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Bernd Wehner: DER MOHAWK-TRAUM

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Bernd Wehner reist nach Amerika, um die Helden seiner Kindheit zu suchen: die Indianer. Er erlebt Begeisterndes – ein Volk, das der Mohawk, das immer noch viel näher an seinen Traditionen lebt als sein eigenes – und Ernüchterndes – die Zerstörungen, die eine übermächtige weiße Dollarwelt dort schon angerichtet hat und täglich neu anrichtet. Er findet Menschen, die genauso zerrissen sind zwischen ihren Träumen und ihrem Leben in der Realität wie er selbst. Die sich aber trotz aller Schwere im Alltag ihren trockenen indianischen Humor bewahrt haben.

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1. Vorher

Der Junge hockte mit angezogenen Beinen in der Sofa-

ecke. Auf den Knien hielt er ein Buch aufgeschlagen. Er

las mit angehaltenem Atem. Er war weit weg.

Versunken war die Welt, in der er lebte. Um ihn herum

rauschten die Wälder, und als die Bäume zurücktraten,

stand er in einem Meer von Büffelgras und war überwäl-

tigt: die Prärie! Er spürte, wie seine Brust weit wurde.

Er sah die Indianer, ihr Dorf aus großen weißen Rund-

zelten. Hundebellen war in der Luft, dazwischen die fröh-

lichen Schreie der Kinder und das Wiehern der Ponys. In

seinen Haaren spürte er den Hauch des großen Windes,

der von den Schwarzen Hügeln kam.

Er hörte nicht, wie die Mutter rief. Er spürte weder

Hunger noch Durst. Er jagte über die Prärie, weit, so weit

entfernt von Blumenkohl und Bratkartoffeln, dass er

kaum zurückfand. Da saß er dann am Tisch, stocherte im

Gemüse und sah Bilder voller Tomahawks und Adlerfe-

dern, und zwischen all den Schüssen und dem Hufedon-

nern war das Ellenbogen-vom-Tisch der Mutter wie ein

rotes Hemd in einer Herde wilder Stiere.

Amerika! Land der 1000 Abenteuer! Amerika!

Auf den Schwingen dieses Namens saß der Junge, und

sie trugen ihn fort: Dorthin, wo die Welt noch jung war,

jung und voller Geheimnisse – wie am ersten Tag.

Ich wurde älter – natürlich. Die Dinge waren im Fluss:

Schule, Tanzstunde, Abi, Bund, Uni.

Die End-68er – ich geriet in ihren Sog und wurde mitge-

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rissen.

Immer noch las ich viel, aber es waren jetzt andere Bü-

cher. Freud, Guevara, ein bisschen politische Ökonomie

und proletarische Erziehung und, ganz wichtig, Emanzi-

pation. Um Emanzipation drehte sich damals alles.

Ehrlich gesagt, das Lesen hat mir in der Zeit nicht allzu-

viel Spaß gemacht, aber was wolltest du machen? Karl

May war einfach nicht mehr drin, Lederstrumpf und

Tecumseh konntest du vergessen! Wissenschaft war das

Gebot der Stunde und im Hinterkopf die Revolution –

alles andere war Hänschen klein und Micky Maus. Mein

Traum vom großen Land Amerika verlor sich im Nebel

zwischen Arbeitsgruppe und Beziehungskiste. Außerdem

gab es da ja auch noch Vietnam und Kambodscha, Chile,

Watergate. Überall hatten die Amis ihre Finger dazwi-

schen, und sie waren dreckig, diese Finger. Nee, nee, Land

der Freien, deine Geheimnisse kannte ich nun.

Ich war, so schien es, geheilt.

So schien es. In Wirklichkeit wollte ich gar nicht geheilt

werden.

Bloß wusste ich es da noch nicht.

Der kleine Junge hatte zu viele Bilder gesehen, hinten in

seiner Sofaecke: Die Indianer. Die Prärien. Den weiten

Himmel. So was sitzt tief!

Manchmal, auf einer Demo, spürte ich den Wind aus den

Black Hills im Gesicht. Dann grinste ich verwegen, doch

schon beim nächsten Wasserwerferstrahl war der Anfall

überwunden.

