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BILDUNGSFORSCHUNG - DISZIPLINÄRE ZUGÄNGE Ralph Schumacher/Elsbeth Stern DDS - Die Deutsche Schule 104. Jahrgang 2012, Heft 4, S. 383-396 © 2012 Waxmann Neurowissenschaften und Lehr-Lern-Forschung: Welches Wissen trägt zu lernwirksamem Unterricht bei? Zusammenfassung Neurowissenschaftliche Ergebnisse besitzen für sich genommen keine Bedeutung für die Gestaltung schulischer Lerngelegenheiten. Die Methoden der Hirnforschung eignen sich weder dazu, Wissensunterschiede zwischen den Lernenden aufzudecken, noch geben sie Anleitung für die Darbietung von Informationen. Ein zukünftiges Potenzial neuro- wissenschaftlicher Methoden liegt jedoch in der Aufdeckung von Unterschieden in der Informationsverarbeitung, die sich auf der Verhaltensebene nicht beobachten lassen. Schlüsselwörter: Neurowissenschaften und Lernen, Potenzial neurowissenschaftlicher Methoden, Informationsverarbeitung Neuroscience and Research on Learning and lnstruction: What Kind of Knowledge Contributes to Educational Outcome? Abstract Strictly speaking, results from neuroscience can neither inform educational practice nor can they tell how to design learning environments. Brain imaging methods do not allow drawing conclusions on individual differences in knowledge representation and on ap- propriate information presentation. However, a future potential of brain imaging is the uneavering of differences in information processing that do not become apparent in be- havior. Keywords: neuroscience and learning, potential of brain imaging, information processing Bildungsforschung - disziplinäre Zugänge DDS, 104. Jg., 4(2012) I 383

BILDUNGSFORSCHUNG Neurowissenschaften und … · Neuroscience and Research on Learning and lnstruction: What Kind of Knowledge Contributes to Educational Outcome? ... (Dyslexie) dazu

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I Martin Gartmeier/Johannes Bauer/ Anne Noll/Manfred Prenzel

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Martin Gartmeier, Dr., geh. 1976, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Susanne Klatten­Stiftungslehrstuhl für Empirische Bildungsforschung, TUM School of Education. E-Mail: [email protected]

]ohannes Bauer, Dr., geh. 1975, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Susanne Klatten­Stiftungslehrstuhl für Empirische Bildungsforschung, TUM School of Education. E-Mail: [email protected]

Anne Noll, geh. 1984, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Susanne KlaUen-Stiftungs­lehrstuhl für Empirische Bildungsforschung, TUM School of Education. E-Mail: [email protected]

Manfred Prenzel, Prof. Dr., geh. 1952, Inhaber des Susanne Klatten-Stiftungslehrstuhls für Empirische Bildungsforschung, TUM School of Education. E-Mail: manfred. [email protected]

Anschrift: TUM School of Education, SeheHingstraße 33, 80799 München

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BILDUNGSFORSCHUNG -DISZIPLINÄRE ZUGÄNGE

Ralph Schumacher/Elsbeth Stern

DDS - Die Deutsche Schule 104. Jahrgang 2012, Heft 4, S. 383-396

© 2012 Waxmann

Neurowissenschaften und Lehr-Lern-Forschung: Welches Wissen trägt zu lernwirksamem Unterricht bei?

Zusammenfassung Neurowissenschaftliche Ergebnisse besitzen für sich genommen keine Bedeutung für die

Gestaltung schulischer Lerngelegenheiten. Die Methoden der Hirnforschung eignen sich weder dazu, Wissensunterschiede zwischen den Lernenden aufzudecken, noch geben

sie Anleitung für die Darbietung von Informationen. Ein zukünftiges Potenzial neuro­

wissenschaftlicher Methoden liegt jedoch in der Aufdeckung von Unterschieden in der Informationsverarbeitung, die sich auf der Verhaltensebene nicht beobachten lassen.

Schlüsselwörter: Neurowissenschaften und Lernen, Potenzial neurowissenschaftlicher

Methoden, Informationsverarbeitung

Neuroscience and Research on Learning and lnstruction: What Kind of Knowledge Contributes to Educational Outcome? Abstract Strictly speaking, results from neuroscience can neither inform educational practice nor

can they tell how to design learning environments. Brain imaging methods do not allow

drawing conclusions on individual differences in knowledge representation and on ap­

propriate information presentation. However, a future potential of brain imaging is the

uneavering of differences in information processing that do not become apparent in be­

havior. Keywords: neuroscience and learning, potential of brain imaging, information processing

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1. Einleitung

Dank der Fortschritte auf dem Gebiet der Neurowissenschaften können wir heu­te geistige Prozesse wie Lernen nicht nur auf der Verhaltensebene beobachten, son­dern parallel dazu auch Aktivitäten im Gehirn verfolgen. So können uns bildge­bende Verfahren zum Beispiel Informationen über die Unterschiede zwischen den Gehirnzuständen von Menschen mit normaler geistiger Entwicklung sowie nor­malen Lernfähigkeiten und Menschen mit Entwicklungsstörungen sowie einge­schränkten Lernkompetenzen liefern. Beispielsweise haben Einsichten in die Ge­hirnfunktionen von Schülern und Schülerinnen mit Lese-Rechtschreibschwäche (Dyslexie) dazu beigetragen, verständlich zu machen, aus welchen Gründen norma­le Unterrichtsmethoden in manchen Fällen erfolglos bleiben (vgl. Goswami 2004). Die Entdeckung solcher durch das Gehirn bedingten Einschränkungen für das Lernen hat eine fortdauernde Diskussion darüber ausgelöst, inwieweit Ergebnisse der Hirnforschung generell dazu geeignet sind, eine Grundlage für die Verbesserung von Unterrichtsmethoden bereitzustellen.

