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Barbara Kuhn (Hg.)

Selbst-Bild und Selbst-Bilder

Autoporträt und Zeitin Literatur, Kunst und Philosophie

Wil helm Fink

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt

Umschlagabbildung:Jean-Baptiste de Champaigne und Nicolas de Plattemontagne, Double autoportrait oder Double portrait of both artists, 1654,

Museum Boijmans Van Beuningen, RotterdamPhotographie: Studio Tromp, Rotterdam

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner

Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es

nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten.

© 2016 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-5936-7

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Inhalt

BarBara Kuhn (EIchstätt)Selbst-Bild und Selbst-Bilder. Einführende Überlegungen zur Frage von Autoporträt und Zeit in Literatur, Philosophie und bildender Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

hans raInEr sEpp (prag)Autoporträt – die Suche nach dem Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

FaBIana cazzola (BErlIn)Das Malen des Malens im Selbstporträt und die Rolle der Zeit. Substitution – Transitivität – ‹zeitliche Differenz› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

KIrstEn DIcKhaut (KoBlEnz-lanDau)Techniken des Autoporträts in Cellinis Vita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

MorItz laMpE (FlorEnz)Das unbeabsichtigte Selbstporträt als Ochse. Benvenuto Cellinis Nachahmungstheorie im Spiegel von Vincenzio Borghinis Selva di notizie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

hElMut pFEIFFEr (BErlIn)Wissen und Genuss. Gegenstrebige Selbstreferenz in Montaignes De l’experience . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Jutta WEIsEr (MannhEIM)Zeit- und Medienreflexion im Selbstporträt des Siglo de Oro . . . . . . . . . . . . 123

MarIta lIEBErMann (EIchstätt)Der Dichter und die Zeit. Selbstporträts in Giambattista Marinos Galeria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

rolanD gallE (DuIsBurg-EssEn)Wieland, mit Rück-Blick auf Rousseau. Don Sylvio, das Bildnis seiner Prinzessin und die Tücken der Einbildungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

MIchaEl F. zIMMErMann (EIchstätt)Cézannes Erkundungen seines Gesichts. Von der Selbstparodie des Mörders «Laurent» zum Malen aus der Mitte der Selbstbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

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INHALT6

DoMInIK BraBant (EIchstätt)Rodins ‹kryptisches› Selbstbildnis. Der Denker als Maskenspiel und die Zeit der Melancholie . . . . . . . . . . . . . . 243

angEla ostEr (MünchEn)Un coup de génie jamais n’abolira le temps perdu. Sein und / als Zeit in den selbstbiographischen Bildräumen bei Michel Leiris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

chrIstIan WEhr (WürzBurg)Las dos Fridas. Autobiographische und künstlerische Selbstkonstitution bei Frida Kahlo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

alMa-ElIsa KIttnEr (DuIsBurg-EssEn)Zeitlichkeit in der visuellen Autobiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Kurt hahn (WürzBurg)Maskenspiele zum Tode. Wiederkehr und Endlichkeit der (Selbst-)Bilder in Michel Houellebecqs Roman La carte et le territoire . . . . . . 313

BarBara Kuhn (EIchstätt)«Demain j’inviterai un nouveau ‹moi›». Das Ich, sein Porträt und die Zeit in den Autoportraits von Bobin, Toussaint und NDiaye . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

Bildnachweis der Farbtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

Farbtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

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Barbara Kuhn

sElBst-BIlD unD sElBst-BIlDEr

Einführende Überlegungen zur Frage von Autoporträt und Zeit in Literatur, Philosophie und bildender Kunst

Das Gesicht ist vielleicht nur jene Kartographie der Zeit, in der man stets mehrere Personen ist. […] Von Narziß über die Passionsgeschichten und

darüber hinaus ist jedes Gesicht in der Kunst vielleicht nichts anderes als die unendliche Suche nach Singularität, nach einem Gesicht hinter dem Gesicht,

für das die Kunst die Konfrontation mit dem Nichtgesicht Rilkes wagen muß.

Christine Buci-Glucksmann: Das Verschwinden des Gesichts in der Kunst

Nicht erst Michel Beaujour bezieht in seinem 1980 erschienenen Buch Miroirs d’encre den Begriff des Selbstporträts auf literarische Werke: Schon Montaigne hat-te bekanntlich über seine Essais das oft zitierte Diktum gestellt: «C’est moi que je peins», und Rousseau, der sich in seinen autobiographischen Schriften unter ande-rem an Montaigne abarbeitet, greift die Metapher auf und preist seine Confessions in der Präambel als das einzige wahre und exakt nach der Natur gemalte Porträt eines Menschen an. Erst seit Beaujours Arbeiten zu dem Thema jedoch setzte sich «autoportrait» auch als Gattungsbezeichnung für literarische Werke insbesondere in der französischen Theoriebildung zunehmend durch: für Werke, die zwar dem autobiographischen Schreiben zugeordnet werden, aber nicht dem kanonischen Schema zumindest traditioneller Autobiographien entsprechen. Ausgangspunkt dieser Theoriebildung und immer wieder ihr Referenzpunkt ist Roland Barthes’ Über mich selbst bzw. Roland Barthes par Roland Barthes von 1975, doch richtet sich inzwischen der Blick zugleich sowohl auf ältere Texte wie eben Montaignes Essais als auch auf neuere wie beispielsweise Rezas Text Hammerklavier, den das Titelblatt als «récit» und die vierte Umschlagseite des Buches als «autoportrait formidable-ment sincère» qualifiziert und der ebensowenig wie Montaignes oder Barthes’ Text einer chronologischen Linie folgt.

Selbstverständlich entlehnt Beaujour den Begriff indirekt der bildenden Kunst1, doch betrachtet er die unweigerlich suggerierte Nähe zur Malerei eher als einen

1 Indirekt, da Beaujour, seinem eigenen Bekunden zufolge, eigentlich nur das Wort von Lejeu-ne unmittelbar übernimmt und die unvermeidliche Assoziation zur Malerei nolens volens in Kauf nimmt, ohne ihr weiter nachzugehen: «Le mot autoportrait ne me satisfait guère. Il évoque Rembrandt, Van Gogh et Francis Bacon plutôt que Montaigne ou Leiris». Statt des-

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ärgerlichen Nebeneffekt und tut sie daher rasch ab, ähnlich wie etwa Béatrice Didier, die ihrerseits autoportrait grundsätzlich anders verwendet als Beaujour – nicht als Gattungsbegriff, sondern, in Analogie zum sogenannten literarischen Por-trät, als eine Art Bauform des Erzählens2. Für beide besteht in diesem Kontext kein anderer Bezug zwischen Malerei und Literatur als der von Bildspender und Bild- empfänger; «autoportrait» sei demnach ebenso natürlich wie ausschließlich als Metapher zu verstehen3 und die scheinbare Nähe allein der Tatsache geschuldet, dass kein anderer geeigneter Gattungs- oder Formbegriff zur Verfügung stehe4. So übernimmt Beaujour lediglich den Namen «autoportrait», den Philippe Lejeune eingeführt hatte, um Texte wie Montaignes Essais oder Cardanos De vita propria zu charakterisieren und aus seiner Betrachtung auszuschließen: Es handle sich dabei nicht um Autobiographien gemäß seiner bekannten Definition, sondern um ‹so etwas wie› Autoporträts. Beaujour nun interessieren gerade diese durch Lejeunes normative Definition ausgegrenzten Texte, deren Poetik er herausarbeitet; nach einem anderen als dem metaphorischen und daher für ihn vernachlässigbaren Bezug fragt er jedoch nicht. Vielmehr räumt er zwar ein, dass der Vergleich zwi-schen gemalten und geschriebenen Selbstporträts erhellend oder gar fruchtbar sein könnte, doch nehme dabei unweigerlich die Spezifizität der Künste und der Werke Schaden.

Der Grund für diesen vorschnellen Verzicht auf den Blick über den disziplinären Tellerrand hinaus scheint in einer recht eingeschränkten Auffassung dessen zu lie-gen, was in den bildenden Künsten unter Selbstbildnis zu verstehen ist, so wie auch umgekehrt aus kunstwissenschaftlicher Perspektive die Frage nach der Autobiogra-phie gelegentlich ebenso rasch wie eindeutig beantwortet wird, wenn etwa Rem- brandts Selbstbildnisse wie selbstverständlich als Autobiographie bezeichnet werden5,

sen begnügt er sich mit Lejeunes «définition négative», die das Autoporträt nicht als bild-künstlerische Gattung in den Blick nimmt, sondern gleichsam als defizitäre oder gescheiterte Autobiographie oder gar, wie Lejeune über Cardano schreibt, als «bricolage maladroit» und «assemblage peu cohérent». Vgl. Michel Beaujour: Miroirs d’encre. Rhétorique de l’autoportrait. Paris: Seuil 1980, 7f.

2 Vgl. Béatrice Didier: «Autoportrait et journal intime», in: L’autoportrait. Corps écrit 5 (1983), 167-182.

3 «Dans le contexte littéraire, autoportrait reste obstinément métaphorique». Beaujour: Miroirs d’encre (Anm. 1), 7.

4 «Tout autre terme serait plus inadéquat encore: car il faudrait fabriquer un néologisme (auto-graphie? autoscription? autospécularisation?) ou bien élargir le sens d’un des termes que les écrivains en question ont risqués pour désigner leur ‹genre›: essai, méditation, promenade, antimémoires, bio-graphie, autoabstraction. Certains de ces mots ont des signifiés trop spéci-fiques, d’autres, vagues ou trop étroitement associés à l’œuvre de tel écrivain». Beaujour: Miroirs d’encre (Anm. 1), 7.

5 Vgl. Franco Bianco: «Pittura come autobiografia: il caso Rembrandt», in: Colloquium philoso-phicum 5-6 (1998), 43-63 (+32 Abb.). Demgegenüber stellt Kittner gerade die Gleichsetzung in Frage, wenn sie betont, die Selbstbildnisse Rembrandts würden zwar oft als eine Art visuel-ler Autobiographie bezeichnet, doch sei Serialität keineswegs bruchlos mit Autobiographie gleichzusetzen: vgl. Alma-Elisa Kittner: Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf

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als sei mit dieser Gattungsbezeichnung schon alles gesagt. Vergleichbar äußert sich etwa Beaujour aus seiner literaturwissenschaftlichen Perspektive zum bildkünstleri-schen Selbstporträt: «Le texte produit ne correspond pas à l’idée que l’on se fait de l’autoportrait si l’on s’en remet à la métaphore picturale […]. L’autoportraitiste ne ‹se décrit› nullement comme le peintre ‹représente› le visage et le corps qu’il perçoit dans son miroir: il est forcé à un détour qui peut paraître nier le projet de ‹se peindre›»6, selbst dort, wo die Autoren ihrerseits die Metapher zu Hilfe nehmen, um ihr Projekt zu umreißen. Nicht erst Rousseau hatte bemerkt, dass, damit er sein Ziel erreichen könne, eine neue Sprache erfunden werden müsste; bereits Montaigne betont den Eigensinn des Mediums, so wie wenig früher Parmigianino mit seinem Selbstbildnis im Konvexspiegel die Abhängigkeit des erscheinenden Selbst von der Projektionsmethode, von der Mediatisierung vor Augen stellt7.

