Hause, in enger Nachbar-schaft mit den Evenen, Korjaken und Itelmenen, stark von diesen Kontak-ten geprägt, aber doch mit einem le-bendigen Bewusstsein für die eigene Gruppenzugehörigkeit. Ihre Sprach-variante ist von großem wissenschaft-lichem Interesse für Soziolinguistik, die Ethnolinguistik, Kontaktlinguis-tik und Typologie, aber es gab bis-lang keine allgemein zugänglichen Aufnahmen. Die Dokumentation die-ser Sprachgemeinschaft ist zudem be-droht, denn es gibt nur noch wenige ältere Menschen, die diesen Dialekt sprechen. Dies gilt für viele Sprach-formen und Dialekte entlegener Re-gionen Russlands.Doch wie kommt man nach Gizhiga? Man fliegt über Moskau nach Maga-dan, dem ehemaligen Zentrum der Straflagerverwaltung des Fernen Os-tens, von dort weiter nach Evensk, und dann sind es nur noch 120 km. Aber die haben es in sich, es gibt we-der Weg noch Steg durch die Tund-ra. Wir hatten Glück! Der Gouver-neur von Evensk musste mit dem Hubschrauber ein krankes Kind aus einem evenischen Rentierlager abho-len, er nahm uns mit und setzte uns in Gizhiga ab (Abb. 5). In anderen Fäl-

len melden wir uns vorher an, aber hier gibt es keinen Strom und kein Te-lefon, kein Geschäft. Die Bürgermeisterin war erstaunt über die Fremdlinge, nahm uns aber ohne weiteres auf, und wir lernten die letzten noch lebenden Frauen kennen, die das Kamtschadalische bewahrt ha-ben. Sie freuten sich über unser In-teresse und erzählten uns ihre Erin-nerungen, etwa von ihrem früheren Dorf, einem ehemaligen „ostrog“ (pa-lisadenumzäuntes Wehrdorf, Grün-dungsjahr 1635), das vor einem hal- ben Jahrhundert im Zuge sowjetischer Umsiedlungspolitik von seiner histo-rischen Ursprungsstelle flussabwärts verlegt wurde, in das Mündungsgebiet des Flusses Gizhiga. Mit dem Herzen sind die älteren Leute noch immer im alten Dorf. Wir fuhren mit Frau Mar-fa dorthin, und am nächsten Tag er-zählte diese ihrer Nachbarin Irina von

dem Wiedersehen. Es war sehr bewe-gend dabei zu sein, wie Marfa ihre blinde Freundin bei der Hand nahm und sie in traulichem Gespräch durch das alte Dorf führte, und wie sie dabei über die Heimat sprachen, als wären sie wirklich dort (Abb. 6 ). Wir hüten diese Aufnahmen wie einen Schatz und bereiten sie im LiLab auf. Die Szene mit Marfa und Irina ist auf un-serer Homepage zu hören und zu seh-en: www.ruhr-uni-bochum.de/LiLab/Landeskunde/framefiles/magf.htm.

LiLab birgt Schätze

Den Rückweg nach Evensk legten wir auf einem „vezdechod“ zurück, einer Art Panzer, der über Stock und Stein durch die Tundra walzt und die im finsteren Gepäckraum eingesperrten Passagiere auf unmenschliche Weise durchrüttelt, seine Abgase direkt in die Kabine pustend (Abb. 7). Einziger Trost während vieler Stunden in die-sem Gefährt war ein kleines Knöpf-chen an der Rückwand der Fahrerka-bine. Wenn man es drückte, standen die Ketten still, man stieg aus, über-gab sich, dann ging es weiter. Der

Abb. 5: Marfa und Irina leben im neuen Gizhiga, eine im Zuge sowjetischer Umsiedlungs-politik vor etwa 50 Jahren erbaute Beton-bau-Siedlung.

Abb. 6: Marfa führt ihre blinde Freundin Irina im

Gespräch durch das alte Dorf Gizhiga. Mit dem Herzen lebt Irina noch immer dort.

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Im Laufe des 15jährigen Bestehens des Linguistischen Laboratoriums (LiLab) hat sich ein Netz von Partnerinstitutionen innerhalb Russlands herausgebildet:• Staatsuniversität St. Petersburg, kafedra fonetiki: Herausgabe einer wis- senschaftlichen Publikationsreihe (Bjulleten’ foneticheskogo fonda) und einer Serie von bislang 14 Lautchres- tomathien (Textbände mit Tonbei- lage)• Institut für Physiologie der Russischen Akademie der Wissenschaften, St. Pe- tersburg, Arbeitsstelle Sprachphysiolo- gie: Durchführung von experimentel- len Arbeiten zur Perceptual Dialec- tology• Institut für Russische Sprache der AdW in Moskau: Organisation und Durch- führung von Dialektexpeditionen• Laboratorium für die Erforschung von Dialekten aus der Vjatka der Pä- dagogischen Universität in Kirov: Ex- peditionen und Bearbeitung der Daten.

Zu den Kooperationen innerhalb der Fa-kultät: www.rub.de/LiLab/orbis_pictus_orbis_dictus

Eindruck, der von einer solchen Reise zurückbleibt, ist bei jedem Anhören der Aufnahmen wieder gegenwärtig. Kein Hörer kann sich dieser Wirkung entziehen. Weder Lebensweise noch Sprache dieser Menschen haben sich über die Jahrhunderte hinweg we-sentlich verändert. Die Bearbeitung im LiLab dient nicht nur der Sprach-Analyse, sie soll einem weiten Kreis von Interessierten einen Einblick in diese Welt ermöglichen.Wie sehen unsere weiteren Pläne und Ziele mit dem LiLab aus? Das Lingu-istische Laboratorium ist heute eine etablierte Institution, eine Einrich-tung, die lautsprachliche Kommuni-kation aus Russland in hoher Quali-tät (ausschließlich digitale Tonträger) und durch ein breites Spektrum von Sprechergruppen präsentiert. LiLab ist Ort von Gastaufenthalten und For-schungsprojekten.

Ein Netz von Partnereinrichtungen

Hier entstehen Seminar-, Magister- und Doktorarbeiten, auch Habilita-tionen werden betreut. Es gibt ein Netz von Partnerinstitutionen (s. Info 4), nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg, auch in Kursk, Perm’, in Jakutsk, Magadan und Petropav-lovsk-Kamchatskij. Noch breiter ist der Kreis der Nutzer. Der Datentrans-fer erfolgt bislang auf traditionellem Wege, über die Publikation von Text-sammlungen mit Audio-CD-Beilage (Lautchrestomathien) und durch die

Präsentation von Probedaten über das Internet. Die zukünftige Entwicklung lässt sich am Beispiel eines Gemeinschaftspro-jekts mit der Fachhochschule Bochum ablesen:

Projekt Kindersprache

Am Lehrstuhl für Datenbanken im Labor für Angewandte Informatik und Datenbanken (AID) von Prof. Dr. Katrin Brabender wird derzeit im Rahmen eines Projektes mit rus-sischen und deutschen Kindern an-hand von Audio- und Videoaufnah-men die online-Datenbank AMEDAL entwickelt (s. Info 5). Ziel ist es, das gesamte LiLab-Archiv über diese Da-tenbank online zur Verfügung zu stel-len. Die Aufnahmen werden derzeit segmentiert und mit Deskriptoren ver-sehen, die dann auch als Suchfunktion dienen sollen. Die Beschreibungska-tegorien werden mit dem Anwachsen der Datenbank und der Einbeziehung neuer Datentypen modifiziert und er-weitert. Die Oberfläche von AME-DAL erlaubt die gezielte Suche, das Abspielen der Fragmente, die sich durch Cursor-Positionen im Oszil-logramm eingrenzen lassen, sowie den Export des ausgewählten Video- und Audiosignals. Standbilder kön-nen zeitlich lokalisiert und exportiert werden, was für unsere aktuelle wis-senschaftliche Aufgabenstellung von zentraler Bedeutung ist (s. Info 5, Pkt. 2: Tonhöhenverlauf).Zum Schluss noch einige Gedanken

zu unserer Philosophie. Die letzte Ex-pedition führte uns im März 2006 in die Region am Weißen Meer, einem Rückzugsgebiet folkloristischer Tra-ditionen. Dorthin reiste 1871 ei-ner der Urväter der Slavistik, Alek-sandr Gil’ferding, und zeichnete – auf Papier – erstmals mit wissen-schaftlichem Anspruch die Bylinen, eine gesungene Form großrussischer Epik, auf. Bylinensänger gibt es heu-te nicht mehr, wohl aber Gil’ferdings berühmte Textsammlung. Er war als Wissenschaftler stark beeinflusst von der Konzeption der Slavophilen, nach der der Westen gegenüber dem slavi-schen Osten als sprachkulturell un-terlegen eingestuft wurde. Die Ver-treter der Slavophilen begründeten ihre Konzeption damit, dass der Wes-

Abb. 7: Abschied von Gizhiga und der Bürger-meisterin Ol‘ga Vasil‘evna Nefanteva. Die Rückreise nach Evensk mit dem „vez-dechod“ – einem panzerähnlichem Fahr-zeug – wird beschwerlich.

Internationale Kooperation

Russlandinfo4

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ten nur am individuellen Ausgestal-ten des lautlichen Mantels herumpro-biere, während die russische Sprache die Inhalte frisch und lebendig ver-mitteln könne. Wir haben heute eine veränderte Sicht-weise. Zu eng vor allem erscheint uns die Annahme, dass der Sprachlaut in der Kommunikation nur die Rolle eines äußeren Kleides spielt, das der Hörer entfernt, um den eigentlichen Sinn der Nachricht zu verstehen. Wir vertreten das Gegenmodell: Der Teil der Kommunikation, den man schrift-lich fixieren kann, ist ein Kleid, im Sinne eines Hilfsmittels, mit dem wir transportieren, was wir wirklich mit-teilen wollen (s. auch Info 1 und 2).

Auf beides kommt es an: Sprachlaut und Sprachinhalt

Sicher haben beide Modelle, das tra-ditionell textorientierte und das neue, akustische, ihre Berechtigung. Letzt-lich wird der Sprecher entscheiden, was ihm wirklich wichtig ist – der Laut oder/und der Inhalt. Unsere Da-tenbank stellt sich auf eine Vielzahl von Modellen ein, und deshalb muss der Sprachlaut mit der gleichen Sorg-falt erhalten werden wie der schrift-lich fixierte Text. Auch die Lautform muss den heutigen und künftigen Nut-zern für die wissenschaftliche Ana-lyse und für das Hören, Interpretie-ren und Bewerten zur Verfügung ste-hen. Gemeinsam mit unseren Kolle-ginnen PD Dr. Marion Krause, Wien, und Dr. Valentina Ljublinskaja, St. Petersburg, haben wir diese Konzep-tion unter dem Stichwort „Perceptu-al Dialectology“ auf Russland ange-wendet und auf dem Internationalen Slavistenkongress 2003 in Ljubljana, Slowenien, vorgestellt. Dem Grund-prinzip unserer Datenbank wollen wir nicht nur unsere weitere Arbeit wid-men, sondern unser Modell auch dem geisteswissenschaftlichen Nachwuchs vermitteln und ihn so bereit machen für die Welt der multimedialen Kom-munikation.

В.: Nein,вотэто,.................... 1-2-4 Nein,dasda, да........................................ 1-2-5 ja.Р.: Вотэто,и... Dasda,undВ.: Ипотом... UnddannР.: вотэто. dasda. Готово........................... 1-2-6 Fertig

Die Kommunikation unter Kindern verläuft mit atemberaubender Geschwindigkeit. Vi-deoaufnahmen helfen bei der Rekonstrukti-on dieser Abläufe, die beim normalen Zu-sehen und Hören manchmal kaum erfass-bar und schwer interpretierbar sind. Das unmotivierte „Nein!“ von Vova (Textbei-spiel: 1-2-4) beim Spiel mit einer Bildkar-tengeschichte bekommt so seinen Sinn: Er lehnt eine Karte ab, die sein Partner Ro-man bei Position 43’50’’ (Bild 1) noch in Erwägung gezogen hatte, während er zum Zeitpunkt 44’02’’ bereits eine andere Karte

ausgewählt hat. Abläufe der Lautproduktion können mit nonverbalen Handlungen exakt koordiniert verlaufen, sie können aber auch eine autonome Handlungsebene neben der Kommunikation darstellen. Wie sich diese unterschiedlichen Koordinationsformen im Verlauf der kindlichen Sprachentwicklung herausbilden und entwickeln, steht im Mit-telpunkt des Gemeinschaftsprojektes „Vi-deodatenbank Kindersprache“ mit der FH Bochum. Das Datenbanksystem AMEDAL wird vorgestellt unter: www.ruhr-uni-bo-chum.de/LiLab

info5

Datenbanksystem AMEDAL - Videodatenbank Kindersprache

1. Text:

2. Tonhöhenverlauf und stimmliche Besonderheiten (Prosodie):

Schema 1-2-4/5 – Gliederung und F0-Verlauf des Fragments 1-2-4 und 1-2-5

3. Video:

Bild 3 - 45,32 sec

Bild 1 - 43,50 sec Bild 2 - 44,02 sec

Bild 4 - 46,00 sec

busche
Linien
busche
Textfeld
Tonbeispiel
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Deutsch-russische Beziehungen im 20. Jahrhundert:

In den Wechselbädernder GeschichteZwei Gestalten, in deren Haltung sich Nähe und An-ziehungskraft ausdrücken und die zugleich in ihrer schmerzhaften Verklammerung auf unvereinbare Mo-mente aufmerksam machen – dieses Bildzeichen in der Bronze-Skulptur des Moskauer Bildhauers Vadim Si-dur verweist auf das deutsch-russische Verhältnis. Der menschlichen Seite der politischen Geschichte geht auch das „Kopelew-Projekt“ nach: Das internationa-le Forschungsvorhaben findet nach über einem Viertel-jahrhundert und mit einer vierzehnbändigen Publika-tionsreihe seinen Abschluss – ohne Antworten festzu-schreiben.

A. Volpert D. Herrmann

Astrid Volpert, Dagmar Herrmann (Projektleitung: Prof. Dr. Dr. h.c. Karl Eimermacher), Lotman-Institut für russische und sowjetische Kultur, Fakultät für Philologie

Abb. 1: Vadim Sidur (1924-1986), „Denkmal für die heutige Situation“, 1962

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Einem Steinbruch gleich wei-sen die deutsch-russischen Be-

ziehungen des 20. Jahrhunderts Ab-sperrungen, Sprengtrichter, unbegeh-bare Zonen, sich verlaufende Spuren, Verschüttungen auf – Zeichen einer Epoche, die Millionen Menschenle-ben kostete und die Kraft der Überle-benden, das Trauma zu überwinden, extrem überforderte. Die deutsch-rus-sischen Beziehungen hatten bereits aus dem 19. Jahrhundert Belastungen mit sich gebracht. Der seit den Krie-gen der zweiten Jahrhunderthälfte ins Hypertrophe gesteigerte Nationalis-mus, von Presseorganen angefacht und von den Regierungen hier wie dort bedenkenlos taktisch genutzt, er-möglichte alten Vorurteilen zwischen Russen und Deutschen weitere Ver-breitung: etwa dem Vorwurf flächen-deckender Spionage und Expansion bzw. barbarischer Kulturlosigkeit. So-gar in die Wissenschaft waren sie ein-gedrungen und wurden dort anthro-pologisch erklärt und rassisch klas-sifiziert. Zwar galt der Panslavismus um die Jahrhundertwende offiziell als passé und der alldeutsche Kulturimpe-rialismus schien sich in hohlen Phra-sen zu erschöpfen, in der Öffentlich-keit beider Länder aber blieben die entsprechenden Ideen als Fundus zur Interpretation neuer Konflikte beste-hen. Sie gingen alsbald eine explo-sive Verbindung mit den verstörten Reaktionen auf den raschen Zerfall traditioneller Gesellschaftsformati-onen ein.Die Fragilität der Lage schloss nicht aus, dass das 20. Jahrhundert für Deut-sche und Russen mit starken, anre-genden Impulsen begann. Beide Kul-turen wurden in wechselnden Schü-ben von der Moderne ergriffen, der kraftvollen europäischen Bewegung des Brückenschlags zwischen den Na-tionalkulturen in Philosophie, Litera-tur, bildender Kunst, Musik, Theater, Film und Architektur. Die russische Moderne entwickelte eine atembe-raubende Dynamik, die Europa ei-nen wahren „Russenkult“ bescherte. Dabei konnte deren Entdeckung über-gangslos an die vorangegangene, im-mer noch anhaltende breite Hinwen-

dung zu den großen russischen Erzäh-lern des 19. Jahrhunderts anknüpfen. Man las in Deutschland Maxim Gor-kij, während gleichzeitig erste Werk-ausgaben von Tolstoj, Dostojewskij und Tschechow erschienen. Tschai-kowskij und Rachmaninow waren Lieblingskomponisten der Deutschen geworden, und die Aufführungen ihrer Werke ebneten den Weg für die Auf-nahme jüngerer russischer Kompo-nisten wie Igor Strawinsky und spä-ter auch Sergej Prokofjew und Dmitrij Schostakowitsch.

Atemberaubende Dynamik der russischen Moderne

In Russland wurde die kulturelle Ent-wicklung Deutschlands weiterhin auf-merksam verfolgt. Anregungen von dort griff man souverän auf und un-terwarf sie eigenen Interpretationen. Die Vertreter des Symbolismus hatten gerade die deutsche Klassik und Ro-

mantik wiederentdeckt und ihre geis-tige Verwandtschaft mit den deutschen Vorläufern bekundet. Aber auch neue-re deutschsprachige Autoren wurden rezipiert. Unter dem Reihentitel: „Bi-bliothek der Klassiker modernen Den-kens“ erschien um die Jahrhundert-wende im erlesen gestalteten Jugend-stileinband eine umfangreiche Wer-kausgabe von Gerhart Hauptmann, übersetzt von so bedeutenden Dich-tern wie den Symbolisten Konstan-tin Balmont und Walerij Brjussow. Ebenso sorgfältig ediert wurden 1912 mehrbändige Ausgaben von Heinrich Mann und Arthur Schnitzler, die trotz des nahenden Krieges ihre Leser fan-den. Für russische Denker verschie-dener Richtungen wie Wladimir So-lowjow, Rosanow, Mereschkowskij, Berdjajew, Sergej Bulgakow, Sches-tow war Nietzsche ein fester Orientie-rungpunkt am geistigen Horizont, ob sie ihm nun folgten oder sich von ihm abwandten. Bevor Sergej Djagilew in

Abb. 2: Der Feind als

Ungeziefer, das man gezielt ver-

nichtet: Anheizen der Kriegsstim-mung mit einer deutschen Post-karte von 1914.

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Paris seine berühmten „Saisons Rus-ses“ arrangierte, hatte er 1906 eine Ausstellung russischer Kunst in Ber-lin organisiert. Kandinsky und an-dere russische Maler studierten um die Jahrhundertwende in München und entwickelten dort neue Bildspra-chen. Das Programm des Blauen Rei-ters vereinigte deutsche wie russische Expressionisten und wirkte über die Grenzen der Malerei in andere Küns-te hinein. Barlach und Rilke reisten in ein Russland, das ihnen neue Welten offenbarte. Alexander Blok und Ma-rina Zwetajewa entdeckten auf ihren Reisen das romantische Deutschland ihrer Träume wieder. Nicht zuletzt be-fand sich auch Lenin um die Jahrhun-dertwende in Deutschland, wo er mit Plechanow und L. Martow die revo-lutionäre Untergrundzeitschrift „Is-kra“ gründete und die Strategien der bewunderten starken sozialdemokra-

Abb. 3: In den 20er und 30er Jahren unter-stützten deutsche Rüstungsfirmen den Aufbau des sowjetischen Flug-wesens: Offiziere der Luftstreitkräf-te der Roten Ar-mee machten sich in der geheimen Flugschule in Li-pezk mit dem deut-schen Flieger „Al-batros“ vertraut.

Abb. 4: Der sowjetische Genetiker Nikolaj Timofe-jew-Ressowskij (2.v.r.) im Kaiser Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch

in den 30er Jahren.

tischen Partei begutachtete. Es gab eine reiche, ausdifferenzier-te gemeinsame Basis des kulturellen Austauschs, und noch schien sie un-eingeschränkt entwicklungsfähig. Das Miteinander hatte einen intensiven und zugleich so selbstverständlichen Charakter, wie er nur noch einmal, in der Zwischenkriegszeit, umfassend praktische Gestalt annahm.

Miteinander in Kultur und Wissenschaft

Doch vor dem Ersten Weltkrieg hat-te sich das geistige Leben in einer Art Schutzraum zumeist weit entfernt von den Zentren der Macht abgespielt. In einer zeitgleichen Gegenbewegung ging auf politischer Ebene gerade die Ära traditioneller deutsch-russischer Bündnisse ihrem Ende entgegen. Nur noch mühsam bemäntelt wurden die

zwischenstaatlichen Spannungen, und geheime Kriegspläne in allen Varia-tionen lagen bereits in den Schub-laden, lange bevor die kriegerische Auseinandersetzung begann (Abb. 2). Der Rhythmus des historischen Laufs in beiden Ländern mit seinen kurzen, wechselhaften Perioden, mit schroffen Einschnitten und Brüchen der ersten und mit der langanhalten-den Erstarrung in den Blocksystemen der zweiten Jahrhunderthälfte verhin-derte den Erfolg zahlreicher Bemü-hungen um ein Wiederanknüpfen an die bereits einmal gelebte Realität normaler Kommunikation, freund-schaftlicher Nähe und des geistigen Miteinanders.Im weiteren Weg des Jahrhunderts gab es durchaus Zeiten, in denen das gesellschaftliche Interesse an einer kulturellen Annäherung auf beiden Seiten besonders groß war – dies galt vor allem während der zwanziger Jah-re. Hunderttausende Menschen wech-selten aus unterschiedlicher Motivati-on die Grenzen in beide Richtungen. Nahm Deutschland vor allem die in Folge des Bürgerkriegs vor der Sow-jetmacht geflohenen Emigranten und herausragende Geistesgrößen auf, so öffnete später, während der Weltwirt-schaftskrise, die UdSSR wie niemals danach wieder weit ihre Tore für deut-sche Spezialisten aller Berufe (Abb. 3 u. 4). Die internationale Konstellati-on soufflierte die Wiederannäherung der Kriegsgegner, doch verliehen tak-tische Manöver den offiziellen Kon-

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Info1

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takten den Charakter eines jederzeit aufkündbaren, eiskalten Zweckbünd-nisses. Zu seiner emotionalen Unter-fütterung wurden alte deutsch-rus-sische Sentimentalitäten – wie die Ge-fahr der Umorientierung auf die Wer-te der jeweils fremden Kultur – be-dient und wieder verdrängt, ganz wie es die staatspolitischen Bedürfnisse diktierten. Dennoch gab es auf beiden Seiten echte Träume, die nicht allein auf politische Anhänger des sozialisti-schen Systems beschränkt blieben.

Gemeinsame Träume

Es fanden sich darunter auch Macht-phantasien deutsch-russischer Welt-geltung, Träume gemeinsamer Front-stellung gegen Westeuropa. Im Zei-chen von Rapallo träumten diesen Traum am intensivsten die Kommunis-ten und auch manche deutsche Sozi-

Bereits 1982 begann Lew Kopelew mit sei-nen Mitarbeitern in Wuppertal die kommen-tierte Dokumentation der Kulturgeschichte der deutsch-russischen Beziehungen vom 11. bis zum 19. Jahrhundert bzw. dem Vor-abend des Ersten Weltkriegs. Das Projekt zum 20. Jahrhundert konnte Kopelew noch selbst auf den Weg bringen, auch wenn es erst nach seinem Tode begann. Die Leitung übernahm Prof. Karl Eimermacher, Grün-dungsdirektor des Bochumer Lotman-Insti-tuts. An der Auffindung, Sichtung und Wer-tung des nahezu alle Bereiche der Gesell-schaft tangierenden Materials waren 130 Wissenschaftler beider Länder beteiligt.Die Arbeit an den Manuskripten und Bil-dern war für Übersetzer, Redakteure und Herausgeber eine große Herausforderung. Eine bisherige Trennung nach wechsel-

seitigen Perspektiven – Russland aus deut-scher bzw. Deutschland aus russischer Sicht – wurde aufgegeben; mitunter findet man beides nun in ein- und demselben Text wie-der. Stärker als früher sind neben kulturellen und künstlerischen Betrachtungen Themen aus Politik und allgemeiner Geschichte ver-treten. In die Redaktion der Neuen Folge wa-ren neben den Autoren dieses Beitrags auch Dr. Mechthild Keller, Karl-Heinz-Korn, Ma-ria Klassen und Dr. Timofey Abalonin einge-bunden. Die Vermittlung zu einem Großteil russischer Autoren übernahm der Historiker Gennadij Bordjugow (Moskau). Das „Kopelew-Projekt“ wurde u.a. durch das Ministerium für Wissenschaft und For-schung NRW, die Fritz Thyssen Stiftung, die Stiftung für die deutsche Wissenschaft und das Auswärtige Amt gefördert.