Während einige Autoren und Autorinnen Leitideen dafür skizziert haben, wie sich pädagogische, psychologische und neurowissenschaftliche Forschungen zum menschlichen Lernen integrieren ließen (vgl. Ansari/De Smed/Grabner 2012; Blake­more/Frith 2006), haben andere vor unrealistischen Erwartungen an die Neuro­wissenschaften gewarnt (vgl. Bruer 1997; Schumacher 2007; Stern/Grabner/ Schumacher 2005) und auf die Gefahr hingewiesen, dass dabei die weitaus besser ausgearbeiteten Theorien zur Verbesserung schulischen Lernens der psychologischen Lehr- und Lernforschung ignoriert werden (vgl. Stern 2005). In diesem Aufsatz wird erklärt, warum die Neurowissenschaften keine Bedeutung für die Gestaltung schuli­scher Lerngelegenheiten haben - und worin ihr eigentlicher Beitrag zum Verständnis menschlichen Lernens besteht.

2. Welches Wissen benötigen Lehrpersonen, um guten Unterricht zu erteilen?

Angenommen, eine Lehrperson hat den Schülerinnen und Schülern im Physik­unterricht das zweite Newtonsehe Gesetz erklärt, wonach es zu jeder Kraft eine gleich große Reaktionskraft gibt, die in entgegengesetzter Richtung wirkt. Die Lehrperson stellt den Schülerinnen und Schülern im Anschluss an ihre Erläuterungen die folgen­de Aufgabe:

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Neurowissenschaften und Lehr-Lern-Forschung

Abb.1: Aufgabe zum zweiten Newtonsehen Gesetz

Zwei Skateboard-Fahrer mit gleichem Gewicht stehen sich je auf einem Skateboard ge­genüber und sind mit einem gespannten Seil verbunden. Der Linke zieht aktiv am Seil,

der Rechte hält es nur fest. Was passiert?

Quelle: MINT-Lernzentrumder ETH Zürich

Diejenigen Schülerinnen und Schüler, die das zweite Newtonsehe Gesetz verstan­den haben und auf neue Situationen anwenden können, werden die richtige Antwort geben, dass sich beide Skateboard-Fahrer gleich schnell zur anfänglichen Mitte be­wegen. Hingegen werden andere, die glauben, dass nur der aktiv ziehende linke Skateboard-Fahrer eine Kraft ausübt, antworten, der Linke würde stehenbleiben und der Rechte auf ihn zu rollen. Damit stellt sich die Frage, was Lehrpersonen wissen müssen, um nach Möglichkeit allen Schülerinnen und Schülern diesen physikalischen Zusammenhang verständlich zu machen. Woran liegt es, dass die einen etwas verste­hen und die anderen nicht?

Eine wichtige Rolle bei der Erklärung und Vorhersage von Leistungsunterschieden beim schulischen Lernen spielt neben der Intelligenz das Vorwissen der Lernenden in den jeweiligen Inhaltsbereichen. Zu diesem Vorwissen gehören zum einen Vorstellungen, die mit den wissenschaftlichen Inhalten verträglich sind und an die man daher im Unterricht anschließen kann. Dazu gehört zum Beispiel die Vorstellung, dass Kräfte eine Richtung, einen Ansatzpunkt und einen Betrag besit­zen. Diese Kenntnisse werden als anschlussfähige Schülervorstellungen bezeichnet. Zum anderen zählen zum Vorwissen aber auch Vorstellungen, die mit den wissen­schaftlichen Inhalten unverträglich sind und daher zu Verständnisschwierigkeiten führen können. Dazu gehört beispielsweise die Vorstellung, dass Kräfte nur dann wir­ken, wenn Lebewesen aktiv Bewegungen ausführen. Solche Vorstellungen werden als Fehlvorstellungen bzw. als nichtanschlussfähige Schülervorstellungen bezeichnet. Um den Unterricht optimal auf den Kenntnisstand der Lernenden abzustimmen, müs­sen Lehrpersonen also wissen, welche anschlussfähigen und nichtanschlussfähigen

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Vorstellungen bei den Schülerinnen und Schülern vorliegen. Dieses Vorwissen lässt sich mit geeigneten Tests, wie sie zum Beispiel vom MINT-Lernzentrum der ETH Zürich entwickelt werden, vor dem Unterricht erheben.1