Schon hier also wird deutlich, dass sich der Bezug zwischen dem gemalten und dem geschriebenen Autoporträt wie auch der zwischen der geschriebenen und der gemalten Autobiographie nicht darauf beschränkt, dass der jeweilige Begriff einmal konkret und einmal im übertragenen Sinn gebraucht wird, dass vielmehr die visu-elle und die literarische Selbstdarstellung zumindest durch beiden gemeinsame anthropologische und epistemologische Fragestellungen verbunden sind8. Nicht zuletzt zeigt dies – neben dem Erscheinen gleich mehrerer explizit im Titel als sol-che bezeichneter Autoportraits in der französischsprachigen Literatur der vergange-nen Jahre – auch die intensive theoretische Beschäftigung mit Fragen wie der nach Selbst und Bild, nach Blick und Gesicht, nach Auto- und Alloporträt, von der so unterschiedliche Arbeiten wie Le regard du portrait von Jean-Luc Nancy, Portrait de l’artiste, en général von Philippe Lacoue-Labarthe oder Memoires d’aveugle. L’Autoportrait et autres ruines von Jacques Derrida und andere mehr zeugen. Spre-chendes Beispiel für die Nähe der Fragen, die die Bilder vom Selbst in den verschie-denen Künsten aufwerfen, ist der 2004 erschienene Band Selbstbild ohne Selbst von Martina Weinhart, die seit dem Ende der 70er und den 80er Jahren die Rückkehr des Selbstporträts in die bildenden Künste und gleichzeitig das «Paradox eines Abbilds ohne Selbstbild, ohne Selbstdarstellung» konstatiert, wie dies – in völlig disparater Weise freilich – etwa in den photographischen Selbstporträts von Urs

bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager. Bielefeld: Transcript-Verlag 2009, 33. Vgl. hierzu auch den Beitrag der Autorin im vorliegenden Band.

6 Beaujour: Miroirs d’encre (Anm. 1), 10. 7 Vgl. Jörg Zimmermann: «Mimesis im Spiegel: Spekulative Horizonte des Selbstporträts», in:

Kunstforum International 114 (1991), 106-115, hier 109f. Zu Montaigne vgl. auch den Bei-trag von Helmut Pfeiffer in diesem Band.

8 Vgl. das Titelthema «Die Kunst der Selbstdarstellung», in: Kunstforum International 181 (2006), 46-151: Auf die gleichnamige Einleitung und die «Wege zum Selbst» folgen Beiträge, die den sechs Rubriken Selbstdarstellung als Lebensform, als Narration, als Politik, als Video, als Kunst und als Textile zugeordnet werden und so die Vielfalt der Formen einerseits, das gemeinsame Interesse andererseits unterstreichen.

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Lüthi und Cindy Sherman zu beobachten ist9. Auch Jean Clair nennt einen Band seiner Schriften Autoportrait au visage absent und bezeichnet in dem Aufsatz «Auto-portrait sans visage» die Frage nach der «représentation du visage et de son impossi-bilité», die «impuissance à ressaisir l’identité du moi dans le portrait» als die große Debatte in der Kunst des 20. Jahrhunderts10. Beide Kunsthistoriker, Weinhart wie Clair, scheinen in ihren Formulierungen den 1988 erschienenen Roman L’Appareil-photo von Jean-Philippe Toussaint zu evozieren, in dem das namenlose Ich sich erinnert: «j’avais voulu essayer de faire une photo, une seule photo, quelque chose comme un portrait, un autoportrait peut-être, mais sans moi et sans personne, seu-lement une présence, entière et nue, douloureuse et simple, sans arrière-plan et presque sans lumière»11.

Innen und Außen, Tiefe und Oberfläche, Bewegung und Stillstand, Leben und Tod – all diese Fragen werfen nicht nur das «Selbstbild ohne Selbst» und die Fikti-on bleibende Photoserie des genannten Romans auf, und auch nicht nur die Ich-Erzählung, die kein Bild des Ich entstehen lässt. Von diesen Fragen spricht ebenso die Fülle der Selbstbilder in den bildenden Künsten, die in all dem, was sie nicht oder nicht mehr zu sehen geben, desto nachdrücklicher dieses eine zeigen, dass auch hier, anders als Beaujour suggeriert, das «se peindre» oder «se représenter» kei-neswegs eine durch den Verzicht auf die Sprache garantierte Selbstverständlichkeit ist, eine umweglose Verdoppelung des Spiegelbilds, das auf die Leinwand gebannt werden könnte, so wie auch die Geschichte von Porträt und Selbstporträt in der Photographie seit ihren Anfängen bis in die Gegenwart geeignet ist, den Glauben an eine problem- und fraglose, weil nahezu zwingende Mimesis des darzustellen-den Selbst nachhaltig zu dementieren. Betrachtet man allein die große Zahl von – zum Teil sehr unterschiedlichen – Selbstbildnissen, die einzelne Künstler wie Dürer, Rembrandt oder Cézanne12, Courbet, Picasso oder Lovis Corinth entwar-fen, hält man daneben die traditionelle Vorstellung, das Selbstbild sei in der Geschichte der Malerei stets der privilegierte Ort gewesen, an dem der Künstler eine Darstellung von sich selbst entwarf, die einen bekenntnishaften Einblick in

9 Vgl. Martina Weinhart: Selbstbild ohne Selbst. Dekonstruktionen eines Genres in der zeitgenössi-schen Kunst. Berlin: Reimer 2004, 8f.

10 Vgl. Jean Clair: «Autoportrait sans visage», in: ders.: Autoportrait au visage absent. Écrits sur l’art. 1981-2007. Paris: Gallimard 2008, 416f.

11 Jean-Philippe Toussaint: L’Appareil-photo. Suivi de: Pour un roman infinitésimaliste. Paris: Minuit 1988/2007, 112. Vgl. Barbara Kuhn: «‹quelque chose comme un portrait, un autopor-trait peut-être›. Le portrait à l’époque de sa productibilité technique: Jean-Philippe Toussaint, L’Appareil-photo», in: G. Ulrich Großmann / Petra Krutisch (Hg.): The Challenge of the Object. Die Herausforderung des Objekts. 33rd Congress of the International Committee of the History of Art. Congress Proceedings. Part 3. Nürnberg: Verlag des Germanischen Nationalmuseums 2013, 910-913, sowie: Friedmar Apel: «Sichtbarkeit und Eigensinn. Aufmerksamkeit in Jean-Philippe Toussaints L’Appareil-photo», in: Lena Bader / Georges Didi-Huberman / Johannes Grave (Hg.): Sprechen über Bilder, Sprechen in Bildern. Studien zum Wechselverhältnis von Bild und Sprache. Berlin: Deutscher Kunstverlag 2014 (Passagen / Passages, 46), 173-179.

12 Zu Cézanne vgl. den Beitrag von Michael F. Zimmermann im vorliegenden Band.

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seine Biographie, in sein Selbst- und Weltbild gestattete13, stellt sich immer wieder die Frage nach dem Verhältnis solcher Bilder eines Selbst zueinander und damit auch die nach dem Verhältnis von Autoporträt und Zeit, wenn die Bilder weder deckungsgleich sind noch bruchlos so nebeneinander gelegt werden können, dass sich die Illusion einer Linie, einer Chrono-Logik ergibt.

Eben darin sind, ungeachtet der Metaphorizität des Begriffs, literarische Auto-porträts den visuellen durchaus vergleichbar, denn auch hier ist mit der Postulie-rung des Verzichts auf chronologisches Erzählen als konstitutives Gattungsmerk-mal noch längst nicht alles gesagt. Beaujour zufolge spielt in den autoportraits die Zeit keine oder allenfalls eine geringe Rolle, während der Raum zur zentralen Kate-gorie avanciere; es gehe um eine Darstellung des Seins und eben nicht des Werdens, wie in der primär narrativ dominierten Autobiographie; deshalb werde auf Narrati-on weitgehend verzichtet14. Doch so wie auch gemalte Künstler-Selbstbildnisse, zumal, wenngleich nicht nur im 20. Jahrhundert, eher eine Kritik an und eine Infragestellung von feststehenden Selbst-Bildern sind15 und damit die vermeintlich ‹eigentliche› Bedeutung des Autoporträts immer wieder zur Debatte stellen, wird entsprechend in den geschriebenen Selbstporträts die Frage der Zeit desto mehr eine buchstäblich essentielle Kategorie beim Blick des Menschen auf sich selbst oder sein Selbst, als die Zeit nicht mehr wie selbstverständlich einer klaren Linie zu folgen oder diese zu ergeben scheint16. Im Gegenteil wird diese Zeit – des Ich, des

13 Vgl. Weinhart: Selbstbild ohne Selbst (Anm. 9), 7. Vgl. hierzu auch die «Einleitung» der bei-den Herausgeber in: Ulrich Pfisterer / Valeska von Rosen (Hg.): Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart: Reclam 2005, 11-23.

14 Vgl. hierzu die Überlegungen Stoichitas zum Unterschied von Selbstporträt und Selbstbio-graphie sowie zum Produktionsszenario, das an beiden Gattungen teilhabe und zum Selbst-biographischen gehöre, ohne Selbstbiographie zu sein: Victor Ieronim Stoichita: Das selbstbe-wußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei. München: Fink 1998, 257. Entschiedene Kritik an dieser Position Beaujours übt auch Monique de Lope: «L’autoportrait du peintre est à refaire souvent: dans cette multiplication des représentations de soi se poursuit la quête d’une définition relativement introuvable. Je me permettrai donc de prendre le contrepied de la proposition de Michel Beaujour: ‹je vais vous dire qui je suis›. L’écriture d’un autoportrait n’a pas obligatoirement pour but de dire au lecteur qui on est, mais, en traits successifs, de se construire pour tenter de le savoir soi-même». Monique de Lope: «‹Autorretrato de cristal con nombres›: le nom dans l’eau. Sur un poème de Carlos Barral», in: L’autoportrait en Espagne. Littérature & peinture. Actes du IVe Colloque International d’Aix-en-Provence (6-7-8 Décem-bre 1990). Aix-en-Provence: Publications de l’Université de Provence 1992 (Études Hispa-niques, 19), 331-341, hier 333. Für den Hinweis auf diesen interessanten Band danke ich Kurt Hahn.

