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Banaler Alltag in exotischer Begegnung - Versuch über postmoderne Erzähllust im Romanwerk von Jean Echenoz VON KLAUS SEMSCH AUS: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 23 (1999), 171-195. "L'Ecriture est pour l'écrivain [...] une navigation première et sans grâce." (Derrida 1967, 22) "L'exotisme n'est pas celui que le mot a déjà tant de fois prostitué. L'exotisme est tout ce qui est Autre. Jouir de lui est apprendre à déguster le Divers." (Segalen 1995, II, 318) "[...] comme sur la neige s'y lisent des traces de pas." (Echenoz 1992, 16) Jean Echenoz und die Ästhetik der (Roman)Welt(en) "Décanter l'univers et le digérer en langage" 1 - dieses Bekenntnis zur Schreibpraxis als Sprachmagie des ‘literarischen Ahnen’ Jacques Audiberti hat sich Jean Echenoz zweifelsohne zueigen gemacht - weniger allerdings dessen persönliche Mitteilungsbereitschaft, so daß nur spärliche biographische Daten vorliegen. Jean Echenoz, geboren 1947 im südfranzösischen Orange, Studium der Soziologie in Aix-en-Provence (1966-1970), Studium der klinischen Psychologie an der Pariser Sorbonne (1974-1976), Wohnort seit Anfang der 70er Jahre Paris, hat ab 1979 kontinuierlich und in zum Teil recht knappen Abständen bislang sieben Romane und eine Erzählung beim renommierten Verlag Minuit vorgelegt, der bekannt ist für sein Programm avantgardistischer Autoren. Spätestens nach der Verleihung des Prix Médicis für Cherokee (1983) sowie des 'Europäischen Literaturpreises' für den Roman Lac (1990) und bei anhaltend positiver Besprechung in weiten Kreisen der Fach- und Tagespresse ist Echenoz - "romancier des années 80" 2 - fest etabliert im Kanon französischer Gegenwartsautoren 3 und wird mehr und mehr in andere Landessprachen übersetzt. Echenoz' Romane zeichnen sich vor allen anderen distinktiven Merkmalen durch einen konzis klassischen aber dennoch sehr freien und unbeschwerten Umgang mit Sprache und Gattungstraditionen (Roman und Film) aus, eine "inventivité verbale" 4 , die ihm von seiten der Kritik und in Analogie zu mancher seiner 1 Audiberti (1993), 66. 2 Mabin (1993), 20. 3 Einen guten Überblick bzw. eine vertiefte Einführung in die Werke von Echenoz bieten 1: allgemein: Baumann, Lerch (1989), Beisenkötter (1995), Flügge (1992), Houppermans (1994), Lebrun, Prévost (1990): 95-110. 2: zu gattungshistorischen und editorialen Aspekten: Asholt (1994) sowie v.a. die Monographie von Lebrun (1992), der eine erste umfangreichere Analyse bietet. Wissenschaftliche Vertiefung mit dem thematischen Schwerpunkt der intertextuellen Gattungshandhabung liefert die Dissertation von Criso (1993) sowie Schoots (1997) und Wagner (1998). Ein Interview mit Echenoz in dt. Übersetzung findet sich bei Bitter (1989), ein weiteres jüngeren Datums und unter dem Motto “Il se passe quelque chose avec le jazz” in: Europe 820-821 (août-sept. 1997), 194-202. 4 Habib (1993), 164.

Banaler Alltag in exotischer Begegnung - Versuch über ... fileInsel, die auf dem geographischen Meridian liegt und auf der der Erfinder Byron Caine zurückgezogen lebt, um an seiner

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Banaler Alltag in exotischer Begegnung - Versuch über postmoderne

Erzähllust im Romanwerk von Jean Echenoz

VON KLAUS SEMSCH

AUS: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 23 (1999), 171-195.

"L'Ecriture est pour l'écrivain [...] une navigation

première et sans grâce." (Derrida 1967, 22)

"L'exotisme n'est pas celui que le mot a déjà tant de fois

prostitué. L'exotisme est tout ce qui est Autre. Jouir de

lui est apprendre à déguster le Divers." (Segalen 1995,

II, 318)

"[...] comme sur la neige s'y lisent des traces de pas."

(Echenoz 1992, 16)

Jean Echenoz und die Ästhetik der (Roman)Welt(en)

"Décanter l'univers et le digérer en langage"

1

- dieses Bekenntnis zur Schreibpraxis als Sprachmagie

des ‘literarischen Ahnen’ Jacques Audiberti hat sich Jean Echenoz zweifelsohne zueigen gemacht -

weniger allerdings dessen persönliche Mitteilungsbereitschaft, so daß nur spärliche biographische

Daten vorliegen. Jean Echenoz, geboren 1947 im südfranzösischen Orange, Studium der Soziologie

in Aix-en-Provence (1966-1970), Studium der klinischen Psychologie an der Pariser Sorbonne

(1974-1976), Wohnort seit Anfang der 70er Jahre Paris, hat ab 1979 kontinuierlich und in zum Teil

recht knappen Abständen bislang sieben Romane und eine Erzählung beim renommierten Verlag

Minuit vorgelegt, der bekannt ist für sein Programm avantgardistischer Autoren. Spätestens nach der

Verleihung des Prix Médicis für Cherokee (1983) sowie des 'Europäischen Literaturpreises' für den

Roman Lac (1990) und bei anhaltend positiver Besprechung in weiten Kreisen der Fach- und

Tagespresse ist Echenoz - "romancier des années 80"

2

- fest etabliert im Kanon französischer

Gegenwartsautoren

3

und wird mehr und mehr in andere Landessprachen übersetzt. Echenoz' Romane

zeichnen sich vor allen anderen distinktiven Merkmalen durch einen konzis klassischen aber dennoch

sehr freien und unbeschwerten Umgang mit Sprache und Gattungstraditionen (Roman und Film) aus,

eine "inventivité verbale"

4

, die ihm von seiten der Kritik und in Analogie zu mancher seiner

1

Audiberti (1993), 66.

2

Mabin (1993), 20.

3

Einen guten Überblick bzw. eine vertiefte Einführung in die Werke von Echenoz bieten 1: allgemein: Baumann,

Lerch (1989), Beisenkötter (1995), Flügge (1992), Houppermans (1994), Lebrun, Prévost (1990): 95-110. 2: zu

gattungshistorischen und editorialen Aspekten: Asholt (1994) sowie v.a. die Monographie von Lebrun (1992), der eine

erste umfangreichere Analyse bietet. Wissenschaftliche Vertiefung mit dem thematischen Schwerpunkt der

intertextuellen Gattungshandhabung liefert die Dissertation von Criso (1993) sowie Schoots (1997) und Wagner

(1998). Ein Interview mit Echenoz in dt. Übersetzung findet sich bei Bitter (1989), ein weiteres jüngeren Datums und

unter dem Motto “Il se passe quelque chose avec le jazz” in: Europe 820-821 (août-sept. 1997), 194-202.

4

Habib (1993), 164.

2

Romanfiguren schnell das Etikett eines literarischen 'Leichtfußes' - genauer eines "malfaiteur léger"

5

-

eingetragen hat. Die zum Teil enthusiastische Rezeption seiner Romane erklärt sich darüber hinaus

wohl aus dem gattungsinternen Faktum einer Neubelebung von erzählerischer Linearität im Sinne der

histoire racontée sowie des Romancharakters: zwei Faktoren, deren mehr oder weniger starke

Infragestellung im spätmodernen Roman und insbesondere im nouveau roman das narrative Genre

trotz zahlreicher warnender Stimmen aus den Reihen der Literaturkritik

6

in eine unübersehbare

Sackgasse geführt hatten. All dies vereinfacht jedoch keinesfalls die Verortung von Echenoz im

Rahmen der bislang mangels historischen Abstandes ohnehin unsicheren Kategorisierung der

aktuellen französischen Romankultur seit den 80er Jahren. Der Bezeichnung als romanciers

minimalistes, als Schöpfer eines nouveau nouveau roman jedenfalls widerstehen die darunter

geführten Autoren wie François Bon, Annie Ernaux, Leslie Kaplan, Patrick Modiano, Jean Rouaud,

Jean-Philippe Toussaint

7

und in aller Deutlichkeit auch Jean Echenoz im sicheren Gefühl

schriftstellerischer Systemabneigung.

Wie dem auch sei: Als erzählerisches Feuerwerk, gezündet auf dem Boden eines wiederbelebten

plaisir du texte, lassen sich vor allem die Romane von Echenoz hervorragend lesen und genießen.

Erzählen, so gab Echenoz in einem der eher raren Interviews zu erkennen, sei für ihn die imaginär-

bildhafte Konstruktion einer Geschichte um einen zentralen Gedanken, eine idée fixe herum. In dem

Erstlingsroman Le Méridien de Greenwich (1979) war dies das Faszinosum der "Vorstellung [von]

der internationalen Datumsgrenze [...], die ein Paradox, ein geographischer und zeitlicher Skandal

ist."

8

Im Roman erscheint diese Idee als exotischer wie irrealer Ort in Form einer kleinen zerklüfteten

Insel, die auf dem geographischen Meridian liegt und auf der der Erfinder Byron Caine

zurückgezogen lebt, um an seiner jüngsten Erfindung zu arbeiten, einer komplizierten Maschine,

deren Gebrauchszweck im Unklaren bleibt. Nebenbei legt er gerne Puzzles oder gibt sich, wie im

ersten Kapitel und vor dem statischen Panorama des insular-kargen "environnement préhistorique"

9

,

dem aktiven Liebesspiel mit Rachel hin. Poetologische Assoziationen sind bereits im incipit erlaubt:

der bei Echenoz wieder sehr dominante, auktoriale Erzähler formuliert sie selbst als eingestreute

Reflexionen zum Leistungsvermögen cinegraphischer Ästhetik. Wird das anfängliche 'Bild' von

Byron Caine und Rachel auf der Insel zum 'bewegten Bild' handlungstragender Erzählung, so wird in

diesem als Gattungsmetamorphose beschriebenen Schritt vom Bild zum récit die referenzielle

Signifikanz fixierter Bilder generell in Frage gestellt:

5

So bei Martine Reid (1992).

6

Gewichtige Stimmen in der Diskussion um die 'Krise des Romans' sind etwa 1. aus historischer Sicht: Kayser (1954)

und Lukács (1914/1994), 2. in der wissenschaftlichen Diskussion: Asholt (1994), Engler (1992) und Mansuy (1971)

sowie 3. von schriftstellerischer Warte etwa: Sarraute (1956) und Kundera (1986).