14 Publikationen• Deutsch-russische Fremdenbilder vom 1. bis 19. Jahrhundert, Publikationsreihe von Aufsätzen deutscher und russischer Wis senschaftler – 9 Bände unter Leitung von Lew Kopelew, fortgesetzt von Prof. Dr. Dr. h.c. Karl Eimermacher• Russen und Deutsche im 20. Jahrhundert, Publikationsreihe (Neue Folge) – 3 Bände unter Leitung von Prof. Dr. Dr. h.c. Karl Eimermacher• Zärtlichkeit und Abwehr, Bd. 1, Digest zur alten Folge, hrsg. 2003 von Dr. Mechthild Keller und Dagmar Herrmann• Traum und Trauma, Bd. 2, Digest zur neu en Folge, hrsg. 2003 von Dagmar Herr mann und Astrid VolpertAlle Bände sind erschienen im Wilhelm Fink Verlag München.

Das „Kopelew-Projekt“: West-östliche Spiegelungen 1982-2004

aldemokraten, die sich die Nachrich-ten von sowjetischen Massenerschie-ßungen nur als bösartige Gerüchte er-klären konnten, weil sie im Osten das Bollwerk einer menschlicheren Zu-kunftsgesellschaft erschauten. Doch auch die sowjetische Regierung und die Sozialismus-Gläubigen unter ih-ren Bürgern beobachteten die Arbei-terbewegung Deutschlands noch bis in die zwanziger Jahre ungeduldig auf Anzeichen eines revolutionären Sturms: Mit einem Sowjetdeutsch-land an der Seite würde die Sowjetu-nion bestehen können, dann wäre die Weltrevolution nicht mehr fern. Man-che russische Kommunisten meinten sogar, dass das Zentrum der Weltre-volution dann nach Berlin übergehen werde. Mentale Prozesse gehorchen einer ei-genen Dynamik mit ihren Trägheits-faktoren und Verstärkern, ihren Tabu-

isierungen und Antizipationen. Ob-wohl das 20. Jahrhundert Deutsche und Russen weit voneinander ent-fernte, verlief die Geschichte beider Länder auf auffällige Weise parallel.

Paralleler Geschichtsverlauf

Die Diktaturen der 30er Jahre nährten mit ihrer Orientierung auf Vergangen-heit wie Zukunft die Illusion, außer-halb ihrer Zeit zu stehen. Kunst soll-te nun Glanz und Überlegenheit der Macht vor Augen führen, diese als öf-fentliches Schauspiel inszenieren und der Erziehung und Propaganda Nach-druck verleihen, um der jeweiligen Bevölkerung die neue Werteordnung des Staates einzuschärfen. Beide Kul-turen durchliefen – mit spezifischen Abweichungen – Krieg, Revolution, Demokratie und Diktatur und wieder-um Krieg, bis der Kalte Krieg die Blö-

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Russland

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Abb. 5: Im Blick das Doppelgängerland: Die Sze-ne aus dem sowjetischen Kinderfilm „Die zerrissenen Stiefel“ (R. M. Barskaja) zeigt einen deutschen Hitlerjungen nach rus-sischer Vorstellung: in gewollt ähnlicher Aufmachung wie ein sowjetischer Pionier und mit dem Gesicht des Volkskommissars Berija.

cke einfror. Diese Dynamik führte zu einer vergleichbaren Rhythmisierung der Generationserfahrungen, die über alle Entfremdung und Feindseligkeit hinweg dazu beitrug, immer wieder Brücken des Verständnisses zu bau-en (s. Abb. 5). Auf diese Weise zogen sich in Übereinstimmung wie in Kol-lision mit den historischen Verhältnis-sen und Ereignissen zahlreiche gegen-läufige Bewegungen der Annäherung und Berührung wie auch des Abgesto-ßenseins durch die Jahrzehnte.

Annähern, berühren und abstoßen

Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, der auch eine Schlacht hasserfüllter, ins Unermessliche ge-steigerter Feindbilder war, schienen nicht nur die Grundlagen des deutsch-russischen Dialogs auf beiden Seiten zerstört, auch die eigene kulturelle Identität hatte auf beiden Seiten Scha-den genommen. Die Sowjetunion als einer der Sieger und Besatzungsmacht im Osten Deutschlands bediente nun systembedingt für vier Jahrzehnte zwei unterschiedliche Deutschland-bilder. Die Deutschen selbst, vonein-ander isoliert in zwei sich polar ge-genüberstehenden Staaten und Blö-cken lebend, brauchten ein halbes Jahrhundert für die Kennzeichnung der Topographie des nationalsozialis-tischen Terrors. Bis heute nur verein-zelt erfasst, häufig auf einen vereinfa-chenden Vergleich mit dem Hitlerre-gime reduziert und so nur halbherzig aufgearbeitet ist die Topographie des Stalinschen Terrors in seinen Macht-strukturen wie in den millionenfachen erschütternden Einzelschicksalen.

Alte Stereotypen Andererseits folgen die inneren wie die äußeren Fremden- und Feind-bilder oftmals noch den alten Ste-reotypen des 18. und 19. Jahrhun-derts, als hätte es keine Moderne und ihre gewaltsame Zerschlagung in der Sowjetunion wie in Deutschland ge-geben. Die Auseinandersetzungen mit der klassischen Moderne, die auch die

Nachstalinsche Sowjetunion bis zu ih-rem Ende verdrängte, verleugnete und bekämpfte, sind heute in Russland erst einem kleinen Kreis von Fach-leuten zugänglich und keineswegs in

die allgemeine Bildungs- und Kultur-landschaft des Alltags integriert, de-ren Struktur ihrem Wesen nach ein-seitig vor allem repräsentativen, na-tional gesinnten Werten den Vorrang gibt. So harren russische Leistungen der Moderne auf manchem Gebiet noch ihrer Entdeckung, wissenschaft-lichen Kennzeichnung und Pflege als Voraussetzung für die Integration in den Kanon des kulturellen Welterbes; es sei hier nur erinnert an einzigar-tige Gebäude des Konstruktivismus in der Stadt- und Industriearchitektur, die gegenwärtig von Verfall und Zer-störung bedroht sind. Auch im nun-mehr wieder geeinten Deutschland sind erbittert geführte und zuweilen exotisch-grotesk anmutende Kultur-kämpfe um die Bewertung des kul-turellen Erbes der DDR, das sich in Jahrzehnten mühsam von der auf-oktroyierten sowjetischen Leitkul-tur emanzipierte, zu dokumentieren (Abb. 6). So gibt es noch zahlreiche Problem-felder aufzuarbeiten, die das 20. Jahr-hundert Deutschen und Russen hin-

Abb. 6: Kulturelles Erbe: Ausgediente Le-

nin-Ikone in einer ehemaligen Gar-nison der Sowje-

tischen Streitkräf-te in Deutschland

im Land Bran-denburg 2004.

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terließ. Unterdessen kündigten nicht einmal zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges die Bomben auf Jugoslawien das Ende der ruhigen Annäherung und konzentrierten Zu-sammenarbeit an und gaben eine ers-te Vorstellung von einer neuen Welt-ordnung, die die Konfliktfronten der Welt völlig neu definieren würde. Alle großen Projekte und Ideen der Jahre zuvor wie der Bau des gemeinsamen Hauses Europa, die Aussöhnung der ehemaligen Kriegs- und Blockgeg-ner oder die Stärkung der UNO wur-den diesen neuen Prioritäten unterge-ordnet.

Auseinandersetzung mit dem russischen Erbe

Auch die so lange aufgeschobene ernsthafte deutsch-russische Beschäf-tigung mit dem schwierigen 20. Jahr-hundert wurde von der Dynamik der politischen Weltlage gestreift. Die hohen Erwartungen an die Normali-sierung des kulturellen und mensch-lichen Austauschs und der Zusam-menarbeit, die sich an den Zusam-menbruch der Sowjetunion und die Öffnung der Berliner Mauer an-schlossen, erfüllten sich zwar für die

Politiker in einer Reihe von gemein-samen Dialogen und Prestigepro-jekten, doch erreichten damit längst nicht alle profunden Vermittler und Interessierten. Um so größer ist der Wert der Forschungen zu veranschla-gen, die frei von ideologischen Vor-gaben und staatlichen Restriktionen das letzte Jahrhundert in den Blick nehmen und die der Auseinanderset-zung mit dem deutsch-russischen his-torischen Erbe die nun möglich ge-wordene zwei- und mehrseitige Per-spektive verleihen. Ein Vorbote dieser Wendung der Dinge war Lew Kopelew, der, sei-ner Zeit ungeduldig vorauseilend, bereits 1982, nach seiner Ausbür-gerung aus der Sowjetunion, an der Wuppertaler Universität mit der kom-mentierten Dokumentation der Kul-turgeschichte der deutsch-russischen Beziehungen begann. Von der Ein-sicht bewogen, dass für die Aufar-beitung der jüngsten Geschichte die notwendige Bedingung der wechsel-seitigen Zusammenarbeit noch nicht gewährleistet war, hatte er sein Pro-jekt chronologisch mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs enden lassen. Seine den deutsch-russischen Bezie-hungen früherer Jahrhunderte gewid-

mete Buchreihe „West-östliche Spie-gelungen“ trägt ungeachtet ihres Ei-genwerts als breites und detailreiches Panorama deutsch-russischer Gegen-seitigkeit zugleich den Charakter ei-ner Vorgeschichte des 20. Jahrhun-derts (s. Info 1). Allein die Entschei-dung Lew Kopelews, den Schwer-punkt auf die wechselseitigen Frem-den- und Feindbilder zu legen, war ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr das Wuppertaler Projekt seine Entstehung dem Nachdenken über die schwierigs-te Epoche des deutsch-russischen Ver-hältnisses verdankte und dem Wunsch folgte, zu verstehen, „wie es dazu ge-kommen ist“.

Schwerpunkt: Fremden- und Feindbilder

Das Projekt zum 20. Jahrhundert ver-traute der russische Germanist und unermüdliche Mittler dem Bochumer Slavisten und Literaturwissenschaftler Karl Eimermacher an, der nach Kope-lews Tod im Jahr 1997 die Leitung übernahm (s. Info 2). 130 Autoren aus Deutschland und Russland waren in-nerhalb von sieben Jahren an der Auf-findung, Sichtung und Wertung des fast alle Gesellschaftsbereiche tan-gierenden Materials beteiligt: Ihre in Aufsätzen fixierten Erkenntnisse sind in einer Staffel von drei Bänden als Neue Folge der West-östlichen Spie-gelungen 2005 und 2006 erschie-nen. Der erste Band widmet sich den „Verführungen der Gewalt“ im Ers-ten und Zweiten Weltkrieg auf bei-den Seiten der Front wie im Hinter-land der Kämpfe. Latent vorhandene Kriegsstimmungen werden bei des-sen Ausbruch durch organisierte Pro-pagandafeldzüge aufgeladen, an de-nen auch Wissenschaftler und Künst-ler beteiligt sind. Der Alltag im Krieg hat viele Haupt- und Nebenschauplät-ze, und überall ist er in der Wahrneh-mung der Betroffenen ein Zivilisati-onsbruch, der zur Gewohnheit wird und alle vormaligen Errungenschaften des Verstehens und Miteinanders ver-gessen lässt. Das letzte Kapitel im Band klassifiziert die verübte Gewalt als Verbrechen – Pogrome, Deporta-

Lew Kopelew geb. 1912 in Kiew, 1935-1938 Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte in Moskau; 1941 Instrukteur für Aufklärungs-

info2

arbeit im Feindesheer; 1943 Lehr-stelle an einer antifaschistischen Frontschule für Wehrmachtsan-gehörige; 1945 nach Denunzia-tion und Verhaftung Verurteilung zu zehn Jahren Lagerhaft wegen Kritik an den Grausamkeiten der Sowjetsoldaten beim Einmarsch in Ostpreußen; danach Gelegen-heitsarbeiten, ab 1960 Mitarbeiter am Institut für Kunstgeschichte, Russische Akademie der Wissen-schaften (RAN), Moskau; 1968 Entlassung und Parteiausschluss wegen seines Engagements für J. Daniel und A. Sinjawaskij u. a. Regimekritiker; 1977 Ausschluss aus sowjetischem Schriftsteller-verband; Oktober 1980 Ausrei-segenehmigung zu einem einjäh-rigen Aufenthalt in der BRD mit

seiner Frau R. Orlowa; 1981 Ausbürgerung des Ehepaars durch den Obersten Sowjet; 1982-1997 Forschungsprofessur an der Ber-gischen Universität Wuppertal.

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tionen, Zwangsarbeit und systemati-sche Tötung unschuldig Verurteilter. Sie sind im Gedächtnis der Nach-geborenen eine fassbare, wenn auch schwer ertragbare zahlenmäßige Grö-ße, hinter der die Gesichter der Opfer wie die der Täter hervortreten.Die Aufsätze des zweiten Bandes be-richten von „Stürmischen Aufbrüchen und enttäuschten Hoffnungen“. Ihre Autoren reflektieren die eineinhalb Jahrzehnte Zwischenkriegszeit mit ih-ren vielfältigen Werbungen und Pro-ben der Zusammenarbeit von Russen und Deutschen auf unterschiedlichen Gebieten. Im Mittelpunkt dieser Zeit-studien stehen neben Bündnissen in Politik und Philosophie, gegensei-tiger Austausch und Entwicklung im Bereich von Literatur, Theater, Film und Medien. Der abschließende drit-

te Band wirft unter dem Motto „Tau-wetter, Eiszeit und gelenkte Dialoge“ Schlaglichter auf die Zeit nach 1945, in der die deutsch-russischen Bezie-hungen bis zur Implosion der östli-chen Systeme und Gesellschaften für vier Jahrzehnte gekennzeichnet wa-ren durch die schwierige Balance zwi-schen verordneter Freundschaft und Kaltem Krieg.

„Kopelew-Projekt“: Ein Vierteljahrhundert Forschung

Das internationale Forschungsvorha-ben, bekannt geworden als „Wupper-taler“ bzw. „Kopelew-Projekt“, findet nach mehr als einem Vierteljahrhun-dert Arbeit, deren Ergebnisse 14 Bän-de mit einem Textvolumen von aber-tausenden Seiten füllen – sechs davon

sind unter dem Dach des Lotman-Ins-tituts entstanden – seinen Abschluss. Seinen Redakteuren und Autoren war nicht an kurzlebigen spektakulären Botschaften gelegen. Sie wollten auf die menschliche Seite der politischen Geschichte hinweisen, auf glückli-che und tragische schicksalhafte Ver-flechtungen unterschiedlicher, einan-der bedingender und durchdringender europäischer Kulturen aufmerksam machen. Dass dabei weiterhin viele Fragen offen bleiben, liegt in der Na-tur der Sache selbst. Ihnen von ver-schiedenen Seiten her nachzugehen wird zu den Aufgaben des deutsch-russischen kulturellen Dialogs der Zu-kunft gehören.

ein Projekt in Zusammenarbeit der RUB-Pressestelle

mit dem Musischen Zentrum im Auftrag des Rektorates

40 Jahre - 40 Menschen

Das RUB-Jubiläumsbuch mit

40 Interviews und

40 Porträtfotografien von Menschen

aus der Ruhr-Universität

Ruhr-Universität Bochum 1965 - 2005

erhältlich : Pressestelle der RUB, Universitätsstr. 150, 44801 Bochum, UV 03/370, Tel. 0234/32-22830; www.rub.de/presse

Fotografie: Felix Freier und Babette Sponheuer

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Medizin

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Stellen Sie sich vor, sie könnten nicht von A nach B sehen, und

müssten den Kopf für jede eigentlich durch das Auge gemachte Bewegung mitdrehen. Oder Sie könnten bei der Fahrt mit dem Auto oder Zug beim Beobachten der vorbeiziehenden Landschaft kein stabiles räumliches Bild mehr sehen. Alles verrutscht, schwimmt an Ihnen vorbei. Zunächst nervt es nur ein wenig. Dann wird es anstrengend, Ihnen wird übel, viel-

Neue Methode hilft Kommunikation der Hirnnervenzellen verstehen:

Stabiles Bild dank plappernder Nervenzellen

Hirnnervenzellen, die ständig scheinbar ohne Grund Signale abgeben, ermöglichen es uns, ein stabiles Bild zu sehen und Bewegungen mit den Augen zu folgen. Aber warum „plappern“ diese Zellen pausenlos? Und wer hört ihnen zu? Diese Fragen erforschen Neurowis-senschaftler mit einer neuen Methode: Sie injizieren winzige Goldkügelchen ins Gehirn und verfolgen ihren Weg entlang der Reizleiter. So ziehen sie Rückschlüsse auf die Vernetzung einzelner Hirnbereiche.

N. Prochnow M. Schmidt

leicht auch schwindelig, und Sie ver-lieren die räumliche Orientierung. Patienten, die z.B. durch einen Un-fall, einen Schlaganfall oder einen Tu-mor eine Schädigung des Augenbe-wegungsapparates (okulomotorischer Apparat) haben, erleben das täglich. Die medizinische Behandlung er-schöpft sich derzeit in der Bekämp-fung der Symptome durch Mittel ge-gen Schwindel und Übelkeit. Um die Ursachen gezielt behandeln

Dipl.-Biol. Nora Prochnow, HD Dr. Matthias Schmidt, Lehrstuhl für All-gemeine Biologie und Neurobiolo-gie, International Graduate School for Neuroscience der Ruhr-Universi-tät (IGSN), Direktorin: Prof. Dr. De-nise Manahan-Vaughan

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Abb. 1: Die Gehirne von Mensch (A) und Ratte (C) unterscheiden sich zwar äu-ßerlich, sind in der funktionellen Ein-teilung aber verwandt.(B) u.(D): Seitenansicht.Generell gilt eine Einteilung in I) Vorder-, II) Zwischen-, III) Mittel-, IV) Kleinhirn und V) Rückenmark. Während Vorder- und Zwischenhirn für Wahrnehmung, Lernen und die Vorverarbeitung von Sinnesinforma-tionen zuständig sind, ist das Mittel-hirn eine Signalumschalt- und Ver-teilerzentrale. So wird hier auch vi-suelle Information bearbeitet und an Zwischen- und Kleinhirn geschickt um z.B. Augenbewegungen zu veran-lassen. E): Der Verlauf der Sehbahn (rot) mit den Umschaltstationen.

zu können, untersuchen wir die Ver-schaltung von Nervenzellen (Neu-ronen) im visuellen System des Ge-hirns: Wir wollen wissen, welche Kommunikationswege zwischen Ner-venzellen vorliegen müssen, damit ein gesundes Säugetier zielgerichtete Au-genbewegungen durchführen kann. Einen wesentlichen Beitrag zur Um-setzung des von der Netzhaut im Auge erfassten Bildes in eine entsprechende Folgebewegung der Augen leistet das Mittelhirn (Abb. 1), ein Abschnitt des Säugetiergehirns, der vor allem an der Auslösung unbewusster Bewegungs-abläufe, im Besonderen von Bewe-gungen der Augen, beteiligt ist. Das Mittelhirn dient dabei als Umschalt-

stelle für visuelle Signale aus der Netzhaut, die für die Ansteuerung der Augenmuskeln aufbereitet und dann an das Kleinhirn oder den Hirnstamm weitergegeben werden. Im Mittel-hirn entstehen also die Kommandos zur zielgerichteten Ausführung einer Augenbewegung.

Umschaltstelle für visuelle Signale

Was dabei im Detail passiert, steht im Mittelpunkt unserer internationalen Kooperation (s. Info). Gehirne beste-hen aus unzähligen Nervenzellen, die zu funktionellen Einheiten räumlich zusammen geordnet sind. Jeder der oben genannten Hirnabschnitte ent-

hält viele solcher funktionalen Grup-pen (sog. „Kerne“), die sehr spezi-elle Aufgaben erfüllen. Der Kern im Mittelhirn, mit dessen Neuronen wir uns befassen, hat die Funktion eines „Schaltkastens“, er heißt „Nucleus tractus optici“ (kurz NTO). In die-sem Kern enden die Reizleiter (Axo-ne) von Nervenzellen der Netzhaut; sie stellen damit die Hauptkommu-nikationsleitung zwischen NTO und dem Auge dar. Nervenzellkommunikation erfolgt im-mer durch den Fluss elektrisch gela-dener Teilchen (Strom) über Kanä-le in der Zellmembran. Änderungen des Netzhautbildes werden über bio-chemische Mechanismen in eine Fol-

E)

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ge elektrischer Impulse umgewan-delt (sog. Aktionspotentiale). Die-se Impulsfolge wird über das Axon von Neuronen der Netzhaut direkt an dessen Zielort im Gehirn geleitet, wo am Axonende (synaptisches Termi-nal) eine Freisetzung von Botenstof-

Abb. 2 unten: Grundaufbau einer Nervenzelle (Neuron), eingeteilt in Zellkörper (Soma), Reizleiter (Axon) und Axonende (synaptisches Termi-nal). Während der Zellkörper primär der Reizaufnahme dient, kann elektrische In-formation über das Axon ins Axonende ge-leitet werden und eine Freisetzung des dort gespeicherten Botenstoffes veranlassen.

Abb 2. rechts: Nervenzellkommunika-tion: Wird das Potential des Zellinneren durch Ein-strom positiv geladener Teil-chen positiver (I), öffnen sich benachbarte „ladungssensi-tive“ Teilchenkanäle (II) für weitere positiv geladene Teil-chen – ein Dominoeffekt setzt ein, so dass elektrische Reize entlang des Axons bis zum sy naptischen Terminal weiter-gegeben werden. Ein Ein-strömen von Kalzium (III) gibt dort den „Start-schuss“ für die Bo-tenstofffreisetzung. Der Botenstoff bin-det an spezifische Rezeptoren von Kanä-len in der Membran des nachgeschalteten Neurons (IV) und verur-sacht wiederum einen Teil-cheneinstrom – der Prozess kann von vorn beginnen oder wird an dieser Stelle gehemmt.

fen (Neurotransmittern) erfolgt. Die freigesetzten Botenstoffe sind in der Regel einfache Moleküle, die an kom-plexe Moleküle (Rezeptoren) in der Zellmembran nachgeschalteter Neu-rone passen, wie ein Schlüssel in ein kleines Schlüsselloch. Die Bindung der Neurotransmitter an den Rezeptor öffnet Kanalporen, durch die geladene Teilchen fließen können, und erzeugt damit einen Stromfluss (Abb. 2). Je nach seiner Beschaffenheit kann der Botenstoff die Weiterleitung des Sig-nals durch die nachgeschaltete Zelle begünstigen oder unterbinden. Ein be-günstigender (erregender) Neurotrans-mitter ist die Aminosäure Glutamat. Setzt sich Glutamat in den passenden Rezeptor eines nachgeschalteten Neu-rons, so öffnet sich der rezeptorge-koppelte Kanal und es kommt zum Einstrom positiv geladener Teilchen (Kationen) in die Zelle aus dem sie umgebenden extrazellulären Medium. Für die Zelle ist das ein Zeichen, sich auf eine Impulsweiterleitung vorzu-bereiten. Es ist eine Eigenschaft von Neuronen, solch einen Einstrom posi-tiv geladener Teilchen zu registrieren,

durch eigene Mechanismen zu verstärken und in Form eines „Blitzsignals“ (Akti-

onspotential) über ihr eigenes Axon zur nächsten Zelle wei-

terzuleiten. Dort erfolgt die synap-tische Übertragung erneut. Zu den Botenstoffen, die eine Sig-nalweiterleitung stoppen (sog. hem-mende Neurotransmitter), zählt die Gamma-amino-Buttersäure (GABA). Auch GABA öffnet einen Kanal in der Zellmembran des nachgeschalteten Neurons, allerdings lässt dieser Kanal nur negativ geladene Teilchen (An- ionen) in die Zelle. Dies verhindert die Entstehung eines Aktionspotenti-als in der nachgeschalteten Zelle.Diese Weiterleitung von Sig-

nalen funktioniert

auch bei Neu-ronen im NTO: Die

dort endenden Axone von Neu-ronen der Netzhaut schütten Gluta-mat aus, was bei gewöhnlichen NTO-

Neuronen zu der beschriebenen Erre-gung und Signalweiterleitung führt. Wir haben jedoch bei Messungen an isolierten Gehirnschnitten der Ratte auch Neurone gefunden, die solch ei-nen erregenden Informationseingang nicht unbedingt brauchen, um Akti-onspotentiale zu bilden und Transmit-ter an ihren Axonenden freizusetzen: Diese Nervenzellen produzieren fort-während Signale, sie „plappern“ pau-senlos vor sich hin, ohne von außen angeregt werden zu müssen.