Carlos Castaneda1 brachte die Dinge ins Rollen. Sein

1 US-amerikanischer Anthropologe und Schriftsteller

(1925-1998)

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Yaqui2-Medizinmann Don Juan Matus war es, der binnen

einer Woche sämtliche Dämme in mir niederriss, und was

sich in Jahren angestaut hatte, stürzte in Minuten zu Tal.

Irgendwas ganz und gar Archaisches wurde hochgespült,

und ich wusste auf einen Schlag: Die Indianer waren die

Lösung. Plötzlich war mir klar, der kleine Junge hatte

recht gehabt mit seinen Trappern und Rothäuten. Die

Tipis aus Büffelleder, der Pemmikan3 und die Kanus aus

Birkenrinde – die waren kein Kinderkram! Die Indianer

hatten mit der Natur zu leben gewusst, und wir hier ra-

ckerten uns ab, bloß um die Brust zu zerstören, die uns

nährte.

Castaneda hatte noch etwas bewirkt: Ich las wieder

gern. Ich las alles über Indianer, was mir unter die Augen

kam, und das war nicht wenig gegen Ende der Siebziger.

Da hatten die Sioux und Cheyenne Hochkonjunktur auf

den Büchertischen, und ihre Seher und Medicine People

füllten die Regale. Bald war mir auch klar, was an meinem

Bild vom großen Land im Westen mittlerweile so schräg

geworden war: Amerika, das wirkliche Amerika, hatte

nichts zu tun mit Vietnam und Watergate. Amerika war

immer noch wild und weit und frei! Das andere, der

Dreck, die Massaker, das große Geld: Das waren die Amis

auf ihrem Todestrip quer durch ihre verdammten USA

und über die halbe Welt bis hoch zum Mars.

2 Indianische Ethnie Mexikos

3 Haltbares Nahrungsmittel aus Dörrfleisch, Fett und

Beeren

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Natürlich konnte man das wirkliche Amerika auf Anhieb

nicht mehr so genau erkennen, da musste man schon

tiefer kratzen. Und vor allem zuerst die echten Amerika-

ner suchen, die Indianer. Die, die noch übrig waren nach

dem großen Morden.

So sah ich die Dinge und fraß mich weiter durch Papier

und Druckerschwärze.

Irgendwann Anfang der Achtziger kam dann der Punkt,

wo nichts Gedrucktes mehr in mich reinging. Ich konnte

die ganzen Sprüche von Mutter Erde und Bruder Büffel

nicht mehr hören. Die Welt drehte sich Runde um Runde

dem Abgrund entgegen, und ich saß in meiner Ecke und

las wunderschöne Reden über den Gleichklang mit der

Natur! Mir fehlten die Menschen hinter diesen Reden, mir

fehlten Saft, Kraft und Schweißgeruch. Waren die India-

ner wirklich so, auch heute noch? Konnten sie der Welt

neue Hoffnung geben?

Ich musste mit ihnen reden!

Ich musste da rüber: nach Amerika!

Da war er wieder, der Traum.

Und ich fuhr los, ihn zu finden.

Amerika!

Neuengland,

Kanada,

Quebec,

Ontario,

Ottawa,

Montreal,

Saint Lawrence River.

Namen, die mir auf der Zunge zergingen. Ich konnte

nicht fassen, dass ich jetzt da war.

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Ich lief durch Straßen und an Ufern entlang und kniff

mich in den Arm, denn ich glaubte zu träumen. Aber es

war Wirklichkeit: Es war 1982 … und ich war da!

Und ich fand auch die Indianer. Es war wie im Märchen,

in dem am Ende das Gute siegt. Nur, es war nicht das

Ende. Es fing gerade erst an.

Natürlich verlief die Begegnung nicht ohne Ernüchte-

rung. Wie vereinbarten sich etwa so klangvolle Namen

wie »Irokesen4« oder »Mohawk« mit diesem stinknor-

malen amerikanischen Bretterbudendorf und den zer-

beulten Straßenkreuzern auf den Pisten? Und was sollten

die vielen Mattscheiben, die statt der Lagerfeuer durch

die Dämmerung flackerten?

Zwar hatte ich mit einem Kulturschock unbedingt ge-

rechnet und versucht, mich seelisch darauf vorzuberei-

ten. Die Realität jedoch ist immer gnadenlos.