7

Das Panorama französischer Romanciers der Gegenwart rückt wieder verstärkt ins Blickfeld von Öffentlichkeit und

Kritik. Einen Überblick verschaffen Asholt (1994), Baumann, Lerch (1989), Flügge (1992), Mabin (1993) und

Zeltner-Neukomm (1991). Eine interessante Sondernummer von La Quinzaine littéraire (1989) mit dem provokanten

Titel Où va la littérature française befragt einige Gegenwartsautoren zu ihrem Selbstverständnis. Eine vertiefte

Beschäftigung mit dem aktuellen Roman v.a. der Romania zeichnet sich ab im Kolloquiumsband von

Buschhaus/Stierle (1997).

8

Bitter (1989), 182.

9

Echenoz (1979), 7.

3

Que l'on entreprenne la description de cette image, initialement fixe, que l'on se risque à en expo-

ser ou supposer les détails, la sonorité et la vitesse de ces détails, leur odeur éventuelle, leur goût,

leur consistance et autres attributs, tout cela éveille un soupçon. Que l'on puisse s'attacher ainsi à

ce tableau laisse planer un doute sur sa réalité même en tant que tableau. Il peut n'être qu'une

métaphore, mais aussi l'objet d'une histoire quelconque, le centre, le support ou le prétexte, peut-

être, d'un récit.

10

Die im folgenden vermutete Erzählung wiederum verdichtet sich zum Roman - "Un roman, peut-

être, plutôt qu'un récit"

11

- dessen Handlung sich jedoch erneut kondensiert zum Bild zeitloser

Gegenwart als Reaktion auf den an der geographischen Zeitgrenze grotesk wirkenden Zeitbegriff.

Der Liebesakt auf der geographischen Zeitgrenze - "entre hier et demain"

12

- gerät zum archaischen

Gestus eines "indatable aujourd'hui"

13

. Auch wenn die Erzählung gegen Ende des ersten Kapitels das

spielerische Enigma einer scheinbaren Gattungssuche letztlich in banalisierender Absicht auflöst in

die Romanrealität einer filmischen Dokumentation

14

: Der 'Film' erscheint doch zwangsläufig als

erzählte Fixierung vor dem Auge des Lesers, der in diesem ersten Kapitel der 'Gattungssuche' wohl

zu Recht eine für Echenoz fundamentale Hermeneutik der Romanästhetik vermutet. Erzählen stellt

sich dar als assoziativ-imaginäre Begegnung eines Erzählers mit einem Wirklichkeitsausschnitt, dem

die Qualität eines Bildes eignet. In der jedes Detail zwangsläufig verwandelnden Anlage der

Erzählreise liegt zum einen die (zu infiniter Streuung neigende) Täuschungsbedingung narrativer

Handlung begründet, die so im poetischen wie rezeptiven Bewußtsein von vornherein als Artefakt

verankert ist. Andererseits verschwimmen die Grenzen zum nichtfiktionalen Artefakt, so daß die

Erzählung, darin dem (ir)realen "méridien tordu et nageur"

15

vergleichbar wird - Erzählen gleich dem

Liebesspiel von Byron und Rachel als sinnlicher Akt einer Begegnung mit dem 'Anderen'

16

,

seinerseits allerdings stilisiert in der Schwebe der Vereinigung, die selbst nur in simulierter Ekstase

Geste eines erhabenen Protestes ist gegen die unhaltbar schöne Ratio der geographischen Zeit-

Raum-Grenze. So Byron Caines mit scharfem Urteil des bon sens über den Meridian: "Je suppose

que ce serait compliqué de vivre dans un pays où la veille et le lendemain seraient distants de

quelques centimètres, on risquerait de se perdre à la fois dans l'espace et dans le calendrier, ce serait

10

Ebd., 7f.

11

Ebd., 9.

12

Ebd., 11.

13

Ebd.

14

Vgl. ebd., 13: ”Point de roman, donc; un film c’était.” korrigiert der Erzähler die romaneske Gattungserwartung.

Die Deskription bezieht sich auf eine Filmdokumentation, Beschattungsmaterial eines gewissen Georges Haas über

den ‚Insulaner‘ Byron Caine, das dem Profikiller Russel bei seinem Auftrag helfen soll, Caine zu ermorden.

15

Ebd., 10.

16

Zum Zwecke einer ‚positiveren‘ Analytik des postmodernen Romanwerks Echenoz‘ ist m.E. die hier angelegte

Perspektive ‚hermeneutischer Topik‘ gewinnbringender als die in den o.g. Studien verbreitete Ausdeutung

postmoderner Narrativik als Mimesisentsagung bzw. –dekonstruktion oder als hypostasiertes Spiel mit narrativer

Intertextualität – beide Perspektiven beschränken sich in ihrer Argumentation ex negativo auf einen Aussageertrag

defizitärer Sinnstruktur.

4

intenable."

17

Fiktionales Erzählen wie auch reale wissenschaftliche Sinnstiftung geraten hier, enttarnt

durch eine verwirrende Pluralität der Realitätsperspektivierung zu jeweils täuschenden

Objektivationen. Das Bild als statische Sinnfixierung, sei es als Gemälde, das als solches eine enorme

Anziehungskraft auf Echenoz ausübt, als narrativ-utopisches tableau, in real alltäglicher

Sinnkonstellation oder als wissenschaftliche Formel, ist stets nur für den Moment einer Begegnung

zwischen Vergangenem und Zukünftigem wirklich. Sobald es in zeitlose Präsenz enthoben wird,

gerät es zu einem täuschend schönen, weil 'allzumenschlichen' Abfallprodukt vor dem fundamentalen

Lebensgesetz infiniter Bewegtheit lebendigen Daseins oder wird, wie hier am Ende des ersten

Kapitels, in berichteter Filmrede einer erschreckenden Banalität kriminellen Alltags dienbar.

Macht man sich die Konsequenzen dieser impliziten Romanästhetik bewußt, erweist sich Jean

Echenoz als postmoderner Erzähler par excellence und damit gleichermaßen, dem (nicht

unbestrittenen) Gesetz zufolge, daß den guten Künstler der näher zu bestimmende, intime Kontakt

zu seiner Lebenswelt ausmacht, als europäischer romancier réaliste des ausgehenden 20.

Jahrhunderts. Unangefochten ist sein Werk freilich nicht. Die immer noch heftig geführte Debatte um

Moderne und Postmoderne polarisiert auch die Leser Echenoz'. Dabei resultieren interessanterweise

Lob wie Tadel bisher zumeist aus einer die Partei der modernes ergreifenden Befindlichkeit oder

anders gesagt: Berufen sich die Anhänger Echenoz' auf das moderne Autonomiepostulat für die

Kunst bei gleichzeitiger wie signifikanter Relativierung des ästhetischen Wertes dieses Erzählwerkes

durch dessen Einsortierung in die untere, nie ganz ernst genommene Gattungsschublade des roman

populaire

18

, wird die dem delektativen Anliegen hier latent inhärente reflexive Sinnebene durch die

postmoderne Verschränkung von Kunst und Wirklichkeit unterschlagen. Die Gegner postmodernen

Erzählens hingegen belegen mit ihrer Stimme das Gesetz dialektischer Kulturentwicklung. Der

Aufschrei gegen die vermeintliche Beliebigkeit mit dem Implikat des Werteverfalls des postmodernen

Geistes erscheint zumindest in seiner ausgeprägten Form als Schwanengesang moderner

Besitzständler, die in überlebender Überlebtheit an ihrer eigenen subjektivistischen Beliebigkeit

festhalten.

19

Nach einer intensiveren Beschäftigung mit dem Werk von Echenoz dominiert zur Zeit

eine dritte hermeneutische Alternative: die Reintegration Echenoz' in einen dual gefaßten Rahmen

sozialer Referenzialität, sprich die Aufwertung postmoderner Literatur, indem man ihr durch den

Zuspruch einer aus dieser Perspektive nur vage aufscheinenden Bedeutungsfunktion erneut sozial

tragbares Gewicht verleiht. Jean-Claude Lebrun, der in einer ersten Monographie zu Echenoz viel

wichtige Pionierarbeit geleistet hat, erkennt zwar eine gewisse Auflösung der Grenzen zwischen

Fiktion und Realität an, sieht sozusagen "[...] au coeur du plus délibérément fictionnel [...] le réel

17

Ebd., 10f.

18

So etwa bei Habib (1993).

19

Die Einschätzung postmoderner Kultur gerät in der Kritik seit den 70er Jahren unvermindert zu einer Gene-

rationskrise, die die sachliche Diskussion leider allzuoft behindert; vgl. von den hier Genannten etwa den Band von

Bürger (1987). Fast scheint es legitim, von einer Querelle des modernes et des postmodernes zu sprechen. Unter

diesem Stichwort wird die Postmoderne in jüngerer Zeit kritisch wiewohl aufgeschlossener thematisiert bei Mecke

(1990), 214f. oder Riou (1998), 18f. Vgl. dagegen zu Positionen der Ablehnung Echenoz' von der Warte

modernistischer Verhärtung etwa Habib (1993), 163ff.

5

dans toute son acuité"

20

, stellt diese aber in den Bedeutungsrahmen eines vermeintlich modernen

Aussagewillens, indem er hier die Erzählintention ironisch-kritischer Distanzierung der dargelegten

Welt ausmacht.

21

In ebendieser Argumentationslinie verortet Wolfgang Asholt, der die Diskussion

um den Gegenwartsroman in der deutschen Romanistik konstant befördert hat, die narrative Absicht

in den Romanen von Echenoz in die spätmoderne Stimmung einer 'Trauerarbeit der Moderne': eine

Sichtweise, die den aktuellen französischen Roman in die interne Dialektik einer demzufolge wohl

'unabschließbaren' Epoche (der Moderne) einordnet und insbesondere den Eindruck suggeriert, die

Postmoderne sei eine moderne 'Entgleisung'.

22

Wir wollen im folgenden versuchen, eine

'postmoderne' Lektüre Echenoz', deren Möglichkeit auch Asholt natürlich evident erscheint, als

textinterne hermeneutische Lektüreoption plausibel zu machen.

Erzählen als Dialektik eines jeweils anderen Sehens wird in den Romanen Echenoz' an zwei gegen-

überliegenden Polen sinnfällig. Eine erste - notwendige - narrative Absicht ist die cinegraphische des

bewegten Bildes im Angesicht lebensweltlicher Starre. Eine komplementäre zweite zielt auf eine

bildhafte Sublimierung bewegter Szenerie erneut gemäß der cineastischen Verfahren von Zoom und

Standbild. Romanzeit und –raum entstehen als dialektischer Spannungsbogen zwischen diesen Polen.