Nervenzellen produzieren auf eigene Faust Signale

Dieser Fund wirft viele Fragen auf: Wie und warum produziert ein Neu-ron auf eigene Faust Signale? Welches sind die möglichen Zielorte seiner Axone? Welche Ziele kommen ins-besondere für die Steuerung von Au-genbewegungen in Frage? Welche Art von Augenbewegung wird durch ei-genständig signalgenerierende NTO-Neurone im Alltag unterstützt?Eine gute Hilfe auf dem Weg zur Be-antwortung dieser Fragen liefern die Ergebnisse früherer anatomischer Stu-dien, die mittels Farbmarkierung von Mittelhirnzellen gezeigt haben, dass es drei für uns interessante Zielorte für die Axone von NTO-Neuronen gibt. Interessant, weil alle drei Ziel-orte und Verbindungen bei der Aus-führung von Augenbewegungen eine wichtige Rollen spielen:Erstes Ziel: Die unmittelbare Nach-barschaft, das Sehhügelchen (Colli-culus superior). Es liegt mit Orientie-rung zur Gehirnmitte hin direkt ne-ben dem NTO (Abb.:3A) und erfüllt eine wichtige Rolle in der räumlich-visuellen Wahrnehmung und Informa-tionsverarbeitung. Es tritt immer dann in Aktion, wenn wir unseren Blick von Punkt A zu Punkt B wenden.Zweites Ziel: Der NTO auf der an-deren (kontralateralen) Seite des Ge-hirns (Abb. 3B), sozusagen der „Bru-derkern“. Da gesunde Gehirne immer aus zwei strukturell gleichen Seiten bestehen, kommt es häufig vor, dass diese Anteile miteinander kommuni-zieren, entweder durch gegenseitige

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B) der gegenü-berliegende NTO, eine Verbindung, deren funktionelle Einbindung in den Bilderfassungs-prozess noch nicht vollständig geklärt ist, vermutlich je-doch den Informa-tionseingang aus den Netzhäuten beider Augen ba-lanciert und Bild-verschiebungen zur Verarbeitung auf den beiden Gehirn-hälften abstimmt.

C) die untere Olive, die zur Generierung der Augenbewegung beiträgt, wenn wir z.B. aus einem fahrenden Zug schauen.

Abb. 3: Ziele der Reizleiterenden von Neuronen des Mittelhirnkerns (NTO) von Ratten:

A) Das „Seh-hügelchen“, eine Struktur zur Bild-erkennung.

Erregung oder durch gegenseitige Hemmung. Dies dient z.B. der Koor-dination der beiden Augen. Drittes Ziel: Eine mächtige Schalt-zentrale im Hirnstamm, die untere Olive (Oliva inferior) (Abb. 3C). Sie ist die Koordinationsstruktur für Bild-verschiebungswahrnehmung schlecht-hin. Die untere Olive steht in regem Kontakt mit Neuronen im Kleinhirn, die Gleichgewicht und Körperlage kontrollieren und die auch die Tätig-keit der Augenmuskeln regulieren. Dieser Schaltkreis wird immer dann aktiv, wenn wir etwa aus dem Fens-ter eines fahrenden Zuges blicken und der vorbeiziehenden Landschaft folgen. Die Augen führen dann – ob man es will oder nicht – horizonta-le Hin-her-Bewegungen aus, die das Netzhautbild stabilisieren (optokine-tischer Reflex).Natürlich gibt es eine Vielzahl wei-terer Hirnstrukturen, die aus dem NTO Informationen erhalten, die wir aber hinsichtlich der Fragestellung zunächst einmal nicht in Betracht gezogen haben, weil sie nicht direkt mit der Auslösung von Augenbewe-gungen befasst sind.

Welche „Zielorte“ angefunkt werden

Um die elektrische Aktivität von Neu-ronen im NTO zu untersuchen und zu ermitteln, ob und welchen der drei möglichen Zielorte ein Neuron „an-funkt“, nutzen wir die „Retrograde axonale Markierung mit partikulärem Gold“. Dabei wird einem Versuchstier in einer kleinen Operation unter Voll-narkose mit einer hauchfeinen Nadel eine sehr geringe Menge (0,5 Mikro-liter) einer Lösung in das Gehirn in-jiziert, die im Wesentlichen 15 nm di-cke Goldkügelchen enthält.Da wir wissen wollen, wohin NTO-Neurone mit bestimmter Aktivität ihr Axon strecken und ihre Signale ver-mitteln, injizieren wir die Lösung je-weils punktgenau an einen der drei möglichen Zielorte der Axone, z.B. das Sehhügelchen. Damit die Na-delspitze so präzise wie möglich in der angepeilten Region auftrifft, wer-

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kel „einverleibt“ hat, beginnt es, diese über sein Axon bis in den im NTO ge-legenen Zellkörper (Soma) zu trans-portieren. Gold ist ein ungiftiger, zell-freundlicher Marker, der selber weder den Neuronen schadet, noch von ih-nen (enzymatisch) abgebaut wird. Da das Gold nicht – wie normale Aktions-potentiale – vom Zellkörper (Soma) ins Axon läuft, sondern sozusagen rückwärts vom Axon ins Soma, wird

dies als „retro-grad axonal“ bezeichnet. Der retrograde Transport des Goldes ist pro-teinvermittelt, d.h. das Gold-partikel, das in eine Hülle (Ve-sikel) e inge-schlossen ist, wird an Prote-ine gekoppelt

und von ihnen durch das Axon „ge-schleppt“. Nach fünf bis sieben Ta-gen ist es im Soma in ausreichender Menge angekommen.

Gold wird „abgeschleppt“

Um einen genauen Eindruck zu erhal-ten, wie die marktierten NTO-Neu-rone aussehen und miteinander kom-munizieren, untersuchen wir unter dem Mikroskop Gehirnschnitte von 150 µm Dicke, die unter physiolo-gischen Bedingungen elektrisch ak-tiv bleiben. Nach erfolgreichem retro-graden Transport sieht man unter dem Mikroskop im NTO Nervenzellen, de-ren Zellkörper pfefferkörnchenartige Punkte enthalten (Abb.5): die Gold-partikel. Nicht alle Neurone des NTO enthalten diese Körnchen, da auch nicht alle Neurone des NTO mit ih-rem Axon im Sehhügelchen enden, in das wir das Gold injiziert hatten. Sicher ist jedoch, dass die Neurone

mit Punkten ihr Axon in die injizierte Ziel-struktur strecken. Das ist geradezu eine Ein-ladung dazu, genauer zu untersuchen, nach welchen Mustern die-se markierten Neu-rone elektrisch kom-munizieren:Da die neuronale Sig-nalerkennung, -wei-terleitung und -über-

den zuvor Tiefen- und Breitenkoordi-naten des Zielpunktes aus einem spe-ziellen Hirnatlas ermittelt.Einmal punktgenau in die visuelle Schicht des Sehhügelchens injiziert (Abb. 4) hat partikuläres Gold die er-staunliche Eigenschaft, durch eine Art „Essprozess“ (Endozytose) am dort endenden Axonende von NTO-Neu-ronen aufgenommen zu werden. So-bald sich das Neuron die Goldparti-

Abb. 4 links:Mit einer feinen Nadel wird eine sehr geringe Menge in Flüssig-keit gelöster Goldpartikel in eine der bekannten Zielstrukturen der NTO-Neurone eingebracht, hier die visuelle Schicht des „Sehhü-gelchens“.Abb. 4 unten: Die Partikel werden über die Axonenden von NTO-Neuronen auf-genommen und entlang des Axons ins Soma geschleppt, je nach Axonlänge über Millimeter bis Zentimeter. Dort lagern sie sich zu ca. 1 Mikrometer dicken „Goldbällen“ zusammen und werden zu einem lichtmikroskopisch sichtbaren, pfefferkornartigen Produkt.

Abb. 5 oben: 40 µm dicker Mittelhirnquerschnitt der

Ratte mit „Sehhügelchen“ (SC) als Gol-dinjektionsstelle, NTO und einem Stück

der visuellen Großhirnrinde (VC)

Abb. 5 rechts:Somata der Neurone des NTO. Die Pfei-

le weisen auf die Neurone, die sich an ih-rem Axonende im „Sehhügelchen“ Gold-partikel „einverleibt“ haben. Eine blaue Gegenfärbung lässt alle Somata sichtbar

werden und zeigt, dass nicht jedes Neuron Goldkörnchen enthält: nicht jedes Neuron

hier endet im injizierten „Sehhügel“.

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Abb. 6 links:Der frische Gehirnschnitt liegt in einer Probenkammer, von künstlichem Hirnwas-ser umspült unter dem Mikroskop. Mit dem Mikroskop können goldkörnchenhaltige Somata erkannt und gezielt zur Messung kontaktiert werden. Da Nervenzellaktivität auf elektrischen Strömen basiert, braucht man einen leitenden Zugang (Ableitelek-trode) zum Soma des Neurons. Da die Strö-me sehr klein sind, hilft man sich mit einem Verstärkersystem.

Abb.7:Patch-Clamp-Verfahren: Wie einen Stroh-halm auf eine Puddinghaut setzt man die Pipette auf die Zellmembran I). Als nächs-tes wird ein leichter Unterdruck auf die Pi-pette gegeben, so dass sich der darunter liegende Membranfleck ein wenig in die Pipettenöffnung einwölbt II). Der Unter-druck wird nochmals erhöht und die Zell-membran schlägt unter der Pipettenöff-nung auf III). An dieser Stelle fließt nun ein Strom, dessen Änderungen und Eigen-schaften man messen kann.

tragung immer durch Verschiebung elektrisch geladener Teilchen statt-findet, können wir sie anhand dieser Ströme mittels „Patch-Clamp“-Ver-fahren messen (Abb. 6). Unter dem Mikroskop liegt der Hirnschnitt mit goldmarkierten NTO-Neuronen in physiologischer Kochsalzlösung. Da man die einzelnen Neurone mit Hilfe des Mikroskops gut sehen kann, kön-nen wir mit einer sehr feinen Glaska-pillare (Ableitpipette) bis an die Zell-membran ihres Somas heranfahren.

Kontakt zur Nervenzelle aufnehmen

Die Ableitpipette ist mit einer Salz-lösung gefüllt, die in ihrer Zusam-mensetzung und ihrem pH-Wert dem inneren Milieu der Zelle entspricht. Zusätzlich enthält diese Lösung einen unsichtbaren Farbstoff, der sich wäh-rend der Messung in das Zellplasma mischt und nach der Messung in einer chemischen Reaktion zu einem brau-nen Produkt entwickelt werden kann. Wird die Zelle braun, weiß man si-cher, dass man sie vermessen hat und kann auch noch ihre Form und Lage im Hirnschnitt nachvollziehen. Die Ableitpipette hat direkten Kontakt zu einem mit einem Signalverstärker in Verbindung stehenden Ableitelektro-dendraht. Direkt auf der Zellmembran des gold-markierten Neurons angekommen, wird die Ableitpipette vorsichtig auf

die Zellmembran aufgesetzt (Abb. 7 I), etwa wie ein Strohhalm auf die Haut eines Puddings. Wie wenn man versucht, etwas Pudding durch den Strohhalm aufzusaugen, bildet sich zwischen Ableitpipette und Zellmembran durch einen leichten Unterdruck ein luftdichter Abschluss (Abb. 7 II). Saugt man nun kräftig ge-nug am Strohhalm, wird die Pudding-haut darunter aufreißen. So auch un-sere Zellmembran: Sie reißt durch den Unterdruck auf und wir erhalten au-genblicklich eine leitende Verbindung zum Zellinneren (Abb. 7 III). So kön-nen wir die Teilchenströme, die über Kanäle in der Zellmembran fließen, genau erfassen. Da der Zellkörper wie ein Ball unter der Glaskapillare hängt, gehen keine Teilchen am Kapillaren-rand verloren (Leckströme). Der größte Vorteil an dieser Technik ist, dass wir für unser Neuron ver-schiedene elektrische Bedingungen simulieren können. Neurone verfü-gen über einen Ruhezustand (Ruhe-potential, -60 mV) in dem, verein-facht ausgedrückt, kein Strom über die entscheidenden Kanäle in der Zellmembran fließt. Das hängt sowohl von der Teilchen- als auch von der La-dungsverteilung ab. Wird das Zellin-nere (z.B. durch transmittervermit-teltes Öffnen von Ionenkanälen und Einstrom positiv geladener Teilchen)

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vom Ruhezustand ins Positive (z.B. -30 mV) abgelenkt, so neigen Neu-rone in der Regel dazu, nachgeschal-tete Kanäle zum Einstrom weiterer positiv geladener Teilchen zu öffnen. Dies lässt in der Zelle ein elektrisches Signal (Aktionspotential) entstehen, das sich schnell über das Axon zur Axonendigung ausbreitet und dort die Ausschüttung von Neurotransmit-ter bewirkt (siehe Abb. 1). Ähnliches kann auch die Messapparatur: Über die Verbindung zur Ableitpipette kön-nen Ströme nicht nur gemessen, son-dern auch in die Zelle geschickt wer-den, die z.B. die positive Abweichung aus dem Ruhezustand induzieren. So-mit bekommen wir einen Einblick in das Antwortverhalten der Neurone. Wir haben in unseren Studien u.a.

Abb. 8: Abgeleitete Aktions-potentialmuster von

Neuronen des Mittel-hirnkerns (NTO) nach

der Aufnahme von par-tikulärem Gold. Jedes

Neuron erhielt wäh-rend der Ableitung ei-

nen Farbstoff, der es ermöglicht, die einzel-

ne Zelle im Gehirn-schnitt wieder zu fin-den. Neben dem Foto befindet sich die ent-sprechende Aktions-

potentialaufzeichnung. Das NTO-Neuron

mit Axonendigung im „Sehhügelchen“ (A) und das im gegenü-

berliegenden NTO en-dende Neuron (B) schi-

cken ein sehr regel-mäßiges, sich schnell wiederholendes Sig-

nal an ihre Zielstruk-tur. Ganz anders hin-gegen verhalten sich

die NTO-Neurone, die zur unteren Olive füh-ren (C). Sie sind eher vom „normalen“ trä-gen Typ und bedürfen der Anregung, um Ak-tionspotentiale zu ge-

nerieren.

untersucht, wie sich goldmarkier-te NTO-Neurone mit verschiedenen axonalen Zielorten am Ruhewert (-60 mV) verhalten und wie sie auf posi-tive Ablenkung (-45, -40, ... -25 mV) reagieren.

Nervenzelle ansprechen und Antwort abwarten

So besitzen z.B. NTO-Neurone mit Axonende im Sehhügelchen die Ei-genschaft, auch am Ruhewert Akti-onspotentiale zu bilden, wenn auch in geringer Rate. Induziert man nun die positive Ablenkung, so erhöht sich die Anzahl der sehr regelmäßig aus-gelösten Aktionspotentiale. Die Er-kenntnis daraus für uns: Es gibt ei-nen Neuronentyp im NTO, der in der

Lage ist, im isolierten Gehirnschnitt in hoher Rate gleichmäßig (tonisch) Aktionspotentiale zu bilden. Ferner wissen wir nun, das diese Nervenzel-len ebenfalls mit hoher Rate Neuro-transmitter im Sehhügelchen freiset-zen (Abb. 8 A).NTO-Neurone, die ihre Axonenden in den NTO auf der gegenüberliegenden Hirnhälfte strecken und von dort aus mit Gold retrograd markiert wurden, verhalten sich genauso (Abb. 8 B).Anders jedoch sehen die Reaktions-muster der NTO-Neurone aus, die die gleichseitige untere Olive inner-vieren. Diese stellen sich in unseren Hirnschnittmessungen eher als träge reagierende Zellen dar: Unter Ruhe-bedingungen sind diese Neurone in-aktiv, erst bei positiver Ablenkung

A

B

C

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Kooperationspartner des Projekts ist das Neurowissenschaftliche Institut der Uni-versitätsklinik der Duke University Medi-cal Center, Durham, North Carolina, USA, Arbeitsbereich Neurobiologie. Schwer-punkte der dortigen Arbeitsgruppe sind die Anatomie und Physiologie visueller Verschaltungssysteme des Zwischen- und Mittelhirns. Die Kooperation, die von HD Dr. Matthias Schmidt (Lehrstuhl für allgemeine Zoologie und Neuroana-tomie) initiiert wurde, be-steht seit 2004. Die amerikanischen Kol-legen arbeiteten die Hirn-forscher der Ruhr-Univer-sität in die Methode der re-trograden axonalen Trakt-markierung mit partiku-lärem Gold ein und stellen ihre hochauflösende Mess-apparatur und andere Ge-räte, die in Deutschland nicht vorhanden sind, für hiesige Forschungspro-jekte zur Verfügung: z.B. zur Markierung und ziel-gerichteten Ableitung der goldmarkierten Neurone

der NTO-unteren Olivenverbindung. Prof. Hall ist internationaler Drittgutachter der PhD-Arbeit von Nora Prochnow, die an der International Graduate School for Neuroscience der Ruhr-Universität ent-steht. Ab Ende 2007 wird sie für zwei Jah-re als Postdoc nach Durham gehen.

infoInternationale Kooperation

USA

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(größer -40 mV) beginnen sie, unre-gelmäßig (phasisch) und in geringer Anzahl Aktionspotentiale zu bilden. Sie verhalten sich damit wie „norma-le“ Neurone (Abb. 8 C).

Ergebnisse werfen neue Fragen auf

Welche Neurotransmitter (hemmend oder erregend) in den Zielregionen dieser drei Nervenzelltypen freige-setzt werden, untersuchen wir zur-zeit. Zudem untersuchen wir, ob die NTO-Neurone, die das Sehhügelchen mit tonischer Aktivität versorgen, zur gleichen Familie gehören wie NTO-Neurone, die ihre Axone in den NTO der anderen Gehirnhälfte strecken. Diese Neurone zeichnen sich im Ge-gensatz zu „normalen“ dadurch aus, dass sie schneller wieder erregbar sind, nachdem sie einmal ein Signal abgegeben haben. Sie verfügen u. a. über ein spezielles Ionenkanalsystem, mehr Mitochondrien (Zellkraftwerke) und ein Calciumspeichersystem. Diese Ergebnisse sind ein wichtiger Schritt zum Verständnis neuronaler Verschaltungen. Da man nun weiß, wo exakt visuelle NTO-Neurone ihre Axone hinstrecken und in welcher Rate sie welchen Transmitter auf de-ren Zielorte ausschütten, wird es auch leichter, krankheitsbedingte Schädi-gungen solcher Bahnen medizinisch zu erfassen und behandeln zu können. Eine sehr wichtige Rolle spielen bei solchen Fragen unsere tonischen Neu-rone, die mit dem Sehhügelchen und dem NTO der anderen Gehirnhälfte verknüpft sind. Denn tonische Si-gnale sind berechenbar. Wahrschein-lich leistet die Nervenverbindung von Sehhügelchen und NTO einen wich-tigen Beitrag zur Blickstabilisierung willkürlich durchgeführter Augenbe-wegungen und unterstützt gleichzeitig die räumliche Wahrnehmung. Weiter-hin ist anzunehmen, dass die Verbin-dung zwischen den beiden NTOs Teil eines Balanceapparates für das Aus-gangssignal an die Augenmuskeln ist, d.h. die Koordination der Bewegung beider Augen ermöglicht, so dass das eine Auge in seiner Bewegung mit der

Bewegung des anderen Auges korre-liert, wenn wir von Punkt A zu Punkt B schauen. Zwar ist es noch Zukunftsmusik, aber die medizinische Technik arbeitet in die Richtung, ausgefallene tonische Systeme mit Schrittmachern wie-der funktionsfähig zu machen. Sol-che Schrittmacher können über dün-ne Drähte elektrische Signale in be-stimmte Hirnbereiche schicken und werden bei der Behandlung von Par-kinson-Patienten bereits eingesetzt. Vielleicht kann irgendwann Schlag-anfallgeschädigten, Tumorpatienten oder Unfallopfern, die durch Schä-digung einer solchen Verbindung ihr Bewegungssehvermögen nahezu ver-loren haben, eine Möglichkeit gebo-ten werden, ihren Sehstandard im praktischen Leben wieder zu verbes-sern.Natürlich bleiben noch etliche Fragen offen – und nicht nur das: Es ergibt sich sogar eine Menge neuer Fragen,

denen es in Zukunft besondere Auf-merksamkeit zu schenken gilt: was schaltet die eigenständige Aktions-potentialbildung der NTO-Neurone mit den Zielen „Sehhöckerchen“ und gegenüberliegendem NTO an? Kön-nen diese Neurone auch in einen ru-higen Modus umschalten? Gibt es ein-fach erkennbare Unterschiede in der inneren Struktur der Neurone? Sind die beiden gefundenen Neuronen-gruppen strikt getrennt, oder gibt es im praktischen Leben auch einen In-formationsaustausch zwischen ihnen, und welche Rolle spielt er dann in der Bildbewegungsverarbeitung?...Genau das ist es, was die naturwissenschaft-liche Grundlagenforschung so span-nend macht und in Bezug zur prak-tischen Anwendung bringt.

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Wenn ein Brillengestell, auf das sich versehentlich jemand

setzt, nach der Belastung seine ur-sprüngliche Form wieder annimmt, oder sich ein Stent – ein winziges Stützsystem – im Blutgefäß wie von allein entfaltet und es offen hält, ist keine Magie im Spiel. Hier wird die Fähigkeit von Formgedächtnislegie-rungen genutzt, sich nach einer Ver-formung an ihre ursprüngliche Ge-stalt zu „erinnern“. Möglich macht

Werden Formgedächtnislegierungen bislang gezielt in Brillen, Zahnspangen oder als Gefäßstütze eingesetzt, so lautet jetzt die Vision: Das universale, zunächst funk- tionslose Bauteil wird je nach Verwendungszweck gezielt programmiert, etwa für eine intelligente Knieprothese, bei der lokale Formgedächtniseffekte dann die Muskel-funktionen des Kniegelenks steuern. Dafür entwickeln Ingenieure jetzt die Technik der funktionalen Program-mierung.