Trotzdem kam ich voll auf meine Kosten. Ehe ich wuss-

te, wie mir geschah, stand ich schon auf dem Bau und war

mit dabei, eine neue Schule aus dem Boden zu stampfen.

Das klingt verrückt, aber es war das Beste, was einem wie

mir hatte passieren können. Wie sonst hätte ich fünf Wo-

chen in einem Irokesenreservat verbringen, dort Freunde

gewinnen und indianisches Bewusstsein an der Quelle

geboten kriegen können? Noch dazu bei Leuten, die da-

rauf brannten, den Pfad des Weißen Mannes zu verlassen,

um wieder das zu sein, was sie immer schon waren: Iro-

4 Oder auch Haudenosaunee, wie sie sich selbst nen-

nen: Konföderation sechs indianischer Stämme im heutigen

Staat New York: Onondaga, Mohawk, Oneida, Seneca, Cayuga,

Tuscarora

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kesen.

Dass es dazu bei ihnen längst fünf vor zwölf war, konnte

auch ein so unbeugsamer Indianerromantiker wie ich

nicht übersehen: McDonald’s und Co grüßten alle zwei

Meter vom Straßenrand, und die Hackfleischpizza mit

drei Zentimetern Schmelzkäse obendrauf gehörte so-

wieso schon längst zur traditionellen indianischen Küche.

Was das Outfit im Reservat betraf, genügten zwei Worte

zu seiner Beschreibung: Blue Jeans.

Traditionen, Zeremonien, Kräuterwissen – davon hatte

gerade noch eine Handvoll alter Leute so etwas wie eine

Ahnung. Die Alten waren auch die einzigen, die noch ihre

Muttersprache kannten.

Ich konnte gut verstehen, dass es die Leute drängte, eine

eigene Schule aufzumachen.

Eine von Mohawk für Mohawk.

Die Stimmung auf der Baustelle war toll. Wir schafften

wie die Biber, weil wir wussten, mit jedem Hammer-

schlag kamen die guten alten Tage der Indianer wieder

näher. Die Luft war voller Lachen und Sonnenschein, und

was mir sonst wie eine Vergewaltigung der Natur in mir

erscheint, geschah: Ich wurde süchtig nach Arbeit. Und

ich erhielt einen, oder besser gesagt, gleich zwei Spitz-

namen. Weil ich gerne Ketchup auf meine Sandwiches tat,

nannte man mich Ketchup. Und weil der in den USA

unbedingt mit Heinz-Ketchup in Zusammenhang ge-

bracht wird, hängte man mir sofort den deutschesten

aller deutschen Vornamen an: Karl-Heinz.

Endlich wieder Wind in den Segeln meiner abgeschlafften

Seele! Im Geiste sah ich das Irokesendorf am St. Lorenz

Strom bereits als Keimzelle einer strahlenden, neuen

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Gesellschaft, die meine eigene Konsumraffer-Zivilisation

einst fünf Sekunden vor dem Overkill aus dem Sumpf

reißen würde.

Ich hätte mir die Erfüllung meines amerikanischen

Traums nicht perfekter vorstellen können. Mein Weg

hatte mich von der Sofaecke in diesen kleinen Irokesen-

winkel geführt, und da stand ich nun zusammen mit den

indianischen Freunden an der Schwelle einer neuen Zeit

Als ich Wochen später im Flugzeug saß – tief unter mei-

nem Sessel der Atlantik und über mir, so leuchtend klar

und blau der Himmel – da stieg mir das Wasser in die

Augen.

»Altes Mädchen«, sagte ich leise gegen die Luke, und

meine Stimme klang brüchig, »altes Mädchen, gib nicht

auf! Noch ist nicht alles verloren!«

Und die gute alte Erde schaute herauf in mein Fenster-

chen und schenkte mir ein strahlendes Lächeln.

Mein Traum war geträumt.

Nun.

Je mehr Zeit ins Land ging, desto stärker geriet ich in

Zweifel. Eigentlich träumte ich heftiger denn je.

Und hoffte und dachte und grübelte.

Was geschah drüben, auf der anderen Seite?

Täglich stand ich vor meiner Schulklasse, war aber in

Gedanken weit weg in Amerika. In wenigen Monaten

würde ich Vater werden und konnte doch nur an eines

denken: Wie lief die Akwesasne Freedom School? Als

selbst meine Frau mir schließlich riet: »Fahr endlich

rüber, das ist ja kaum noch auszuhalten mit dir!«, war der

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Bann gebrochen: Die Sommerferien standen vor der Tür,

ich war frei, und ich tat, was ich tun musste.