Eine stringente Handlung im Sinne einer abgeschlossenen, kausal entwickelten story ist aus dieser

Perspektive kaum von Interesse und auch nicht anzutreffen. Wohl aber läßt sich den beiden Polen

eine konsistente Erzählrhetorik zuordnen, die der beharrlichen Akzentuierung eines vermeintlich

”ungeregelten Experimentierens”

23

des postmodernen Erzähldiskurses von Seiten der Literaturkritik

zumindest dann widersteht, wenn sie als intern moderner ‚Betriebsunfall‘ um ihr

begegnungsstiftendes Potenzial gebracht werden soll.

Rhetorisch gelesen gesellen sich im Roman Echenoz‘ zum Pol der Bewegung erstarrter Bilder

zunächst Figuren sprachlicher Reduktion oder besser hermeneutischen Rückgangs zu einem

Nullpunkt inventiver Sinnbegegnung. Der Horizont der erzählten Welt scheint dabei in vager

Symbolizität - ob in der banlieue parisienne oder im paysage rural - als episch fixierter Hintergrund

durchgängig in opaker Farbgebung auf. Welterfahrung ist hier zunächst einmal gedacht als Rückkehr

respektive Ausgang aus einem Stimmungsraum irreal wirkender wiewohl real einwirkender

20

Lebrun (1992), 85.

21

Vgl. ebd., 83. Das in der Forschung verbreitete Herausstellen ironischer Erzählhaltung für den postmodernen

Roman belegt die modernistische Optik, die für den (spät)modernen Roman die Figur der Ironie als Grundmerkmal

einer sozialen wie ästhetischen Oppositionshaltung mit dem Telos rationaler Synthesenbildung ausmachen konnte.

Hermeneutisch gesehen eine epochenintern späte Diskursfigur eignet sich die Ironie freilich nicht zur Analytik eines

‚rhetorischen Nullpunktes‘ postmoderner Erzähltexte. Zudem und quasi als Beleg für diese Optik wird sie

allenthalben verwechselt mit diskursiven Frühformen einer Epoche, die, so sie komischen Naturells sind, zumeist dem

unbeschwerteren Geist der Tautologie, etwa im Pastiche, Ausdruck verleihen.

22

Vgl. etwa Asholt (1994 = 3 Beiträge). Interessanterweise befindet er sich gerade mit dem Befund der ‚Trauerarbeit‘

des aktuellen Romans vor dem Interesse moderner Abgrenzungen an der Umschlagstelle, die ebenso die

dekonstruktive Analytik einer topisch jeweils ‚neuen‘ diégèse, wie sie z.B. Derrida (1993) unter eben dem Begriff des

travail du deuil subsumiert, nahelegt.

23

So die Perspektive von Mecke (1990), 189, dessen These von der ‚Ästhetik des Entschwindens‘ im postmodernen

Roman allerdings aus der Leseerfahrung ‚älterer‘ Romane, wie Michel Butors L’Emploi du temps (1956) und Claude

Simons La route des Flandres (1960) hervorgeht.

6

Bedrängnisse. Die Welt als undurchsichtige 'Zuhandenheit'

24

ist latent und übergewichtig zugegen,

Natur und soziale Öffentlichkeit erscheinen als das, was sie zumeist in ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit

immer schon waren und sind: als tumb-banales (und) grausames Kräftespiel. Vor diesem setting

lassen sich nun die bisherigen Romane von Echenoz darlegen.

Die 'äußere' Rahmengebung bedient sich dabei in ebenfalls typisch postmoderner Einstellung zur

Erzeugung bildhafter Starre Klischees der Gattungstradition, mit der sie pasticheartig - nicht

parodistisch - verfährt. So macht Cherokee (1983) Anleihen beim Kriminalroman, L'Equipée malaise

(1986) aber auch in besonderem Maße der Roman Les grandes blondes (1995) sowie Un an (1997)

enthalten Formen des Abenteuerromans. Lac (1989) wiederum ist als Spionageroman angelegt, und

Nous trois (1992) integriert mit dem Personal aus der Weltraumforschung Motive der science

fiction. Wichtig ist jedoch, daß diese Anleihen nicht als Fortschreibung der entsprechenden

Subgenera aufzufassen sind, sondern vorrangig der statischen Klischeebildung dienen, ansonsten

allerdings ihre respektiven Gattungsgesetze nach Belieben verletzen.

25

Klischeehaft und genährt von einer balzacschen Freude an Milieuschilderungen sind auch die

Charaktere und die Situationen, in die sie geraten. Der Leser trifft hier auf einen aktualisierten Typus

des 'Jedermann', der, weder Held noch Antiheld im klassischen Sinne, nun allerdings wieder im

Zentrum des Geschehens steht. Die Charaktere bei Echenoz führen eine graue Existenz und fügen

sich gut ein in ihre eher trostlose Umgebung. Sie erscheinen, insbesondere so sie nicht zu den

zahlreichen 'Statisten' gehören, in sympathisch wiewohl unpathetisch gezeichneter, melancholischer

Einsamkeit. Sie alle sind unauffällige 'Vagabunden' und belegen einen für den Soziologen Echenoz

symptomatischen Ausschnitt gesellschaftlicher Zugehörigkeit: Die Romanwelt von Echenoz ist die

Welt der 'kleinen Leute', der Gelegenheitsarbeiter, der Arbeitslosen, Ganoven und Obdachlosen.

Grundlegend als Aufnahmekriterium ist, daß sie in singlehaftem Einzelkämpfertum durch ihr Leben

ziehen. Sie alle befinden sich somit in einem vogelfreien, ungeschützten Raum, vor oder zumeist nach

eingehender Erfahrungen mit der modernen Konstanz zweisamer Behaglichkeit und leiden an einer

initialschockartigen Gestimmtheit von (im Einzelfall) traumatischer Orientierungslosigkeit. Sie sind

die geeigneten Menschen für eine Lebensweise, die Martin Heidegger als 'passiv-reaktive Flucht

einer um-wegigen Seins-besorgung' charakterisiert.

26

Andererseits aber, und das scheint als ebenso

wichtig für die Figurenwahl, sind sie in der Tendenz bewußt so und nicht anders lebende Menschen

mit einer gewissen Sensibilität für 'rettende' Gegenstimmungen. Sie stehen auf der gleichen page

blanche wie die Feder des Erzählers, der zwischen vergangenem Nichts und unbekannter Zukunft

eine Schreibspur sucht.

Nehmen wir als erstes Fallbeispiel den 'Abenteuerroman' L'Equipée malaise. Hier finden wir folgen-

de noch oder wieder alleinstehende Personen vor. Als erstes Nicole Fischer, die 30 Jahre zuvor zwei

24

Der Begriff der ‘Zuhandenheit’ meint die Präsenz der Lebenswelt aus subjektiver Sicht und wird entwickelt bei

Heidegger (1927).

25

Vgl. zu einer Vertiefung dieser verbreiteten Analyseoptik etwa Criso (1993) und von erzähltheoretischer Warte

Wagner (1998).

26

Vgl. Heidegger (1986), 136.

7

Bewerber um ihre Gunst ablehnt, kurzfristig einem unbekannten Jagdpiloten ihr Jawort gibt, der bald

darauf durch einen Flugzeugabsturz den Tod findet. Alle drei bleiben so allein zurück im Schmerz

einer "vie cassée", aus der sich Nicole Fischer in ein einsames Landhaus, Charles Pontiac als "homme

du souterrain"

27

in die unterirdischen Kanäle Pariser Obdachlosigkeit und Jean-François Pons in den

malaysischen Urwald zurückziehen. Letzterer wird dort Aufseher einer Farm und stiftet die

untergebenen Eingeborenen zur Dienstrevolte an, die beinahe nicht stattfinden kann, weil auf dem

waffenliefernden Schiff aus Europa eine vergleichbare Meuterei ausbricht, die durch Charles Pontiac,

der, von Nicole Fischer gesandt, um dem selbsternannten 'Duc Pons' im Urwald Hilfestellung zu

leisten, als blinder Passagier auf eben diesem Schiff versteckt mitreist, unterbunden wird. Als der

Aufruhr für Pons tatsächlich zur Gefahr wird, begleitet er Pontiac nach Frankreich. In Paris

wiederum lebt Paul, der Sohn des Jean-François Pons, in einer traurigen heimischen Unordnung, seit

er von seiner Freundin Elizabeth verlassen worden ist. Mit lakonischer impassibilité heißt es dazu:

"Il déjeunait et dînait souvent seul à présent, depuis six mois qu'Elizabeth n'était plus là, à n'importe

quelle heure et souvent des choses crues comme si la solitude induisait une résurgence barbare."

28

Wo einst Elizabeths Bilder an der Zimmerwand hingen, gilt es für Paul nun, der mit dem Weggang

der geliebten Frau eingetretenen visuellen Totenstarre weniger trauernd als vielmehr hinschauend zu

begegnen, verspricht die von Bilderrahmen befreite Wand doch eine Leere, deren quasi jungfräuliche

Aufhellung zu neuer aktiver Handlungseinschreibung auffordert: "[...] aux murs, des quadrilatères

clairs faisaient foi des tableaux qu'elle n'avait pas laissés."

29

So bestätigt sich hier erneut die

angedeutete Romanästhetik. Pikturale Metamorphose, Gesetz des Mythos: Der Verlust des geliebten

Menschen als gelebte Gegenwart einer Begegnung in memoriam eröffnet als symbolischer Tod den

Rahmen eines neuen Alltagsraumes. Lebensgeschichte entsagt der Dialektik im Rückgang zu einem

lieu de rencontre. Erst an diesem Ort repetierten Ansehens des imaginierten, weil verlorenen

‚Gesichts‘ des Anderen vermag sich eine innovative Zeitlinie ihren Weg zu bahnen.

30

Sozusagen als Beleg für die soeben zitierte, kriminelle ‘Barbarei’ einer solchen Existenz verdient sich

Paul gemeinsam mit seinem Freund Bob ein Zubrot mit mehr oder weniger kleinen Gaunereien. Als

Paul Justine, die Tochter von Nicole Fischer, im Kino kennenlernt, wird ihm durch die Begegnung

mit einer 'anderen' Frau klar: "Une fille réelle [...] voilà ce qu'il nous faut."

31

Justine Fischer und ihre

Freundin Laure sind mit noch jugendlicher Sorglosigkeit, im Zeichen einer typisch gleichgültigen

Unablässigkeit, auf Freundessuche. Am Ende des Romans stellt Pons mit lakonischer Knappheit wie

bescheidener Ermutigung fest, daß sein Leben ein weiteres Mal neu beginne: "Bien sûr que je veux

connaître des gens, dit Pons. Puisque je recommence ma vie. Bien obligé."