15 Vgl. Eduardo Ralickas: «Moitié-moitié (Quelques notes sur la dualité, la divisibilité et l’autoportrait d’artistes en habits dandys): Gilbert & George / McDermott & McGough / Rodney Graham», in: ETC. Revue de l’art actuel 69 (2005), 41-47, hier 47.

16 Schon der Begriff der Zersplitterung, der Fragmentierung des Textflusses, den Beaujour stark macht, ist keineswegs nur räumlich zu denken, wie in einer Art kubistischem Porträt (und selbst hier stellt sich die Frage nach der Zeit oder den Zeiten des Bildes), sondern impliziert wiederum die Infragestellung einer kontinuierlich, eben chrono-logisch verlaufenden Zeit. Allein dieses Beispiel zeigt, dass die Reduktion auf je eine der Dimensionen von Raum und

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Lebens, des Textes – zur desto drängenderen Frage, wie etwa Yasmina Rezas Ham-merklavier aus dem Jahr 1997 zeigt: Gerade weil die Zeit sich nicht mehr durch die Vorstellung einer einheitlichen und kohärenten Entwicklung in eine Linie zwingen lässt, wird hier nicht nur immer wieder die Zeit thematisiert, sondern heißt es am Ende eines der Fragmente oder kurzen Prosastücke, abgesetzt von der vorausgehen-den Passage, sogar doppeldeutig: «Le temps, le seul sujet»17. Damit steht gleichsam die Frage im Raum, ob im Porträt eines Selbst die Zeit zum Gegenstand des über sie verfügenden oder doch reflektierenden Subjekts wird – oder ob nicht vielmehr das Selbst als subiectum der als quasi autonomes Subjekt agierenden, alles beherr-schenden Zeit erscheint18: eine Frage, die sich keineswegs erst im 20. und 21. Jahr-hundert stellt, betrachtet man etwa Murillos um 1670 entstandenes Selbstpor- trät19, das die «Temporalität» der Selbstdarstellung in Frage stellt und insbesondere «den ‹unvollendeten› Charakter des Bildes von sich selbst»20 zum Gegenstand der (Selbst-) Darstellung macht.

Zeit zu kurz greift, auch wenn mit dem «spatial» oder «topographical turn» eine Ablösung des einen durch das andere Paradigma proklamiert wird. Vgl. stellvertretend für diese Position: Jörg Dünne: «Vorwort», in: Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive. Hg. von Jörg Dünne, Hermann Doetsch und Roger Lüde-ke. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, 9-20, hier 9.

17 Yasmina Reza: Hammerklavier. Récit. Paris: Albin Michel 1997, 25.18 «Se représenter, serait-ce devoir immanquablement représenter le temps auquel on appar-

tient? Et si c’est devoir nécessairement le représenter, est-ce parce qu’on le subit ou est-ce parce qu’on le révèle?», fragt Pascal Bonafoux mit dem Blick auf zwei völlig disparate Selbstbildnis-se von Franz von Stuck und Robert Morris, in: Moi! Autoportraits du XXe siècle. Sous la direc-tion de Pascal Bonafoux. Milano: Skira 2004, 48.

19 Vgl. den Beitrag von Jutta Weiser in diesem Band sowie die dort zu findende Abbildung von Murillos Selbstporträt. Zur zentralen Frage der Zeit «im [dargestellten] Akt des Malens» eines Selbstporträts vgl. ferner den Beitrag von Fabiana Cazzola im vorliegenden Band sowie die dort genannte, kürzlich erschienene Dissertation der Autorin. Ebenfalls sehr aufschlussreich sind in diesem Kontext die anregenden Überlegungen nicht nur zu Manets Selbstporträts (219-230), sondern vor allem zur Relation von «Verzeitlichung des Subjekts» und «Vervielfäl-tigung des Portraits», zur Entstehung des einen Porträts aus einer Vielzahl von Bildern wie auch zum Verhältnis von «Portrait und Kontingenz» im Kapitel über «Berthe Morisot und die Nachträglichkeit des Portraits» in: Barbara Wittmann: Gesichter geben. Edouard Manet und die Poetik des Portraits. München: Fink 2004, 147-176.

20 Stoichita: Das selbstbewußte Bild (Anm. 14), 240f. Vgl. die verblüffende Nähe von Goytisolos Selbstbeschreibung seiner «labor autobiográfica» in Coto vedado (Barcelona: Seix Barral 1985): «vana tentativa de tender un puente sobre tu discontinuidad biográfica, otorgar poste-rior coherencia a la simple acumulación de ruinas: buscar el canal subterráneo que alimenta de algun modo la sucesión cronológica de los hechos sin saber con certeza si se trata de la exhumación de un arqueólogo u obra flamante de ingenéria» (193). Kurz zuvor spricht er von seiner «personalidad aleatoria de aquellos años» und von der nachträglichen, teleologischen Kohärenzstiftung als einer «forma sutil de traición» (152). Zitiert nach: Randolph D. Pope: «El autorretrato postmoderno de Juan Goytisolo», in: L’autoportrait en Espagne (Anm. 14), 319-330, hier 326.

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In den bildenden Künsten kann die Frage nach dem Selbstporträt sich bekannt-lich sowohl auf explizit vom Künstler als solche bezeichnete oder von der Kritik als solche identifizierte Werke beziehen als auch – gemäß dem Diktum «ogni dipinto-re dipinge sé»21 – auf andere Werke, die dennoch das hypostasierte «Selbst» des Autors darzustellen scheinen, und die Frage der Zeit lässt sich dort sowohl an ein-zelne Bilder stellen, insofern sie Augenblick oder Synthese oder irgendwo zwischen beiden sein können22, als auch an Serien von Selbstporträts, die als Linie, als sich wechselseitig ergänzend oder als einander widersprechend, aber auch als fortgesetz-te Suche begriffen werden können: als Suche nach einem hypothetischen Ich, nach Modi der (Selbst-) Darstellung oder als Reflexion über die Zeit, wie sie etwa aus Picassos Gemälde Yo, Picasso von 1901 spricht, in dem der Maler das Ich deutlich älter darstellt, als er selbst zum Zeitpunkt der Entstehung des Porträts ist:

ce qui nous frappe dans cet autoportrait de l’hiver 1901, c’est cette volonté mani-feste de décaler le temps, de s’écarter de lui-même en s’écartant de son âge. Non qu’il veuille anticiper, prévoir comment il sera dans dix ans, non! Picasso veut montrer que le temps qui l’habite n’est pas celui qu’un simple reflet pourrait cap-ter, celui qu’un regard ordinaire pourrait saisir dans la transparence d’une réfé-rence univoque à celui qu’il était au moment de passer à l’acte. Il veut montrer qu’il est décalage temporel, décalage que le temps de l’instant saisi par la représen-tation pourrait nous masquer, plus encore, qu’il ne peut pas cerner: il veut repré-senter ce qu’il est comme décalage, par delà ce qu’il est comme objet, comme apparence physique, même si celle-ci en est le support avoué.23

Analog umfasst die Frage nach dem Selbstporträt auch in der Literatur ein ganzes Spektrum von Textarten oder -aspekten. Allein die bereits erwähnten Theoretisie-rungsversuche deuten dies an, wenn Beaujour nach Lejeune daraus eine Gattungs-bezeichnung macht und Didier das ‹literarische Selbstporträt› als Element etwa in Tagebuchliteratur analysiert, so dass das Spektrum schon hier von Montaigne und Leiris, Barthes und Reza einerseits bis zu Stendhal oder Michelet andererseits

21 Zu dieser Sprichwortweisheit vgl. den Beitrag von Moritz Lampe in diesem Band, der außer-dem, ebenso wie Kirsten Dickhaut in ihrem Beitrag, auf Cellinis Vita eingeht; zur Deutung etwa von Rodins Denker als Selbstporträt vgl. den Beitrag von Dominik Brabant.

22 Vgl. hierzu Stoichitas ‹Lektüre› der Selbstporträts von Rembrandt: «Das Selbstporträt, das nichts erzählt, sondern nur den Zustand des auktorialen Ich beschreibt, kann sich a posteriori als ‹Geschichte› der Person konstituieren. Das ist übrigens in der uns interessierenden Epoche der Fall Rembrandts: das corpus seiner Selbstporträts wird in letzter Instanz zu einer ‹autobiographi-schen Erzählung›. Die programmatische Erfassung der Reihe seiner Selbstporträts ermöglicht die Rekonstitution des Lebens des Malers». Stoichita: Das selbstbewußte Bild (Anm. 14), 257f. Zu Rembrandt und Corinth vgl. Beat Wyss: «Das Selbstporträt als Historie. Der moderne Rem-brandt», in: Ulrike Lorenz / Marie-Amélie zu Salm-Salm / Hans-Werner Schmidt (Hg.): Lovis Corinth und die Geburt der Moderne. Bielefeld / Leipzig: Kerber 2008, 312-319.

23 Jordi Bonells: «Le différent et le semblable. Airs de famille et autoportraits chez Picasso», in: L’autoportrait en Espagne (Anm. 14), 173-181, hier 175f. Vgl. hier ferner den Bezug zu einem der letzten Gemälde Picassos, das über 70 Jahre später, 1972, entstand und den Titel trägt: Le jeune peintre (177f.).

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reicht. Daneben wären fiktionale Texte zu nennen, die gemalte Porträts oder Auto-porträts zu ihrem Gegenstand und mehr noch zu ihrem Reflexionsmedium machen: Hierzu zählt etwa der 2009 erschienene Roman L’autoportrait bleu von Noémi Lefebvre24, in dem das Blaue Selbstportrait von Arnold Schönberg eine wichtige Rolle für die Ich-Erzählerin spielt. Wieder anders liegt der Fall bei Texten, die nicht das oder ein Selbstporträt thematisieren, sondern Selbstporträt sind, ver-gleichbar Gemälden, Photographien oder anderen Objekten in einer Ausstellung, die sich erst durch ihre Beschriftung als solches zu erkennen geben: Wie schon Pas-ternaks Geleitbrief sich im Untertitel als Entwurf zu einem Selbstbildnis bezeichnete, nennen auch sie sich Selbstporträt – etwa Autoportrait (à l’étranger) oder Auto- portrait en vert25 – und spielen folglich mit der Ambiguität des Wortes zwischen literarischer und bildkünstlerischer Gattung, zumal der letztgenannte Titel Photo- graphien enthält, die ihrerseits die Frage nach der Relation von Bild und Text im Autoporträt aufwerfen.