Wieder scheint die Sonne auf den Atlantik.

Es ist Alltag in Amerika.

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2. Jimmy

Der Morgen ist längst vorbei, und immer noch liegt die

Straße da wie mit dickem Kopf nach durchzechter Nacht.

Verloren schleicht eine Gestalt über das Pflaster. Im

Rinnstein gegenüber schnuppert eine Katze an etwas

Undefinierbarem.

Die Strahlen der Morgensonne liegen erbarmungslos auf

einem Schlachtfeld voller Pappteller, leerer Flaschen und

Plastikbecher.

Mir brummt der Schädel. Verdammter Jetlag! Und dann

dieses Jazz-Festival. Die halbe Nacht Posaunen und

Trompeten vor dem Fenster.

Für einen Moment stehe ich im Hauseingang und reibe

mir die Augen. Das ist es also: Montreal.

Nebenan im Souterrain fegt ein Schwarzer die Terrasse

und rückt Tische und Stühle zurecht. Croissanterie prangt

es über dem Schaufenster. Nein danke, liebe Leute! So ein

Pappmaché ist jetzt wirklich nicht das, was ich brauche.

Ich hätte gern was Richtiges im Bauch.

Zwei Ordner in Uniform lehnen an einem Absperrgitter

und halten ihre Gesichter in die Sonne. Aus dem Wal-

kie-Talkie des einen quakt es quer über den Platz.

Jetzt eine gute Portion Ham ’n Eggs, und der Tag ist

mein Freund!

Nachher muss ich lachen: In einem griechischen Soufla-

ki House auf der französischen Rue Saint Denis nehme ich

ein amerikanisches Frühstück. Und weil ich nicht weiß,

ob ich auf Englisch oder Französisch bestellen soll, ent-

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fährt mir ein deutsches »Kaffee, bitte!« Am Ende hätte ich

dann am liebsten mit Francs bezahlt.

Mittlerweile ist die Stadt erwacht. Ein reger Verkehr

röhrt durch die Straßen, und um mich herum schlenkern

Plastiktüten und Aktenkoffer. Stimmen, Gerüche, Auto-

hupen, Presslufthämmer – das ganze Flair einer Groß-

stadt im Sommer.

Eine Weile lasse ich mich treiben. Dann schere ich in ei-

ne stille Seitenstraße aus und lande in einem kleinen

Buchladen. Ich möchte ein Wörterbuch kaufen, Eng-

lisch-Deutsch.

Etwas Schlimmeres hätte ich nicht tun können.

Ein Ruck geht plötzlich durch den Buchhändler – sein so

sympathischer Verkäuferblick bricht ab, weicht einem

bohrendem Stechen, und mit dem Ausdruck tiefster Ver-

achtung wirft der Mann die Locken zurück: »We are a

French speaking country!5« Zack, Hacken rumgeschmis-

sen, zur Bürotür raus, Stille.

Ich stehe wie erstarrt. Da ist nichts, woran ich mich

festhalten könnte. Es ist vollbracht.

Draußen pruste ich los. So ein armer Irrer! We are a

French speaking country!

Mann, du hast keine Chance, aber nutze sie!

Langsam schlendere ich über die St. Catherines Street.

Englisches Viertel. Neuer Versuch mit einem Buchladen.

Problemlos erstehe ich nun mein Wörterbuch. Schade

eigentlich.

Die St. Catherines ist eine Shoppingmeile. Betrieb von

5 Wir sind ein Französisch sprechendes Land!

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morgens bis abends. Gesichter in allen Schattierungen –

schwarze, gelbe, braune, weiße – und aus etlichen quillt

der pure breite Yankee-Sound.

Eine Amerikanerin kommt beim Schaufenstergucken ins

Stolpern und stürzt Halt suchend gegen ihren Gatten.

Dem nützen seine großkarierten Amerikanerhosen

nichts, und er schlägt lang hin aufs Pflaster. Hilfreiche

Hände heben ihn wieder auf. Alles okay.