Prof. Dr.-Ing. Ewald Georg Welp, Dipl.-Ing. Sven Langbein, Lehrstuhl für Maschinenelemente und Kons-truktionslehre (LMK), Institut für Konstruktionstechnik, Fakultät für Maschinenbau

Haptisches Display und aktive Prothese

Neue Wege in der Formgedächtnis-Technologie:

Abb. 1: „Power KneeTM“

E. G. Welp S. Langbein

das die Atomgitterstruktur dieser Le-gierungen, die beim Erwärmen, Ab-kühlen oder bei Krafteinwirkung zwischen einer Tieftemperaturphase (Martensit) und einer Hochtempera-turphase (Austenit) pendelt, wodurch sich ein Werkstoff um bis zu acht Pro-zent ausdehnen oder auch kontrahie-ren kann. (s. Info 1). Obwohl der Sie-geszug dieser so genannten Memory-Metalle vom Weltraum (s. Info 2) bis in die kleinsten Räume des mensch-

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Formgedächtnislegierungen (FGL) sind metallische Werkstoffe, die sich nach einer Verformung unter Temperatur- oder Kraft-einwirkung scheinbar an ihre frühere Form-gebung erinnern und zu dieser zurückkeh-ren können. Der FG-Effekt wurde 1951 bei einer Gold-Cadmium-Legierung entdeckt und 1956 erstmals bei einer Kupfer-Zink-Legierung festgestellt. Die stärksten Me-mory-Effekte zeigen bisher Nickel-Titan-Legierungen (NiTi), was ihre besondere technische Bedeutung ausmacht. Die Ge-staltänderung einer FGL beruht auf einer Gitterumwandlung zweier verschiedener Kristallstrukturen der Legierung. Durch eine Änderung der Temperatur oder durch Anlegen einer äußeren mechanischen Span-nung kommt es zu einer diffusionslosen Phasenumwandlung zwischen der Tief-

temperaturphase Martensit und der Hoch-temperaturphase Austenit. Dabei können drei unterschiedliche FG-Effekte auftreten: der Einweg-Effekt, der Zweiweg-Effekt und die Pseudoelastizität. Werden FGL im mar-tensitischen Zustand verformt und nachfol-gend in einem bestimmten Temperaturbe-reich erwärmt, dann erinnern sich die Bau-teile an ihre Ursprungsform und kehren in diese zurück. Weil bei einer anschließenden Abkühlung des Werkstoffs in das Marten-sitgefüge zurück keine Formänderung auf-tritt, wird dieser Effekt als Einweg-Effekt bezeichnet (Beispiele: Entfalten der Sonnen-segel in der Weltraumtechnik, Stents in der Medizintechnik). Tritt eine Formänderung beim Aufheizen und beim Abkühlen auf, spricht man vom Zweiweg-Effekt – das Bauteil erinnert sich

sowohl an seine Hochtemperatur- als auch an seine Tieftemperaturphase (Beispiele aus der Aktorik: Stellelemente, Federn oder Flugzeug-Tragflächen). Im austenitischen Zustand zeigt eine FGL pseudoelastisches Verhalten, d.h. eine äußere Krafteinwir-kung bzw. eine mechanische Spannungsän-derung kann zu einer reversiblen Formän-derung führen. In diesem Fall wandelt sich der Austenit durch Umklappen des Gitters in den Martensit um. Für diesen Prozess, der mit einer großen Dehnung verbunden ist, sind keine Temperaturänderungen erforder-lich. Bei Entlastung wandelt sich der Mar-tensit wieder in den Austenit um – die Deh-nung geht zurück. Dieser FG-Effekt wird auch als Superelastizität bezeichnet (Bei-spiel: Brillengestelle).

lichen Körpers reicht, geben sie den Forschern immer wieder Rätsel auf. Nach Lösungen suchen die Wissen-schaftler etwa im Sonderforschungs-bereich „Formgedächtnis. Grundla-gen, Konstruktion, Fertigung“ (SFB 459, Info 2). Völlig neue Wege geht man dabei am Lehrstuhl für Maschi-nenelemente und Konstruktionslehre. Kommen Formgedächtnislegierungen bislang gezielt in Brillen, Stents oder Stelleinrichtungen, wie etwa Federn, zum Einsatz, so lautet jetzt die Vision: Das Bauteil soll zunächst universal, d.h. funktionslos sein, erst in späteren Produktentstehungsphasen wird es auf bestimmte Funktionen programmiert. Das stellt die herkömmliche Verfah-rensweise völlig auf den Kopf und re-duziert drastisch die Variantenvielfalt. Diese neue, im Maschinenbau revolu-tionäre Sichtweise der „Programmie-rung“ von Bauteilen ist vergleichbar mit der Herstellung von Schaltkreisen in der Informationstechnik bzw. Elek-tronik, die ebenfalls erst im Betriebs-zustand auf ihre eigentliche Funkti-on festgelegt werden. Im Unterschied zur Elektronik erfolgt die Funktions-gebung von Formgedächtnislegie-rungen (FGL) aber auf thermischem Wege und mit dem Ziel, eine mecha-nische Bewegung zu erzeugen. Ein weiteres Novum auf dem Gebiet der FGL ist die Kombination ver-schiedener FG-Effekte: Wir wollen

nicht nur einen Effekt (s. Info 1) lokal einstellen, sondern erreichen, dass in einem Bauteil Gelenke (Pseudoelas-tizität), Aktoren (Einwegeffekt) oder Federn (Zweiwegeffekte) nebenein-ander existieren (s. Abb. 2). Wenn die-se Funktionen noch an verschiedene Umwandlungstemperaturen gebunden sind, lassen sie sich auch gezielt akti-vieren. Auf diese Weise eine mehrstu-fige Umwandlung zu erzeugen, ist ein

weiteres Forschungsziel. Wenn sich dann noch die Form des Bauteils be-liebig variieren lässt, ist die Vielsei-tigkeit der Einsatzmöglichkeiten na-hezu ungegrenzt und selbst die ak-tive Knieprothese auf Formgedächt-nis-Basis nicht mehr fern.Doch zunächst gilt es, eine effektive Technik für die funktionale Program-mierung zu entwickeln. Dabei kommt uns eine Eigenschaft – ein Alleinstel-

info1

Das A&O der Formgedächtnislegierungen

Info2

SFB 459-Formgedächtnistechnik: Metalle erinnern sichWährend seiner Reise ins All trägt der Wis-senschaftssatellit ENVISAT-1 noch Scheu-klappen. Erst in seiner planmäßigen Um-laufbahn öffnet er die Augen, dank eines Entkopplungselements, dessen Herzstück ein Formgedächtnisdraht ist: Er besteht aus einer speziellen Legierung, die sich an ihre ursprüngliche Form erinnert und sie wieder annimmt. Formgedächtniseffekte von Me-tallen in Abhängigkeit von verschiedenen Temperaturbereichen erforschen Maschi-nenbauer, Chemiker, Physiker und Minera-logen gemeinsam im Sonderforschungsbe-reich 459 „Formgedächtnistechnik. Grund-lagen, Konstruktion, Fertigung“ (Sprecher: Prof. Dr.-Ing. Gunther Eggeler, Institut für Werkstoffe, Fakultät für Maschinenbau der Ruhr-Universität). Als eine Legierung mit besonders gutem Gedächtnis hat sich Nickel-Titan herausgestellt. Ihre gute Bi-okompatibilität macht sie zu einem wert-vollen Material für die Medizintechnik, aber auch die Robotik, die Mikrosystem-technik, die Luft- und Raumfahrttechnik,

die Sensorik und die Aktorik können davon profitieren. Der SFB widmet sich den Grundlagen, der Anwendung und der Fertigung von Form-gedächtnislegierungen. Um ihre Herstell-barkeit und Verarbeitbarkeit zu optimieren, wenden die Forscher Methoden der moder-nen Werkstofftechnik wie etwa die Pulver-metallurgie an. Ziel ist es auch, die Legie-rungen wirtschaftlicher herstellen zu kön-nen. Die Formgedächtniseffekte lassen sich zudem durch thermomechanische Vorbe-handlung beeinflussen. Außerdem prüfen die Wissenschaftler, wie schnell die Erin-nerungseffekte nachlassen und wie man sie trainieren und verbessern kann. www.ruhr-uni-bochum.de/sfb459/

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FG-Effekt unterdrückt. Durch eine lo-kale Wärmebehandlung kann sich die Gitterstruktur dann wieder erholen. So lassen sich zum Beispiel mit Hil-fe eines Lasers bestimmte Bereiche des Bauteils erwärmen – nur diese be-

sitzen dann den FG-Effekt. Für eine thermische Programmierung eignen sich alle Verfahren, die eine kontrol-lierte, örtlich auflösbare Erwärmung bis maximal 700°C ermöglichen. So-mit stehen einer industriellen An-wendung keine kostenintensiven La-ser-Fertigungstechnologien im Wege. Der FG-Effekt kann auch durch den Herstellungsprozess an sich unter-drückt werden, wie etwa beim sog.

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Abb. 2: Die gestanzte FG-Struktur ver-eint verschiedene Formgedächt-niseffekte – der rote Bereich stellt den aktiven Bereich dar, der für die Bewegung der Struk-tur sorgt. Der Bereich im blauen Ring fungiert hier als Gelenk (passiver Bereich).

lungsmerkmal – von FGL zugute: Passive und aktive Werkstoffeigen-schaften lassen sich lokal einstellen. Passive Werkstoffeigenschaften sind erforderlich, wenn Bewegungen nur geleitet oder übertragen, jedoch nicht erzeugt werden sollen, wie etwa bei Gelenken oder Strukturwerkstof-fen. Der Bewegungserzeugung dienen aktive Strukturen, die bei FGL über den sog. Ein-weg- bzw. Zweiwegef-fekt geregelt werden (s. Info 1). Voraussetzung für die lokale Einstel-lung von Werkstoffeigenschaften ist zunächst eine Deaktivierung des FG-Effektes im gesamten Bauteil, an die sich dann eine lokale Wärmebehand-lung (Programmierung) anschließt. Die Deaktivierung kann bereits wäh-rend des Herstellungsverfahrens z. B. durch einen Kaltwalzprozess er-folgen, indem die hohe Verformung das Kristallgitter schädigt und so den

Sputterverfahren, bei dem amorphe Schichten abgeschieden werden. Das Auftreten von FG-Effekten setzt je-doch eine kristalline Ordnung vo-raus. Auch hier erfolgt die Program-mierung dann durch eine lokale Wär-mebehandlung. Große Perspektiven haben lokal pro-grammierte bzw. konfigurierte FG-Elemente auch auf dem Gebiet der haptischen Displays. Benutzer dieser Displays erkennen Tastenfunktionen allein durch das Erfühlen. Bei der im-mer komplexer werdenden Bedienung von Maschinen stoßen herkömmliche Schalter aus Gründen der Übersicht-lichkeit und des Platzbedarfes zuneh-mend an ihre Grenzen. Haptische Dis-

Abb. 3:Array lokal konfigurierbarer FG-

Dünnschichtelemente: Die roten, kon-figurierten Elemente führen bei Wärme-

zufuhr eine Bewegung aus, während die üb-rigen Elemente keine Funktion besitzen.

plays haben im Vergleich mit handels-üblichen menübasierten oder Touch-Screen-Systemen einen wesentlichen Vorteil: Der Benutzer ist nicht auf vi-suelle Informationen durch einen Bildschirm angewiesen und kann so etwa im Auto den Blick auf die Stra-ße gerichtet lassen. Abb. 3 zeigt das Prinzip eines auf lo-kal konfigurierten FG-Elementen ba-sierenden programmierbaren hap-tischen Displays. Die roten, konfigu-rierten Elemente führen bei Wärme-zufuhr eine Bewegung aus, während die übrigen Elemente keine Funkti-on besitzen. Je nach Anwendungsbe-reich kann die Anzahl und die Positi-on der aktiven Elemente genau fest-gelegt werden. Wir untersuchen der-zeit lokal beschichtete Dünnschicht-

Abb. 4:Lokal beschichtete Dünnschichtaktoren für den Einsatz in haptischen Displays. Die lokale Beschichtung ist eine Vorstufe lokal konfigurierter FG-Effekte. Mit Hilfe sol-cher Aktorelemente lassen sich taktile In-formationen auf dem haptischen Display erzeugen.

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Abb. 5:Die Dünnschichtstrukturen wer-den in einem Demonstrator ge-testet, der zugleich Modell für ein haptisches Display ist, wie es etwa in einem Kraftfahrzeug zum Einsatz kommen könnte.

aktoren für einen möglichen Einsatz in haptischen Displays. Die lokale Beschichtung stellt die Vorstufe zur lokalen Konfiguration dar. Auf die-se Weise entfallen aufwendige Mas-ken, die durch eine lokal positionier-bare Wärmequelle ersetzt werden (s. Abb. 4). Mit Hilfe der Aktorelemente werden die taktilen Informationen auf dem Display erzeugt. Wir testen die Dünnschichtstrukturen derzeit in einem Demonstrator (s. Abb. 5).

FG-Elemente aktivieren Prothesen

Schließlich besitzen lokal konfigurier-te FG-Elemente auch auf dem Gebiet der Prothetik ein großes Potential. Prothesen werden zunehmend intel-ligenter: Elektronik in Form von Mi-krocomputern, kombiniert mit neuen Werkstoffen, wird zukünftig fester Be-standteil von Prothesen sein, die auf diese Weise ihren biologischen Äqui-valenten immer mehr entsprechen werden. Die Zukunft stellen etwa ak-tive Prothesen für Arme und Beine dar, die individuell an jeden Patienten angepasst werden können. Dabei las-sen sich über FG-Elemente ebenso aktive Strukturen (Antriebe) reali-sieren, die die Prothese bewegen, an-

passen oder justieren wie Muskeln, da ein FG-Element ähnlich einem Mus-kelstrang eine Kontraktion ausführen kann. Anpassen und Justieren bedeu-tet, dass mit Hilfe von FG-Elementen Prothesen befestigt und verstellt wer-den können. Zum anderen können mit Hilfe lokal konfigurierbarer FG-Ele-mente passive Strukturen dargestellt werden, etwa Gelenk- und Dämp-fungselemente. Auch diese Elemente lassen sich durch lokale Konfiguration individuell auf den Patienten einstel-len. Wenn sich auch hier aktive und passive Strukturen in einem Bauteil realisieren lassen, dann ist eine Pro-these denkbar, die aus einem einzigen Bauteil besteht, das an den gewünsch-ten Positionen aktiviert bzw. program-miert wird und somit Gelenke, Dämp-fer und auch Antriebe (Aktoren) be-sitzt. FGL könnten dann den derzei-tigen Stand der Technik, etwa die elektromechanische Kraftquelle und Sensorik bei einer Knieprothese, er-setzen (s. Abb. 1: „Power KneeTM“).Noch ist die aktive Prothese auf der Basis von lokal konfigurierten FG-Ef-fekten Vision, doch die ersten Schritte auf dem Weg zu dieser innovativen Technologie sind eingeleitet: Wir un-tersuchen zunächst das Phänomen der lokalen Konfiguration, indem wir

Blechstreifen (60x6x1 mm) aus ei-ner NiTi-Legierung mittels Laser lo-kal wärmebehandeln. Zuvor wird der FG-Effekt durch einen Walzprozess unterdrückt.

„Funktionale Programmierung“

Mit dem Ziel, die lokale Konfigu-ration im Werkstoff nachzuweisen, kontrollieren wir den programmier-ten FG-Effekt nach der Laserbehand-lung durch einen Dreipunkt-Biegever-such. Neben mikroskopischen Unter-suchungen stellt das sog. DSC-Ver-fahren eine weitere Möglichkeit dar, den Effekt nachzuweisen: Indem die Werkstoffe zunächst in flüssigem Stickstoff abgekühlt und dann wie-der hochgeheizt werden, lassen sich die Umwandlungstemperaturen er-fassen. Derzeit entsteht am Lehrstuhl ein Versuchsstand zur Temperatur/Weg(Ausdehnung)-Erfassung von FG-Effekten. In das Projekt „Funk-tionale Programmierung von FG-Ef-fekten“ ist auch das Chinesisch-Deut-sche Hochschulkolleg (CDHK) einge-bunden (s. Info 3)Den experimentellen Verfahren wird zunächst eine rechnerunterstützte Si-mulation der Lasererwärmung vor-geschaltet. Mit Hilfe der Finite-Ele-

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Abb. 7: Junge Forscher aus dem Chinesisch-Deut-

schen Hochschulkolleg (s. Info 3) – hier beim Laserkammerversuch – sind am For-

schungsprojekt „Funktionale Programmie-rung von FG-Effekten“ beteiligt.

Abb. 8: NiTi-Blech nach Laserbeschuss (40 W/60 min): Der Laserkammerversuch bestä-tigt die Simulation: Der höchste Tempe-raturbereich von über 1110 °C entspricht dem Durchmesser des Lasers auf dem FG-Blech.

Abb. 6:Simulation der Temperaturverteilung im NiTi -Blech: Vom Mittelpunkt aus fällt die Temperatur nahezu kreisförmig und immer langsamer nach außen ab.

mente-Methode (FEM-Simulati-onen) untersuchen wir die durch den Laser-Erwärmungsprozesses verur- sachte Wärmeverteilung im Werkstoff und können damit bereits im Vorfeld die temperaturabhängigen Umwand-lungsbereiche erfassen. In die Simula-tionen des Erwärmungsprozesses ha-ben wir unterschiedliche Laserleistun-gen einbezogen.

Versuch in der Laserkammer bestätigt Simulation

Die simulierte Temperaturvertei-lung ergab eine symmetrische Aus-breitung im FG-Blech. Vom Mittel-punkt aus sinkt die Temperatur nahe-zu kreisförmig und immer langsamer ab (Abb. 6). Der Bereich der höchs-ten Temperatur von über 976 °C (s. Abb. 6: roter Bereich) deckt sich mit dem Durchmesser des Lasers. Ein Schwachpunkt der Simulation ist je-doch, dass die Leistung innerhalb des Laserspots – einer Gauss-Verteilung folgend – im Zentrum Temperaturen erreicht, die über dem Schmelzpunkt von NiTi liegen.Dies bestätigt der Versuch in der La-serkammer, der mit zwei Laserleis-tungen (30 und 40 Watt) durchgeführt wurde (s. Abb. 7): Der Temperatur-bereich nach Laserbeschuss von über 1110 °C entspricht auch auf dem re-alen FG-Blech dem Durchmesser des Lasers. Die höchste Temperatur im Zentrum lag bei 1425 °C, was dazu führt, dass das Blech in diesem Be-

reich aufschmilzt (s. Abb. 8). Auf der Oberfläche bilden sich Oxid-Schich-ten, die dann durch die Verformung im Dreipunktbiegeversuch aufplatzen und zerfallen. Diese Reaktionen sind natürlich nicht gewollt und stellen ein Problem bei der Erwärmung mittels Lasertechnik dar. Weitere Versuche mit anderen Wärmequellen (z.B.: In-

duktive Erwärmung, Heizelemente) sollen diese Probleme zukünftig be-heben. Im Dreipunkt-Biegeversuch (s. Abb. 9) ließen sich die lokal konfigurier-ten FG-Effekte bestätigen: Deutlich zu erkennen ist der Unterschied zwi-

schen den Kurven, die den Ausgangs-zustand (schwarz) und die laserbehan-delten Bleche (blau, grün, gelb, rot) repräsentieren (s. Abb. 10). Während die schwarze Kurve durch einen ge-raden und allmählichen Übergang vom elastischen in den plastischen Bereich (bleibende Verformung nach dem Entlasten) ein normales Verfor-mungsverhalten widerspiegelt, zeigt sich im oberen Bereich der blauen und der grünen Kurve deutlich ein so genanntes Austenitplateau (s. Info 1). Dieses Plateau deutet darauf hin, dass ein Bereich des Bauteils einen pseu-doelastischern Effekt besitzt. Dagegen zeigt die gelbe Kurve ein großes Pla-teau bei einer niedrigeren Spannung.

Dieses Plateau und die große zurück-bleibende Verformung nach der Ent-lastung belegen das lokale Vorhan-densein eines Einwegeffektes. Zu-dem ging die Verformung nach einer Erwärmung in heißem Wasser bis auf einen kleinen Restanteil zurück.

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1998 als Gemeinschaftseinrichtung des Deutschen Akademischen Austauschdiens-tes (DAAD) und der Tongji-Universität ge-gründet, hat sich das Chinesisch-Deutsche Hochschulkolleg (CDHK) zu einem Vor-zeigeobjekt im Wissenschaftsaustausch beider Länder entwickelt. Das Ausbil-dungsziel des Kollegs ist es, praxisorien-tiert Ingenieure mit Managementerfahrung auszubilden, die sich in beiden Kulturen auskennen und damit erfolgreich in deut-schen und chinesischen Unternehmen tä-tig werden können. Am CDHK werden pro Jahr etwa hundert Studierende aus ganz China in einem drei-jährigen Masterstudium an den Fakultäten Elektrotechnik, Maschinenwesen, Wirt-schaftswissenschaften und Wirtschafts-recht ausgebildet. Neben chinesischen Wissenschaftlern, die in Deutschland stu-diert oder promoviert haben, sind auch mehr als zwei Dutzend deutsche Gastpro-fessoren in die Lehre eingebunden. Zen-traler Bestandteil des Studiums am CDHK ist das Erlernen der deutschen Sprache. In-

nerhalb von einem Jahr sind die Studieren-den in der Lage, an deutschsprachigen Vor-lesungen teilzunehmen. Nach erfolgreicher TestDaf-Prüfung können sie in Deutschland ein Firmenpraktikum absolvieren, oder an Lehrveranstaltungen einer der vier Partneru-niversiäten teilnehmen: TU Berlin, TU Mün-chen, Ruhr-Universität Bochum, Humboldt-Universität Berlin. Studierende aus dem CDHK sind auch in das Forschungsprojekt „Funktionale Programmierung von FG-Ef-fekten“ mit einer Diplom- und zwei Mas-terarbeiten eingebunden. Neben den chine-sischen Studierenden kommen zunehmend auch deutsche Studentinnen und Studenten an das Hochschulkolleg, um hier einen Teil ihrer Studienleistungen zu erbringen, ihre Abschlussarbeiten anzufertigen oder an Pro-jekten der Lehrstühle mitzuarbeiten. Im Rahmen dieser deutsch-chinesischen Kooperation nimmt die Tongji-Universität – mit 44 000 Studenten die größte Univer-sität in Shanghai – einen besonderen Platz ein: Sie gehört zu den ältesten und renom-miertesten Universitäten Chinas. Gegrün-

det von dem deutschen Mediziner Erich Paulun im Jahr 1907 als „Deutsche Me-dizinschule für Chinesen“ ist sie traditi-onell für ihr deutschsprachiges Studien-angebot bekannt. Weltweit unterhält die Tongji-Unirund 70 Partnerschaften, davon zu 13 deutschen Hochschulen. Mehr als ein Drittel aller Dozenten der Tongji-Uni-versität hat in Deutschland studiert oder promoviert, allein drei Universitätseinrich-tungen widmen sich der Germanistik und den Deutschlandstudien.Weitere Partner des CDHK sind neben dem DAAD und der Tongji-Universität die deutschen Stifterunternehmen: Rund 20 namhafte Firmen finanzieren heute 27 Lehrstühle, vergeben Stipendien oder sor-gen mit der Ausstattung von Vorlesungssä-len und Labors für hervorragende Studien- und Forschungsbedingungen. Durch die enge Kooperation zwischen Lehrstühlen und Unternehmen bieten sich den Studie-renden viele Möglichkeiten für einen Be-rufseinstieg in Deutschland oder China.

Abb. 9:Dreipunktbiegema-schine mit einge-legtem laserbehan-delten FG-Blech. Der Biegeversuch (Durchbiegung: 6 mm) dient der Kon-trolle der funktio-nalen Programmie-rung.

info3China

Internationale Kooperation

Durch den Dreipunkt-Biegeversuch lässt sich lediglich der im FG-Blech dominierende Effekt, der im mittle-ren Bereich des Laserspots (höchste Temperatur) programmiert wird, er-fassen. Da die Temperatur aber vom Mittelpunkt ausgehend nach außen hin immer geringer wird, können mit diesen verschiedenen Umwand-lungstemperaturen auch weitere FG-Effekte auftreten. Anhand einer Ver-suchsreihe im Wärmebehandlungso-fen konnten wir differenziert bestim-men, bei welchen Temperaturen wel-che FG-Effekte auftreten und wie sich

der Effekt über den gesamten Tempe-raturbereich hinweg verschiebt. Dazu wurden die Proben bei drei verschie-den Temperaturen (500 °C, 600 °C, 700 °C) jeweils für 30 und 60 min im Ofen geglüht.

Biegeversuch bestätigt „Funktionale Programmierung“

Im anschließenden Dreipunkt-Biege-versuch haben wir dann erfasst, wie sich der FG-Effekt in Abhängigkeit von der jeweiligen Glühtemperatur verändert (Abb. 11): Dabei zeigen

die rote und gelbe Kurve, die einer Glühtemperatur von 700°C entspre-chen, ein optimales pseudoelastisches Verhalten. Zum Einstellen dieses FG-Effekts werden somit hohe Tempera-turen benötigt. Der Einwegeffekt lässt sich am deutlichsten bei einer Glüh-temperatur von 600 °C und einer Glühdauer von 30 min nachweisen (hellgrüne Kurve), d.h. er sollte bei niedrigen Temperaturen und kurzen Glühzeiten programmiert werden. Bei zu niedrigen Temperaturen lässt sich kein nutzbarer Einwegeffekt mehr er-zeugen, wie die Glühtemperatur von

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Abb. 10:Kraft-Weg-Kurven für die laserbehan-delten FG-Bleche nach dem Biegever-such: Es zeigen sich deutliche Unter-schiede zwischen dem Ausgangszustand (schwarz) und den laserbehandelten NiTi-Blechen (blau, grün, gelb, rot). Während die schwarze Kurve ein normales Verfor-mungsverhalten widerspiegelt, deutet ein sog. Austenitplateau im oberen Bereich der blauen und der grünen Kurve auf ei-nen pseudoelastischen Effekt hin. Die gelbe Kurve weist ein großes Plateau bei einer niedrigeren Spannung auf, was für einen Einwegeffekt spricht.