32

Ein Lichtschweif am

27

Die Zitate dieses Satzes in Echenoz (1986), 9, 27.

28

Ebd., 23.

29

Ebd., 28.

30

Vgl. zum Symbol des visage in der ‚Philosophie des Anderen‘ etwa das Kap. ‚Le visage et l’extériorité‘ in Lévinas

(1961/1990). Eine interessante und unsere Perspektive tendenziell stützende, wenngleich hermeneutikkritische Studie

zur Topik als prädiskursiver Ort einer Begegnung von pensée und parole hat jüngst vorgelegt Jean-Marc Ghitti

(1998).

31

Echenoz (1986), 29.

32

Ebd., 249.

8

postmodernen Himmel scheinbar allmächtiger Kontingenz scheint auf, für manchen Kritiker ein

Hoffnungsschimmer auf eine Rückkehr des Romans zur Sinnstiftung modernen Harmoniestrebens ?

Halten wir bislang fest, daß der Identitätsverlust der Romancharaktere in unwiderruflicher

Symptomatik entschieden ist, das heißt auch, daß sie immer nur interessant sind, solange sie sich auf

einem selbst-bewußten Wege befinden - auch wenn der, wie im Falle von Charles Pontiac, durch die

Kanalisation der Weltstadt führt. Die Personen leben, sofern sie dem jeweils Anderen im Sinne eines

unbekannten Gegenübers aussetzen. Zeichnet sich hier eine pragmatische 'Logik des Anderen' ab ?

Postmoderne Ethik – ‚Eine Reise zum Anderen‘

Erscheint die soeben umrissene Diskursqualität der Handlungsentwicklung in den Romanen von

Echenoz als nicht beliebiger Umweg, eignet ihr gewissermaßen ein soziales Bewußtsein, so kann

man bereits an dieser Stelle annehmen, daß auch der Para-logos sich gemäß seinem konkreten

Wortsinn nicht der Vernunft zu entziehen gedenkt. Hingegen darf man hinter einem fiktiven Handeln

mit der Intention ‚zweckmäßiger‘ Lebensgestaltung im Sinne Kants

33

durchaus ein latent moralisches

Movens vermuten. Eine solche Ethik, die ausgeht von einer topischen Begegnung und die damit

weniger Frucht rationaler Diskurslinearität ist, als sie eine solche prädestiniert, erscheint somit im

Gewande einer kaum für möglich gehaltenen ‚frohen Botschaft‘, die sich im weiteren Verlauf

narrativer Ausgestaltung zeigt als das Ergebnis einer Umwege nicht scheuenden Erkenntnisreise

durch die aktuelle Welt postmoderner ‚Gestimmtheiten‘ hin zu der je in die ‚Last des Daseins‘

geworfenen Existenz. In den Romangeschichten Echenoz‘ erfolgt das lernende ‚Sehen‘ der Welt

mithin nicht orientiert an dem aufklärerischen Wert einer am Experiment wachsenden expérience und

auch nicht aus der spätbürgerlichen Optik subjektzentrierten Denkens, das auf dem Humus

verängstigter Psyche und vor allem durch das gefärbte Glas eines jeweiligen ‚Ich‘ einer verstiegenen

Individualität als perzeptives Sich-Einverleiben von Umwelt das Wort redet. Die jüngere Philosophie

hat unermüdlich auf den aggressiv bis totalitären Charakter der modernen Hypostase des homme-

Dieu hingewiesen. Der nouveau roman ist bis an die Grenzen der Darstellungskraft subjektiven

Sinnbildens qua Narration gegangen.

34

Nicht so sehr in der Lektion des Lehrmeisters sieht man heute

vielerorts eine sinnvolle Pädagogik ‚visuellen‘ Lernens als vielmehr im beständig lernzielorientierten

Sich-Aussetzen dem immer schon präsenten wie unvereinnahmbaren ‚Anderen‘.

Ebendies erinnert Jacques Derrida, wenn er gegen den Strom ideologiemüden Ökonomieglaubens die

‚Geister‘ von Karl Marx – les spectres de Marx – aufruft. ”Vivre”, heißt es da zu Beginn, ”par

définition, cela ne s’apprend pas. Pas de soi-même, de la vie par la vie. Seulement de l’autre et par la

mort.”

35

Derridas scheint eine Ethik der Spurensuche; die im Buch befragte Losung des apprendre à

33

In diesem Begriffsverständnis in der Kritik der Urteilskraft bei Kant (1990).

34

Vgl. zur subtileren Beschreibung des nouveau roman nicht nur als Höhepunkt modern-kritischen Erzählens,

sondern auch als Umschlagsort des roman transcendental zur spielerischen Variante postmoderner Befindlichkeit

Mecke (1990), 222-229.

35

Derrida (1993), 14.

9

vivre Figuration einer je persönlichen Reise mit ‚offenem Visier‘ hin zu der – und erneut mit

Heidegger – besorgten Begegnung mit dem ‚spektral‘ Zuhandenen des Anderen. Der Weg des

‚Irrens‘

36

zu möglichen Sinnkonstruktionen resultiert daraus als para-logische Ethik wider den

moralisierenden Fingerzeig voraussehbarer Sinnentwicklung respektive –planung. An diesem Punkt

findet sich die Möglichkeit einer ersten Spur zu den Erzählweisen bei Jean Echenoz: Was wenn das

in seinen Romanen so konstant auffällige Hin- und Herirren der Charaktere – le zigzaguer – als

authentische Bewegungslinie sich nicht in der vermeintlichen Beliebigkeit postmodernen Spiels

erschöpfte, sondern als Indiz für eine allerdings gefährliche, weil stets gefährdete libertas subjektiver

Lebenssorge stünde ? Sollen wir also weiterhin – zumindest im Rahmen einer postmodern

ästhetizistischen Fiktion – auf eine ethische Logik verzichten

37

oder, anders gefragt: Rutscht jede

dialektische Anstrengung didaktischer Provenienz im seichten Geläuf eines postmodernen laisser

faire aus ?

Philosophischer Exkurs: Nikolaus von Kues oder die radikalisierte Idee vom

‚Anderen‘

Rufen wir zum Zwecke der Transparenz der ‚Logik des Anderen‘ an der Schnittstelle modernen

Denkens, das gerade in seinen konsequentesten frühen Ausformungen bereits seine Aporien zu

erahnen scheint, den betagten ‚Geist‘ des berühmtesten deutschen Denkers des ‚Anderen‘ auf.

Nikolaus von Kues

38

hat sich mit (noch) scholastischem Denken und (schon) neugierig-moderner

Intelligenz dereinst über die spätmittelalterliche Betulichkeit seines im Namen verankerten

Heimatortes an der schönen Mosel erhoben, um bei Anbruch der europäischen Renaissance das

kaum schon keimende moderne Identitätsdenken – freilich mit ‚irrender‘ Ahnungslosigkeit – der

rationalen Paradoxie auszusetzen. Erblickte er in Gott die ‚eine‘, infinite Wahrheit, waren die

Phänomene irdischen Daseins perspektiviert als ein ‚Anderes‘ und als solches zunächst und vor dem

theologischen Endpostulat der coincidentia oppositorum streng von Gott – dem Nicht-Anderen –

geschieden. Die Schärfe theologisch-metaphysischen Erkenntnisstrebens führt folgerichtig zum

Unwillen aller zur definitorischen Tautologie rationalen Sprechens: Ist das Andere (der Mensch)

nicht das Nicht-Andere (Gott), dann ist er nichts anderes als das Andere.

39

Es zeigt sich: Die hier

dialektisch gewonnene, absolute Identität entrichtet gemäß ihrer Ökonomie präziser Sicherheit den

Preis einer (wo nicht stupiden oder komisch repetitiven) Unsagbarkeit. Jede Deskription, jeder

Kommentar zu einer Sache und erst Recht die Fiktion befinden sich somit unwiderruflich in einer

36

Vgl. zum doppeldeutigen Begriff der Wahrheit als irrende=umwegige Freiheit menschlicher Lebenssorge Heidegger

(1986).

37

Dies ist die Position Hempfers (1992), 7ff.

38

Im Zentrum dieser Überlegungen steht die Schrift Vom Nichtanderen (1461/62), Kues (1987). Kues ist

interessanterweise zum einen Forschungsgegenstand für die Betrachtung neuzeitlicher Epochenschwellen (in

Abgrenzung von Giordano Bruno) geworden (vgl. Blumenberg [196671988], 558ff.), als er auch im so gedeuteten

Zusammenspiel einer labyrinthischen und einer mathematischen Ästhetik des Blickes bei Certeau (1984) für das

Anliegen des Verstehens nachmoderner Denkstrukturen erneut bedeutsam zu sein scheint.

39

Vg. Kues (1987), Kap. 1. Zur Problematik definitorischen Abstandes vgl. v.a. ebd. Kap. 5.

10

aporetischen Differenz zu ihrem ‚Gegenstand‘, der Mensch aber zu seinem ‚Sein‘. Halten wir an

dieser Stelle inne, bevor Nikolaus von Kues irrtümlich als postmoderner Geist avant la lettre in

Erscheinung tritt. Das Dilemma, sprich die logisch rigorose Einsicht, daß gerade auch das

‚vernünftige‘ Sprechen vom rechten Weg des Erkennens notwendig abweichen muß, war bereits

lange vor dem neuzeitlich aufgeklärten Experimentierwille oder dem aktuellen postmodernen

Sinnpluralismus selbstverständlich nicht unbekannt. Ästhetisch gesehen befinden wir uns hier jedoch

an der Schnittstelle der modernen Identitätsproblematik, das heißt: Das menschliche Bewußtsein

über sein ‚Irren‘ im gottesfernen Diesseits, das Wissen von seinem unbedeutenden Status eines

zunächst beliebigen ’Anderen‘ im Angesichte Gottes als der einzigen unteilbaren Identität,

beförderten dezisiv den gerade für die Moderne so wichtig gewordenen kompensatorischen

Anspruch faktischer Präzision, repräsentiert fortan in diversen ‚realistischen‘ Diskursidealen, in

Frankreich gerne subsumiert unter dem Stichwort der clarté. Das ‚schöne‘ Betrachten barocker

Pluralität

40

will rational gebannt sein in einer sublimen Bildergeste menschlicher Teilhabe an einer

zeit- wie sinn(es)entbundenen Epiphanie, die sich jedoch durchaus zweckmäßig als soziale

Sinnstiftung humaner rapports niederschlägt.