Ich trotte weiter. Irgendwann biege ich rechts ab, weg

von dieser Konsumrennstrecke. Aber nicht, ehe ich bei

McDonald’s einen Quarterpounder6 vertilgt habe. Ver-

schlungene Pfade meiner Seele: Was ich zu Hause meide

wie der Teufel das Weihwasser, das macht mir in Ameri-

ka ein Gefühl wie Weihnachten. Und so schlage ich voller

Gier meine Zähne in den Knatsch mit Soße und vergesse

für diesmal die Vernichtung des argentinischen Regen-

waldes.

Ich biege also rechts ab, und irgendwie kommt mir die

Gegend auf Anhieb bekannt vor. Vielleicht die Kneipe

vorn an der Ecke? Oder die Kirche, die aussieht wie ein

Schiff? Ganz hier in der Nähe hat damals das Native

Friendship Center7 gelegen, da wette ich meinen Kopf

drauf!

Vor vier Jahren habe ich mich stundenlang im Center

rumgedrückt und den Jungs beim Billard zugeguckt. Ei-

ner, ein ziemlich dicker Indianer, hat mich dreimal hin-

tereinander im Schach abgezogen, da war ich bedient und

6 Viertelpfünder

7 Ureinwohner-Freundschaftszentrum

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bin vor zu der Frau am Schreibtisch, ein bisschen schä-

kern. Gute Sache, das Center!

Ich finde schnell den Weg, dann stehe ich wieder vor

dem kleinen, grauen Steinbau, lese das Schild am Eingang

– dasselbe wie vor vier Jahren – und überlege, wie ich da

jetzt am besten reinkomme, so als Fremder, und dann

auch noch als Weißer.

Aber klar doch, ich werde nach Albert fragen, dem guten

alten Albert Iron. Der gehörte damals zur Schulbau-Crew

und kam aus Montreal.

Links beugt sich eine Billardspielerin über die Platte,

rechts am Schreibtisch telefoniert eine Schwarzhaarige.

Sie mustert mich aus ihren Kohleaugen. Nichts hat sich

verändert. In der Ecke steht noch der Stuhl, auf dem da-

mals die Inuitfrau8 vor dem Ventilator hing und gegen

die Hitze kämpfte. Drüben am Fenster kleben die Vitrinen

mit den Indian Crafts9, es duftet nach Kaffee und Suppe.

Alles so, als sei ich erst gestern hier gewesen.

Ich trete zum Schreibtisch, die Frau lacht mich an, ich

lache zurück und stelle meine Frage. Klar kenne sie Al-

bert, aber der sei jetzt drei Tage nicht mehr hier gewesen,

wisse der Teufel, wo der stecke. Ich fange gerade an, mich

zu wundern, da überstürzen sich die Ereignisse. Ein Typ

steht plötzlich vor mir, gelbes T-Shirt, klein, weit aufge-

rissene Augen und ich … »Mensch Jimmy!«, schreie ich,

und er »Karl-Heinz!«, und wir liegen uns in den Armen

und lachen und brüllen. Was machst du denn hier, he

8 Inuit = Eskimo

9 Indianisches Kunsthandwerk

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Mann, das gibt’s doch gar nicht, komm, erst mal ’n Kaffee,

Mensch, du, weißt du noch? Und Jimmy, immer wieder

die Arme um meine Schultern, I missed you, Karl-Heinz!

Brother! I love you, man!10 Lachen, Schreien, Schulter-

klopfen, Reden, Kaffee, alles durcheinander und zur glei-

chen Zeit, ich mittendrin, weiß nicht, ob ich tatsächlich da

stehe oder irgendwo daneben. Jimmy Horse – mit dem

hätte ich hier am wenigsten gerechnet!

Grau ist er geworden.

Überhaupt, die Haare sind jetzt kürzer und das Gesicht

eine Spur abgeklärter.

Ob er wohl ruhiger geworden ist mit den Jahren? Der

alte Malecite11-Strolch?

»Sie hat zwei kids«, höre ich ihn sagen.

»Wer?«

»Die Tussi, bei der ich gerade wohne.«

»Aha.«

»Ich fick sie jede Nacht!« Breites Grinsen, dreckig wie eh

und je.

Von wegen abgeklärter!

»Machst’n sonst noch so?«, frage ich.