Sowohl Text als auch Bild sind ebenfalls präsent in Werken wie etwa den Aveux non avenus von Claude Cahun oder den unter dem Gattungsbegriff Visuelle Auto-biographien zusammengefassten Arbeiten von Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager26, und all diese Werke stellen ihrerseits, wenngleich in unter-schiedlicher Weise, auf der Ebene des Dargestellten wie auf der der Darstellung die Frage nach den Bildern eines Ich in der Zeit: in der je eigenen Zeit des Werks und dessen möglicherweise langer Entstehungsphase oder dessen unterschiedlichen Fas-sungen, aber auch in der dem ‹Ich› eigenen Lebenszeit. Alle kombinieren zudem und ausgerechnet Photographie und Text, mithin und wohl kaum zufällig jene bei-den Medien, deren eines mit Schnelligkeit, Momenthaftigkeit, mit punctum und «ça a été» assoziiert wird, während das andere für Linie und Dauer, Entwicklung und allmähliches Entziffern, kurz, für Zeit- statt Raumkunst zu stehen scheint: Gerade die Konfrontation beider stellt überkommene Zuschreibungen in Frage

24 Noémi Lefebvre: L’autoportrait bleu. Paris: Gallimard 2009. Zur Porträts im Roman vgl. ins-besondere den Beitrag von Roland Galle in diesem Band, der die Frage an Texten Rousseaus und Wielands verfolgt.

25 Vgl. Christian Bobin: Autoportrait au radiateur. Paris: Gallimard 2012 [1997]. Jean-Philippe Toussaint: Autoportrait (à l’étranger). Paris: Minuit 2000. Édouard Levé: Autoportrait. Paris: P.O.L. 2013 [2005]. Marie NDiaye: Autoportrait en vert. Paris: Gallimard 2009 [2005]. Zu einigen dieser Texte vgl. den Beitrag von Barbara Kuhn in diesem Band; zu weiteren Texten: Annie Pibarot: «L’autoportrait littéraire dans la littérature française de l’extrême contempo-rain», in: Les Nouvelles Écritures du Moi dans les Littératures française et francophone. Sous la direction de Sylvie Camet et Noureddine Sabri. Paris: L’Harmattan 2012, 29-36. Völlig anders als die genannten Titel ist demgegenüber das Autoporträt von Mario Luzi zu verste-hen: Unter diesem Titel versammelt der Autor (bzw., da Luzi kurz vor der Veröffentlichung des Bandes starb, der Herausgeber der Anthologie) Auszüge aus seinen Schriften, die mithin das Selbstbildnis des Autors ergeben: Mario Luzi: Autoritratto. Scritti scelti dall’autore con versi inediti. A cura di Paolo A. Mettel e Stefano Verdino. Milano: Garzanti 2007.

26 Vgl. Kittner: Visuelle Autobiographien (Anm. 5) sowie Susanne Elpers: Autobiographische Spie-le. Texte von Frauen der Avantgarde. Bielefeld: Aisthesis 2008.

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und vermag so, im Sich-Reflektieren der beiden Künste in einem Werk, die Refle-xion von und über Zeit und Selbst in Text und Bild zu befördern27.

In Anbetracht der Fülle der hier nur exemplarisch aufgeführten Aspekte, die der Blick auf die Relation von Zeit und Selbst eröffnet, wird die Frage nach den Selbst-Bildern und ihrer Zeit in visuellen und textuellen Autoporträts im vorliegenden Band als interdisziplinäre Fragestellung im Dreieck von Philosophie, Kunst- und Literaturwissenschaft angegangen: nicht als paragone, weil es nicht darum geht, ob Bilder oder Texte das unfassbare, undarstellbare, unausdrückbare ‹Selbst› in seiner Zeit oder auch seiner ‹Zeitverschiebung›, seinem «sfasamento»28, besser fassen, dar-stellen, ausdrücken können, sondern als Dialog, der unterschiedliche Perspektiven und verschiedene Horizonte zusammenführt und sich so den offenen Fragen nähert. Denn da die ‹Bilder› eines ‹Selbst› – beides schon für sich und desto mehr in Kombination höchst problematische Begriffe – sowohl in der Literatur als auch in der bildenden Kunst entstehen und zudem manches Mal die verschiedenen Medi-en verbinden, scheint für die heikle Frage nach der Zeit desto mehr der Blick aus der Perspektive nur einer Disziplin verkürzend, nicht zuletzt in Anbetracht der tra-ditionellen Entgegensetzung von sprachlichen und visuellen Kunstwerken als Zeit- versus Raumkunst und in Anbetracht der – inzwischen ebenso gängigen – Infrage-stellung dieser Opposition in beiden Disziplinen:

il grande problema della pittura non è quello di poter esprimere lo spazio e non il tempo. Il suo vero nodo teorico è piuttosto la dissimmetria che esiste fra il mezzo d’espressione, che è spaziale, e ciò che viene espresso, che può anche essere la tem-poralità. [… C]osì come la letteratura può parlare dello spazio, anche la pittura fa vedere il tempo.29

27 Eindrückliches Beispiel für diese wechselseitige Reflexion ist etwa das – von Christian Wehr in diesem Band analysierte – Tagebuch von Frida Kahlo. Fragen von Kunst und Literatur, bezogen auf autoporträtistische Darstellungsweisen, entfaltet auch Angela Oster in ihrem Beitrag zu Michel Leiris.

28 Diesen Gedanken entwickelt Tabucchi an mehreren Stellen des – von ihm selbst auch als «autobiografie altrui» bezeichneten Romans Si sta facendo sempre più tardi, z.B.: «il problema è lo sfasamento dell’orario che tutti noi abbiamo […]. L’ideale sarebbe che tutti, ma dico tutti quanti, si avesse l’età giusta al momento giusto nel punto giusto in cui ci capita di incontrarci in questo pezzettino di universo che si espande verso il nulla, perché questo faciliterebbe assai le cose» (82). Entsprechend stellt das Ich eines anderen Briefs das Leben des Du, das vom Ich wahrgenommen wird als ein Zur-rechten-Stunde-am-rechten-Ort-Sein, als vollkommene Übereinstimmung von «vita» und «tempo», der eigenen Zeit gegenüber, die als zerbrochen und fragmentarisch erlebt wird: «le persone giuste vivono con te l’ora giusta nel posto giusto, perché questo è il giusto metro del tempo, della vita e della favella. Io, al contrario, ti scrivo da un tempo rotto. Tutto è in frantumi, mia Cara, i frammenti sono volati da una parte all’altra e mi è impossibile raccoglierli» (35). Antonio Tabucchi: Si sta facendo sempre più tardi. Romanzo in forma di lettere. Milano: Feltrinelli 2001.

29 Omar Calabrese: «Immaginare il tempo», in: Le figure del tempo. A cura di Lucia Corrain. Testi di Umberto Eco e Omar Calabrese. Milano: Mondadori 1987, 19-42, hier 19f. Für sei-ne Analyse der unterschiedlichen «forme di temporalità» orientiert sich Calabrese an Genet-tes Kategorien der Erzähltextanalyse. Sowohl in diesem Textbeitrag als auch in den kurzen

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Eine solch komplementäre statt oppositionelle Betrachtung von Literatur und Malerei ebenso wie von Raum und Zeit resultiert nicht zuletzt aus der – auch mit dem vorliegenden Band vertretenen – Überzeugung, dass das Autoporträt, gleich in welchem Medium, ebenso wie die Zeit grundlegende anthropologische Fragen aufwirft, die ebenfalls nicht eindimensional zu beantworten sind, sondern des Dia-logs bedürfen.

Entsprechend gab und gibt es in den letzten Jahren zahlreiche Ausstellungen und Publikationen zum Porträt oder auch zum Gesicht: Allein 2013, dem Jahr, in dem auch die Tagung stattfand, auf die dieser Band zurückgeht, erschienen die Bücher Faces von Hans Belting und, herausgegeben von Sigrid Weigel, Gesichter, im Jahr darauf Gesicht und Identität. Face and Identity, ediert u.a. von Gottfried Boehm. Kurz vor der Tagung war in Stuttgart eine Ausstellung unter dem Titel Das Antlitz! zu sehen, und auch generell haben «Cross-over-Projekte zwischen Literatur und bildender Kunst […] offenbar Konjunktur», wie es im Katalog einer gleichzei-tig in Karlsruhe gezeigten Ausstellung mit dem Titel Unter vier Augen. Sprachen des Porträts heißt, der gleich mehrere solcher Projekte aufzählt. So waren in der Karls-ruher Ausstellung fünfzig Porträts aus der Sammlung der Staatlichen Kunsthalle zu sehen, zu denen Schriftsteller, Philosophen, Psychoanalytiker, Literatur- und Sprachwissenschaftler «sowie nicht zuletzt auch […] Kunsthistoriker» eingeladen waren, Texte zu verfassen30, die im Museum, sozusagen im Angesicht der Porträts, gehört und im Katalog gelesen werden konnten.

Gemeinsam sind diesem und dem im vorliegenden Band verfolgten Projekt also die Gattung des Porträts und die transdisziplinäre Herangehensweise, während sonst fast alles anders ist. Vor allem ist der Gattungsbegriff des Autoporträts, obgleich er zunächst möglicherweise noch eindeutiger scheint als der der Karlsru-her Ausstellung, alles andere als eindeutig, und dies liegt nicht nur an dem vorange-stellten «Auto-» oder «Selbst-», dessen Bedeutung im Griechischen, wie Didi-Huberman in «L’autre miroir» erinnert, keineswegs so offensichtlich und eng

Einführungen und Analysen, die den abgedruckten Gemälden in diesem Ausstellungskatalog beigegeben sind, wird mehrfach die Frage von Selbstporträt und Zeit thematisiert. Vgl. hier-zu auch ders.: Die Geschichte des Selbstporträts. München: Hirmer 2006, 146, sowie den eben-falls von Lessings Laokoon oder die Grenzen der Poesie und Malerei seinen Ausgang nehmen-den Aufsatz: Dieter Mersch: «Ästhetischer Augenblick und Gedächtnis der Kunst. Überle-gungen zum Verhältnis von Zeit und Bild», in: ders.: Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens. München: Fink 2003, 151-176.