41

Das führt uns ein letztes Mal zurück zur

Identitätsthematik des Nikolaus von Kues. Nimmt man in poetologischer Ergänzung mit Wolfgang

Iser an, daß auch dem fiktiven Diskurs ein intentionales Schreibziel innewohnt

42

, dann läßt sich

ebenso für den Roman eo ipso ein ‚definitorischer‘ Erzählwille konstatieren, der im Werk von Jean

Echenoz mit geradezu kusanischer Radikalität – in freilich dezisiver wie listiger Differenz –

aufscheint: Ist das Andere nichts als das Andere, so könnte man für Echenoz analog formulieren, so

ist es aber j e w e i l s ein Anderes und so nicht als schlichtes Spiegelbild des defizitären

(‚gefallenen‘) Einen zu haben, in dem jede individuelle Kontur verwischt. Diese Einsicht umschifft

die egozentrische Logik moderner Optik, ohne in der Sackgasse horizontaler Beliebigkeit zu enden

und eröffnet ein Denken situationsbewußter dissémination. Das Andere als ‘jeweils Anderes’

reintegriert auf subtile (und quasi metaphysische) Weise eine situative Differenz, die den Romancier

in Abgrenzung vom modernen Erzähltelos personaler Identitätsstiftung letztlich auf eine

entscheidend andere Optik festlegt und so eine ‘neue’ Welt erzählerischer Detailfülle ermöglicht. Ist

der Romancharakter immer schon auf ein anderes Leben ausgerichtet, so ermangelt er nicht jeglicher

Identität, wohl aber verschwimmen die Konturen zur Objektwelt, so daß die bei Georg Lukács als

fundamentale Dichotomie der Erzähltypologie gesetzte, dualistische Konfrontation im Roman von

Individuum und Lebenswelt aus dem Dilemma einer ‘desillusionierenden’ Disjunktion entlassen

wird.

43

Für den ‘Helden’ als den jeweils Anderen erhält das Andere der Lebenswelt die schlecht

40

Vgl. zur Deutung der Postmoderne als baroquisation du monde Maffesoli (1990), Kap. 5, 151-185.

41

Zum hermeneutisch wichtigen Bezug von Schönem und Erhabenem, insbesondere im Rahmen der Lyotard-Debatte,

vgl. Mecke (1990), 187ff. Das Erhabene, an dem natürlich Moderne wie Postmoderne gleichermaßen Anteil haben,

wird für die Moderne hier allerdings aufgelöst in die “Nostalgie der schönen Formen” (ebd., 189). Die hermeneutisch

gesehen fundamentale diskursive Notwendigkeit des Zusammenspiels beider Komponenten könnte allerdings in dieser

Deutung gefährdet sein. Vgl. zur ideengeschichtlchen Aufarbeitung des Themas jetzt auch die umfangreiche

Monographie von Zelle (1995).

42

Zur grundlegenden ‚Intentionalität‘ des Fiktiven im Zusammenspiel mit dem Imaginären vgl. Iser (1991).

43

Vgl. zum berühmt gewordenen Paradigma der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ Lukács (1914/1994).

11

unterscheidbare Gestimmtheit einer bereits oben dargelegten, opaken Atmosphäre, ja geht der ‘Held’

quasi in diese Befindlichkeit ein in einer einpoligen Identitätsverbindung, in der er schon im eigenen

Interesse mittelfristig um individuelle Abgrenzung bemüht sein wird, sollen, wie am Ende von

L’Equipée malaise, neue Sinnbildungen real fixierbar werden. Aber was ist mit dem Autor selbst:

kann er sich im selbstgesetzten Rahmen einer Erzählästhetik als ‘Reise zum Anderen’ dieser

omnipräsenten Textualität entziehen wollen ? Ist Echenoz niemand Anderes als Echenoz ?

Echenoz est un autre ...

Mißtrauen wir für die Länge eines Kapitels der Identität des Romanciers Jean Echenoz tun wir dies

keineswegs in der Absicht provokativer Verunsicherung, denn: Gelingt uns die 'Ausgrabung' eines

vermuteten 'anderen' Echenoz, so ließe sich erhoffen, in diesem Akt der Freilegung eine positive

Phantombegegnung zu evozieren, die dann eventuell als kreatives ästhetisches Komplement die

bisher dominante Reduktionsästhetik eines 'minimalistischen' Weltempfindens zu befruchten vermag.

In der Tat gibt der Autor dem Suchenden in dieser Angelegenheit einen wichtigen, wenn auch

bislang von der Kritik nicht vertieften Hinweis. Gefragt nach den Ahnen seiner literarischen Bildung

nennt Echenoz neben den 'großen' Autoren des Kanons und außer seinen aufschlußreichen

Lieblingsautoren wie Joseph Conrad, Jacques Audiberti, Amos Tutuola, Marcel Schwob, Victor

Segalen, Jean-Patrick Manchette auch Raymond Roussel

44

, der bereits für die französische

Avantgarde eine anregende Rolle gespielt hatte und der in Bezug auf Echenoz den von Claude Habib

für dessen Werk konstatierten Zug eines "léger dandysme"

45

durchaus zu stützen vermag. Blättert

man daraufhin im Werk von Roussel, wird man fündig im ersten Kapitel des monumentalen Romans

Locus solus aus dem Jahre 1914. Interessanterweise fällt dieses Publikationsdatum zusammen mit

der Zeit "einer Stimmung der permanenten Verzweiflung über den Weltzustand"

46

, die Georg Lukács

in seiner im selben Jahr verfaßten Theorie des Romans zu der noch sehr idealistischen wie

traditionellen Inszenierung des Narrativen als "Rückzug vor der Kriegspsychose"

47

veranlaßt hat.

Einen anders motivierten Rückzug findet man im Locus solus, der den Geist der Décadence

verströmt. Der im Titel benannte einsame Ort ist hier der große Park des auf seinem Landsitz in

Montmorency zurückgezogen lebenden Naturforschers und Erfinders Martiel Canterel. Erzählen füllt

bei Roussel weniger als delektative Aufheiterung in exilierter Versammlung notdürftig die Fugen

eines schlimmen Weltspektakels, sei es das der florentinischen Pest im Jahre 1348 wie in Boccaccios

Decamerone oder das aktuelle des Ersten Weltkrieges in der ironischen Verzerrung bei Céline, es sei

denn in der paradoxen Analogie des Romans als phantastisches Raritätenkabinett, in dem die

grausam-bizarre Schönheit der Schöpfungskraft menschlicher Vernunft vor Augen geführt wird.

44

(6) Über seine literarischen Einflüße gibt Echenoz in seiner bezeichnenderweise sehr knappen Stellungnahme zur

o.g. Befragung in der Sondernummer von La Quinzaine littéraire (1989), 13 Auskunft.

45

Habib (1993), 165.

46

Lukács (1994), 6.

47

Ebd.

12

In Roussels modernistischem locus amoenus voller technisch-biologischer Kuriositäten trifft der

Leser gleich zu Beginn und nur kurzzeitig auf einen 'anderen' Echenoz - ohne Vornamen - der den

Schriftsteller implizit zum Schattenbild eines Pseudonyms erklärt. Dieser Echenoz, Naturforscher

von Beruf, tritt auf im Zusammenhang mit einer legendären Tonstatue mit dem Wert eines "tout

puissant fétiche" und wird eingeführt als "[...] le célèbre voyageur Echenoz, qui lors d'une expédition

africaine remontant à sa prime jeunesse était allé jusqu'à Tombouctou."

48

Dieser Echenoz war in

einer (selbstverständlich fiktiven) Reisebeschreibung des arabischen Theologen Ibn Batouta aus dem

14. Jahrhundert auf die Episode von der Tonstatue eines lächelnden afrikanischen Kindes

aufmerksam geworden. Er hatte diese Statue nach Frankreich mitgebracht und seinem Freund

Canterel, in dessen musealen hortus conclusus sie nun stand, vererbt. Den Besuchern, die im Verlauf

des Romans die Kuriositäten des Gartens besichtigen, fällt sie gleich zu Beginn auf:

A mi-côte nous vîmes au bord du chemin, debout dans une niche de pierre assez profonde, une

statue étrangement vieille, qui, paraissant formé de terre noirâtre, sèche et solidifiée, représentait,

non sans charme, un souriant enfant nu. Les bras se tendaient en avant dans un geste d'offrande,-

les deux mains s'ouvrant vers le plafond de la niche. Une petite plante morte, d'une extrême

vétusté, s'élevait au milieu de la dextre, où jadis elle avait pris racine."

49

Das zeichenhafte Rätsel der Statue ist für Echenoz wie auch später für die Besucher Canterels zu-

nächst nicht existent, bedarf es doch - erinnern wir nochmals Heidegger - zum Existieren der Einstel-

lung 'befindlichen Verstehens'. Die Legende um den Fédéral, so der Name der Statue, hilft hier

weiter. Rufen wir sie ob ihrer möglichen Lektion für das Romanwerk von Jean Echenoz kurz auf.

Einst war die Statue als Emblem des Dankes an den derzeitigen aufgeklärten König Forukko aus

dem Ton der Erde vieler angrenzender Völker von einem renommierten Künstler geformt worden

und erinnerte fortan auf dem zentralen Platz Timbuktus an eine Monarchie im Sinne eines "pacte

d'amitié et non de soumission"

50

mit der Geste der Gabe von Reichtum und Glück: "Modelé avec un

art charmant, l'enfant, nu, le dos de ses mains tourné à plat vers le sol, avançait les bras comme pour

faire une offrande invisible, évoquant, au moyen de son geste emblématique, le don de richesse et de

félicité promis par l'idée qu'il représentait."

51

Solange der Respekt zwischen Völkern und Monarch

intakt war, übte die Statue eine kommemorative Kraft aus. Als die nachfolgende Königin Duhl-

Séroul infolge einer Geisteskrankheit der Landestradition aufgeklärter Stammespolitik nicht mehr

Folge leisten kann, vielmehr sich in ihren sich häufenden Zuständen geistiger Verwirrung als

aggressive Diktatorin betätigt, hat auch die Statue ihre Macht zeichenhafter Völkerbegegnung

verloren und ist in eine schweigsam-bedeutungslose Starre gefallen. Erst als die der Königin

untergebenen Volksstämme in situativer Anbetung erneut die verlorene Kraft des fétiche phantôme

48

Roussel (1963/65), 13, 11.

49

Ebd., 10.

50

Ebd., 12.

51

Ebd., 13.