»Malen«, sagt er, »und Gitarre spielen. Unter 500 Bucks

den Gig mach ich kein Auftritt. – He, Karl-Heinz, im Win-

ter mach ich ne Tournee durch Deutschland!«

»So?« Ich weiß nicht recht, ich kenne doch Jimmy und

10 Ich hab dich vermisst, Karl Heinz, Bruder! Ich mag

dich, Mann!

11 Indianervolk in der kanadischen Provinz Neu-

Braunschweig

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sein großes Maul, aber ich kenne auch mich. Wenn mich

einer so treuherzig anglotzt wie jetzt er, dann glaube ich

ihm jeden Mist – trotzdem, ich habe so ein flaues Gefühl.

»Jimmy«, sage ich, »wer managt dir den Job in Germa-

ny?«

Er strahlt mich an: »Du machst das doch, brother! Du

kennst doch die Typen da drüben!«

Ich schnappe nach Luft.

»Geh’n wir!«, sagt er dann und dreht sich zur Tür.

Keine Ahnung, was er vorhat, aber ich folge ihm gerne.

Hauptsache, das unerfreuliche Thema ist vom Tisch.

Zurück nach Downtown, Häuserschluchten, Metro, Mei-

len zu Fuß durch Stadtteile, die ich nie gesehen habe,

einem Ziel entgegen, das nur Jimmy kennt. Ich folge ihm,

meist wortlos – die erste Begeisterung ist verflogen. Mein

Verhältnis zu ihm war nie von Liebe erfüllt, und ich mer-

ke, dass sich nichts Grundlegendes daran geändert hat.

Wahrscheinlich bin ich einfach zu sehr vom Wohlstand

gemästet, um ihn wirklich zu verstehen. Aber er reizt

mich, dieser indianische Großstadtköter. Ich will ihm in

seine Höhlen folgen und sehen, was ihn sonst noch so

antreibt außer Ficken und Sprüche Kloppen.

Zunächst sieht es nicht gerade einfallsreich aus …

»Fuck«, schreit er, und ich sehe an seinem Geierblick,

was los ist. »Fuck! Sieh dir diesen Arsch an!«

Die Frau auf der anderen Straßenseite tut, als höre sie

nichts. Ich möchte im Erdboden versinken.

»O Mann, ich renn gleich rüber und fick sie!«

Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich stoße

ihn in die Seite und zische was von Kräfte für später auf-

heben. Ich stoße ein zweites Mal.

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Da reagiert er. Sein Geierblick weicht 25 Fragezeichen.

Ich nutze die Chance.

»He Jimmy, übermorgen fahr ich nach Akwesasne12.«

Fragend blickt er mich an, ich fahre fort: »Später geh ich

vielleicht nach Arizona. Da wird im Juli die Hölle los sein,

wenn die da wirklich die 10.000 Navajos umsiedeln – ich

denke«, schiebe ich dann möglichst lässig hinterher, »da

sollten ’n paar internationale Beobachter in der Gegend

sein.«

Jimmys Interesse an Frauen ist schlagartig verschwun-

den. Auf einmal ist er vollkommen ernst: »Lass dir’s von

einem guten Freund gesagt sein, Karl-Heinz: Geh nicht

nach Arizona! Das wird blutig!« Er grinst schon wieder:

»Komm lieber mit heim zu mir, zum Fischen nach New

Brunswick13. Morgen früh geht der Bus.« Er klopft mir auf

die Schulter: »He Alter, komm schon! Da ist die Luft nicht

so bleihaltig.«

Ich weiß ja nicht, ob bleihaltige Luft nicht gesünder für

mich ist.

Endlich erfahre ich auch, wohin die heutige Reise geht:

zum Briefkasten eines Freundes. Da müsste heute sein

Wohlfahrtsscheck einfliegen.

»Wieso denn bei einem Freund?«

»Da is meine Postadresse. Ich hab doch keine eigene

Wohnung.«

12 Irokesenreservat am St. Lorenz Strom, ca. 150 km

südwestlich von Montreal

13 Neu-Braunschweig: Kanadische Provinz an der St.

Lorenz Mündung

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Er lebt von der Wohlfahrt, erfahre ich. 500 Bucks14 im

Monat.

»Wie kommt’s?«, frage ich ihn.

»Junge, ich kann nicht arbeiten, nix zu machen!«

Er sagt es mit derartiger Ernsthaftigkeit, dass ich lachen

muss.