30 Pia Müller-Tamm: «Porträt. Anmerkungen zu einer vitalen Gattung», in: Staatliche Kunst-halle Karlsruhe (Hg.): Unter vier Augen. Sprachen des Porträts. Bielefeld / Berlin: Kerber 2013, 13-19, hier 17. Ebenfalls in einem sehr weiten Sinn interdisziplinär orientiert ist der kürzlich erschienene und oben bereits erwähnte Band, der Aufsätze u.a. aus Kunstgeschichte, Philoso-phie, Psychiatrie, Psychologie, Plastischer Chirurgie und Kommunikationswissenschaft ver-sammelt und zudem diverse Bildbeiträge enthält: Gottfried Boehm / Orlando Budelacci / Maria Giuseppina Di Monte / Michael Renner (Hg.): Gesicht und Identität. Face and Identity. München: Fink 2014.

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umgrenzt ist wie gemeinhin angenommen31. Nur am Rande sei ferner erwähnt, dass auch der Begriff autoportrait, ebenso wie Autobiographie, wesentlich jünger ist als die Texte oder Bilder, die heute als solche bezeichnet und auch in Gattungsge-schichten ebenso wie in Museen oder Ausstellungskatalogen unter diesen Namen versammelt werden. Dies gilt für viele der als kanonisch geltenden Autobiographi-en wie etwa die noch die heutigen Vorstellungen von Autobiographie prägende, aber Les Confessions betitelte von Rousseau, und es gilt auch für jenes Gemälde, das den Umschlag dieses Bandes ziert:

Auch dieses Gemälde ist zu einer Zeit, 1654, entstanden, als es den Begriff des autoportrait noch nicht gab, sondern ein Selbstporträt bezeichnet wurde als «por-trait de l’artiste peint par lui-même», zu einer Zeit mithin, in der auch ein Double autoportrait – wie das Bild heute genannt wird – keine Schwierigkeiten bereitete: Es war einfach ein «portrait des artistes peint par eux-mêmes», wie Hannah Wil-liams darlegt, auf deren Aufsatz «Autoportrait ou portrait de l’artiste peint par lui-même? Se peindre soi-même à l’époque moderne»32 sich die folgenden Ausführun-gen zu diesem Gemälde weitgehend beziehen. Üblicherweise kann man davon ausgehen, dass in einem ‹Bildnis des Künstlers› der Genitiv mehrdeutig ist und, wie Derrida in Mémoires d’aveugle formuliert, der Künstler die Rollen von «sujet», «objet» und «signataire» übernimmt – ganz ähnlich, wie Lejeune die Autobiogra-phie definiert über die Identität von Autor, Erzähler und Figur. Das Double auto-portrait von Jean-Baptiste de Champaigne und Nicolas de Plattemontagne jedoch verdoppelt diese triadische Relation und macht mit der doppelten Autorschaft alles uneindeutig. Sie schafft zum einen eine Ambiguität, weil nicht mehr klar ist, wer hier eigentlich was und wen malte, und entsprechend uneins ist die Forschung in dieser Frage. Zum anderen kann in diesem Doppel-Auto-Porträt oder Auto-Dop-pel-Porträt nicht mehr einfach von der Konfrontation eines Autors mit seiner eige-nen Subjektivität, nicht einfach vom Ausdruck eines Selbst-Bewusstseins oder einer Selbst-Gewissheit oder ähnlichem gesprochen werden; vielmehr interagieren hier zwei Schöpfer, zwei Modelle und zwei Figuren, und zwar in einer überaus bewuss-ten (oder auch selbst-bewussten) Weise, wie die komplexe Komposition des dop-pelten Selbstporträts zeigt.

Viele Signale wie das Cello, die Kleidung und die Haltung, die Gesamtkomposi-tion zeigen an, dass es sich um eine Darstellung der Freundschaft handelt; gleich-zeitig steht, wie Glasflacon und Seneca-Büste hervorheben, ein memento mori vor Augen; vor allem aber werden diese, wenn man so will, zeitlosen Aspekte des

31 «L’extension du mot grec autos, notons-le, est bien loin de se plier au schéma d’une telle circu-larité. Il dépasse l’idée d’ipséité comme celle de permanence, il exige aussi ‹l’accompagnement avec autrui›». Georges Didi-Huberman: «L’autre miroir. Autoportrait et mélancolie chris-tique selon Albrecht Dürer», in: Il ritratto e la memoria. Materiali 2. A cura di Augusto Genti-li / Philippe Morel / Claudia Cieri Via. Roma: Bulzoni 1993, 207-239, hier 238.

32 Hannah Williams: «Autoportrait ou portrait de l’artiste peint par lui-même? Se peindre soi-même à l’époque moderne», in: Images Re-Vues 7 (2009): http://imagesrevues.revues.org/574 [15. August 2014]. Im Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, in dessen Besitz sich das Gemälde befindet, firmiert es unter dem Titel Double portrait of both artists.

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Gemäldes kombiniert mit der Wahl eines bestimmten Augenblicks in Zeit und Raum, so dass die Figuren und Dinge nicht in ihrer Funktion als symbolische For-men aufgehen, sondern zu Akteuren und Accessoires eines récit, einer Erzählung werden. Schon die Präsenz der beiden Figuren lässt durch deren Interaktion eine Zeitlichkeit entstehen, zumal Champaigne links in der Vergangenheit begonnen hat, etwas zu zeichnen, und diese Zeichnung gleichsam ihre Vollendung in der Zukunft einfordert. Weil auf dem Zeichenbrett in der Hand von Champaigne die Signatur von Plattemontagne zu lesen ist, während auf der Staffelei hinter Platte-montagne die Signatur Champaignes steht, wird das Gemälde teilweise nicht als Double autoportrait interpretiert, sondern als Doppelporträt, bei dem auf einer Leinwand jeder den jeweils anderen porträtiert habe. Williams Lesart zufolge ist jedoch das Gemälde von links nach rechts zu lesen und erzählt es das Machen des Bildes: Champaigne skizziert auf seinem Blatt Papier zwei Figuren, während die Palette hinter ihm an der Wand unbenutzt ist. In der Mitte wird der Schöpfungsakt in die Hand Plattemontagnes gelegt, unter der eine vollendete Zeichnung mit dem Datum 1654 zu erkennen ist, ebenso wie Pinsel und eine benutzte Palette; mit der anderen Hand hält er seinen Hut wie eine Palette, und sein Körper befindet sich vor der Staffelei, wo üblicherweise das Kunstwerk steht. Auch die überkreuzten Signaturen stimmen mit der Deutung, Champaigne sei der Zeichner und Platte-montagne der Maler, überein, denn beim Maler steht «I. B. de. Champaigne me fecit», während beim Zeichner zu lesen ist: «N. Montaigne pinxit me», so dass auch die Verben auf den je unterschiedlichen Beitrag der beiden Künstler zu dem Werk verweisen und das «Ich» bzw. «mich» in «me fecit» und «pinxit me» nicht die Perso-nen, die Autoren meint, sondern die gemalten Figuren, die hier als Sprechende imaginiert werden, oder aber das Gemälde als Ganzes, das der eine gezeichnet und der andere gemalt hat.

Es handelt sich also bei diesem einen Gemälde mit den beiden dargestellten Figuren um zwei Porträts und zwei Selbstporträts, die zudem in einer bestimmten zeitlichen Relation zueinander stehen, ein Vorher und Nachher erzählen, obwohl das Gemälde einen Augenblick darstellt und ein genaues Datum trägt. Williams zufolge ist das, was das Gemälde erzählt, ein metapikturaler Kommentar über die Autorschaft des Gemäldes, in dem es allerdings keinen Unterschied mache, ob man sich selbst oder einen anderen male, weil dies offenbar für die Zeit keine Frage gewesen sei.

Eine Frage war und ist hingegen die Zeit selbst, wie Williams’ Interpretation am Rande andeutet, auch wenn dies nicht ihre Frage ist, eben weil das Bild nicht in der – angeblichen – Zeitlosigkeit einer ewigen Gegenwart aufgeht, wie sie Porträts und ebenso Selbstporträts oft zugeschrieben wird. Hier wird gerade der Prozess und damit die Prozesshaftigkeit Gegenstand des Gemäldes – bis hin zu dem Augen-blick, so ließe sich verkürzend zuspitzen, in dem das ‹Selbst› ‹Bild› wird und auf die Staffelei gelangt, so dass, komplementär zur Vergangenheit dieses Selbst-Bilds als Zeichnung, mit diesem Aus-Blick auch der ‹andere› Betrachter, die Wahrnehmung des Selbst-Bilds als seine Zukunft einbezogen wird. Demgegenüber wird traditio-nell von einem Autoporträt erwartet, dass der Betrachter in ihm Wesenseigenschaf-

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ten des Künstlers, Spuren seiner einzigartigen ‹Anwesenheit› und Dokumente sei-ner Biographie vorfinde, weil der Künstler hier die Summe zumindest eines Lebensabschnitts, wenn nicht eines ganzen Lebens ziehe33, wie Ulrich Pfisterer und Valeska von Rosen in der Einleitung zu ihrer Anthologie von Künstlerselbstporträts samt Kommentaren namhafter Porträtforscher den Erwartungshorizont resümie-ren. So konnte beispielsweise Simmel in «Die ästhetische Bedeutung des Gesichts» von der «unverwechselbaren Persönlichkeit» sprechen, die am Gesicht ablesbar sei, vom «Ausdruck des bleibenden Charakters» und von «festen, die Seele ein für alle-mal offenbarenden Gestaltungen»34. Das freilich ist ein Befund, der heutigen Wahrnehmungsweisen kaum mehr entspricht. Vielmehr geht häufig mit der Selbst-reflexion der Bilder, wie Stoichita beispielsweise am oben erwähnten Selbstporträt von Murillo zeigt, eine Infragestellung der Temporalität des Selbstporträts einher, das nicht in der vollendeten Darstellung eines ebenso vollendeten Charakters auf-geht, sondern gerade auf dem ‹unvollendeten› Charakter des Bildes von sich selbst insistiert35. Doch auch dort, wo Maler etwa eine Vielzahl von Selbstbildern geschaf-fen haben, Selbstbildern zumal, die wie bei Dürer oder Rembrandt unterschiedli-che Rollen verkörpern oder die wie bei Poussin offensichtlich als Varianten des gar nicht so einheitlichen und unverwechselbaren Selbst konzipiert sind36, auch dort stellen die Autoporträts die traditionell angenommene Zeitlichkeit von Selbstbild-nissen als verewigendes Präsens und folglich ewige Präsenz in Frage, und desto mehr ist dies seit der Erfindung der Photographie der Fall, die erlaubte, «in bislang unbekannter Präzision und Schnelligkeit individuelle Lebensmomente festzuhal-ten» und so «das ‹Ich› zu dokumentieren»37. Allerdings waren an dessen angeblicher Identität und Individualität schon zuvor Zweifel laut geworden, die demnach nicht ausschließlich mit dem neuen Medium zu erklären sind, wie Jacob Burckhardt annahm.