Abb. 11:Kraft-Weg Kurven für die im Wärmeofen behandelten FG-Bleche nach dem Biege-

versuch:Der Versuch zeigt die Abhängigkeit der

FG-Effekte von den Glühtemperaturen. Bei hohen Temperaturen (700°C, gelbe Kurve)

stellt sich ein pseudoelastisches Verhal-ten ein. Der Einwegeffekt (hellgrüne Kur-ve) sollte bei niedrigen Temperaturen und kurzen Glühzeiten programmiert werden. Bei zu niedrigen Temperaturen tritt kein

nutzbarer Einwegeffekt mehr auf.

Abb. 12:Schematische Darstellung der den ver-

schiedenen Temperaturfeldern zugeord-neten FG-Effekte auf einem laserbehan-

delten NiTi-Blech (40 Watt/60 min): PE – pseudoelastischer Effekt, EW – Einweg-

effekt, KE – kein Effekt.

500 °C zeigt.Auf der Grundlage aller Untersu-chungen (FE-Methode, Laser- und Wärmebehandlung, Dreipunkt-Biege-versuch, Lichtmikroskopie der Gefü-gestrukturen) ließen sich schließlich die verschiedenen FG-Effekte, die einem laserbehandelten Blech (40

Watt/60 min) auftreten, lokalisieren (s. Abb. 12).Unsere Ergebnisse bestätigen die lo-kale Konfiguration des FG-Effekts, wenngleich die Laser-Technik dafür aufgrund der schwierigen Paramete-reinstellungen derzeit noch proble-matisch ist. In weiteren Versuchen

wollen wir das Verfahren der lokalen Konfiguration perfektionieren und da-mit einer viel versprechenden neuen Formgedächtnis-Technologie mög-lichst bald zum Durchbruch verhel-fen.

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Dr. Steffen Bender, Dipl.-Geogr.Tilman Mieseler, Prof. Dr. Stefan Wohnlich, Dr. Klaus Dorsch, Ange-wandte Geologie, Fakultät für Geo-wissenschaften

Auch ohne sprudelnde Geysire und aktive Vulkane

Nutzung geothermaler Ressourcen:

S.Bender T. Mieseler S. Wohnlich

K. Dorsch

Während eiszeitliche Hügellandschaften mit Moränen-wällen von 30 bis 40 Meter Höhe fast an Deutschland erinnern, holt der Blick zum Horizont mit dem Vulkan Osorno die Forscher in die Gegenwart zurück: In chile-nisch-deutscher Kooperation erkunden sie das Potenzial aktiver Vulkane und Heißwasservorkommen für die Energiegewinnung. Auf den Erfahrungen aufbauend, wollen sie in Deutschland prüfen, ob sich Erdwärme auch ohne sprudelnde Geysire und aktive Vulkane nutzen lässt.

Mit steigenden Energiekosten und der Abhängigkeit von Ener-

gielieferungen aus anderen Ländern wächst das Interesse der Staaten an natürlichen Alternativen zu Öl und Gas. So steckt etwa in der Geother-mie bzw. Erdwärme ein großes Poten-zial regenerativer Energie, wie Bei-spiele aus Island, Neuseeland und den Philippinen zeigten. Doch auch Län-dern ohne vulkanisch aktive Gebiete und natürliche Heißwasservorkom-men bieten Techniken wie das Hot-Dry-Rock-Verfahren die Möglichkeit aus Erdwärme Energie zu gewinnen. (s. Info1)Trotz der großen Anzahl aktiver Vul-kane und heißer Quellen wurde das

geothermische Potenzial Chiles über Jahrzehnte nur wenig beachtet. Erst im Jahre 1999 beschloss das chile-nische Parlament aufgrund von Ener-gieversorgungsengpässen weitere po-tenzielle Energieressourcen neben der Wasserkraft zu erkunden. Zur Evalu-ierung der Ressourcen in Zentral- und Südchile wurde unter der Schirmherr-schaft der CONICYT Chile (Comisi-ón Nacional de Investigación Cientí-fica y Tecnológia) ein FONDEF-Pro-jekt (Fomento al Desarrollo Cientifico y Tecnológico) bewilligt. Die wissen-schaftliche Bearbeitung wurde dem Departamento de Geología (Univer-sidad de Chile) übertragen und als In-dustriepartner der größte Ölkonzern

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Chiles ENAP (Empresa Nacional del Petróleo) eingebunden. Als deutsche Kooperationspartner übernahmen wir die hydrogeologischen und hydroche-mischen Untersuchungen (s. Info 2), auf deren Basis das geothermale Nut-zungspotential abgeschätzt werden soll: Im Mittelpunkt standen dabei die hydrochemischen Eigenschaften von kaltem und heißem Grundwasser sowie Wasser aus Flüssen und Seen (1), die Abschätzung des hydrogeo-logischen Kreislaufs (2) und die Be-stimmung der Durchlässigkeit des Untergrundes (3).Da sich die größten inländischen Wär-mereservoire im Umfeld aktiver Vul-kansysteme befinden, bilden die Ge-othermalfelder von Cordón Caulle und Termas de Puyehue – in der Re-gión de los Lagos, etwa 900 km süd-lich der Hauptstadt Santiago de Chi-le – die Schwerpunkte der Gelände-kampagnen (Abb. 2). Das 2 700 km2 umfassende Arbeitsgebiet erstreckt sich vom Seespiegel des Lago Ran-co (69 m ü. NN) bis zum Kraterrand des Puyehue Vulkans (2236 m ü. NN). Durch historische Erkundung neue-rer vulkanischer Aktivitäten konnten wir bereits im Vorfeld hochgefährdete Standorte für ein Kraftwerk ausschlie-ßen (s. Info 3).

Da das Arbeitsgebiet nur durch die Staatsstraße von Osorno nach Ar-gentinien sowie wenige unbefestig-te Land- und Forststraßen erschlos-sen ist, brachte uns ein Helikopter während der Beprobungs- und Mess-kampagnen zu den nur schwer zu-gänglichen Geothermalfeldern. In den tiefer gelegenen Bereichen stel-len Vegetation (Abb. 3,) und Insekten-welt (Abb. 4) zu überwindende Hür-den dar. Durch den Stockwerk-Auf-bau des südchilenischen Regenwaldes mit seinem dichten Bambusbewuchs erreichten wir nur die Gebiete zu Fuß, zu denen auch Pfade führten. Große Teile des Arbeitsgebietes waren da-her nicht zugänglich (Abb. 5). Da weder die Niederschlagsmengen und die Abflussbedingungen, noch der di-rekte Einfluss des Regenwaldes auf

Abb. 2: Die größten Wärmereservoire befinden sich im Umfeld aktiver Vulkane. Die Geother-malfelder von Cordón Caulle und Termas de Puyehue – in der Región de los Lagos, etwa 900 km südlich der Hauptstadt San-tiago de Chile – bilden die Schwerpunkte der Geländekampagnen. Das Arbeitsge-biet erstreckt sich vom Seespiegel des Lago Ranco (69 m ü. NN) bis zum Kraterrand des Puyehue Vulkans (2236 m ü. NN). rote Punkte: bekannte Geothermalquellen

info1 Hot-Dry-Rock-Verfahren (HDR-Verfahren)

Das HDR-Verfahren wird als zukunfts-trächtiges Verfahren zur Gewinnung von Erdwärme angesehen. Es nutzt die vor-handene natürliche Erdwärme aus. Dabei kommt das Prinzip des Dublettenbetriebs zum Einsatz: Über eine sog. Injektionsbohrung wird das Wasser in die Tiefe befördert und erwärmt sich beim Kontakt mit dem Umgebungsge-stein. Über ein natür-liches bzw. künstlich erzeugtes Kluftnetz strömt das Wasser bzw. der Wasserdampf einer zweiten Bohrung zu und wird durch diese wieder nach oben ge-leitet und einem Kraft-

werk zugeführt (Re-Injektion). Die Wärme-energie wird dann entweder zur Stromerzeu-gung oder als Fernwärme genutzt.

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den Wasserhaushalt bestimmt wer-den konnten, ließ sich die Grundwas-serneubildung im Regenwaldgebiet lediglich abschätzen. Unsicherheiten in den Angaben zur Wasserzirkulati-on und damit zur förderbaren Wasser-menge sind die Folge.Auch wenn der Regenwald das Arbei-ten deutlich erschwert, so lassen sich gerade dort jüngere Naturkatastro-phen wie Vulkanausbrüche oder Erd-

Abb. 3:Da die Hydroge-

ologie auch die Grundzüge des

Kartenlesens, des Strömungsver-

haltens von Flüs-sen und der Ge-

ländetauglichkeit vermittelt, konn-te mit einem Ex-peditionsteilneh-mer, der sich im

dichten Unterholz des Regenwaldes

verirrt hatte, noch vor Einbruch der Dunkelheit Wie-dersehen gefei-

ert werden. Nach Aussage der Nati-onalparkwächter ziehen sich Such-aktionen oft über

Wochen hin.

Abb. 4:Nur durch dicke Kleidung und Kopfschutz konnten die Forscher den Stichen der „Ta-

bános“ einigermaßen entgehen. Diese etwa 3 cm großen, orange-schwarzen Pfer-

debremsen traten in Schwärmen auf und erschwerten sämtliche Geländearbeiten.

rutsche gut detektieren: Große Areale abgestorbener Bäume an den Flanken des Vulkans Puyehue deuten auf den Ascheregen des Cordón Caulle- Aus-bruchs von 1960 hin (s. Info 3). Im Antillanca Gebiet führten im Jahre 2000 starke Niederschläge zu einem großen Erdrutsch, dessen Schuttkegel eine Schneise abgestorbener Bäume hinterließ. Die Kartierung solcher Zo-nen liefert eine erste Gefährdungsab-

schätzung für das zu planende Kraft-werk.Auch wenn eine Wärmequelle lokali-siert ist, muss das Gesamtsystem un-tersucht werden, um das Erdwärme-potential abschätzen zu können und den optimalen Standort für ein Kraft-werk zu finden. Dabei nutzen wir auch die Temperaturunterschiede des Grundwassers, das deutlich kälter ist, wenn es überwiegend aus Regen und

info2 Chile

Seit 1998 besteht eine enge Kooperati-on mit der Universidad de Chile in San-tiago. Neben mehreren Fortbildungsver-anstaltungen aus dem Themenkomplex Umwelt- und Hydrogeologie fanden drei deutsch-chilenische Field Camps statt, in denen die Anwendung hydrogeologischer und hydrochemischer Geländemethoden vor Ort gelehrt wurde. Die bewährte Zu-sammenarbeit fand ihre Fortsetzung im FONDEF-Projekt, in das wir als Bear-beiter der hydrogeologischen und hydro-chemischen Fragestellungen eingebun-den wurden. Ein in diesem Rahmen in-itiiertes Austauschprogramm bot jeweils einem Doktoranden und einem Studenten aus Deutschland die Möglichkeit für ein halbes bzw. für ein Jahr an der Univer-sidad de Chile zu arbeiteten. Im Gegen-zug konnten drei chilenische Studierende ihr hydrogeologisches Wissen für jeweils drei Monate im alpinen Raum, im Ober-pfälzer Wald und der schwäbischen Alb vertiefen. Auf diese Weise ließen sich die jeweiligen Spezialgebiete sowie erlern-ten Methoden gegenseitig vermitteln und auch kombinieren, wie etwa bei der Gas-beprobung. Weitere Kooperationspartner des Projekts waren das International Ins-titute of Geothermal Research CNR (Ita-lien), welches für die geophysikalsichen Messungen verantwortlich war, sowie das Geothermal Institute der University of Auckland (New Zealand), an dem chile-nischen Diplomstudenten in einem halb-jährigen Kompaktstudium die geotherma-len Grundlagen vermittelt wurden.

Internationale Kooperation

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Schnee gebildet wird. Auch wenn sich keine Temperaturunterschiede mehr nachweisen lassen, deuten erhöhte Arsen- und Chloridkonzentrationen – aufgrund chemischer Reaktionen von Grundwasser und aufsteigenden vul-kanischen Gasen – auf unterschied-liche Mischungsverhältnisse hin.So lässt sich von den hohen Arsen-konzentrationen von bis zu 500 µg/l in Teilen der Puyehue-Region auf große Anteile zuströmenden heißen Grundwassers schließen. Im vulka-nisch aktiven Geysirfeld „Trahuil-co“ sprechen Arsengehalte von 80 - 200 µg/l ebenfalls für das Vorhan-densein von warmem Grundwasser. Selbst in den Mineralwässern „Agua Mineral Puyehue“, die aus Tiefbrun-nen in der Nähe der Termas de Puye-hue gefördert werden, haben wir Kon-zentrationen von ca. 100 µg/l Arsen nachgewiesen (Überschreitung des Grenzwertes um das 10-fache!), was ebenfalls auf zuströmendes warmes Grundwasser verweist.In den Geothermalfeldern Nordchi-les weisen chloridreiche Quellen auf wichtige Grundwasserausflüsse aus

Abb. 5:Große Teile des dichten Regen-waldes waren

nicht zugänglich, wodurch weitere Warmwasseraus-tritte im Arbeits-

gebiet unentdeckt blieben.

Abb. 6:Geothermometer zeigen Mischungsverhältnisse und Tempera-turen an: Bei der Reaktion von vulkanischen Gasen, erhitztem

Gestein und Grundwasser treten typische Ionenverhältnisse im Grundwasser auf. Bei schnellem Aufstieg des Wassers verändert

sich diese Signatur nicht – man spricht von vollständig equi-librierten Wässern. Bei Mischungen von warmem und kaltem Grundwasser (sog. unreife Wässer) werden die Ionenverhält-nisse in Richtung dieser Wässer verschoben. Damit kann sich die Wasserzusammensetzung in der unmittelbaren Umgebung stark von der des Wärmereservoirs selbst unterscheiden, was

das Abschätzen der Reservoirtemperaturen erschwert (Tempe-raturangaben basieren auf empirischen Formeln)

dem geothermalen System hin. So-mit spielt auch die räumliche Vertei-lung des Indikators Chlorid eine ent-scheidende Rolle, um das Nutzungs-potential und die optimale Lage eines Kraftwerkes erfassen zu können. Da sich bei unseren Messungen keine

deutlichen Chloridschwankungen zeigten – selbst im Hauptausfluss des Cordón Caulle Systems mit einer Schüttung heißen Wassers von meh-reren Zehner Litern pro Sekunde tra-ten nur geringe Konzentrationen auf – kann Chlorid nicht zur Standortwahl herangezogen werden. Daher muss die Abschätzung des geothermalen Systems mit der räumlichen Verbrei-tung des warmen Wassers über ande-re Kriterien, wie Kluftmessungen, Ar-senkonzentrationen oder Gasanalysen erfolgen.Die prozentualen Anteile des warmen Grundwassers in den Quellen ermit-teln wir anhand von physikoche-mischen Basisparametern: pH-Wert, spezifische elektrische Leitfähigkeit

info 3

Vulkanische GeschichteDie vulkanische Aktivität, überwiegend die großflächige Ausbreitung von dünn-flüssiger Lava aus zum Teil kilometerlan-gen Spalten (Spalteneruptionen) ist in die-ser Region durch historisch erfasste Aus-brüche dokumentiert: 1907 (Explosion des Riniñahue Maars), 1921-1922 (Spal-teneruptionen am nordwestlichen Teil der Cordón Caulle), 1929 und 1934 (Spaltene-ruptionen nach Erd-beben in Südchile), 1955 (Explosion des Carrán Maars), 1960 (Spalteneruption an Cordón Caulle), 1979 (Bildung des kleinen Stratovulkans Mira-dor). Hinweise auf die derzeitige vulka-nische Aktivität so-

wie Zirkulation von heißen Wässern ge-ben die genutzten Thermalquellen (Baños de Rupanco, Baños Aguas Calientes, Ter-mas de Puyehue und Vertientes y Poza de Pangal), schwefelhaltige Gasaustritte (H

2S,

CO2, H

2O) von El Azufral sowie Heißwas-

seraustritte nordwestlich der Gipfelcaldera des Puyehue Vulkans (Los Baños).

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(Maß für den gelösten Stoffinhalt), Wassertemperatur, O

2-Gehalt und die

HCO3

-Konzentration. Das Nachvoll-ziehen der sich mischenden Grund-wassertypen bietet Rückschlüsse auf die hydrogeologischen Verhältnisse eines Systems, dessen Prozesse und Vorgänge im Untergrund sonst nur wenige Informationen liefern (Abb. 6). Zudem ermöglichen die Isotope 18O, 2H, 3H Aussagen über das Al-ter und somit auch über die Aufent-haltszeit des Grundwassers im Un-tergrund.Neben der im Untergrund gespeicher-ten Wärmemenge ist die förderbare Wassermenge die wichtigste Richt-größe. Grundwasser kann nur ste-tig gefördert werden, wenn es kon-tinuierlich zuströmt und ein entspre-chendes Speicher-Volumen zur Verfü-gung steht. Bei der Bilanzierung der Grundwassermenge im Untergrund muss vor allem der zusickernde Nie-

Abb. 7:In den vegetationslosen Gipfellagen fin-det eine starke Tiefenversickerung statt,

durch die die Reservoire aufgefüllt werden. Dieser Zufluss wird mithilfe der topogra-phischen Karte (Höhenverteilung im Ar-

beitsgebiet) erfasst, der die Niederschlags-werte verschiedener Höhenlagen (Klima-stationen) zugeordnet werden. Nach Kor-

rektur der Werte (Standorte in Luv- und Lee-Lage) wird eine Niederschlagskarte

erstellt, die einen Überblick über die räum-liche Verteilung der Niederschläge gibt. In

Verbindung mit Geländebeobachtungen, etwa dem Beginn der vegetationslosen Hö-

henlagen, kann die Grundwasserneubil-dung über die Tiefenversickerung abge-

schätzt werden

Abb. 8:Die Gasmaus für Wasser-, Dampf- und Gasproben: Mit einem mechanischen Arm wird ein Trichter über die Gasaustrittsstel-len gestülpt und das ausströmende, hei-ße Dampfgemisch durch einen Schlauch in eine sog. Gasmaus (Glaszylinder mit zwei Absperrhähnen) geleitet. Da Schlauch und Gasmaus mit Schnee gekühlt werden, bil-det sich Kondenswasser, das gesammelt und untersucht wird.

derschlag berücksichtigt werden. Die notwendigen Angaben zu Nie-derschlag, Verdunstung sowie Ab-fluss von Bächen und Flüssen erhiel-ten wir durch eine Klimastation, die wir im Zentralteil des Arbeitsgebietes errichteten.

Tiefenversickerung in den Gipfellagen

Die wichtigsten Regionen für das Auffüllen der Grundwasserleiter sind die Gipfellagen (Abb. 7). Die Vertei-lung der Niederschlagsmengen deutet dort auf hohe Einträge hin. Durch das gute Infiltrationsvermögen der meist unbewachsenen Aschelagen und La-vablöcke kommt es zur Tiefenversi-ckerung großer Wassermengen. Da eine direkte Versickerung (ohne Ver-dunstung) annähernd der Grundwas-serneubildung entspricht, rechnen wir mit Werten von über 1200 mm Grund-

wasser pro Jahr. Für das Cordón Caul-le Hochplateau konnten wir mittlere Grundwasserneubildungsraten von rund 200 l/(s x km2) berechnen. Auch wenn durch die Grundwasserzirkula-tion ein Teil des Wassers wieder über Quellen austritt, so bleibt ein erheb-liches Volumen in der Tiefenzirkula-tion. Kluftsysteme, darunter vor allem solche, in denen Wasser fließen kann (hydraulisch wirksame Störungszo-nen), gewährleisten einen ausrei-chenden Zustrom in Richtung Wär-mequelle. Da auf dem Hochplateau des Cordón Caulle Rückens die stärksten therma-len Aktivitäten des Arbeitsgebietes auftreten, ist dort auch das größte Energiepotential zu erwarten. Durch umfangreiche Beprobungen (Wasser-, Dampfkondensat- und Gasproben) er-mittelten wir die Temperatur der Wär-mequelle und somit die zu erwartende Energiemenge in diesem Gebiet. Wir

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nutzten dafür die sog. Gasmaus – ein Glaszylinder mit zwei Absperrhähnen – in die das heiße Dampfgemisch ge-leitet wird und durch Schnee gekühlt kondensiert (s. Abb. 8). Die ermit-telten Austrittstemperaturen erreich-ten über 100°C.Kombiniert man geologische, hydro-geologische und hydrochemische In-formationen, so weist alles darauf hin, dass in der Region Cordón Caulle so-wie Termas de Puyehue-Antillianca zwei getrennte Wärmereservoire exis-tieren. Darüber hinaus deutet die Aus-wertung der Wasseranalysen auf eine Mischung aus heißem Grundwasser aus der Tiefe und oberflächennahem kalten Grundwasser hin. Das heiße Wasser – etwa in der Um-gebung der Gas-austritte von „Los Venados“ – is t auf kaltes Grund-wasser zurückzu-führen, welches durch au fs t e i -gende CO

2- und

H2S-Gase erwärmt

wurde (dampfpha-sen-dominiertes System). Im geo- thermalen Sys-tem finden keine Lösungserschei-nungen bzw. Aus-fällungen von Mi-neralen zwischen dem Grundwasser und dem durch-flossenen Gestein statt. Die aufstei-genden Gase sor-gen für eine Er-w ä r m u n g d e s Grundwassers in-nerhalb der Kluft-systeme. Durch Kon-densation des Gases werden schließlich dessen hydrochemische Eigenschaften überprägt: Indem die Gase bei Kontakt mit dem Grundwas-ser abkühlen und kondensieren, ge-langen Gaskomponenten (H

2O, H

2S)

ins Grundwasser. Da weder chlorid-haltige Gesteine (Salze) im Unter-grund noch aufsteigende chloridhal-

Abb. 9:Die Bohrung

in Chile soll am Ort des größten Wasserzuflusses – dem

Kreuzungspunkt von hydraulisch wirk-samen Kluftsystemen – erfolgen. Für die Wasserführung sind Kluftgrundwasser-leiter besonders wichtig: Da das Gestein so kompakt ist, dass es kein Wasser mehr durchlässt, kann das Grundwasser nur noch unterhalb der gering durchlässigen Aschelagen in 30 bis 40 cm Tiefe in Kluft-systemen fließen. Die geplante Bohrtiefe beträgt 100-300 Meter.

tige Gase vorliegen, erklärt sich auch das Fehlen des wichtigen Indikators Chlorid.Trotz der ungeklärten Strömungsver-hältnisse innerhalb des vulkanischen

Förderung am Kreuzungspunkt

Systems erwarten wir bei der schnel-len Temperaturzunahme der Gestei-ne mit der Tiefe sowie aufsteigenden überhitzten Gasen hohe Grundwasser-temperaturen. Aus technischer Sicht sollte eine Förderbohrung am Kreu-

zungspunkt zweier gut wasserdurch-lässiger Kluftsysteme erfolgen (s. Abb. 9). Da das Wasser bevorzugt in-nerhalb dieser Klüfte strömt, ist dort mit einem hohen Anströmvolumen zu rechnen. Beim Bau und Betrieb eines Erdwär-mekraftwerks in Chile muss gegen-wärtig mit Widerstand vor allem durch die Betreiber der Termas de Puye-hue sowie der Abfüllstation „Agua de Puyehue“ gerechnet werden. Ob-wohl deren Grundwasser offensicht-lich von einer anderen Wärmequelle beeinflusst wird, befürchten sie eine Beeinträchtigung der Grundwasser-menge und Wassertemperatur. Einen nicht zu unterschätzenden Ri-sikofaktor stellt aber der aktive Vul-kanismus dar. Neben den Schäden durch Lavaflüsse können Aschewol-ken das Kraftwerk und dessen Infra-struktur gefährden. Aber auch seis-mische Aktivitäten, die in engem Zu-sammenhang mit Vulkanausbrüchen stehen sowie Massenbewegungen des Bodens (z. B. bei Erdrutschen) nach starken Regenfällen müssen berück-sichtigt werden. Aufgrund der bes-seren wirtschaftlichen Lage in Chile und einem damit verbundenen Wech-sel der Energiepolitik wurden die Plä-ne für eine geothermale Nutzung lan-deseigener Ressourcen bisher zuguns-ten anderer Projekte zurückgestellt.