»Is was?«, fragt er, und ich schütze einen Hustenanfall

vor.

»Kommste damit denn durch bei denen?«

»Na hör mal!« Er blickt mich erstaunt an: »In Kanada

zahlen sie dir die Kohle auch ohne Arbeitsnachweis.«

»Und? Reicht dir das denn?«

»500 Bucks sind in Ordnung«, nickt er und stupst mich

in die Seite: »Ich kauf mir heut ne neue Gitarre! Die alte

hamse mir vor drei Monaten aus der Wohnung geklaut.«

So ganz echt kommt mir das alles nicht vor, doch warten

wir’s ab.

Als wir schließlich im Ziel einlaufen, wirft gerade der

Briefträger den Umschlag vom Wohlfahrtsamt in den

Kasten. Fünf Minuten später hocken wir in der Küche des

Freundes auf einen Tee.

Ich bin irritiert: Das ist so eine richtig große Wohnküche

mit Küchenschrank aus Latschenkiefer und Pfannen an

der Wand. Alles freundlich hell und aprilfrisch wie zu

Hause bei Muttern. Wie verträgt sich dieses Ambiente mit

den Rattenlöchern, die Jimmy in meiner Phantasie be-

wohnt?

Überhaupt: der Freund! Das ist weder ein Underdog

noch irgendeine zwielichtige Halbwelterscheinung. Das

14 Dollars

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ist einfach ein ganz stinknormaler linker Intellektueller

mit wohlsortierter Bücherwand über einem Wasserbett.

Wo soll ich dich hinstecken, Jimmy, in welche meiner

tausend Schubladen?

Aus dem Nebenzimmer tönt schwach die Stimme einer

Frau: Wir sollen bitte leise sein, sie habe Nachtdienst

gehabt.

Wir verabschieden uns von dem freundlichen Mitmen-

schen und sind wieder auf der Straße. Neue Kilometer

durch die Stadt. Einmal warte ich vor einem flachen

Bankschuppen; drinnen Jimmy in einer Schlange. Scheint

nicht der einzige Scheckeinlöser zu sein, der heute den

Umschlag im Briefkasten hatte.

Endlich hat er sein Geld.

»Geh’n wir einen trinken!«, ruft er noch in der Tür. Die

St. Denis ist nah, der Durst stark, und so zischen schon

bald zwei Labatt Blue15 vor uns auf dem Tisch.

Mit großer Geste wirft er dem Kellner die Dollars aufs

Tablett. Mir bedeutet er gleichzeitig, mein Geld stecken zu

lassen: »Cool down, Mann, du bist in meinem Land.«

Später hat es dann auch mal mein Land zu sein, oder wie

soll ich sein »Its your turn, brother!16« verstehen? Noch

später ist es nur noch my turn.

Zurück zum Geschehen. Wir hocken in einem Biergarten

am Rande der Rue St. Denis und schwelgen jeder auf sei-

ne Art in der Sonne. Jimmy lässt die Augen wandern.

»Fuck man!«, entfährt es ihm.

15 Kanadische Biermarke

16 Du bist dran, Bruder!

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Wenn jemand Stielaugen hat, dann er!

Ich bin bestimmt kein Verächter der forschenden Blicke,

aber das hier ist einfach zu hart.

»Wie geht’s eigentlich Albert?«, frage ich den Starren-

den.

»O Albert! Der is okay!« Er denkt nicht daran, seine

Blickrichtung zu ändern. »Wir können ja gleich mal hin-

gehen!«

»Gute Idee«, sage ich. »Was macht er denn eigentlich

so?«

»Albert?« Jimmys Augen wandern. »Der hat ’n Job bei

der Heilsarmee.«

»Sagtest du Heilsarmee?«

»Klar, Heilsarmee.« Jimmy steht auf. »Los komm,

Karl-Heinz. Gehen wir die Gitarre kaufen.«

Wie war das? Albert bei der Heilsarmee? Singt der jetzt

fromme Lieder in der Fußgängerzone? Beten jetzt schon

die Indianer in den Häuserschluchten für das Seelenheil

ihrer Feinde, statt in der Prärie den Büffeln hinterherzu-

reiten?

Jimmy hat andere Probleme. In der Metrostation ruft er

seine Freundin an. Es wird ein kurzes Gespräch.