13

beschwören, schreibt sich die Legende fort. Ein heftiger Orkan befördert aus weiter Ferne den

Samen einer den Eingeborenen unbekannten - von Echenoz später als heilsame Wurzel einer

artemisia maritima erkannten - Heilpflanze in die rechte offene Hand des Fédéral. Man pflegt die

Pflanze, die im afrikanischen Wechselklima und im Mischboden diverser Völker, aus dem die Statue

geformt ist, gut gedeiht. Die Befruchtung des in Vergessenheit geratenen Emblems mit der in

wundersamer wie intendierter Fügung herbeigerufenen mysteriösen Pflanze erst - praktisch durch

Einnahme der getrockneten Pflanzenblätter - führt zur Heilung der Königin und so gleichermaßen

zur Wiederherstellung von sozialer Gerechtigkeit und Frieden. Der erneute Bruch der Völkergemein-

schaft in Timbuktu führt dann später zum wiederholten Bedeutungsverlust der Statue, die, importiert

von Echenoz als "simple curiosité"

52

im musealen Garten Canterels zur Romanzeit bei Roussel den

verlängerten Tiefschlaf eines legendären Zeichens hält und nach vollendeter Runde eines wohl als

hermeneutisch aufzufassenden Kreises in vorübergehender Einsamkeit dämmert.

Dies wohl die philologische Erinnerung und Lektion, die nur durch das stets neugierig-begegnende

Tun des savant ethnologue, quasi als spectre d'Echenoz

53

in den europäischen Geistesraum gestellt

wird. Das erstaunliche Resultat: Die in langen Jahrzehnten diskutierte Kategorie der Bedeutungsher-

stellung findet hier weiterhin und in memoriam Aufklärung - freilich in bekannt hartnäckiger, post-

moderner Befindlichkeit. Der Sinn ist immer schon anwesend in einer Welt, die, jenseits der moder-

nen scission von Realität und Fiktion auch jenseits bzw. diesseits, weil vor den erstarrten Dualismen

wie Subjekt-Objekt oder Körper-Geist als alles umschließende Textualität gedacht wird. Das Derri-

dasche Bewußtsein von einer 'Welt als Text' erfordert andere Strategien der Sinnbildung, schließt

diese aber keineswegs aus. Nur wer an der modernistischen Unterscheidung von Wort und Inhalt

mißverständlich festhält, gelangt für sein Verständnis der postmodernen Kunst in die Sackgasse des

einen Pols nicht mehr auflösbarer Autoreferenzialität. Für den 'Ethnologen' Echenoz, den der Autor

mit Vornamen Jean als Phantom aufruft, stellt sich öffentliche Sinnstiftung einzig dar als konsensu-

elle Begegnung, weniger als stets konfliktuelle Übertragung von Bedeutung. Er ermahnt mit dem

Vermächtnis der schlafenden Statue zu einer etwas 'anderen', weithin verdrängten, rationalen Herme-

neutik. Sinn, ob rationaler oder fiktionaler, ist hier das zeichenhafte Potenzial zu einer bewußten

rencontre. Bedeutung wird entweder abgeschattet als unbeachtete Präsenz oder aber aufgerufen in

einer positiven Verbindung als Zeichen gemeinschaftlichen Ansinnens. Irrational bzw. emotive

Befindlichkeit schafft aus der allgegenwärtigen Symbolschwebe des Welt=Textes in einer bestimmten

Situation eine emblematische Verschwörung, die in rationales Verstehen verlängert werden kann bis

zu einem Moment, in dem die eingängliche Eintracht zerbricht. Danach fällt jedes Sinnzeichen zurück

in die Isolation eines vagen Zeichens, das der (symbolischen) Reanimation bedarf. In dieser

Sinndialektik, die sich auch auffassen läßt als Metamorphose in der Begegnung von Leben und

52

Ebd., 15.

53

Jacques Derrida faßt und entwickelt in seinem Buch Spectres de Marx (1993) den Begriff des Lernens als

Begegnung mit dem ‘Anderen’.

14

Tod

54

, sind Ansätze zu einer ethischen Realitätsgestaltung wie auch zu einer philologischen Ästhetik

und Hermeneutik gleichermaßen umrissen.

Stellen wir im folgenden zum Zwecke belegender Illustration eine Begegnung des Romanciers

Echenoz mit seinem alter ego her und kehren zurück zum postmodernen Roman in der Hoffnung,

die Erinnerung an die afrikanische Statue vermag auch hier positive Impulse zu geben. Außerdem

gibt es über den Naturforscher Echenoz nicht mehr zu sagen: er ist am Ende dieser Episode des

ersten Kapitels von Locus solus tot: "Or Echenoz était mort depuis peu, léguant le Fédéral à son ami,

en souvenir de l'intérêt porté par celui-ci à l'ancien fétiche africain."

55

Im Labyrinth des Textes: Echenoz als romancier-ethnologue

Das ethnologische Interesse des Romanciers Echenoz ist natürlich von der Literaturkritik längst

vermerkt, wenn auch gedeutet als erzählerische Sammellust zum Zwecke ironischer Exposition zeit-

genössisch europäischen Alltags.

56

Vor dem Horizont der hier aufgezeigten intersubjektiven

Begegnung eines Echenoz et son double, die eher der 'Logik' einer befruchtenden Energie als

derjenigen spiegelbildlicher Wiederholung eigener Identität - als Bestätigung im Anderen - zu

gehorchen scheint

57

, muß der positive Ertrag des 'Sich-Begegnens' nun erzählerisch gestaltet sein und

zwar in dem oben entwickelten Schreibrahmen von statischem und bewegtem Bild. Dabei erschien

das vorgefundene Bild jeweils als suspekte Reduktion starrer Ohnmacht. Diese Perspektive tritt auf

als knapp-gereihter sommaire, in allen Romanen als stilistisch und grammatikalische Parataxe bzw.

Ellipse und kommt besonders markant zum Vorschein in der szenischen Form des Dialoges, der

durchweg in formelhafter Kürze wenig zu einer inhaltvollen Kommunikation beiträgt. Die Intention

einer zeitgemäßen Erzähllogik wird durch diese Tendenz zum Stil der Regieanweisung bzw. des

sukzessiv-prägnanten Kameraschwenks deutlich. In dieser Einstellung werden selbst die auftretenden

Romanpersonen in einer lapidar wirkenden Statik vorgeführt: "Il y a maintenant Justine Fischer dans

une chambre grise."

58

lautet das incipit des zweiten Kapitels in L'Equipée malaise.

Wo die dargestellten Wirklichkeitsfragmente ausschließlich in linearer Aufzählung vorkommen, fin-

den sie keine verbindende Sinninnovation. Hier gilt die Maxime: "Le temps s'étire, le vide menace."

59

Aber auch der tristesse will begegnet sein; nur so kann ihr - freilich unterwegs mit dem latenten

Skeptizismus behutsamen Sich-Vorantastens des 'initialgeschockten Helden' - die Überwindung in

eine (noch entfernte) Aussicht gestellt werden.

Paul, einem der Protagonisten aus L'Equipée malaise, ergeht es zum Beispiel so. Während der

Erzähler zur Freude des Lesers bereits mit einer unterhaltsamen Metaphorik der Milieu- und

Situationsschilderung aufwartet, begibt der verlassene Paul sich - immerhin schon - auf den Weg

54

Vgl. zum Aspekt der Sinnbegegnung als Metamorphose des Geistes in der parole Ghitti (1998), 37f.

55

Roussel (1963/65), 16.

56

Vgl. Lebrun (1992), 19ff.

57

Vgl. dazu Derrida (1967), 341ff.

58

Echenoz (1986), 17.

59

Ebd., 61.

15

vagabundierender errance: "Tristesse de Paul, tristesse de l'homme quitté: sa vie est une toundra

sans horizon, purgatoriale, qu'il traverse indéfiniment sans lever les yeux par crainte des flaques

d'eau."

60

In der grotesken Karikatur einiger Charaktere, deren (Roman)schicksal als Nebenfiguren sie

nie aus der säulenartigen Starre des Komparsen entläßt, gelingt in der Tradition eines Baudelaire, der

die groteske Gestalt als geständige Selbstdarstellung humaner Schwäche begrüßte

61

, eine erste wie

häufig rekurrierende Form narrativer Distanzierung absurden Weltempfindens. Und Echenoz erweist

sich als Meister des grotesken Kurzportraits. Nehmen wir zum Beispiel die Geschichte um Victoire

in dem Roman Un an, deren keineswegs siegessicher anmutender Lebensweg nach dem exordialen

Befund des - womöglich in (traumatischer ?) Trunkenheit selbst verschuldeten - plötzlichen Ablebens

ihres Lebenspartners sich erneut einzig im deskriptiven Erfolg metaphorischer Banalität nieder-

schlägt: "Son itinéraire ne présentait ainsi guère de cohérence, s'apparentant plutôt au trajet brisé

d'une mouche enclose dans une chambre."

62

Auf ihrem absteigenden Weg von einer Pariser

Durchschnittsexistenz zu den brutalen Lebensbedingungen urbaner sans domicile fixe, begegnet ihr

als Anhalterin eine Serie von Autofahrern, die zu schmunzelnder Karikatur Anlaß geben. So zum

Beispiel der ärmliche Pfarrer am Steuer seines R 5:

Il y eut un prêtre au volant d'une R 5 sans options, sans radio ni rien, réduite à sa fonction loco-

motrice: les sièges étaient raides et flottait une puissante odeur de chien bien qu'il n'y eût pas de

chien. L'homme était vêtu d'un costume anthracite cartonneux sur un col roulé gris souris, son re-

vers s'ornait d'une petite croix de métal. S'exprimant avec une bienveillance militaire, il conduisit

comme on touche de grandes orgues, chaussé de croquenots cognant fort les pédales; un rameau

s'effritait sous le rétroviseur.

63

Ein anderes Beispiel, diesmal nicht ohne erzählerische Boshaftigkeit: Das Ehepaar Jouvain, Besitzer

einer Farm im malayischen Urwald, in und vor ihrer Behausung in alltäglicher Besorgung:

Le couple Jouvin restait généralement cloîtré dans sa villa, hormis les rares apparitions mutiques

de Raymond sur le terrain, notant au creux d'un bloc des choses que l'on ne devinait pas, ou celles

bien plus divertissantes de Luce trop ivre et fardée, qui zigzaguait parmi les arbustes en gesticu-

lant des airs de Line Renaud, gloussait d'intimes invites à la grande joie du personnel jusqu'à la

prompte intervention de Raymond, courant en chaussettes depuis la villa puis ramenant ferme-

ment, hors d'haleine, la pauvre grosse créature chancelante dans sa robe à fleurs mal jointive, sur

ses talons décloués.

64

60

Ebd., 38.

61

Baudelaires berühmte Reflexionen zur Natur des Grotesken finden sich in seinem Essay De l’essence du rire [...], in

den Oeuvres complètes, hg. v. C. Pichois, 2 Bde., Paris 1975/76, II, 525ff.