All dies erschöpft keineswegs die Problematik von Selbstporträt und Zeit, aber es vermag doch zu unterstreichen, dass auch das visuelle Autoporträt keine solche Selbstverständlichkeit ist, wie Beaujour dies in seinem dem geschriebenen Auto-porträt gewidmeten Buch mit dem schönen Titel Miroirs d’encre suggeriert. Dieser Vorstellung des visuellen Autoporträts als einer frag- und problemlosen Wiederga-be dessen, was (im Spiegel) vor Augen steht, auf Seiten der Literaturwissenschaft entspricht, wie oben erwähnt, seitens der Kunstwissenschaft gelegentlich eine eben-so problemlose Vorstellung von autobiographischem Schreiben, das einfach mit der zu erzählenden «Geschichte einer Person» gleichgesetzt wird. Demgegenüber

33 Vgl. Ulrich Pfisterer / Valeska von Rosen: «Einleitung» (Anm. 13), 12f.34 Georg Simmel: «Die ästhetische Bedeutung des Gesichts» [1901], in: Christa Blümlinger /

Karl Sierek (Hg.): Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes. Wien: Sonderzahl 2002, 251-256, hier 253f.

35 Vgl. Stoichita: Das selbstbewußte Bild (Anm. 14), 240f.36 Vgl. Louis Marin: «Variations sur un portrait absent: les autoportraits de Poussin 1649-

1650», in: L’autoportrait. Corps écrit 5 (1983), 87-107.37 Pfisterer / von Rosen: «Einleitung» (Anm. 13), 22. Vgl. dort auch den Abschnitt «Bilder vom

Ich: Burckhardts schwieriges Erbe», 12-16.

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zeigen gerade die von Beaujour als autoportraits klassifizierten Texte, die sich durch Diskontinuität, durch Montage und ein anachronisches Nebeneinander auszeich-nen, dass autobiographisches Schreiben keineswegs gleichbedeutend ist mit linea-rem, eben chrono-logischem Erzählen des Lebens, in dem das post hoc zugleich ein propter hoc garantierte. Selbst traditionellere Autobiographien entsprechen selten diesem schlichten Muster, und desto weniger tun dies Texte wie Montaignes Essais oder Roland Barthes’ aus Photographien und größtenteils alphabetisch geordneten Texten zusammengesetztes Autoporträt Roland Barthes par Roland Barthes.

Weder visuelle noch textuelle Autoporträts lassen sich als bloße Umsetzung oder Übersetzung eines klar definierbaren Selbst in das eine oder das andere Medium begreifen, und ebensowenig kann das eine als unmittelbare Repräsentation des vor Augen stehenden Bildes oder als unmittelbares Erzählen der vorhandenen Lebens-geschichte, das jeweils andere dagegen als – in irgendeiner Weise vermittelter – Umweg gefasst werden. Allein der Begriff und die Notwendigkeit des Mediums besagt von vornherein, dass es die Un-Mittelbarkeit hier gar nicht geben kann, weil weder quasi automatisch ein autobiographischer Text aus einer wie auch immer vorgestellten ‹Lebensgeschichte› entsteht noch sich ein im Spiegel oder andernorts zu sehendes Bild quasi mechanisch auf die Leinwand bannen lässt. Gemäß der Metaphorik Beaujours – «il est forcé à un détour», sagt er über den Schriftsteller – ist vielmehr auf beiden Seiten ein ‹Umweg›, eine Ver-Mittlung oder ‹Mediatisie-rung› nötig, weil die sprachlichen wie die visuellen Selbst-Bilder allererst in ihrem jeweiligen Medium wahrnehmbar werden und zudem dieser Wahrnehmung – wie jedes Kunstwerk, ob aus Worten, aus Farben oder aus Tönen – unabdingbar bedür-fen. Oder aber, vielleicht genauer, es handelt sich gar nicht um einen Umweg, wie die zahlreichen hochgradig selbstreflexiven Selbst-Bilder durch die Jahrhunderte immer wieder unterstreichen, sei es, indem sie sich als Produktionsszenario insze-nieren und das Malen ausstellen38, indem sie den oder die Spiegel mit ins Bild auf-nehmen, indem sie, wie etwa die Selbstporträts von Gumpp39, Rockwell oder auch Duchamp, das vermeintlich eine Selbst im Bild vervielfachen oder indem sie schrei-bend über das Schreiben des Selbst und dessen Zeit reflektieren, wie in Montaignes vielzitiertem Satz aus Du repentir: «Je ne peinds pas l’estre, je peinds le passage» (Essais III 2)40. Wenn das Selbst nicht irgendwo existiert, so dass es nur dargestellt und erzählt, nur entdeckt oder offengelegt, nur auf Papier oder Leinwand gebannt werden muss, sondern sich im ‹Bilder-Machen›, gleich ob visueller oder textueller Art, als Passage und Passageres erst konstituiert oder gerade nicht konstituiert, kann zum einen von einem Umweg ebensowenig gesprochen werden wie von Unmittelbarkeit und wird zum anderen die Frage der Zeit ihrerseits konstitutives Element aller Selbst-Bilder.

38 Vgl. Stoichita: Das selbstbewußte Bild (Anm. 14), 257.39 Zu Gumpps Selbstporträt vgl. auch den Beitrag (samt Abbildung) von Hans Rainer Sepp in

diesem Band.40 Michel Eyquem de Montaigne: Les Essais. Édition établie par Jean Balsamo, Michel Magnien

et Catherine Simonin-Magnien. Paris: Gallimard 2007 (Bibliothèque de la Pléiade, 14), 845.

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Denn gerade weil die Autoporträts, wie sich wiederum in ihrer Autoreflexivität zeigt, oft mit vermeintlichen Selbstverständlichkeiten wie dem überzeitlichen Selbst oder der linearen Lebensgeschichte brechen, wird die Rolle, die die Zeit spielt, zu einer zentralen Frage, wie explizit das Ich in Rezas Hammerklavier mit dem oben zitierten doppeldeutigen Satz «Le temps, le seul sujet» formuliert, wie aber auch andere geschriebene Autoporträts von Augustinus über Cardano und Montaigne bis hin zu Leiris und Barthes, auf die sich Beaujour bezieht, immer wie-der deutlich machen: Dass sie nicht linear erzählen, bedeutet nicht, dass in ihnen die Zeit keine relevante Kategorie ist, so wie auch das Nebeneinanderstellen unter-schiedlichster Autoporträts, die wie bei Rembrandt das vermeintliche Selbst in ver-schiedenen Rollen porträtieren41, nicht einfach eine lineare Geschichte ergibt oder ein einzelnes Selbstporträt nicht zwingend auf eine verewigte Gegenwart und ein dauerndes, die Wechselfälle des Lebens überdauerndes Selbst schließen lässt. Viel-mehr entsteht eine dem jeweiligen Werk oder auch den Werken eigene Zeitlichkeit, die weder aus der Gewissheit eines bleibenden Wesens noch aus der scheinbar logi-schen Konsequenz einer Linie resultiert, sondern oft aus Diskontinuität, Juxtaposi-tion und Montage, aus Abwesenheit statt Präsenz, aus Leere statt Fülle, Flüchtig-keit statt Dauer.

Schon in Augustinus’ berühmtem zehnten Buch der Confessiones kann das erzäh-lende Ich die von einem Augenblick zum anderen, vom Wachzustand zum Schlaf so verschiedenen erzählten Ich nicht mehr in eine Einheit zwingen, weil es «solch ein[en] Unterschied […] zwischen mir und mir», «inter me ipsum et me ipsum», feststellt, dass es seinen Gott fragt: «Numquid tunc ego non sum […]?», «Bin ich dann nicht ich […]?» (X 30, 42)42, und eben diesen fragmentarischen statt einheit-lichen Charakter des Selbst reflektieren zahlreiche Selbst-Bilder von jenem frühen Autoporträt an bis in die Gegenwart, bis etwa zu Michel Houellebecq und seinem Roman La carte et le territoire, der viele Aspekte der hier verfolgten doppelten Frage nach Selbstporträt und Zeit gleichsam bündelt43. Nicht zuletzt taucht spätestens hier, wo der fiktive Autor den Künstler porträtiert und der Künstler den Autor und wo sich die Frage nach dem Autoporträt des wirklichen Autors stellt, der sich im Roman verdoppelt, auch die Frage nach dem Anderen im Bild des Selbst auf, die Didi-Huberman, gewissermaßen komplementär zu dem alten Diktum «ogni dipin-tore dipinge sé», ausgehend von Dürers Selbstporträt von 1500, grundsätzlich mit der Gattung assoziiert: «il y a de l’Autre dans l’autoportrait»44, weil das Autoporträt

41 Zur Serie der in einer imaginären Galerie versammelten Selbstporträts des Dichters Giambat-tista Marino vgl. den Beitrag von Marita Liebermann im vorliegenden Band.

42 Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläu-tert von Joseph Bernhart. Mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmück. Frankfurt a.M.: Insel 1987, 552f.

43 Vgl. den von Kurt Hahn verfassten, detaillierten Beitrag zu diesen Aspekten des komplexen Romans im vorliegenden Band.

44 Vgl. Didi-Huberman: «L’autre miroir» (Anm. 31), 214.

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sich nicht in einer Beziehung «de soi à soi» erschöpfe, sondern in diese Beziehung das Durchqueren eines Anderen einschließe.