»Sie hat Schluss gemacht«, sagt er, als er zurückkommt.

Er sagt es so unbeteiligt, als spreche er von einer leeren

Coladose.

»Zwei Wochen hat der Spaß gedauert. Was soll’s, ich hab

genug andere girls!«

Dann regt er sich doch noch auf: »Die alte Kuh is nur auf

meine Kohle scharf gewesen! Schmarotzersau!«

Er belfert durch den U-Bahnschacht, dass es von den

Wänden widerhallt, und ich hab Mühe, mir das Grinsen zu

verkneifen. Dieses Wort aus seinem Mund, das ist zu

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krass!

Dann stehen wir in einem Paradies voller Gitarren, Ver-

stärker und Lautsprecherboxen.

Der Verkäufer begrüßt Jimmy wie einen alten Bekann-

ten. Alles ist vorbereitet: Gitarre samt Schultergurt und

Koffer wechseln die Thekenseite, die Transaktion voll-

zieht sich wie unter seriösen Geschäftspartnern: freund-

lich und diskret. Nach fünf Minuten sind wir schon wie-

der unterwegs, zwei Gestalten mit großem, schwarzem

Gitarrenkoffer zwischen den Glaswänden der Bürotürme.

Lieber Jimmy, denkt die eine, es gibt also Dinge, die kann

ich dir glauben.

»Ich muss meinen Manager sprechen«, sagt die andere

und klingelt an einer Haustür.

Warum sollte Mister Horse auch keinen Manager ha-

ben?

Aber der Manager ist nicht zu Hause.

»Nehm’ wir ’n Taxi zu Albert«, sagt Jimmy und winkt

eines heran. Brüderlich teilen wir nachher den Fahrpreis,

und gleich entschwindet mein Führer in einem Store. Ich

stehe davor und schaue die Straße rauf und die Straße

runter und sehe nichts anderes als verwitterte Trottoirs,

blätternden Putz und vergilbte Gardinen hinter halbblin-

den Fensterscheiben. Ein breiter Streifen Brachland vol-

ler Asphaltschlacke und Trümmergras gähnt zur Linken,

dahinter ragt die Skyline von Downtown Montreal in den

Himmel. Eine Siedlung Einfamilienhäuser ist auf dem

Fetzen Niemandsland im Bau, wirkt aber jetzt schon de-

solat. Hier also wohnt Albert.

»Trink das!«, sagt Jimmy plötzlich hinter mir. Er schiebt

mir eine Flasche in die Hand. Selbst nimmt er einen guten

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Schluck aus einer zweiten und läuft über die Straße.

Albert ist nicht zu Hause.

Neues Taxi, zurück zum Friendship-Center.

In der Tür steht Albert. Sein Gesicht glänzt vor Freude.

»Karl-Heinz«, sagt er.

Auch ich bringe kaum einen Ton heraus. Wir stehen und

schauen uns an, und obwohl unserer Wiederbegegnung

jeder Überschwang abgeht, fühle ich mich ihm hundert-

mal näher als vorhin Jimmy in der heißesten Umar-

mungsphase.

Wie ich ihn so ansehe, fallen mir seine rotgeränderten

Augen auf. Auch scheint er mir breiter geworden zu sein,

fast schon aufgeschwemmt.

Es wird eine kurze Begegnung. Albert hilft gerade einem

Freund beim Umzug. Wir verabreden uns für den nächs-

ten Morgen, dann zieht er sich mit dem Freund zurück.

»Scheiße!«, tönt es plötzlich neben mir. Wie konnte ich

Jimmy nur vergessen!

»Scheiße! Die gehen jetzt zusammen Dope rauchen und

haben’s nich’ nötig, uns einzuladen! Schöne Freunde!«

Dann hellt sich seine Miene wieder auf: »Komm, geh’n wir

Chinesisch essen.«

Nach dem Essen beginnt der Abend.

Heute Vormittag kam mir die St. Catherines recht nobel

vor. Jimmy gibt mir Gelegenheit, meinen Blickwinkel zu

erweitern. Zumindest gehört die Szene, in der wir uns

nun bewegen, nicht gerade zur Canadian Upperclass17. Die

westliche St. Catherines bietet ihnen Schlupfwinkel ge-

17 Kanadische Oberschicht