Tradition in Bochum: Hot-Dry-Rock-Forschung

Nachdem an der Ruhr-Universi-tät Bochum jahrelange Erfahrungen zur geothermischen Energiegewin-nung vorliegen waren u. a. die stei-genden Energiekosten der Auslöser, auch hier alternative Energiequellen zu erschliessen. Aufgrund der geogra-phischen Lage kam letztlich nur der Einsatz von Geothermie in Frage. Da sich Bochum nicht in einer von ak-tivem Vulkanismus geprägten Land-schaft befindet, sind keine oberflä-chennahen Vorkommen an Wasser-dampf oder heißem Wasser zu erwar-ten. Eine ausreichende Temperatur des unterirdischen Wärmetauschers ist erst durch eine tiefere Bohrung zu

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erreichen, da die Temperaturen kon-tinuierlich mit der Tiefe ansteigen (mittlerer geothermischer Gradient: 3°C pro 100 m Tiefe). Daher ist eine 4000 m tiefe Erkundungsbohrung not-wendig, um Wassertemperaturen von ca. 120°C fördern zu können. Wie die Arbeiten in Chile zeigen, spielen Klüfte und Kluftnetze im Untergrund, in denen sich das Grundwasser durch das Gestein bewegt und Wärme auf-nehmen kann, eine wichtige Rolle.

Ein künstliches Kluftnetz schaffen

Da in einer Tiefe von 4 000 m auf-grund der Auflast nicht von einem ausreichend großem Kluftnetz aus-gegangen werden kann, wird mög-licherweise ein „Hydraulic Fractu-ring“-Verfahren zum Einsatz kom-men müssen (s. Abb., Info 4): Dabei wird ein künstliches Kluftnetz erzeugt oder das bestehende Netz aufgewei-tet, um die Strömungsbedingungen zu verbessern. Wie sich bereits in Chile zeigte, ist die Kenntnis des Untergrundes und der darin ablaufenden Strömungspro-zesse Voraussetzung für eine effek-tive und lang anhaltende Energiege-winnung. Durch den Bergbau ist die Geologie am Standort Bochum bis zu einer Tiefe von 1500 m gut bekannt, doch die geplante Bohrung geht weit darüber hinaus. Besondere Herausfor-derungen stellen die zu erwartenden Druck- und Temperaturverhältnisse sowie das Auftreten von hochmine-ralisierten Solen dar, die für Rohrlei-tungen und Pumpen problematisch werden könnten. Im Forschungspro-jekt PROMETHEUS (s. Info 5) wur-de daher zunächst eine Machbarkeits-studie erstellt, um die generelle Re-alisierbarkeit eines geothermischen Heizkraftwerks zur Wärmeversor-gung der Ruhr-Universität, der FH Bochum und Teilen der Hustadt zu prüfen. Durch Auswertung von regi-onalen Daten (Tiefbohrungen, Berg-bau) haben wir zunächst Angaben zu den Bedingungen in 4 km Tiefe ex-trapoliert. Aufgrund der räumlichen Lage und der Mächtigkeit (Schicht-

dicke) der geologischen Einheiten (s. Abb. 10) lassen sich die zu durch-bohrenden Steine und deren Nutzung als Wärmeaustauscher abschätzen. Zudem wurden Dichte, Temperatur, pH-Wert sowie die chemische Zu-sammensetzung des Grundwassers in 4 km Tiefe prognostiziert. Die Er-gebnisse deuten auf mögliche Aus-fällungen im injizierten Wasser (s. Info 1) hin, die den Betrieb der An-lage stören könnten. Daher muss die lokale hydrochemische Situation bei den Bohrarbeiten und bevor die In-jektionstests beginnen oder der Pro-bebetrieb aufgenommen wird weiter untersucht werden.Ferner haben wir die Risiken und Erfolgsaussichten einer Erdwärme-nutzung am Standort Bochum abge-schätzt: Die Untergrenze der Grauwa-cken-/Quarzit-Zone, die als Wärme-tauscher dienen soll, liegt nach un-seren Schätzungen bei 3 200 m (± 400

m). Die Bohrung sollte den darunter liegenden Alaunschiefer nach Mög-lichkeit nicht erreichen (s. Abb. 10), da sonst das Wasser nach unten weg-fließen könnte. Die Zusammenset-zung des salzhaltigen Grundwassers wird vermutlich speziell abgestimm-te Techniken erfordern.

Erdwärme für 30 Jahre

Die gesteinsphysikalischen Daten sprechen für eine gute Bohrbarkeit und Stimulation des Untergrunds zum Aufbau eines Wärmetauschers (Kluftsystem), der in NW/SO-Rich-tung orientiert sein sollte. Das Tem-peratur-Tiefenprofil lässt in 4 000 m Tiefe bei einem Temperaturgradienten von 26 K/km eine mittlere Gestein-stemperatur von 115 °C erwarten. Un-ter den gegebenen natürlichen Bedin-gungen rechnen wir mit einem Nut-

„Hydraulic- Fracturing“ –

die wichtigs-ten Sequenzen

des Verfahrens. S stellt den „ge-richteten Stress“

dar, darunter sind Kräfte zu

verstehen, die auf die Gesteinsein-heiten wirken.)

„Hydraulic Fracturing“

Ziel des Hydraulic Fracturing ist das Erhö-hen der Wasserwegsamkeiten in dem Ge-stein, indem die Wärmeübertragung auf das zirkulierende Wasser erfolgen soll. Primäres Ziel bei der Bohrung ist es zunächst, ein da-für geeignetes Gestein in der Tiefe zu fin-den. Neben einer bereits vorhandenen Klüf-tung muss die Möglichkeit für eine Aufwei-tung dieser Klüfte gegeben sein, Dazu wird nach dem Abteufen der Bohrung unter ho-hem Druck Wasser bzw. eine Flüssigkeit mit hoher Dichte eingepresst, was ein Auf-reißen bestehender Klüfte bewirkt. Somit dehnt sich das zusammenhängende Kluft-

netz weiter aus. Aufgrund der Oberflächen-rauhigkeit der Kluftflächen sowie einer Ver-schiebung der Gesteine aufgrund der Auf-last wird angenommen, dass sich die Klüfte nach der Druckentlastung nicht wieder voll-ständig verschließen. Somit führt die Ver-größerung der zusammenhängenden Hohl-räume im Gestein zu einer lang anhalten-den Erhöhung der Wasserwegsamkeit und ermöglicht die Erwärmung einer größeren Menge fließenden Wassers in der Tiefe. So-mit können größere Wassermengen in der Tiefe erwärmt werden, was einen höheren Energiegewinn zur Folge hat.

info4

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Abb. 10:Verlauf und

Zielregion der 4 km tiefen Ex-plorationsboh-rung PROME-THEUS I. Als Reservoir ist die Grauwa-cke-Formati-

on geplant, in der optima-

le Verhältnisse für den Wär-meaustausch

(Klüfte) erwar-tet werden.

Fm = Forma-tion

zungszeitraum der Anlage von bis zu 30 Jahren.Nach dem erfolgreichen Abschluss der Machbarkeitsstudie ist das Pro-jekt nun in der Detailkonzeption. Dazu gehört die präzise Erfassung ge-ologischer Einheiten und damit ver-bundener Kluftsysteme sowie die Be-stimmung der geologischen, hydro-geologischen und geophysikalischen Untergrundparameter einschließlich der Temperatur- und Tiefenfluidver-teilungen (Tiefenfluide: stark salzige Grundwasser). Wir überprüfen derzeit in Vorversuchen, wie sich die in Chi-le eingesetzte Methodik auf Bedin-gungen in 4 000 m Tiefe übertragen lässt: Dazu gehört etwa das Verhalten der Prüfchemikalien bei den erwar-teten Gesteinen, Temperaturen und in salzhaltigen Lösungen. Es müssen auch Strategien entwickelt werden, wie die Probenahme in 4 000 m Tie-fe erfolgen kann und wie das Proben-material in der Bohrung an die Ober-fläche befördert wird. Nach der de-taillierten Erkundung des Speicher-gesteins, in dem der Wärmeaustausch

erfolgen soll, ist eine zweite Bohrung geplant, um den sog. Dublettenbe-trieb zu ermöglichen (s. Abb., Info 1). Durch Re-Injektion des gebrauchten Wassers wird ein künstlicher Wasser-nachschub erzeugt, so dass sich die natürlichen Strömungsverhältnisse im Untergrund nur im Nahbereich der beiden Bohrungen ändern. Dabei muss die Verweildauer des injizierten

Wasser bis zur erneuten Förderung so groß sein, dass eine Aufheizung er-möglicht wird. Bochum besitzt im Vergleich zu Chi-le keinen so offensichtlichen geolo-gischen Standortvorteil für die Nut-zung von Erdwärme und vermutlich wird erst das „Hydraulic Fracturing“ (s. Info 4) die technische Vorausset-zung bieten. Sollte sich mit dem De-monstrationsprojekt PROMETHEUS ein effektiver Einsatz der Geothermie in Bochum bestätigen, dann erhält das Projekt Prototyp-Charakter, d.h. es könnte an vergleichbaren Standor-ten auch Anwendung finden. Ein bis-her weitgehend ungenutztes Potenti-al der Energieerzeugung wäre dann erschlossen.

info 5 Projekt PROMETHEUS

Geowissenschaftler und Ingenieure der Ruhr-Universität Bochum planen in Ko-operation mit der rubitec GmbH (Gesell-schaft für Innovation und Technologie der Ruhr-Universität Bochum) als Projektlei-tung das Demonstrationsprojekt „PROME-THEUS“. Projektaufgaben des Lehrstuhl für Energiesysteme und Energiewirtschaft (LEE) betreffen die energietechnischen und energiewirtschaftlichen Fragestellun-gen, wie etwa die Analyse der Wärmebe-darfsituation und das geothermische An-gebot, Planung der Produktionstechnik sowie die Auslegung und Bewertung des Versorgungskonzeptes. Die Wissenschaft-ler des Institutes für Geologie, Mineralo-

gie und Geophysik befassen sich mit den geowissenschaftlichen Fragestellungen einschließlich aller Sachverhalte, die mit der Erkundung des geothermischen Sys-tems in Verbindung stehen. Dies beinhal-tet die Aufgabenbereiche Strukturgeologie, Hydrochemie und Grundwasserhydraulik, Gesteinsphysik, Spannungs- und Tempe-raturfeld im Untergrund, geophysikalische Bohrlochmessungen, seismisches Beobach-tungsnetz, Bohrtechnik und Bohrverfahren. Kooperationspartner des PROMETHEUS-Projektes sind die Stadtwerke Bochum, die RWE Power AG, Essen, die RWE Weser-Ems sowie der Fernwärmeversorger der Universitätswohnstadt, Bochum.

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Die neueste Überraschung lieferte das europäische H.E.S.S.-Expe-

riment mit Gammastrahlen-Telesko-pen in Namibia (Abb. 1) erst im letz-ten Frühjahr. Zum ersten Mal konnte hochenergetische Photonengamma-strahlung von zwei weit entfernten Quasaren, hell leuchtenden Kernen von Galaxien, nachgewiesen werden. Normalerweise werden solche hoch-energetischen Photonen auf ihrem Weg durchs All durch den Zusam-

Die Klärung der Natur kosmischer Teilchenbeschleuniger ist in einer Studie der amerikanischen National Academy of Science als eine der elf wichtigsten Aufgaben der Phy-sik des 21. Jahrhunderts erkannt worden. Die momentan modernste Forschungseinrichtung zu dieser auch plas-maphysikalischen Fragestellung befindet sich in Afrika, genauer gesagt in Namibia, wo das leistungsstärkste Luft-Tscherenkow-Teleskop H.E.S.S. zum Nachweis hochener-getischer Gammastrahlung aus dem Weltall steht.

Die Suche nach kosmischen Teilchenbeschleunigern:

Modernste Teleskope „sehen“ Hochenergie-Gammastrahlung

R. Schröder R. Schlickeiser

Dipl.-Phys. Ralf Schröder, Prof. Dr. Reinhard Schlickeiser, Lehrstuhl für Theoretische Physik IV

Abb. 1:Eines der

H.E.S.S.-Teleskope aus der Nähe be-

trachtet: Die rund 380 einzeln ver-

stellbaren Teilspie-gel ergeben zu-

sammen eine Spie-gelfläche von etwa

107 m². Sie len-ken auch kleinste Lichtblitze in die

empfindliche Kamera.

menprall mit Infrarot-Photonen von früheren Sternen und Galaxien ver-nichtet. Das All zeigte sich für Gam-mastrahlen also durchlässiger als bis-her angenommen, was bedeutet, dass die Obergrenze des im All vorhande-nen Lichts geringer sein muss als ge-schätzt. Alle Objekte im Universum senden Licht aus, das sich gleichmäßig im in-tergalaktischen Raum verteilt. Die di-rekte Bestimmung der Menge dieses

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Lichts ist schwierig, weil es von ande-ren Quellen überstrahlt wird, etwa un-serem Sonnensystem und der Milch-straße. Um dem „fossilen Licht“ auf die Spur zu kommen, nutzen die For-scher deswegen einen anderen Weg: Sie messen die Gammastrahlung, die von weit entfernten Objekten auf der Erde ankommt; sie gibt Aufschluss darüber, wie viel Licht sie auf ihrem Weg begegnet ist.Und die Gammastrahlung lüftet noch viele weitere Geheimnisse des Welt-alls: So war der Supernova-Überrest RX J1713.7-3946 (Abb. 2) lange Zeit ein Unbekannter. Was von der Explo-

sion eines Sterns, einer Supernova, am Ende seines Lebens übrig bleibt, war 1996 vom Röntgensatelliten RO-SAT entdeckt worden, konnte aber in anderen Wellenlängenbereichen nicht dingfest gemacht werden.

Quellen Kosmischer Strahlung

Für Astronomen sind Supernova-Überreste wie RX J1713.7-3946 (auch bekannt als G437.3-0.5) des-wegen so interessant, weil sie als eine der Hauptquellen Kosmischer Strah-lung (Info 1) gelten: Diese Strahlung wurde von dem Österreichischen Phy-

siker Viktor Hess entdeckt. Er unter-nahm zwischen 1911 und 1913 meh-rere Messungen der elektrischen Leit-fähigkeit der Atmosphäre in einem Ballon, um die Theorie von der Her-kunft der natürlichen Radioaktivität zu überprüfen. Der Ursprung dieser Strahlung wurde im Erdinneren ver-mutet. Victor Hess stellte jedoch fest, dass die Leitfähigkeit entgegen sei-ner Annahme mit zunehmender Höhe immer weiter anstieg. Um diesen Ef-fekt erklären zu können, postulier-te er die Existenz von geladenen au-ßerirdischen Teilchen, eben der Kos-mischen Strahlung.

Abb. 2: Aufnahme des Gammastrahlungsbildes des Supernovaüberrests RX J1713.7-3946, die mit den H.E.S.S.-Teleskopen aufgenommen

wurde. Die Farben geben ein Maß für die Photonenflüsse wieder: Rot dargestellte

Bereiche emittieren mehr Photonen pro Se-kunde als blaue. Die schwarze Kontur zeigt

die Oberflächenhelligkeit im Röntgen- bereich.

info1

Kosmische StrahlungDas Weltall ist angefüllt mit energiereicher Teilchenstrahlung, der Kosmischen Strah-lung. Sie besteht zum einen aus geladenen Elementarteilchen wie Elektronen, Pro-tonen, Heliumkernen und schwereren Ker-nen, zum anderen aus Teilchen der elek-tromagnetischen Strahlung, den Gamma-quanten.Die kosmische Strahlung kann unterschied-lichen Ursprungs sein, z.B. aus Supernova-explosionen und Gammastrahlungsausbrü-chen stammen. Die Häufigkeit der Teilchen hängt mit ihrer Energie zusammen: Je en-ergiereicher die Teilchen sind, desto sel-tener treten sie auf. Da die Teilchen bei ih-rer Reise durch das Weltall miteinander in Wechselwirkung treten und dabei Energie

verlieren, nimmt ihre Energie mit der Zeit immer weiter ab. Daraus kann man rück-schließen, dass besonders hochenergetische Kosmische Strahlung auch von Quellen au-ßerhalb unserer Milchstraße kommen kann, z.B. den Quasaren (Kernen von Galaxien).Im Weltall gibt es Magnetfelder, die die ge-ladenen Teilchen von ihrem Weg ablenken können. Dieser Effekt wirkt aber nicht auf die neutralen Gammaquanten. Ihr Weg lässt sich deshalb bis zu ihrer Quelle zurückver-folgen.Die Erdatmosphäre wird ständig von diesem Strom hochenergetischer nuklearer Teilchen getroffen. Unterwegs zur Erde kann sie z.B. technische Geräte stören, die gegen ionisie-rende Strahlen empfindlich sind. Die Strah-

lung gilt auch als Motor der Evolution: Ihr Einfluss hat über Jahrmillionen hinweg das Erbgut von Lebewesen verändert, indem sie Mutationen hervorgerufen hat.Unser Erdmagnetfeld bewahrt die Erdo-berfläche vor einem direkten Bombarde-ment der geladenen Teilchen. Die hoch-energetischen Gammaquanten, aber auch die geladenen Teilchen, können zudem mit den Teilchen der Atmosphäre Wechselwir-kungen eingehen. Bei ihrem Zusammen-prall entstehen mehrere neue Teilchen mit etwas niedrigeren Energien, die wieder-um selber mit anderen Teilchen in Wech-selwirkung treten. So entsteht eine Teil-chenkaskade, der sog. Teilchenschauer (s. Abb. 5).

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Heute verstehen die Physiker die Zusammensetzung dieser Strahlung recht gut. Ihre Verteilung fällt mit zunehmender Energie potenzgesetz-förmig ab, d.h. es gibt weniger ener-giereichere Teilchen als energieär-mere; man nennt diese Verteilung auch nichtthermisch. Bisher war es aber nie gelungen, eine Quelle Kos-mischer Strahlung bei höchsten Ener- gien sicher auszumachen. Da die Teil-chen der Kosmischen Strahlung näm-lich größtenteils elektrisch geladen sind, werden sie durch Magnetfelder im Universum abgelenkt, so dass man aus ihrer Ankunftsrichtung nicht mehr auf ihre ursprüngliche Herkunft schließen kann.

Über Gammaquanten die Teilchenstrahlung deuten

Um eine Vorstellung der Teilchen-quelle zu bekommen, musste man also andere Wege beschreiten. Im H.E.S.S.-Experiment (High-Energy-Stereoscopic-System) untersuchen Forscher verschiedener europäischer Forschungsinstitute und Universitäten (s. Info 2) deshalb die elektrisch neu-tralen Gamma-Teilchen (Gamma-quanten), die aus Wechselwirkungen höherenergetischer geladener Teil-chen der Kosmischen Strahlung eben-falls am Ort der Strahlungsquelle ent-stehen. Ihre Ankunftsrichtung zeigt genau wie ein Lichtsignal eindeutig

Abb. 3:Beim Paarbildungsprozess zerfällt ein Gammaquant (Gamma) im elektrischen Feld eines Atomkerns (+) in ein Elektron (e-) und ein Positron (e+).

Abb. 4:Ein Elektron oder Positron, das im elek-trischen Feld eines Atomkerns abgelenkt wird, verliert Energie, die als Bremsstrah-lung (Gamma) wieder freigesetzt wird.

Abb. 5:Sowohl Gammaquanten (links) als auch hochenergetische Teilchen (rechts) kön-nen in der Atmosphäre einen Teilchen-schauer auslösen. Die Schauer sind deutlich in ihrer Breite unterscheidbar.

auf diese Quelle zurück.Elektronen und Positronen, die beim Durchlauf eines Gammaquants im elektrischen Feld eines Atomkerns entstehen (Abb. 3), und sekundäre Gammaquanten aus der Bremsstrah-lung von Elektronen und Positronen an den Atomkernen (Abb. 4) überneh-men große Mengen Energie von den primären Gammaquanten. Diese kön-nen wiederum weitere Teilchen bil-den. Es entsteht in ca. acht Kilome-tern Höhe ein Teilchenschauer (Abb. 5), dessen rund erste 1000 Kompo-nenten Geschwindigkeiten noch sehr nahe der Vakuumlichtgeschwindig-keit haben.

info2Internationale Kooperation

jekten nach. Da der Beschleunigungspro-zess als ein elektromagnetischer angese-hen wird, d. h. Beschleunigung durch kos-mische elektrische Felder, besteht ein en-ger thematischer und methodischer Be-zug zur Plasmaphysik, die in Bochum als Forschungsprofil durch Förderprogramme wie den Sonderforschungsbereich 591 „Universelles Verhalten gleichgewichts-ferner Plasmen: Heizung, Transport und Strukturbildung“ und das Graduierten-kolleg 1051 der Deutschen Forschungs-gemeinschaft „Nichtgleichgewichtsphä-nomene in Niedertemperaturplasmen: Di-agnostik – Modellierung – Anwendungen“ hervorragend vertreten ist.

Frankreich, Großbritannien, Irland, Tschechien, Armenien, Namibia, Südafrika

Die europäische H.E.S.S.-Kollaborati-on setzt sich aus rund 100 Forschern aus Frankreich, Großbritannien, Irland, Tsche-chien, Armenien, Namibia, Südafrika und Deutschland zusammen. Der Bochumer Lehrstuhl für Theoretische Physik IV (Weltraum- und Astrophysik) ist daran be-teiligt. Die Arbeiten der deutschen Univer-sitätsgruppen werden durch das Verbund-forschungsprogramm Astroteilchenphysik des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Am Lehrstuhl für Theoretische Physik IV gehen die Forscher theoretischen Fragestel-lungen insbesondere zur Beschleunigung geladener Teilchen in den kosmischen Ob-

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Abb. 6:Der Tscherenkow-

Effekt: Das von rechts kom-mende Teilchen bewirkt, dass die

Atome und Moleküle des Mediums Licht kugelförmig aussenden. Da sich das Teil-chen in dem Medium schneller bewegt als das Licht, zieht es eine Lichtfront kegelför-mig hinter sich her, ähnlich wie ein Flug-zeug eine Schallfront beim Durchbrechen der Schallmauer hinter sich herzieht.

Durchdringt nun ein geladenes Teil-chen wie das Elektron aus diesem Schauer ein dielektrisches Medium wie die Luft, so polarisiert es deren Atome und Moleküle kurzzeitig. Die-se wiederum strahlen daraufhin Licht ab. Dieses Licht breitet sich kugel-förmig durch den Raum aus. Die Geschwindigkeit des Lichtes hängt nun vom Brechungs-index des Mediums ab. Bewegt sich das ge ladene Teilchen schnel-ler als das Licht in dem Medium – so wie in der Erdatmosphäre -, so entsteht ein sog. Lichtfrontke-gel (Abb. 6). Dieser Effekt wird als Tscherenkow-Effekt bezeich-net. Das Tscherenkow-Licht wird im sichtbaren Bereich nicht von der At-mosphäre absorbiert und kann nun von Teleskopen auf der Erde detek-tiert werden. Auf diese Weise kann man Teilchenschauer in der Luft, die in Höhen von etwa acht Kilometern entstehen, abbilden. Die Intensität des Tscherenkow-Lichts ist proportional zur Anzahl der Schauerteilchen, wel-che wiederum ein Maß für die Energie des einfallenden Gammaquants ist.Die H.E.S.S.-Forscher nutzen eben die- se Tatsache, dass ein Gammaquant in unserer Atmosphäre Energie verliert, die als schwach-blaue Lichtblitze von wenigen Millionstel Sekunden nach-

Abb. 7:Eines der vier H.E.S.S.-Teleskope vor dem nächtlichen Himmel. Die im Halbrund an-gebrachten Spiegel lenken das Licht in die

Kamera, die darüber angebracht ist.

Abb. 8:Die vier Teleskope sind in den Ecken eines 100 Meter breiten Quadrats aufgestellt. Das ermöglicht ih-nen das stereosko-pische Sehen.

weisbar sind. Mit speziellen Gamma-strahlungs-Teleskopen versuchen sie u.a. die Quellen der Gammastrahlung aus Supernovae zu finden.