62

Echenoz (1997), 63.

63

Ebd., 64.

64

Echenoz (1986), 70.

16

Die Überführung dinghafter Klischees, die auch in der diskursiven Bewegung starr bleiben zu der

oben genannten, zweiten Erzählstrategie, die wir als bildhafte Sublimierung bewegter Szenerie be-

schrieben haben, erarbeitet erzählästhetisch den positiven Übergang zu sinnstiftender Begegnung,

bereits in der Karikatur unterhaltsam. Ein deutliches Übergewicht in den Romanen von Echenoz an

deskriptiver gegenüber 'handelnder' Themenentfaltung sollte dabei grundlegend konzidiert werden.

Eine gewisse Marginalisierung dramatischer Sprechhandlung bedeutet insbesondere im Falle von

Echenoz nicht das weithin befürchtete 'Ende des Romans', sondern sollte eher mit der selbstrecht-

fertigenden Geste Claude Simons anläßlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur in

Stockholm als interessante - bereits postmoderne ? - Verlagerung des Erzählerinteresses verstanden

werden. Simons Discours de Stockholm rehabilitiert den zeitgenössischen Erzähler als homo faber,

der sich in Analogie zum Maler lieber der artefaktischen "fascination du musée"

65

, denn der suspekt

gewordenen imitatio naturae hingibt. Dies zugestanden findet sich in den Romanen Echenoz' eine

schier infinite Vielfalt an bildhaften Verdichtungen bewegter Darstellung, die über das

allgegenwärtige ut pictura poesis-Ansinnen hinaus eine ebenfalls bedeutende Analogie des Erzählens

zu rhythmischer Phrasierung und notengewaltiger Verästelung insbesondere der Jazzmusik nahe-

legen.

66

Die perspektivische Transformation realer Objektfragmente wird aber ästhetisch vor allem

erzielt dank des analogen Bildcharakters der Metapher, die ein für gewöhnlich eher unauffälliges

Objekt unserer Alltagswelt in gewohnter Umgebung 'markiert', im labyrinthischen Computerverfah-

ren 'ausschneidet' und kurz 'ablegt', um es in eine neue 'Textdatei' einzuschreiben, die so eine signifi-

kante Existenz erlangt. Das transferierte Detail wiederum befördert in der neuen 'Textdatei' die

'naturhafte' Tendenz metastatischer Ausweitung. Diese zweite Strategie soll hier neben der der Re-

duktion als Strategie der Ausgreifung gekennzeichnet werden. Rufen wir Beispiele solch deskriptiver

mises en abyme auf.

In dem bisher umfangreichsten Roman von Jean Echenoz mit dem Titel Les grandes blondes (1995)

gewinnt ein Krebs signifikante Verweiskraft. Die Geschichte ist nach einem schon vertrauten Muster

angelegt. Paul Salvador, Junggeselle, Anfang Vierzig, plant für einen Fernsehsender, bei dem er in

der Abteilung 'Unterhaltung' tätig ist, eine mehrteilige Dokumentation über das Klischee der 'großen

Blondine', einer, so Salvador im Tonfall ironischer Süffisanz "irréductible catégorie d'humanité"

67

.

Gloire Abgrall alias Gloria Stella, einst jugendliches Mannequin und Varieteekünstlerin, scheint dabei

das doppelte Sensationsverlangen nach dem glorreichen Erfolgsleben des umjubelten Stars wie auch

nach dem unvertuschten Exempel des psychischen Abgrundes einer erfolgsverwöhnt wie einsamen

Vorzeigeexistenz à la Marilyn Monroe einzulösen. Der ungelöste Todesfall ihres Agenten und

(selbstverständlich) Liebhabers Gilbert Flon, der fünf Jahre vor Beginn der Romanhandlung durch

einen mysteriösen wie assoziationssicheren Sturz in einen Aufzugschacht ums Leben gekommen ist,

hat das Interesse der Sensationsmedien an Gloria Stella noch angefacht. Gloria Stella ist aber

65

Simon (1986), 12. Vgl. zur fascination du musée aus philosophischer Sicht, dargelegt am Beispiel des Werkes von

Malraux auch Ghitti (1998), 31-43.

66

Vgl. zum Bezug von Jazz und Literatur das Interview mit Echenoz in der Zeitschrift Europe 820-821 (1997), a.a.O.

67

Echenoz (1995), 44.

17

eigentlich Gloire Abgrall, und diese führt seit eben dieser Zeitspanne von fünf Jahren ein einsam wie

karges Leben auf der Flucht, zuletzt in einem kleinen Haus an der bretonischen Küste, wo sie -

unweit einer realen wie symbolträchtigen Region namens Finistère - einen weiteren, seinerseits

symbolischen Mord an Jean-Claude Kastner, Mitarbeiter von Salvador, der sie ebendort aufgespürt

hat, begeht. Gloires Leidensweg ist nach ihrem brutalen Ausbruch aus einer fremdbestimmten

Existenz noch keineswegs abgeschloßen: Sie befindet sich noch auf dem Weg einer persönlichen

'Neu-semantisierung', der sich, so Derrida, auszeichnet durch die folgende unbewußte Tätigkeit:

"identifier les dépouilles et [...] localiser les morts."

68

Aber nicht nur die sensationslüsterne

Öffentlichkeit wird in aggressiver Symbolhaltung abgewehrt, sondern gleichsam jeder aufrichtige

Versuch human-(männlicher) Näherung. Alain, bretonischer Seemann, hinkender Mittfünfziger mit

liebenswert-tumbem Charme naiver Grobschlächtigkeit, Nachfahre von Victor Hugos Quasimodo

und Nachbar Gloires, der im übrigen auch bestens geeignet ist für ein grotesk-karikaturales Porträt

69

,

bringt der von ihm geliebten Gloire zum gemeinsamen Dîner einen Krebs mit, genauer "un crabe en

vie gros comme un sac à main"

70

. Anstatt nun aber die kulinarische Basis für die von Alain erhoffte

Liebschaft zu legen, degeneriert der Krebs schnell zum metaphorischen Standbild des

kommunikativen Dilemmas zwischen dem Seemann und dem ehemaligen Mannequin. Eine reale

Begegnung in konsensueller Absicht der beiden Singles bleibt trotz des von Alain vorgetragenen

Seemannsgarns aus, zumal Gloire - um unerkannt zu bleiben - für ihn eine 'Andere' ist und Christine

heißt. Als das ohnehin zum Scheitern verurteilte Treffen in der hilflosen wie unangebrachten Geste

körperlicher Annäherung von seiten Alains kulminiert, wehrt Gloire den gutmütigen Seemann in

einer verständlichen wie gewaltsamen Überreaktion ab, so daß er fluchtartig das Haus verläßt. Das

Bild einer am Leben zerbrochenen Frau zeigt sich anschließend in allegorischer Verdichtung an der

bizarr-grausamen Momentaufnahme des von ihr in derselben aggressiven Anwandlung zerschlagenen

Krebses:

Retour de la resserre, traversant en nage en courant la cuisine, à hauteur de ses hanches elle [d.i.

Gloire] entrevoit le crabe au fond de l'évier. Se retournant vivement sur lui, d'un coup de hache

Gloire le fend par deux. Et pendant qu'elle s'éloigne rapidement vers la porte, les deux moitiés de

l'animal continuent de s'agiter faiblement chacune de son côté, dans l'espoir fou de se rapprocher

pour se ressouder, environnées de lambeaux de chair transparente.

71

Hier zeigt sich: das selbstverständlich nicht wirklich unbewegte narrative Standbild schwerwiegender

Alltagsbanalität wird zur bei Echenoz beständig punktuell erneuerten Allegorie einer Identitätssuche

auf Abwegen - Irrwege, deren individuelle und letztlich kalkulierte Umwegigkeit sich beinahe positiv,

das heißt, ästhetisch formuliert, als schöne, sublimierte Häßlichkeit darstellt. Der Erzählgang

68

Derrida (1993), 30.

69

Vgl. Echenoz (1995), 56.

70

Ebd., 70.

71

Ebd., 72.

18

simuliert solchermaßen für den Leser situative Verstehensbilder, die er aus den irrenden

Lebenswegen seiner Protagonisten 'ausschneidet' und in einen anderen, interpretierten Kontext

einsetzt.

Daß das narrative Bild in gezoomter Vergrößerung und allegorischer Fixierung zunächst ein gewis-

ses menschliches Dilemma des 'Nicht-zur-Ruhe-Kommens' bezeichnet, wird am sinnfälligsten in dem

Roman Nous trois (1992). Dort zeigt sich, was in einem der m.E. bis dato interessantesten Beiträge

zur Formstruktur postmoderner Ästhetik von Andreas Kilb festgehalten wird: "Allegorisches Be-

wußtsein steht ein für die Erfahrung einer Epoche, in der die jederzeit machbare Apokalypse anstelle

der Transzendenz getreten ist."

72

Im ersten Teil von Nous trois unternimmt Louis Meyer,

Polytechniker, Endvierziger und (natürlich) geschieden eine kurze Urlaubsreise nach Marseille, eine

weitere Etappe auf dem Lebensweg des 'schüchternen Dandys', dessen Identität so brüchig ist wie

sein Name an Originalität entbehrt. Als er unterwegs die 'unbekannte Schöne', Mercedes alias Lucie

Blanche, wegen einer Autopanne mitnimmt, scheint eine (frühzeitige) Liebesromanze möglich. Umso

größer der Kontrast, als die beiden in Marseille einem ungeheuerlichen Erdbeben beiwohnen, das

zunächst eine altbekannte Voltairesche Erkenntnis erneut zu bestätigen scheint. Der tremblement de

Marseille erlaubt Echenoz eine narrative Meisterleistung, in deren Verlauf er vor allem seine

Vorliebe für die schon im avantgardistischen Roman beliebte Deskription in der Fachsprache natur-

wissenschaftlich-technischer 'Präzision' erneut unter Beweis stellen kann. In erster Linie aber gestal-

tet sich der Roman von hier ausgehend in einer Allegorese der Erschütterung: Die Romanwelt ist

geprägt von einer Linearität seismographischer Sensibilität, derzufolge nicht nur jede menschliche

Ordnung allzeit 'erschüttert' werden kann, sondern - und hier nun endlich ein Zeichen positiver

Wende - das Fixierbild der Welt als undurchschaubares Chaos mit der Konsequenz apokalyptischer

Gestimmtheit ihrer Charaktere zu einer Mischung aus wortkarger Indifferenz (vor allem Mercedes)

und behutsamer Begegnung (Mercedes und Meyer) führt. Neue Welten, die hier mit reichhaltiger

biblischer Konnotation freilich nicht ohne den Preis des Geburtsschmerzes denkbar sind und die zu-

dem ihr wackliges Fundament nie verlassen. Im Rahmen dieser Allegorie ergibt sich so für Meyer

und Mercedes die unserer Tage realistische Aussicht auf den 'Anderen' als

'Lebensabschnittsgefährten', eine mittelfristige liaison, die mit dem Ende des Romans bereits wieder

der Vergangenheit angehört.