Die in diesem Band versammelten Beiträge sind das Resultat einer Tagung, die unter dem Titel «Selbst-Bilder – Zeit-Bilder. Autoportrait und Zeit in Literatur und bildender Kunst» vom 19. bis zum 21. September 2013 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt stattfand und sich als Werkstattgespräch verstand, in dem Philosophie, Kunst- und Literaturwissenschaft gemeinsam die Frage nach Zeit und Selbst in jener Gattung verfolgten, die als in hohem Maße selbstreflexive Kunstform bekannt ist: im literarischen wie im bildkünstlerischen Autoporträt. Beiden ist nicht nur der Blick in den – konkreten oder metaphorischen – Spiegel unerlässlicher Ausgangspunkt und ständiger Dialogpartner; beide fungieren selbst als Spiegel oder speculum, und beide vermögen sich wechselseitig zum Spiegel zu werden, indem und in dem sie sich gegenseitig reflektieren, so dass die wissen-schaftliche Reflexion über beide ein facettenreiches Spiegelkabinett, vor allem aber einen seinerseits erkenntnisreichen Dialog ergibt, wie die einzelnen Beiträge und ihre gegenseitigen Spiegelungen deutlich machen.

Abschließend sei der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt für die groß-zügige finanzielle Unterstützung der Tagung gedankt, die ursprünglich im Rahmen des Exzellenzclusters «Kulturelle Grundlagen von Integration» an der Universität Konstanz geplant und bewilligt war, jedoch durch meinen Wechsel nach Eichstätt eine neue Zeit und einen neuen Ort, damit aber auch neue Unterstützung finden musste. Außerdem danke ich für ihre gründliche Arbeit bei der Erstellung der Druckvorlage Vanessa Zerb und vor allem Franziska Huditz, die in allen Phasen des Projekts, von der Tagung bis zur Drucklegung, unermüdliche und unersetzli-che Hilfe war. Und schließlich gilt mein Dank den Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern des Fink-Verlags, insbesondere Andreas Knop, der den Band der Aufnahme ins Verlagsprogramm für würdig erachtete und mir als Ansprechpartner für alle Fragen und Wünsche sowie als erfahrener Berater in allen Zweifelsfällen zur Seite stand, und Marina Scheuermann, die sämtliche Änderungen, Hinzufügungen, neuen Ideen geduldig und höchst sorgfältig umsetzte.

Eichstätt, im Oktober 2015 Barbara Kuhn

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Hans Rainer Sepp

autoporträt – DIE suchE nach DEM sElBst1

Europas Blick: Johannes Gumpp

1. Der Künstler stellt sich dar, wie er in den Spiegel sieht und sein eigenes Bild anfertigt. Johannes Gumpp, aus einer Innsbrucker Maler-Familie stammend,2 malt sein Selbstbildnis mit Spiegel und Staffelei im Jahr 1646 (Abb. 1), und es sollte das bis heute einzige bleiben, das von ihm überliefert ist. Über sein Leben ist kaum etwas bekannt, er weilte eine Zeit lang in Florenz, wo in den Uffizien auch dieses Selbstporträt aufbewahrt wird.3

Gumpp malt nicht nur ein Porträt von sich, und er zeigt nicht nur sich selbst, wie er sein Bildnis anfertigt, er bringt sich überdies ein drittes Mal ins Bild, indem er auch zeigt, wie er in den Spiegel blickt und sich selbst malt. Also dreimal Gumpp – der Malende, ‹er selbst›, von hinten gesehen, der ihn abbildende Okto-gonalspiegel und das auf der Leinwand wiedergegebene Porträt. Indem er sich so dreimal präsentiert, läuft ein Prozess ab, es vergeht Zeit, vom forschenden Blick in den Spiegel zum prüfenden Blick auf die Leinwand, oder genauer: Der Malende malt sich in einem Moment, der selbst Teil eines Geschehens ist, des Vorgangs der Anfertigung seines Konterfeis. Man sieht ihn, wie er gerade dabei ist, seinen in rote Farbe getauchten Pinsel, gestützt auf einen Malstock, zu heben, gleich wird er ihn wieder mit dem Malgrund in Berührung bringen, wahrscheinlich um das Rot der Lippen zu vollenden, davor noch wirft er einen prüfenden Blick in den Spiegel.

Das Bild fängt diese augenblickliche Situation ein, ein Jetzt, das die innehalten-de Bewegung des Arms, den prüfenden Blick ins eigene Spiegelbild umfasst. Zugleich wird damit der zu erwartende nächste Schritt antizipiert: die erneute Zuwendung zu dem zu malenden Bild. Somit kann man sagen, dass die dargestell-te Ateliersituation ein zeitliches Kontinuum beschreibt. Dieses Kontinuum gipfelt in dem dargebotenen Jetzt, das – jeweils in Richtung auf die nächste Zukunft, aber auch auf die gerade abgelaufene Vergangenheit – in einen Zeithof eingebettet ist: Gerade eben noch hat der Malende seinen Arm sinken lassen, um wieder einen Blick in den Spiegel zu werfen, bevor der Arbeitsprozess fortschreitet. Man könnte

1 Die vorliegende Publikation ist an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Univer-sität Prag im Rahmen des Forschungsvorhabens Philosophical Investigations of Body Experien-ces: Transdisciplinary Perspectives (Grantová agentura čR, č. P401/10/1164) entstanden.

2 Die überlieferten Lebensdaten sind dürftig: Gumpp wurde am 14. August 1626 in Inns-bruck, als Sohn des Architekten Christoph Gumpp, geboren; das Todesdatum und weitere biographische Details sind, außer seinem belegten Arbeitsaufentalt in Florenz, nicht bekannt.

3 Inv. 1890, Nr. 1901.

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das gemalte Selbst etwas von seinem Original; wie dieses wird es zwar nicht ewig sein, aber es wird dauern, abhängig von den Umständen, in die es gerät. Vor allem aber heftet es sich an den Träger, an den es auf andere Weise gebunden wird als das Spiegelbild: Einmal aufgetragen bleibt es, mag sich sein Vorbild bewegen, wie es will. Im gemalten Selbstbildnis schafft sich das Selbst neu, produziert einen Dop-pelgänger. Der Vorteil dieses Doppelgängers besteht darin, dass er der Zeit und der Bewegung trotzt, doch der Vorteil wandelt sich sofort in den Nachteil der Unbe-weglichkeit: Das Selbst verewigt sich um den Preis seines Stillstands. Und mit einem Schlag scheint alle Mühe vergeblich, das Selbst, das doch immer ein lebendi-ges, sich vollziehendes ist, gerade in dieser seiner Lebendigkeit zu fassen – und zu halten. Das Ergebnis ist – immer nur ein Bild, und nicht die Sache selbst. In die-sem Sinn könnte man auch von einem Scheitern sprechen, von einem Scheitern, bei der Suche nach dem eigenen Selbst auf Grund zu stoßen, es selbst geben zu können. Das Selbst, das lebendige, sich vollziehende, bleibt unsichtbar. Vielleicht zeigt das Bild gerade dies: die Vergeblichkeit, sich bildlich, objektiv, im Außen zu fassen – und zu halten.

Gumpp ‹selbst› dreht dem Betrachter den Rücken zu. Er steht in der Mitte sei-ner Spiegelungen, und sein Antlitz sehen wir nur in den Abbildern, im Spiegel links und im gemalten Selbstbildnis rechts. Dabei fällt auf, dass das Endprodukt dieser Bewegung des Sich-Hinaussetzens, das auf der Leinwand fixierte Bildnis, nicht nur aus seinem Bild, dem Bild im Bild, hinausblickt, sondern, über die Schul-ter des Malenden hinweg auch aus dem Bild als solchem. In diesem Bild doppelstu-fig fixiert – auf der gemalten und auf der realen Leinwand –, scheint es auch uns, die es betrachten, mit seinem Blick fixieren zu wollen – so, als wollte es sagen: Seht her, das bin ich! Doch der Blick kommt von der Seite, wie überhaupt das im Bild gemalte Selbstbildnis im Halbprofil dargestellt ist. Dadurch verliert der Blick an Direktheit und enthält etwas Uneindeutiges, Nicht-Festgelegtes. Dies aber wider-spricht dem starken Blick. Seht her – das scheint zu stimmen, doch will das Selbst-bildnis wirklich sagen: das bin ich? Wenn man die Züge des Mundes hinzunimmt, auf dem man die feine Andeutung eines ironischen Lächelns zu erkennen meint, dann könnte das gemalte Bildnis eher den Eindruck erwecken, es bekunde den Sachverhalt, dass das Selbst nie gestellt, nie gefasst zu werden vermag. Es ist schon dabei, sich abzuwenden, sich zu entziehen. Die bereits angesprochene Antizipati-on, die im vollendeten Selbstbildnis terminiert, würde demgemäß umzuschreiben sein. Es wird keine Vollendung geben, denn du vermagst mich, dein eigenes Selbst, doch nie zu fassen. Aber vielleicht bin ich gerade das? Keine Identität, sondern immer schon ein Vorweg, keine erfüllbare Vorzeichnung, sondern die Antizipation selbst.

2. Betrachten wir noch kurz den Raum des Bildes. Viel ist da nicht zu sehen. In die-sem Rundbild – vorausgesetzt, es wurde später nicht zu dieser Form beschnitten –, drängt sich alles zusammen, alles ist auf den Prozess konzentriert, sich mit sich selbst zu konfrontieren. Gumpps in einen dunkelblauen Mantel mit weißlichem Kragen gehüllte Gestalt ist nur zur oberen Hälfte zu sehen, und die Bildträger der

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beiden Spiegelungen sind jeweils angeschnitten. Im linken Vordergrund ragt die Kante eines Tisches herein, auf ihm steht eine Glasflasche und davor befindet sich eine in Verteidigungshaltung aufgerichtete Katze, die auf das Bellen eines Hundes reagiert, dessen Kopf vom rechten Rand her in das Bild ragt. Hund und Katze bil-den eine Subgeschichte, die mit dem eigentlichen Sujet – der Entstehung eines Selbstbildnisses – nichts zu tun zu haben scheint. Rein räumlich gesehen befindet sich die Katze direkt unter dem Spiegel und ist somit unter dem ersten Spiegelbild platziert, während der Hund unter dem zweiten, dem auf der Leinwand entstande-nen Bildnis seinen Platz hat. Gumpp selbst, als in der Mitte stehend, hat seine Posi-tion also auch zwischen diesen beiden Tieren, zwischen Katze und Hund, einge-nommen. Vom narrativen Aspekt aus gesehen, steht die Katze-Hund-Geschichte mit dem Prozess der Erstellung eines Selbstbildnisses in keiner Beziehung, anders als im Fall der räumlichen Anordnung, der bildlichen Komposition.