Um solche Blitze überhaupt regis-trieren und von dem Hintergrund des (mondfreien) Nachthimmels un-terscheiden zu können, benutzt man Kameras mit extrem kurzen Belich-tungszeiten. Die Kamera selbst be-steht aus 960 Bildelementen und hat einen Durchmesser von 1,4 Metern (Abb. 7). Das einfallende Licht wird über knapp 13 Meter breite Spiegel auf die Kamera gelenkt. Die Spiegel bestehen wiederum aus 380 runden, 60 cm breiten, einzeln verstellbaren Spiegeln (s. Abb. 1). Verzerrungen des Bildes, die entste-hen, wenn die Haltekonstruktion der Spiegel sich durch mechanische Be-lastungen verformt, können so ver-hindert oder korrigiert werden. Das H.E.S.S.-Instrument besteht aus ins-gesamt vier Teleskopen, die in den Ecken eines 100 Meter breiten Qua-drates aufgestellt sind (Abb. 8). Es wurde im Khomas-Hochland Namibi-as errichtet, rund 100 km südwestlich von Windhoek. Namibia eignet sich hervorragend als Standort, da es auf

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der südlichen Halbkugel liegt und das Zentrum unserer Galaxis im Sternbild Schütze dort fast im Zenit steht. Zum anderen bietet das milde Klima Nami-bias ideale Bedingungen, da der Be-trieb und die Funktionsweise der Te-leskope keine extremen Witterungs-bedingungen vertragen. Aus Kosten-gründen hat man auf den Bau von Kuppeln verzichtet, die ein ganzes Teleskop umschließen würden. Statt-dessen werden die Teleskope tagsü-ber in eine Parkposition gebracht, so dass die Kameras in kleinen Hütten mit aufrollbaren Dächern unterge-bracht sind. Mit mehreren zusammen geschalteten Computern lassen sich die Teleskope steuern und die erhal-tenen Daten weiterverarbeiten.

1000 Beobachtungsstunden/Jahr

Da die gesuchten energiereicheren Teilchen und Gammaquanten seltener sind als energieärmere, werden Ob-jekte über viele Stunden hinweg über mehrere Nächte verteilt beobachtet. Die Erde dreht sich ständig unter dem Fixsternhimmel, und man kann Ob-jekte nur dann beobachten, wenn sie am Himmel am höchsten stehen. Des-halb richtet man die Teleskope in ei-ner Nacht auf bis zu zehn verschie-dene Objekte, die gerade kulminieren, also hoch am Himmel stehen (s. Abb. 9). So kommen die Forscher im Jahr auf etwa 1000 Beobachtungsstunden. Pro Beobachtungsschicht, die eine Mondphase, also etwa vier Wochen umfasst, sind zwei bis drei Physiker der beteiligten Institute vor Ort. Da auch Elektronen und andere hoch-energetische Teilchen Luftschauer er-zeugen, bedarf es einer genauen Ana-lyse der Aufnahmen, um auf Gam-maquanten rückzuschließen. Gam-maquanten und Elektronen erzeugen schmale, andere Teilchen breitere el-lipsenförmige Abbildungen (Abb. 10). Kennt man die Energie der Gamma-quanten, kennt man aber noch nicht ihren Herkunftsort. Für seine Her-leitung nutzen die Forscher ein Ver-fahren, dass dem menschlichen Se-hen ähnelt. Die vier Teleskope beob-achten das gleiche Ereignis, aber aus

Abb. 9 links:Die Ausrichtung der Teleskope er-folgt per Com-puter. Pro Nacht können mehre-re Gammastrah-lungsquellen nacheinander an-gepeilt werden.

Abb. 9 rechts: Die Teleskope

werden von einer Zentrale aus ge-

steuert und über-wacht. Die For-

scher arbeiten in Schichten wäh-rend der mond-freien Zeit der

Nacht.

verschiedenen Blickwinkeln. Durch Überlagerung der Bilder lässt sich aus dem Schnittpunkt der Ellipsen-achsen der Herkunftsort bestimmen. Also so wie der Mensch mit seinen zwei Augen räumlich sehen kann, können mindestens zwei Teleskope die Schauerereignisse räumlich ab-bilden. Dieses Verfahren bezeichnet man als Stereoskopisches Sehen.Schon seit einigen Jahren gibt es ein-zelne Tscherenkow-Teleskope an ver-schiedenen Standorten der Welt. Doch als Einzelteleskope können sie den Ursprungsort der Luftschauer nicht bestimmen. Im Jahre 1995 entstand daher die Idee, ein System mehrerer

Teleskope zu bauen, die das Stereo-skopische Sehen ausnutzen können. Ergebnis ist das High-Energy-Stereo- scopic-System, dessen Abkürzung H.E.S.S. zu Ehren von Viktor Hess gewählt wurde.Mit diesem hochmodernen Gerät ließ sich die Struktur des Supernova-Überrests RX J1713.7-3946, einer TeV-Gammastrahlungsquelle (TeV = Teraelektronenvolt), zum ersten Mal auflösen (s. Abb. 2). Dies ist vor allem der überlegenen Sensitivität und Win-kelauflösung des Instrumentes zu ver-danken. Aus den H.E.S.S.-Beobach-tungen geht deutlich hervor, dass hochenergetische Teilchen in der aus-

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einander driftenden Hülle dieses Su-pernova-Überrestes beschleunigt wer-den, und dies nahezu in allen Regi-onen der Hülle. Die hohe Energie die-ser Teilchen wird über physikalische Prozesse in elektromagnetische Gam-mastrahlung umgewandelt. Neben Supernovaüberresten wie RX J1713.7-3946 gibt es im Universum eine Vielzahl anderer Objekte, die hochenergetische Gammastrahlung produzieren. Man nennt solche as-tronomischen Objekte Kosmische Beschleuniger, denn um derart hohe

Strahlungsenergien zu erzeugen, müs-sen die geladenen Teilchen, die ihre Quellen darstellen, sogar noch höhere Energie besitzen. Der Nachweis der-artiger Quellen und ihre Identifikati-on verraten uns etwas über die Be-schaffenheit und die Natur dieser kos-mischen Beschleuniger. Dazu gehören etwa die Gammastrahlungsburstquel-len, die leuchtkräftigsten physika-lischen Objekte. Es sind Quellen, die Gammastrahlung innerhalb von eini-gen Sekunden bis Stunden aussenden. Anschließend „glühen“ diese Quel-len über mehrere Tage im Röntgen-, UV- und optischen Bereich nach, bis sie für unsere Instrumente „unsicht-bar“ werden.

Nachweis Kosmischer Beschleuniger

Aktive galaktische Kerne – ebenfalls kosmische Beschleuniger – hingegen sind sehr kleine Bereiche in den Zen-tren einiger Galaxien, die in einem Gebiet von der Größe unseres Son-nensystems soviel Strahlung freiset-zen wie es Milliarden unserer Sonne zusammen tun würden. Der Motor dieser gewaltigen Energiefreisetzung ist ein supermassereiches Schwarzes Loch. Einfließende Teilchen werden in so genannten Jets beschleunigt und aus der Galaxie hinaus geschleudert.Das H.E.S.S. Instrument ist das welt-

Abb. 10:Schematische Darstellung der Überla-gerung der ellipsenförmigen Signale von Teilchenschauern in einem Bild. Der Schnittpunkt der großen Halbachsen lie-fert den Ort des Ursprungs des Teilchen-schauers.

weit führende Observatorium im Be-reich der Hochenergie-Astronomie mit Photonenenergien oberhalb 0,1 TeV. Mit Beginn der Inbetriebnahme des ersten Teleskops im Sommer 2002 hat es eine Fülle hervorragender wis-senschaftlicher Ergebnisse erzielt.

H.E.S.S. beschleunigt Erkundung

So gelang es beispielsweise, das Zen-trum unserer Milchstraße im Stern-bild Schütze mit einer Positionsun-sicherheit von nur 30 Bogensekun-den zu bestimmen. Daneben gelang die erstmalige Detektion des Doppel-sternpulsars PSR B1259-63: Ein Pul-sar ist ein rotierender Neutronenstern, der in regelmäßigen Abständen Licht aussendet. Dieser Pulsar umrundet einen massereichen Stern auf einer ellipsenförmigen Umlaufbahn. Der Punkt größter Annäherung ist das so genannte Periastron, in dessen Nähe die Messung mit H.E.S.S. gelang. Daneben wurden bei einer systema-tischen Durchmusterung des inneren Milchstraßenbereichs neun neue TeV-Quellen entdeckt. Von diesen konn-ten vier als Supernovaüberreste und eine als Mikroquasar LS5039 identi-fiziert werden (s. Abb. 11). Damit hat das H.E.S.S. Instrument die Zahl der bekannten TeV-Quellen bereits ver-doppelt.

Abb. 11:Himmelskarte der

Region um LS 5039 im Gammastrahlen-Licht. Die Farbska-

la gibt die Intensität der Gammastrahlung

an. Der grüne Stern zeigt die Position von LS 5039, wie sie mit Radioteleskopen be-

stimmt wurde, und die weiße Ellipse das Zentrum der Gamma-strahlung. In der obe-

ren linken Ecke des Bildes ist eine wei-

tere, von H.E.S.S. ent-deckte Quelle hoch-energetischer Gam-mastrahlung sicht-

bar, das Objekt HESS J1825-137.

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Objekte zu identifizieren und ihre räumlichen Bewegungen sicher

zu verfolgen spielt im täglichen Le-ben eine zentrale Rolle – ob es sich dabei um einen Marathonläufer (Abb. 1) handelt, dessen genaue Ankunfts-zeit im Ziel registriert werden muss, oder um den Yoghurtbecher, der im Einkaufswagen an der Supermarkt-kasse vorbei gefahren wird. Schon jetzt zeichnet sich ein großer Bedarf an intelligenten Etiketten ab, die, auf

verschiedenste Objekte aufgebracht, deren sichere Identifikation ermög-lichen. Was für den Yoghurtbecher noch zu teuer ist, wird im Sport schon angewendet (s. Abb. 2). Doch der flä-chendeckenden Einführung solcher intelligenten Etiketten stehen noch zu hohe Kosten und auch technologische Probleme im Wege: Der Chip auf der Startnummer eines Läufers kostet der-zeit etwa einen Euro und einem her-kömmlichen elektronischen Schalt-

Ein unscheinbarer Aufdruck sorgt dafür, dass ein Emp-fänger die Zeiten der Läufer beim Überqueren von Start- und Ziellinie exakt registriert. Viele Teilnehmer am Halb-marathon der Ruhr-Universität haben ihn dennoch ent-deckt – den elektronischen Schaltkreis auf der Rücksei-te ihrer Startnummer. Bochumer Chemiker setzen alles daran, dass solche elektronischen Papiere auf Basis orga-nischer Moleküle Einzug in viele Bereiche des täglichen Lebens halten.

Organische Elektronik optimieren:

Wenn Molekülesteuern und schalten

Prof. Dr. Christof Wöll, Lehrstuhl für Physikalische Chemie I, Fakultät für Chemie und Biochemie

Abb. 1: Ziel erreicht – Halbmarathon derRuhr-Universität

C.Wöll

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Ist sie zu niedrig, können zwar funk-tionierende Bauteile aufgebaut wer-den, die Schaltfrequenzen sind dann aber so klein, dass sie mit den tech-nischen Rahmenbedingungen nicht kompatibel sind. Da intelligente Eti-ketten in einem Frequenzbereich von ca. 125 kHz arbeiten müssen, setzt das eine bestimmte Geschwindigkeit der Ladungsträger je Feldstärke vo-raus (über 1 cm2/Vs).

Polymere und großeorganische Moleküle

Die besten organischen Materialien reichen in der Beweglichkeit der La-dungsträger heute bereits an die kon-ventionellen Halbleiter Silizium und Germanium heran (s. Abb. 4). Der-zeit werden zwei verschiedene Klas-sen molekularer Materialien intensiv auf ihren Einsatz in elektronischen Schaltkreisen untersucht: Polymere und große aromatische Moleküle. Polymere, die jeder als Material für Plastiktüten und Legobausteine kennt, haben das größere Potenzial für ei-nen technologischen Einsatz. Wenn es gelingt, daraus ein Material mit ei-ner hohen Flexibilität zu entwickeln, könnten elektronische Schaltkreise mit konventionellen Druckmaschinen direkt auf unterschiedliche Unterla-gen aufgedruckt werden – etwa auf einen Yoghurtbecher. Das macht orga-nische Chips als „billige Elektronik“ gerade für intelligente Etiketten, von

Abb. 2:Die Laufzeit präzise erfassen – dafür befi ndet sich auf der Rückseite der Startnummer ein elektronischer Schaltkreis mit Antenne, der beim Überqueren von Start- und Ziellinie sowie weiteren Kontrollstellen seine Kennung an einen Empfänger sendet.

kreis fehlt die Materialfl exibilität – aufgebracht auf den Yoghurtbecher, würde der Schaltkreis brechen. Deshalb wird weltweit intensiv an ei-ner organischen Elektronik geforscht, d.h. an technologischen Verfahren, mit denen sich elektronische Schalt-kreise herstellen lassen, die anstelle von Silizium oder Germanium aus or-ganischen Molekülen bestehen. Dass organische Moleküle in einem Tran-sistor dasselbe leisten können wie der Halbleiter Silizium, überrascht nur auf den ersten Blick. Auch Mo-leküle verhalten sich wie Halbleiter und können als aktive Komponenten in elektronischen Bauteilen einge-setzt werden. Zudem ist die Verwen-dung von organischen Materialien in halbleitenden Bauteilen nicht grund-legend neu. So gibt es heute schon organische Leuchtdioden, mit denen etwa Displays von Mobiltelefonen oder MP-3-Abspielgeräte ausgerüs-tet sind. Doch dabei werden die or-ganischen Materialien noch nicht als aktive Komponenten – etwa als Schal-ter im Transistor – eingesetzt, sondern die Rekombination von Löchern und Elektronen wird genutzt, um Licht zu erzeugen (s. Abb. 3).Natürlich müssen auch organische Materialien bestimmte technische Anforderungen erfüllen, wenn sie in elektronischen Schaltkreisen einge-setzt werden sollen. Die wichtigste ist die Beweglichkeit der elektrischen Ladungen im organischen Halbleiter.

Abb. 3:Dass bei diesem Display die Bildpunkte mit organischen Molekülen geschaltet werden, ergibt sich schon aus seiner Flexibilität. Ein Display auf Silizium-Basis würde bre-chen, wenn es so stark gebogen wird.

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Polymer

Oligomere (kleine Moleküle)

Pentacen-Einkristall

Ladungsträgerbeweglichkeit (cm /Vs) 2

Rubren-Einkristall

Quelle Senke

Isolator

organischer Halbleiter

Kontrollelektrode

denen zudem keine lange Lebensdau-er gefordert wird, interessant. Die mo-mentan erreichbaren Beweglichkeiten sind aber um etwa eine Größenord-nung zu klein, was noch erhebliche Entwicklungsarbeit erfordert. Bei großen aromatischen Molekülen sind die für einen technischen Ein-satz erforderlichen Beweglichkeiten der Ladungsträger heute durchaus erreichbar. Mit dem Molekül Penta-cen konnten organische Feldeffekt-transistoren hergestellt werden, bei denen die erforderliche Beweglich-keit (über 1 cm2/Vs) zum Teil deut-lich überschritten wurde. Allerdings sind Einzelmoleküle wie das Pen-tacen in Lösungsmitteln wiederum schlecht löslich, was ein Bedrucken mit konventionellen Druckverfahren nicht ohne weiteres zulässt. Zurzeit wird fieberhaft daran gearbeitet, den Transportmechanismus elektrischer Ladungen in organischen Materialien zu entschlüsseln, um die Erkenntnisse dann beim Design optimierter Poly-mere zu nutzen.

Ladungstransport klären

Wie der konventionelle Feldeffekt-transistor, der etwa massenhaft in der Zentraleinheit (CPU: Central Pro-cessing Unit) von Bürorechnern vor-kommt, besitzt auch der organische Feldeffekttransistor drei Anschlüs-se (s. Abb. 5): die Quelle, die Kon-trollelektrode und die Senke (engl.: „source“, „gate“ und „drain“). We-sentlich für die Funktionsweise or-ganischer Feldeffekttransistoren ist der Übergang der Ladungsträger von der Elektrode (Metall) in den orga-nischen Halbleiter (Injektion von Elektronen), aber auch der Trans-port der elektrischen Ladung durch den Halbleiter selbst. Bei der Her-stellung organischer Feldeffekttran-sistoren gilt es daher eine Reihe von Problemen zu beachten, die sich vor allem aus der Materialverschieden-heit von Elektroden und Halbleiter ergeben. So kommt es etwa bei der Wahl des Metalls (Elektroden), aus dem die Elektronen injiziert werden,

Abb. 4:Während Elektronen in metallischen Halbleitern wie auf einer schrägen Ebene mit hoher Geschwindigkeit entlang gleiten, setzen ihnen organische Moleküle aufgrund von Rei-bungskräften einen Widerstand entgegen. Dennoch reicht die Beweglichkeit der Ladungs-träger in den besten organischen Halbleitern inzwischen an konventionelle Silizium-Halb-leiter heran.

Abb. 5:Der organische Feldeffektransistor folgt im Prinzip dem Aufbau konventioneller Feldeffekt-transistoren: Er besteht aus drei metallischen Elektroden (Quelle, Kontrollelektrode, Sen-ke) und dem organischen Halbleiter. An der Quelle werden die Ladungsträger (Elektronen) in den (organischen) Halbleiter injiziert und zur Senke transportiert. Mit der an der Ba-sis angelegten Spannung kann die Stärke des Stromflusses von der Quelle zur Senke regu-liert werden.

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auf die genaue Anpassung der elek-tronischen Niveaus an der Grenzflä-che zwischen Elektronik und Organik an. Zudem spielen die Ordnung der Moleküle und eventuelle Verunreini-gungen an der Grenzfläche eine ent-scheidende Rolle für die Leistungs-fähigkeit des Bauteils. Um diese Pro-bleme zu untersuchen, hat die Deut-sche Forschungsgemeinschaft im Jahr 2001 das Schwerpunktprogramm „Or-ganische Feldeffektransistoren: Struk-tur und elektrischer Transport“ (SPP 1121) eingerichtet. Im Rahmen dieses Schwerpunktprogramms, das von uns koordiniert wird, forschen deutsch-landweit insgesamt 25 Gruppen an grundlegenden Problemen den Auf-bau organischer Feldeffekttransisto-ren betreffend (s. Info 1).

Metall und Molekül aneinander anpassen

Auch in Bochum werden verschie-dene Aspekte des Betriebs und Auf-baus von organischen Feldeffekttran-sistoren untersucht. Dabei konnten wir inzwischen etwa zur Ladungsträ-gerinjektion eine Reihe wichtiger Bei-träge leisten. Hier kommt es vor allem darauf an, dass die relative Lage der elektronischen Zustände an der Me-talloberfläche und im Molekül mög-lichst gut aneinander angepasst wird (s. Abb. 6). An der Grenzfläche zwi-schen Metall und Molekül existiert

ein Niveauunterschied, die Elektronen müssen quasi eine Stufe überwinden. Wenn die Ladungsträger vom Metall in Richtung Halbleiter fließen, steigt ihr Niveau – vergleichbar einem Pe-gel – an. Das höchste Niveau, auf dem sich Elektronen befinden, ist die sog. Fermikante.

Organischer Halbleiter mit Schubladen-System

Diese elektronische Struktur des Me-talls stößt an der Grenzfläche zum or-ganischen Halbleiter auf die elektro-nische Struktur der Moleküle, qua-si ein Schubladen-System für Elek-tronen (Orbitale), an dem entlang der Elektronenpegel im Metall höher steigt. Dabei liegt die Fermikante im-mer zwischen der höchsten besetzten Schublade, dem sog. HOMO, und der nächsten – somit freien – Schublade des Halbleiters, dem sog. LUMO. Für die Injektion der Elektronen in den Halbleiter muss die Stufe zwischen der Fermikante und dem LUMO, d.h. der energetische Abstand zwi-schen dem höchsten Elektronenni-veau im Metall und dem niedrigsten unbesetzten elektronischen Zustand im Halbleiter möglichst gering sein (s. Abb. 6). Auch wenn bei Anlegen einer ent-sprechenden Spannung große Abstän-de (Stufen) von den Ladungsträgern überwunden werden können, führen

Überspannungen dazu, dass die Leis-tungsfähigkeit des Bauteils stark ab-sinkt. Ziel ist es daher, über eine op-timale Anpassung von Metall- und Molekülstrukturen möglichst niedrige Stufen, d.h. geringe Barrieren, zu er-halten, damit die Elektronen mühelos in den Halbleiter gleiten können.Bis vor etwa fünf Jahren war die Tragweite dieses Grenzflächenprob-lems nicht bekannt. Die Forscher gin-gen davon aus, dass bei der Wechsel-wirkung des organischen Moleküls z.B. mit dem Edelmetall Gold die elektronische Struktur beider Mate-rialien unbeeinflusst bleibt und dass man somit die Injektionsbarrieren re-lativ einfach aus den entsprechenden Metall- und Moleküldaten ermitteln kann. Amerikanische und japanische Arbeitsgruppen fanden jedoch bald heraus, dass selbst die unreaktivsten chemischen Substanzen – die Alka-ne – bei Kontakt mit der Oberfläche des Edelmetalls Gold elektronische Grenzflächenphänomene zeigen: Die Lage der Molekülorbitale verschiebt sich relativ zum Gold um über 1 eV, wodurch die Austrittsarbeit, d.h. die Energie, die nötig ist, um ein Elek-tron aus dem Metall herauszulösen, um über 25 Prozent sinkt. Als Folge dieses Phänomens muss für jede ein-zelne Molekül-/Metallkombination die Austrittsarbeit ermittelt werden, die für den Übergang der Elektronen vom Metall in den organischen Halb-

In einem organischen Feldeffekt-Transis-tor (OFET) wird anstelle von Silizium oder Germanium ein organischer, niedermole-kularer oder polymerer Halbleiter einge-setzt. OFETs sind die Basiselemente einer organischen Elektronik. Haupeinsatzgebiete werden einfache Anwendungen mit einem geringen Stückpreis je Bauteil sein. Dazu gehören Speicher mit nur geringer Spei-cherdichte oder kurzzeitigem Einsatz, etwa elektronische Wasserzeichen, Transponder, Barcodes, flexible smart cards, integrierte Steuerungen für Sensoren und Aktuatoren zur Einmalnutzung (Medizin), oder auch die Ansteuerung organischer Aktivmatrix-Displays.

Aufgrund der Bedeutung organischer Halb-leitermaterialien hinsichtlich einer zu-künftigen Informationstechnologie hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Jahr 2001 das Schwerpunktprogramm „Organische Feldeffekttransistoren: Struk-tur und elektrischer Transport“ (SPP 1121) eingerichtet. An dem durch Prof. Dr. Chris-tof Wöll, Ruhr-Universität Bochum, koordi-nierten Programm sind deutschlandweit 25 Gruppen beteiligt, wovon jährlich etwa 15 Gruppen mit einer Summe in Höhe von ca. 1 Mio Euro gefördert werden.

Schwerpunktprogramm „Organische Feldeffekttransistoren“

info1

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leiter erforderlich ist. Um dieses Ver-halten verstehen zu können, haben wir in Zusammenarbeit mit der Universi-ty of North Texas, USA (s. Info 2), hochgenaue theoretische Methoden entwickelt. Zuvor hatte sich gezeigt, dass die herkömmliche Standardme-thode, die „Density-Functional-The-ory“ (DFT: Dichtefunktionalmetho-de) zur Beschreibung derartiger Sys-teme nicht geeignet ist. Mit der DFT-Methode können die feste chemische Bindung in Molekülen und eine feste chemische Anbindung von Molekülen an Oberfl ächen gut beschrieben wer-den. Beim Kontakt von organischen Molekülen mit Edelmetalloberfl ächen treten jedoch relativ schwache Wech-selwirkungen auf, die den Einsatz die-ser Methode ausschließen.