Ungetrübter Erfolg personalen Handelns, so zeichnet sich aus diesem knappen Einblick in die

Romanschmiede Echenoz' mit ethischen Implikationen ab, ist nur situativ-pragmatisch und als ver-

zehrbarer Lohn in der Textualität eines großen Lebensspiels zu erreichen, in der (all)täglichen Mühe

umsichtiger Sorge. Die (Roman)welt erweist sich dabei als ein Labyrinth quasi infiniter Sinnmöglich-

keiten, in dem jedes singuläre Lebenssystem in beabsichtigtem Konsens mit Optionen des jeweils an-

deren Zuhandenen Momente subjektiven und geteilten Glücks herzustellen vermag. Der Rest ist das,

was Derrida mit dem entlehnten Begriff der Trauerarbeit - travail du deuil

73

- bezeichnet. Hierin

72

Kilb (1987), 111.

73

Vgl. zu diesem Begriff Derrida (1993), 30. Siehe auch oben, Fußnote 21.

19

zeigt sich weniger, wie Wolfgang Asholt vermutet, eine moderne Besinnung des postmodernen

Romans auf eine referenzielle Sinnzuweisung: Welt wie Romangeschehen erscheinen vielmehr als

zwei Exponate ein und desselben Textsystems, so daß die moderne Angst vor dem postmodernen

Sinnverlust immer schon gebannt ist im Horizont einer jede Beliebigkeit transparent machenden

Stilisierung punktueller allegorischer Sinneinschreibung.

Am besten gelingt dies jedoch, wie erneut Heidegger plausibel gemacht hat, in einer 'Gestimmtheit

des Ausruhens'. Der Roman, in seiner para-logischen Grundstimmung reisenden 'Selbstgenußes im

Fremdgenuß', das heißt in der fundamentalen ästhetischen Einstellung des "Verstehens seiner selbst

in der Erfahrung des Anderen"

74

hat den wichtigen systeminternen Vorteil reduzierter

Notwendigkeit. Für den narrativen Schreibakt heißt das: ein Mehr an textueller Freiheit restituiert

der Fiktion zwar nicht den von der Moderne zugeschriebenen Autonomiestatus, wohl aber eine

existenzielle Sonderstellung. Anders gesagt: Die Neugier auf sehendes Weltbegegnen stellt sich erst

im Zustand der Atempause ein. Besonders gelungen sind eine Vielzahl solcher metaphorischer

'Sinnehen' damit freilich auf der kaum übersetzbaren Ebene der puren Erzähllust. Hier wird unser

'grauer' Alltag zu einer Serie bildhafter Neuaneignung durch den Erzählvorgang mit versöhnlicher

oder auch mahnender Tonalität. In der bezeichnenderweise quantitativ stärksten Isotopie, der Welt

des Verkehrs, begegnen dem Leser allein in dem Roman Nous trois folgende Objekte: ein ausge-

branntes Auto als voiture-carcasse, ein anderes Auto in dichtem Verkehr als voiture-tortue

75

. Der

Verkehr tritt personifiziert mit grotesker Schärfe und am Rande des Verträglichen auf in der

Momentaufnahme einer Massenkarambolage als trafic tricolore - weiße Kittel der Unfallhelfer über

roten Blutspuren verletzter Autofahrer unter einem blauen "ciel outremer"

76

. Im Verkehrsnetz der

Stadt wird die Straße als rue-artère gesehen, der tägliche Verkehrsstau als erstarrte Soße, als sauce

figée

77

. Ferner und im Zusammenhang mit dem Erdbeben - le tremblement-grosse bête - gibt es die

versumpfte Stadt nach der Überflutung, la ville-marais, die monströse Welle, la vague-monstre, das

aufgewühlt-schäumende Meer als la mer-aspirine

78

. Aus dem Bereich der Alltagswelt trifft der Leser

weiter auf eine in der Erwartung des Erdbebens aufgewühlte bäuerliche Szenerie auf einer ferme

malade, auf zwei 'kämpferische' Baukräne, les grues-duellistes oder auf den obligatorischen, in

diesem Roman 'verschnupften' Fernseher, le téléviseur enrhumé

79

. Auch der wandernde Eiswürfel, le

glaçon-promeneur in einer dem Singledasein entsprechenden Küche, der cuisine sauvage

80

, ist ein

beliebtes Motiv.

Halten wir am Ende inne und fest: Die Romanwelt von Jean Echenoz ist gekennzeichnet durch die

Struktur einer umwegig-bildersuchenden Begegnung eines Selbst mit einer beinahe grenzenlosen

Pluralität des präsenten Anderen. 'Gestimmtes Verstehen' der Charaktere, aber auch des Autors,

74

Jauß (1991), 12f.

75

Echenoz (1992), 29 und 79.

76

Ebd., 18.

77

Ebd., 54 und 93.

78

Ebd., 65, 78, 73 und 52.

79

Ebd., 35, 62 und 96.

80

Ebd., 45 und 82.

20

Erzählers und Lesers, stellt sich dar als rezeptiver Akt narrativer Reise in einem fundamental

gedachten Symbolraum memorierender Begegnung. Vor dem von der Avantgarde geerbten Horizont

absurder Existenzbefindlichkeit gräbt sich hier mit mosaikhaft-labyrinthischer Rastlosigkeit die neue

Spur einer re-allegorisierten Welt als Text ein, die der 'alten', am Horizont verblassenden Naturwelt

der Moderne zwar ihre rational gestimmte Aggressivität beläßt und als pragmatische Handlungsbasis

für die romanesken Figuren setzt. Darüber legt sich aber nun die in der Narration erzeugte, visuelle

Kraft eines reisenden Welterschließens, die durch eine Rhetorik berührender Metonymie - dire les

possibilités du monde - das jeweils Andere partikularen Daseins miteinander kombiniert. Der

'Romanheld' gerät in diesem abenteuerlichen Universum nicht zur Frustgestalt moderner bis

avantgardistischer Desillusion. Sein Weg - und damit die ‘ethische Lektion’ à la Montaigne - ist

vielmehr ein Pfad stets mühsamen Neubeginns weltlichen Besorgens, weniger im Bewußtsein

sinnvollen und damit perfektiblen Tuns, denn in passiver und doch nicht gänzlich unaktiver

Besorgung existenzieller Alltäglichkeit: Der Mensch als homo faber mit der Assoziation des

Sisyphos in der Lesart von Albert Camus.

Zum Schluß zwei Erinnerungen aus der Gattungsdiskussion um den Roman: Milan Kundera hat in

seiner vielbeachteten Schriftensammlung L'art du roman (1986) den Roman als literarisches Komple-

ment zum Erkenntnisstreben der europäischen Moderne beschrieben:

Le roman accompagne l'homme constamment et fidèlement dès le début des Temps modernes. La

'passion de connaître' (celle que Husserl considère comme l'essence de la spiritualité européenne)

s'est alors emparée de lui pour qu'il scrute la vie concrète de l'homme et la protège contre 'l'oubli

de l'être'; pour qu'il tienne 'le monde de la vie' sous un éclairage perpétuel.

81

Kunderas Text kann aufgefaßt werden als Versuch einer Ehrenrettung des Romans in schweren

Zeiten. Kritikwürdig sind seine eurozentrische Perspektive - "le roman est l'oeuvre de l'Europe"

82

-

sowie eine latente Polarisierung, in der die Erzählfiktion als komplementäre Sinnwelt zum rationalen

Ego Descartes' instrumentalisiert wird. Erinnern wir als ergänzende Korrektur zu Kunderas Maxime:

"La connaissance est la seule morale du roman."

83

an die klassizistische Position von Pierre Daniel

Huets Traité de l'origine des romans aus dem Jahre 1670. Dort steht der Roman bereits in

Ergänzung der beiden Pole vor dem seinerzeit sozialen aber unschwer anthropologisch wendbaren

Anliegen eines "désir d'apprendre"

84

. Huet erinnert in seiner Schrift an Platons Symposion, in dem er

eine narrative Hermeneutik gefunden haben will in dem dort erzählten Mythos von der Zeugung des

Eros. Der Zeugung voraus geht die Hochzeit von Porus (=Reichtum/Wissen) mit Penia

(=Armut/Ignoranz). In der pragmatischen Arbeit besorgender Begegnung - "dans la veuë du fruict"

85

- zeugen sie anschließend den Eros. In diesem fundamentalen Akt menschlicher Arterhaltung sieht

81

Kundera (1986), 15f.

82

Ebd., 16.

83

Ebd.

84

Huet (1966), 83.

85

Ebd., 84. Vgl. auch Platon, Symposion, 202e-204c.

21

Huet nun eine Analogie zur Wirkungsästhetik des Romans: Belehren und Unterhalten als Eckpole

literarischen Unterweisens sind nicht trennbar, sondern erzeugen erst in gelungener Verbindung ihre

'Erkenntnisfrucht'. In den (Roman)welten von Jean Echenoz treten beide Funktionen des Erzählens –

die sich ebenfalls vor dem Dualismus von Schönem und Erhabenem lesen ließe - ein in das

Miteinander visueller Begegnung mit dem jeweils ‚Anderen‘. Jean-François Lyotard sieht in seiner

programmatischen Schrift La condition postmoderne (1979) gerade in der 'Lektion' umwegigen

Erzählens das Fundament für Verstehen in postmodernen Zeiträumen.

86

Der von Echenoz sehr ge-

schätzte Victor Segalen wiederum sah in diesem wohltuenden, weil bescheidenen Versuch der

Alltagsbewältigung den Inbegriff von Exotik.

87

Eins scheint jedenfalls sicher: Die Angst vor der

Postmoderne nimmt die bunte Romanwelt von Echenoz allemal: sie entläßt ihren Leser aber

andererseits nicht in eine 'reale', ganz andere Welt, sondern plädiert in ihrer Grenzenlosigkeit für

unverklärt-mutige Lebenskraft eines jeden Menschen.

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86

Die Schrift von Lyotard (1979) gilt mittlerweile - unter Vorbehalt - als Manifest postmodernen Denkens. Vgl. zur

narrativen Ästhetik postmoderner 'Zeiträume' die Studie von Mecke (1990).

87

Siehe oben, Motto 2 sowie Segalen (1995).

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