Spiegelbild Nummer eins – das im Spiegel erscheinende Bild – streitet mit Spie-gelbild Nummer zwei – dem auf der Leinwand aufgetragenen Selbstbildnis, jedoch nicht in dem schlichten Sinn, dass die Aufgabe lautete, das gespiegelte Bild mög-lichst getreu abzumalen. Wäre dem so, dann bestünde die Funktion des Mittlers nur darin, eine technisch möglichst einwandfreie Kopie anzufertigen. Der Mittler ist aber das originale Selbst des Malenden, das sich, um sich bildlich zu erfassen, zwar aus sich hinauswerfen muss, doch zugleich die Aufgabe nicht preisgeben will, möglichst viel von dem, was in ihm verschlossen ist, sichtbar werden zu lassen. Auf diese Weise wird das Selbst zu einem Richter – einem Richter jedoch, der nur zum Teil über den Parteien steht, nur bezüglich seiner im Außen sichtbar werdenden Selbstbilder; er selbst handelt in eigenem Interesse, im Interesse, sich selbst zu erfas-sen, sich wiederzugeben. Dem Streit der Visualisierungen entzogen ist aber beides: die Richterinstanz und das Selbst, und dieses Richteramt ist gerade auch darin ein solches, dass es noch zwischen dem unsichtbaren Selbst, das uns den Rücken zukehrt, und seinen Erscheinungen vermittelt. Der Malende, sein Spiegelbild und sein gemaltes Selbst bilden nicht nur ein Dreieck; sondern Spiegelbild und gemal-tes Bild liegen auf einer Ebene, von der, nach vorne, das beide hervorbringende, richtende, vermittelnde Selbst abgesetzt ist. Das Ganze lässt sich auch zu einem Quadrat erweitern: Dann bilden Spiegelbild und Leinwandbild die oberen linken und rechten Ecken, die Katze und der Hund die unteren beiden, und Gumpp befindet sich, abgehoben von der tierischen Kreatur und ‹auf Augenhöhe› mit sich selbst, nach oben verschoben in der Mitte.

Die beiden Tiere, Katze und Hund, verstärken die Spannung zwischen dem gespiegelten Selbst und dem Versuch, dieses malerisch abzubilden. Spiegelbild und Leinwandbild sind wie Katze und Hund: Sie können niemals zur Deckung gebracht werden – und dies deshalb nicht, weil das gemalte Bildnis eben nicht nur eine wei-tere gespiegelte Abbildung, eine Kopie der ersten Abbildung, sein will und sein kann. Die beiden Tiere führen eine Variante des dramatischen Geschehens auf, das darin besteht, das eigene Selbst im Außen zu fixieren. Und in diesem Sinne korre-lieren sie mehr als nur räumlich mit den Spiegelbildern des Selbst: Sie verschieben den Antagonismus der beiden Bilder und geben ihn noch einmal, im Kontext ihrer

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vergleichen; der Spiegel zeigt uns den Autor zwar, doch Spiegelbilder können täu-schen, zwischen Dokument und Täuschung oszillieren. Das unterschriebene Schriftstück aber scheint mehr und anderes als nur der ungedeckte Scheck, die Prä-tention einer weiteren Selbstdarstellung zu sein, eine Verpflichtung auf Wahrheit vielmehr, per geleisteter Unterschrift. Freilich wird dies sogleich dadurch nivelliert, dass der Schriftzug nicht eindeutig eine Überschreibung des Gesamtbildes dar-stellt, sondern – und hierin gleich den drei anderen Erscheinungen des Selbst – auch, und vielleicht sogar in erster Linie, innerhalb der Bildwelt seinen Ort besitzt.

4. Wenn wir versuchen, das bisher über dieses Bild Gesagte zusammenzufassen, dann spricht alles dafür, dass hier ein Paradox gezeigt wird, indem das Unterneh-men der Selbstdarstellung auf die Spitze getrieben wird: Das Paradox besteht darin, dass – auf der einen Seite – das im Bild gemalte Porträt, dieses Resultat einer Selbst-suche, das infolge des sich im Spiegel reflektierenden Selbst zustande kommt, dass nur dieses Bild es ist, das uns anblickt und dabei am lebendigsten zu sein scheint, lebendiger als das Spiegelbild. Es scheint, als begegneten wir Gumpp, obwohl wir hinter ihm stehen, originaliter nur im gemalten Endprodukt. Schon dies ist ein Paradox: das fest-gestellte Bildnis als das lebendigste Dokument des Selbst. Die dem Produkt übertragene Originalität wird durch den an ihm angebrachten, nicht der Bildwelt des Selbstporträts zugehörigen, sondern ihn selbst von außen be-zeichnenden Schriftzug bescheinigt, es wird sozusagen eine Echtheitsexpertise aus-gestellt. Das ist alles die eine Seite, und das leichte Lächeln, das um Gumpps gemal-ten Mund spielt, drückt diese Originalität aus: Ich bin echter noch als das mich malende Selbst. Die Kunst steht über dem Leben – oder ist das Leben selbst. Die Mundpartie ist noch dadurch hervorgehoben, dass die aktuelle Pinselhaltung über die am Pinsel haftende rote Farbe auf den Mund verweist und damit auf Lebendig-keit, Leibhaftigkeit. Jedoch in eins damit – und das ist die andere Seite – ist das gemalte Selbst gerade nicht das originale, lebendige, leibhafte Selbst, denn dieses ist es selbst ja nur je im Vollzug und kann – als es selbst – überhaupt nicht abgebildet werden. In diesem Moment wandelt sich das Lächeln in ein ironisches. Dann ver-mag es nur zu sagen: Papier ist geduldig – da steht es zwar geschrieben, aber ich bin schon nicht mehr derselbe. Das Paradox besteht also darin, dass das gemalte Porträt es darauf ankommen lässt, ganz wirklich zu sein, sein Wirklichsein behauptet und sich in eins damit von seiner Behauptung zurückzieht. Um es noch einmal zu beto-nen: Der Blick des Selbstporträts fixiert in eben dem Maße, wie sich das porträtier-te Gesicht abzuwenden beginnt. Höchste Präsenz besteht also nur im Moment des Entzugs.

Aus dieser paradoxen Situation kann man zwei Schlussfolgerungen ziehen: Zum einen kann man feststellen, dass es offenbar schon für mich selbst kein originäres Selbst gibt, das als solches erscheint. Zum anderen kann man diesen Schluss so aus-legen, dass man nun unbedingt versuchen möchte, das Selbst dingfest zu machen. In dieser Hinsicht deutet man das Paradox als ein Ungenügen, als ein Versagen, in sich selbst einen Grund nicht nur nicht finden, sondern ihn auch nicht als solchen

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dokumentieren zu können. Ungenügen und Versagen formen eine Ungewissheit, die Ungewissheit darüber, wer man denn nun sei und wo man stehe, und diese Ungewissheit wiederum motiviert ein Suchen, das selbst seine Zeitlichkeit gene-riert, das nicht nur an kein Ende kommt, sondern sich mit der Zeit in die Zeitlich-keit seiner Suche einrichtet, in ihr regelrecht heimisch wird, dies aber nicht aner-kennen will, sondern weiterhin auf das Vollkommene, das erhoffte Paradies erfüllter Identität hin sich entwirft.

5. Gumpp malt sein Selbstporträt 1646, wenn wir seine Autoexpertise akzeptieren. Fünf Jahre davor hat ein Anderer versucht, ein Prinzip zu entwickeln, wie in die-sem Fluktuieren der Selbstbezüge und der Beziehungen des Selbst zu seiner Welt ein zuverlässiger Grund, ein nicht mehr zu hintergehendes fundamentum inconcus-sum, erschlossen werden könne: 1641 veröffentlichte Descartes seine Meditationes de prima philosophia. Er geht darin genau so vor wie einer, der auf der Suche nach dem ist, was ihm absolute Gewissheit und Sicherheit verbürgt, und diese Suche kulminiert mit einer gewissen Konsequenz im Selbstbezug, sofern der Bezug auf das eigene Selbst den Weltbezug mit einschließt, wenn es also das Selbst ist, das sich Welt erschließt und zu der seinen macht. Demnach kann zunächst alles täuschen, das Bild, das ich mir von mir selber mache, und damit auch das Bild von der Welt, da ich es ja bin, der dieses Bild entwirft.

Vergleichen wir dies mit dem, was sich uns im Bild von Gumpp zeigte, dann stellen wir fest: Wenn die Bewegungsrichtung, die gleichsam nach vorne verläuft – noch ein Bild und noch ein Bild von mir – an kein Ende in dem Sinn gelangt, dass ich mich am Ende finden würde – denn mein Selbst entzieht sich seiner Fixie-rung –, so ist doch als Reaktion darauf, im Gegenzug zu diesem zeitlichen Konti-nuum des endlosen Nachjagens, die große Umkehr möglich: Ich halte inne, ich bewege mich nicht mehr in diesem Vorwärtstreiben, sondern befrage dieses Selbst, frage nach der Herkunft dieser Zukunftsbezogenheit. Ich gehe also zurück. Die Bewegungsrichtung hat sich damit völlig geändert, allerdings nicht zu wandeln braucht sich der Grundimpetus, die Suche nach der unbedingten Gewissheit, das Streben nach Identität. Damit spiegelt sich jedoch der zeitliche Charakter, das Kontinuum dreht sich gleichsam um; im unaufhaltsamen Zurückschreiten und in der Hoffnung, auf Grund zu stoßen, an einen absoluten Anfang zu gelangen, kon-stituiert sich ein neues Kontinuum, ein gekehrtes, ein Spiegelkontinuum: «Und ich will solange weiter vordringen, bis ich irgend etwas Gewisses, oder, wenn nichts anderes, so doch wenigstens das für gewiß erkenne, daß es nichts Gewisses gibt»5.

Das Ergebnis von Descartes’ Suche ist bekannt. Er findet nicht einen objektiven Grund im Sinne eines Objekt-Selbst, eines identifizierbaren, feststellbaren Selbst, sondern das Prinzip dessen, wie das Selbst sich bewegt, nämlich zu sein und zu sein

5 «Pergamque porro donec aliquid certi vel, si nihil aliud, saltem hoc ipsum pro certo nihil esse certi cognoscam» (René Descartes: «Meditationes de prima philosophia», in: ders.: Philoso-phische Schriften in einem Band. Mit einer Einl. von Rainer Specht und ‹Descartes’ Wahrheits-begriff› von Ernst Cassirer. Hamburg: Meiner 1996, 42f.).

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