Neue Methode für schwache Wechselwirkungen

Die neuen, sehr genauen und relativ aufwändigen Rechenverfahren basie-ren nicht auf der Dichte der elektro-nischen Zustände, sie nutzen die elek-tronischen Zustände unmittelbar, um die Wechselwirkungen zwischen Mo-lekülen und Metalloberfl ächen direkt und zuverlässig zu ermitteln. Dabei stellte sich heraus, dass bei der Wechselwirkung von Molekülen und Metallen ein bislang nicht ausreichend berücksichtigter Effekt auftritt – der

sog. „cushion-effect“, denn die Elek-tronen des Metalls werden durch das Molekül seitlich weggedrückt, ähn-lich einem verformten Kissen, auf das sich jemand gesetzt hat (Abb. 7).Weil das Molekül die elektronische Ladung „zur Seite“ drückt und dort anhäuft, entsteht direkt unter ihm eine Verarmungszone. Die genaue Analyse des Effekts ergab, dass die verform-te Ladungsdichte im Metall ein elek-trisches Feld erzeugt (Dipol), durch das sich die Verschiebung der elek-tronischen Zustände und die Ände-rung der Austrittsarbeit genau erklä-ren lassen. Vorher ging die Wissen-schaft davon aus, dass sich die Aus-

trittsarbeit nicht verändert, wenn sich ein Molekül nur schwach an eine Me-talloberfl äche anlagert (Adsorption). Die Ergebnisse dieser Berechnungen zeigen jedoch, dass auch ein schwach adsorbiertes Molekül die Austrittsar-beit verändert. Falls sie gleich bleibt, spricht das umgekehrt für eine star-ke chemische Wechselwirkung (Haf-tung) zwischen Molekül und Oberfl ä-che, da die immer auftretende Ände-rung kompensiert wird. Während sich die ersten in Koope-ration mit der University of North Texas durchgeführten Rechnungen auf Modellsysteme erstreckten, bei denen nur gesättigte Kohlenwasser-

Die organische Elektronik steht momen-tan weltweit im Mittelpunkt vieler For-schergruppen. So hat der Lehrstuhl für Physikalische Chemie I in den letzen Jah-ren eine Reihe von Kooperationen inner-halb und außerhalb Europas etabliert. Im Hinblick auf die theoretische Beschrei-bung der elektronischen Struktur von Mo-lekülen insbesondere an der Organik/Elek-trodenoberfl äche spielt die zehnjährige Zu-sammenarbeit mit Prof. Dr. Paul. S. Bagus von der Universität UNT (University of North Texas), Texas, USA, eine entschei-dende Rolle. Der international anerkann-te theoretische Chemiker gilt als einer der Pioniere der theoretischen Beschreibung von Molekülen an Oberfl ächen. Zunächst wurden gemeinsam spezielle theoretische

Methoden entwickelt, die auch bei einer relativ schwachen Ankopplungen der Mo-leküle an die Oberfl äche eingesetzt wer-den können. Von der erfolgreichen Ko-operation zeugen nicht allein zahlreiche Publikationen und regelmäßige gegen-seitige Forschungsaufenthalte, im letz-ten Jahr konnte die Zusammenarbeit mit der Universität von North Texas erweitert werden: Gemeinsam mit Prof. Dr. Angela Wilson wurde Anfang 2006 ein Antrag im Rahmen des deutsch-amerikanischen För-derprogramms „Cooperative Activities in Chemistry between U.S. and German In-vestigators (NSF-DFG)“ gestellt.

info2

Internationale Kooperation

USA

Abb. 6:Grenzfl ächendynamik: Indem der Elektronenpegel im Metall entlang der Grenzfl äche zum organischen Halb-leiter nach oben steigt, springen die Elektronen quasi in ein Schubladen-System – gebildet von den Orbitalen der organischen Moleküle (E

F : Fermikante;

inj-: Injek-

tionsbarriere für Elektronen; inj+

: Injektionsbarriere für Löcher; VL: Vakuumniveau;

M: Austrittsarbeit).

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stoffe und ein Edelgasatom berück-sichtigt wurden, haben wir unsere Methode inzwischen auch bei aro-matischen Molekülen eingesetzt: So konnte für die Wechselwirkung von Benzol mit Oberfl ächen aus Kup-fer, Silber und Gold gezeigt wer-den, dass zwar eine geringe che-mische Wechselwirkung zu dem beschriebenen „Kisseneffekt“ hinzu-kommt, dass dieser aber dennoch die relative Lage der elektronischen Zustände wesentlich dominiert.

„Kisseneffekt“ verschiebtElektronenzustände

Doch die Injektion von Ladungsträ-gern aus dem Metall in den orga-nischen Halbleiter ist nur ein Aspekt, der bei der Herstellung Organischer Feldeffekttransistoren berücksichtigt werden muss. Ebenso wichtig ist es, zu wissen, wie sich die Elektronen im Halbleiter weiter bewegen. Daher untersuchen wir die genaue Struk-

Abb. 8:Gemeinschaftsproduktion: In Zusammenarbeit mit Nanoelektronikern der Ruhr-Universität entstanden diese Elektroden für einen Feldeffekttransistor (Abb. unten). Das aktive Materi-al, der organische Halbleiter Pentacen, wurde dann in einem zweiten Schritt aufgedampft (Abb. oben). Noch ist die Morphologie der Pentacen-Schicht sehr uneinheitlich, wodurch die Leistungsfähigkeit des Organischen Feldeffekttransistors stark eingeschränkt ist.

Abb. 7:Kissen-Effekt: Er entsteht, wenn das organische Molekül die Elektronen des Metalls seit-lich wegdrückt, ähnlich einem verformten Kissen, auf das sich jemand setzt. Unter dem Molekül sind kaum noch Ladungsträger zu fi nden (rot: erhöhte Ladungsdichte; blau: Be-reiche aus denen die Ladung abfl ießt; -: Abnahme der Ladungsdichte; +: Zunahme der Ladungsdichte).

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auf die Strukturen Organischer Feld-effekttransistoren (OFET) auftreten, eindeutig zu identifi zieren.Eine in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Werkstoffe und Nano-elektronik der Ruhr-Universität (Prof. Dr.-Ing. Ulrich Kunze, Dr. Claudia Bock) hergestellte OFET-Elektroden-struktur, auf die in der Arbeitsgrup-pe von Dr. Gregor Witte am Lehrstuhl für Physikalische Chemie I das orga-nische Molekül Pentacen aufgebracht wurde, zeigt deutlich, dass trotz des

homogenen Belegens des Substrats mit den Molekülen die Morpholo-gie der Pentacen-Schicht sehr unein-heitlich ist (s. Abb. 8, oben). In be-stimmten Bereichen in der Nähe der Elektroden treten Verarmungszonen auf, in denen kaum Moleküle vorhan-den sind, während sie sich direkt auf den Elektroden anhäufen. In diesem Fall ist die Funktionsweise des Or-ganischen Feldeffekttransistors stark eingeschränkt, denn in der Nähe der Elektroden befi nden sich zwar Mole-

Abb. 9:Organische Diode: Nanometergroße Pentacen-Kristallite auf einem einkristallinen Gold-substrat werden durch Kontakt mit einer Metallspitze (Bild b) zu einer der einfachsten auf Halbleitern basierenden Funktionsstrukturen, einer Diode. Auf diese Weise wird ein „idea-les“ Bauelement hergestellt, bei dem Einfl üsse von Defekten oder Verunreinigungen aus-geschlossen werden können. Da sich zusätzlich die Temperatur variieren lässt, ist eine ein-deutige Identifi kation von Ladungstransportmechanismen möglich.

tur und Morphologie der Molekül-schichten in der Nähe der Elektroden. Hier konnten wir im vergangenen Jahr eine Reihe grundlegender Untersu-chungen mit einem neuen Großgerät, dem sog. „Schmetterling“ durchfüh-ren, das die Rastertunnelmikroskopie – die derzeit höchstaufl ösendste mi-kroskopische Methode – mit der sehr universell einsetzbaren Rasterelektro-nenmikroskopie kombiniert. Mit die-sem Gerät gelang es, die Probleme, die beim Aufbringen von Molekülen

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Auch bei Molekülen haben wir nun diesen Weg eingeschlagen, um etwa aus Pentacen- oder Rubren-Einkris-tallen elektronische Schaltkreise auf-zubauen. Allerdings reagieren solche Einkristalle leicht mit Sauerstoff, was die Reinheit der Oberflächenzone von organischen Einkristallen stark redu-ziert. Aus diesem Grund haben wir auf einem perfekten, einkristallinen Goldsubstrat nanometergroße Kristal-lite aus Pentacen gezüchtet und diese dann mit der Spitze eines Rastertun-nelmikroskops kontaktiert (s. Abb. 9). Die mikroskopische Aufnahme zeigt deutlich die verschieden hohen Inseln aus Pentacen-Molekülen. Durch An-nähern einer Metallspitze (Elektro-de) an eine solche Pentacen-Insel (s. Abb.9b) erhalten wir dann zwar kei-nen Organischen Feldeffekttransistor – dafür wären drei Kontakte erfor-derlich – wohl aber eine Diode. Das Messen der Kennlinien dieser Dioden mit zwei Tunnelkontakten lieferte uns dann wichtige Aufschlüsse auf den Ladungstransport und die Ladungs-injektion in das Pentacen (s. Abb.9d). Auch bei dieser Untersuchung erwies es sich von Vorteil, dass der „Schmet-terling“ bei verschiedenen Tempera-turen betrieben werden kann. Die ver-schiedenen, für den Ladungstrans-port in organischen Halbleitern vor-geschlagenen Mechanismen haben deutlich unterschiedliche Temperatur- abhängigkeiten und lassen sich auf diese Weise zuverlässig unterschei-den. Unsere Messungen bei -180oC, der Temperatur flüssigen Stickstoffs,

küle, in die die Landung injiziert wer-den kann, doch es fehlt der organische Halbleiter, durch den der Strom von der Quelle zur Senke fließen kann. Wir konnten dieses unerwartete Ver-halten auf die van-der-Waals-Wech-selwirkung zurückzuführen, durch die es zu relativ starken Kräften zwischen den Molekülen und der Goldoberflä-che kommt.

„Schmetterling“ erkennt einkristalline Inseln

Durch eine geeignete chemische Mo-difikation der Goldsubstrate haben wir diese Wechselwirkung so weit abgeschwächt, dass wir inzwischen Bauteile mit guten elektrischen Ei-genschaften erhalten. Die chemische Modifikation der Goldelektroden er-folgt durch Aufbringen einer selbstan- ordnenden Monolage – so genann-te SAMs (Self Assembled Monolay-er), die an unserem Lehrstuhl seit vie-len Jahren intensiv untersucht werden (s. Info 3). Mit dem „Schmetterling“ gelang uns erst kürzlich ein weiteres, grundlegendes Experiment: Eine Möglichkeit, mit der sich Defekte an den Elektroden und innerhalb des or-ganischen Halbleiters ausschließen ließen, wäre – wie beim Silizium – mit Einkristallen zu arbeiten. Einkris-talle sind Stücke eines bestimmten Materials, in denen alle Bausteine ein perfektes Gitters bilden. Daher dienen z.B. Silizium-Einkristalle der Herstel-lung extrem leistungsfähiger Materi-alien für elektronische Schaltkreise.

„Self Assembled Monolayers“, kurz SAMs genannt, stellen eine spezielle Form orga-nischer Beschichtungen dar, die besonders einfach hergestellt werden können: Es ge-nügt, Goldschichten in eine alkoholische Lösung von Organothiolen – einer spezi-ellen Klasse schwefelhaltiger organischer Moleküle – zu legen und auf der Metall-oberfläche bildet sich ein „Molekül-Pelz“ aus. Die Haare entsprechen den organischen Molekülen, die durch den Schwefel fest auf dem Gold verankert werden. Diese Mole-külschichten sind außerordentlich dünn,

ihre Dicke entspricht der Länge des jeweils verwendeten organischen Moleküls. „SAM-Pelze“ sind zudem sehr dicht, hochgeordnet und fast defektfrei. Die Oberfläche dieser Pelze ist Basis für viele Anwendungen, ihre Zusammensetzung ist durch die Endgruppe der Organothiole gegeben. Durch geeignete Wahl der schwefelhaltigen organischen Mo-leküle können die Eigenschaften dieser orga-nischen Oberfläche in weiten Grenzen einge-stellt werden und erlauben, etwa biokompa-tible Beschichtungen herzustellen.

Schichten organisieren sich selbst

info3

bestätigten den bereits vermuteten bandartigen Transport der Ladungs-träger in Pentacen, wie er auch im Si-lizium erfolgt. Mithilfe hochauflösen-der Aufnahmen von Pentacen-Inseln mit dem Rastertunnelmikroskop lässt sich jedes einzelne Molekül nachwei-sen und damit belegen, dass die klei-nen Inseln in der Tat einkristallin sind. Zudem wurden große defektfreie Be-reiche des Kristalls gefunden.

Bandleitung auch im organischen Halbleiter

Im nächsten Schritt konnten dann diese perfekt geordneten, einkristalli-nen Bereiche mit der Spitze des Ras-tertunnelmikroskops kontaktiert und vermessen werden. Es zeigte sich, dass die Beweglichkeit der Ladungs-träger bei niedrigeren Temperaturen deutlich größer wird, was klar belegt, dass auch im organischen Halbleiter Pentacen Bandleitung auftritt – ein Phänomen, das sonst nur bei konven-tionellen Halbleitern (Si, Ge) beob-achtet wird. Da der grundlegende Me-chanismus hier aber ein anderer sein muss, wird uns dessen Klärung in den nächsten Jahren beschäftigen.Die bisher erzielten Ergebnisse las-sen die Vorhersage zu, dass mecha-nisch flexible, aber auch kostengünsti-ge Schaltkreise aus Molekülen in den nächsten Jahren Realität werden kön-nen. Elektronisches Papier, das viel-leicht nicht zerknüllt, aber doch zu-mindest gerollt werden kann, wird dann zum Alltag gehören.

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Rubin 2/06 Forschungsprofil

Sonderforschungsbereiche

SFB 398: Lebensdauerorientierte Entwurfskonzepte unter Schädi-gungs- und DeteriorationsaspektenSprecher: Prof. Dr.-Ing. Friedhelm StangenbergTel.: 0234/32-22700E-Mail: [email protected]: http://www.ruhr-uni-bochum.de/sfb398/

SFB 459: Formgedächtnistechnik. Grundlagen, Konstruktion, FertigungSprecher: Prof. Dr.-Ing. Gunther Eggeler Tel.: 0234/32-28022E-Mail: [email protected]: http://www.ruhr-uni-bochum.de/sfb459/

SFB 480: Molekulare Biologie komplexer Leistungen von botanischen SystemenSprecher: Prof. Dr. Ulrich Kück Tel.: 0234/32-26212E-Mail: [email protected] WWW: http://www.ruhr-uni-bochum.de/sfb480/

SFB 491: Magnetische Heteroschichten. Struktur und elektro-nischer TransportSprecher: Prof. Dr. Dr. h.c. Hartmut ZabelTel.: 0234/32-23649E-Mail: [email protected]: http://www.rub.de/sfb491

SFB 509: NEUROVISION – Neuronale Mechanismen des SehensSprecher: Prof. Dr. Ulf Eysel, Neurophysiologie, Medizinische FakultätTel.: 0234/32-23849E-Mail: [email protected]: http://www.neurop.ruhr-uni-bochum.de/~sfb509/

SFB 526: Rheologie der Erde – von der Oberkruste bis in die Sub-duktionszoneSprecher: Prof. Dr. Wolfgang FriederichTel.: 0234/32-27448E-Mail: [email protected]: http://www.ruhr-uni-bochum.de/sfb526/

SFB 558: Metall-Substrat-Wechselwirkungen in der heterogenen KatalyseSprecher: Prof. Dr. Christof WöllTel.: 0234/32-25529E-Mail: [email protected]: http://www.sfb558.de

SFB 591: Universelles Verhalten gleichgewichtsferner Plasmen: Heizung, Transport und StrukturbildungSprecher: Prof. Dr. Reinhard Schlickeiser Tel.: 0234/32-22032E-Mail: [email protected]: http://www.tp4.ruhr-uni-bochum.de

SFB 642: GTP- und ATP- abhängige MembranprozesseSprecher: Prof. Dr. Klaus GerwertTel.: 0234/32-24461E-Mail: [email protected]: http://www.sfb642.de

Transregio-SFB 12: Symmetrien und Universalität in Mesoskopischen SystemenSprecher: Prof. Dr. Martin Zirnbauer, Universität zu KölnRUB-Ansprechpartner: Prof. Dr. Alan T. HuckleberryTel.: 0234/32-23326 E-Mail: [email protected]: http://www.sfbtr12.uni-koeln.de/

Transregio-SFB 16: Elektromagnetische Anregung subnuklearer SystemeSprecher: Prof. Dr. Friedrich Klein, Friedrich-Wilhelms-Universität BonnRUB-Ansprechpartner: Prof. Dr. Klaus Goeke Tel.: 0234/32-23707 Mail: [email protected]: http://sfb-tr16.physik.uni-bonn.de/

Transregio-SFB 29: Engineering hybrider Leistungsbündel - Dyna-mische Wechselwirkungen von Sach- und Dienstleistungen in der ProduktionSprecher: Prof. Dr. Horst Meier Tel.: 0234/32-26310E-Mail: [email protected]: http://www.lps.rub.de/arbeitsgruppen/dienstleistung/tr29/

Forschergruppen

FOR 436: Polymorphismus, Dynamik und Funktion von Wasser an molekularen GrenzflächenSprecher: Prof. Dr. Roland Winter, Universität Dortmundstellv. Sprecher: Prof. Dr. Hermann Weingärtner, Physik. Chemie IITel.: 0231-32-25535 E-Mail: [email protected]: http://www.Forschergruppe436.de

FOR 500: Computergestützte Destruktion komplexer Tragwerke durch Sprengung Prof. Dr.-Ing. Dietrich HartmannTel.: 0234/32-23047E-Mail: [email protected], WWW: http://www.sprengen.de

FOR 618: Die Aggregation kleiner Moleküle mit präzisen Metho-den verstehen - Experiment und Theorie im WechselspielSprecher: Prof. Dr. Wolfram Sander Tel.: 0234/32-24593E-Mail: [email protected]: http://www.dfg.de/forschungsfoerderung/koordi nierte_programme/forschergruppen/liste/for_detail_618.html

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Herausgeber Rektor der Ruhr-Universität Bochum in Verbindung mit der Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität Bochum Wissenschaftlicher Beirat Altrektor Prof. Dr. Manfred Bormann (Fak. f. Phy-sik), Prof. Dr. Käte Meyer-Drawe (Fak. f. Philoso-phie, Pädagogik u. Publizistik), Prof. Dr. Dr. E. h. Wilfried B. Krätzig (Fak. f. Bauingenieurwesen), Prof. Dr. Ulrich Kück (Fak. f. Biologie), Prof. Dr.-Ing. Ulrich Kunze (Fak. f. Elektotechnik u. Infor- mationstechnik), Prof. Dr. Konrad D. Morgen-roth (Medizinische Fak.), Prof. Dr. Stefan Schirm (Fak. f. Sozialwissenschaft), Prof. Dr. Friedrich E. Schnapp (Juristische Fak.), Prof. Dr. Klaus T. Über-la (Medizinische Fak.)

Redaktion Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum Dr. Barbara Kruse (Redaktionsleitung) [email protected] Meike Drießen Babette Sponheuer (Bildredaktion)

Bildnachweis S.21, Abb.: Urheberin der Plastik: Julia Neskja Si-dur, Moskau; S. 22, Abb.: Archiv Dr. Peter Jahn, Berlin; S. 23, Abb. oben: Staatliches Russisches

Militärarchiv (RGVA), Moskau; S. 23, Abb. unten: aus: Nikolaj Timofejew-Ressowskij. Wospomina-nija“, Moskau 2000; S.25, Abb. oben: aus der Zeit-schrift Rodina, Moskau 2002, H.10; S.25, Abb. un-ten: Frank Pätz, Berlin; S.26, Abb.: Bernd-Micha-el Maurer, Köln, aus: Einblicke-Lew Kopelew, Köln 2002; S.28, Abb. Robert B. Fishman/bildfoto-agen-tur; S.36, Abb. Össur hf / www.ossur.com/bionics; S.53, Abb.: Aharonin et al. 2004, Nature 432, 75; S.69, Abb. oben links: Philipp Gallon;Der Herausgeber hat sich um die Einholung der nö-tigen Bildrechte mit allen Mitteln bemüht, wo das nicht möglich war, bitten wir eventuelle Rechtsin-haber sich mit der Redaktion in Verbindung zu setzen.

Anschrift Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum 44780 Bochum Tel. (0234) 32-22133, -22830 Fax (0234) 32-14136 [email protected]://www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/

Satz und Layout Babette Sponheuer, Stefan Weituschat

Druck Printec Offset34123 Kassel

Auflage4000

Anzeigenverwaltung Anzeigenagentur ALPHA 68623 LampertheimTel. (06206)939-220 Fax (06206)939-221www.Alphawerbung.de

Bezug der Zeitschrift RUBIN erscheint zweimal im Jahr (sowie ein The-menheft/Jahr), ein Teil der Auflage als Bei- lage von RUBENS, und ist erhältlich in der Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum sowie in einigen Universitätsbuchhandlungen. Bezugspreis für das Einzelheft: 2,50 Euro Jahresabonnement: 5,- Euro (zzgl. Versandkosten) Mitglieder der Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität erhalten das Heft kostenlos. ISSN 0942-6639

Nachdruck bei Quellenangabe und Zusenden von Belegexemplaren

impressum

Rubin 2/06

FOR 621: Transformation der Religion in der Moderne. Religion und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Sprecher: Prof. Dr. Wilhelm DambergTel.: 0234/32-28109E-Mail: [email protected]: http://www.FG621-Religion.de http://www.ruhr-uni-bochum.de/mnkg/dfg

FOR 630: Biologische Funktion von OrganometallverbindungenSprecher: Prof. Dr. Nils Metzler-Nolte Tel.: 0234/32-24153E-Mail: [email protected]: http://www.rub.de/for630

Graduiertenkollegs und Graduate Schools

GRK 384: Nanoelektronische, mikromechanische und mikroop-tische Systeme: Analyse und Synthese mittels Elektronen und Pho-tonenSprecher: Prof. Dr. Andreas WieckTel.: 0234/32-28786E-Mail: [email protected]: http://www.nano-gk.ruhr-uni-bochum.de/

GRK 736: Entwicklung und Plastizität des Nervensystems: Mole-kulare, synaptische und zelluläre MechanismenSprecherin: Prof. Dr. Petra WahleTel.: 0234/32-24367E-Mail: [email protected]: http://www.ruhr-uni-bochum.de/dev-neurobiol/

GRK 1051: Nicht-Gleichgewichtsphänomene in Niedertemperatur-plasmen. Diagnostik – Modellierung – Applikation.Sprecher: Prof. Dr. Ralf Peter BrinkmannTel.: 0234/32-26336 E-Mail: [email protected]: http://www.tet.rub.de

GRK: Industrielle Ballungsregionen im Vergleich:Entwicklung im 20. Jahrhundert, Strukturwandel, PerspektivenSprecher: Prof. Dr. Klaus Tenfelde Tel.: 0234/32-24687E-Mail: klaus.tenfelde @ruhr-uni-bochum.de WWW: http://www.ruhr-uni-bochum.de/zefir/

Promotionskolleg Ost-WestSprecher: Dr. Frank Hoffmann, Dr. Anne HartmannTel.: 0234/32-27863, -26505, E-Mail: [email protected]: http://www.ruhr-uni-bochum.de/ost-west/

IGSN: International Graduate School for NeuroscienceSprecher: Prof. Dr. phil. Dr. h. c. Onur GüntürkünTel.: 0345/32-26213 E-Mail: [email protected] WWW: http://www.rub.de/igsn

GSCB: Graduate School of Chemistry and BiochemistrySprecher: Prof. Dr. Wolfram SanderTel.: 0234/32-28593E-Mail: [email protected]: http://www.ruhr-uni-bochum.de/gscb/

IMPRS-SurMat: International Max Planck Research School for Surface and Interface Engineering in Advanced Materials Sprecher: Prof. Dr.-Ing. Gunther EggelerTel.: 0234/32-23022E-Mail: [email protected]: http://www.imprs-surmat.mpg.de

RGS: Ruhr Graduate School in EconomicsKoordinator: Dr. Stefan Rumpf, RWI, Hohenzollernstraße 1-3, 45128 EssenTel.: 0201/8149-279E-Mail: [email protected]: http://www.ruhr-econ.de

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