Damit das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler im Unterricht gezielt genutzt werden kann, müssen Lehrpersonen zudem wissen, welche Lernformen sich beson­ders eignen, um das Gelernte zu vertiefen oder um vorliegenden Fehlvorstellungen entgegenzuwirken. Eine Lernform, die sich in zahlreichen Vergleichsstudien als be­sonders wirksam herausgestellt hat, besteht darin, die Lernenden mit inhaltlich genau abgestimmten Aufträgen dazu aufzufordern, Erklärungen zu bilden. Zur Vertiefung des Gelernten kann ihnen beispielsweise der Auftrag gegeben werden darzustellen, wie sie das zweite Newtonsehe Gesetz einem Mitschüler oder einer Mitschülerin er­klären würden, der bzw. die die betreffende Lektion verpasst hat. Sie müssen sich da­bei also genau überlegen, welche Voraussetzungen sie ihrem Mitschüler bzw. ihrer Mitschülerin zunächst erklären müssen und welche Punkte für das Verständnis die­ses Naturgesetzes besonders wichtig sind. Der oben genannten Fehlvorstellung lässt sich wiederum entgegenwirken, indem die Lernenden aufgefordert werden zu erklä­ren, was genau an der Vorstellung falsch ist, Kräfte würden nur dann wirken, wenn aktiv Bewegungen ausgeführt werden- und durch welche Fälle diese Vorstellung wi­derlegt werden kann. Auf diese Weise machen sie sich diese Fehlvorstellung noch ein­mal besonders bewusst.

Wenn es um die Erklärung von Leistungsunterschieden beim schulischen Lernen geht, dann geht es um Leistungsunterschiede zwischen gesunden Personen mit einer Intelligenz im normalen Bereich. Es ist wichtig, dies zu beachten, denn häufig wird von neurowissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit Unterschieden zwischen gesunden Personen und Personen mit pathologischen Störungen wie der Lese- und Rechtschreibschwäche (Dyslexie) oder der Rechenschwäche (Dyskalkulie) befassen, fälschlich darauf geschlossen, sie könnten automatisch auch Leistungsunterschiede zwischen gesunden Personen erklären. Für Leistungsunterschiede zwischen gesunden Personen sind aber neben Unterschieden in der Intelligenz vor allem Unterschiede im Vorwissen verantwortlich. Um guten Unterricht zu machen, müssen Lehrpersonen daher das Vorwissen der Lernenden kennen, und sie müssen wissen, welche Lernformen sich besonders eignen, um Fehlvorstellungen entgegenzuwirken sowie das Wissen zu vertiefen.

Näheres dazu kann unter URL: http:/ /www.educ.ethz.ch/mint. nachgelesen werden.

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Neurowissenschaften und Lehr-Lern-Forschung

3. Welche Forschungsrichtung stellt dieses unterrichtsrelevante Wissen bereit?

Das für die Unterrichtsgestaltung relevante Wissen über das Vorwissen der Schüle­rinnen und Schüler sowie über wirksame Lernformen stellt nicht der Blick ins Hirn, sondern die empirische Lehr- und Lernforschung bereit. Schülervorstellungen wer­den erhoben, indem man die Kinder bzw. Jugendlichen Fragen wie die folgende be­arbeiten lässt:

Abb. 2: Fragen zur Ermittlung des Vorwissens von Schülerinnen und Schülern

Eine Kugel liegt auf einem elastischen Brett. Welche der folgenden Aussagen treffen zu?

o Da die Kugel in Ruhe ist, wirken hier überhaupt keine Kräfte. o Auf die Kugel wirkt nur die Stützkraft des gespannten Bretts, sonst würde sie herun­

terfallen. o Auf die Kugel wirkt nur die Anziehungskraft der Erde, da sich das Brett durchbiegt. o Das Brett stützt die Kugel ab und wirkt deshalb mit einer nach oben gerichteten

Kraft auf die Kugel.

Quelle: MINT-Lernzentrumder ETH Zürich

Mit Fragen wie diesen lässt sich herausfinden, ob die Lernenden bereits über be­stimmte Kenntnisse verfügen oder ob sie noch Vorstellungen haben, die nicht an­schlussfähig sind und damit zu Verständnisschwierigkeiten führen können. Solche Testfragen eignen sich ebenfalls, um im Anschluss an den Unterricht festzustellen, ob etwas gelernt bzw. richtig verstanden wurde. Denn Lernen zeigt sich im Bewältigen von Anforderungen: Wenn die Schülerinnen und Schüler im Unterricht etwas dazu­gelernt haben, dann zeigt sich das darin, dass sie nach dem Unterricht Aufgaben lö­sen können, die sie vor dem Unterricht noch nicht bewältigen konnten.

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Hingegen lässt sich mit dem Blick ins Hirn nicht feststellen, ob etwas richtig gelernt wurde. Denn grundsätzlich gehen alle Lernprozesse - auch wenn etwas Falsches ge­lernt wurde - mit funktionellen oder strukturellen Veränderungen im Gehirn ein­her, so dass allein von dem Vorliegen neuronaler Veränderungen nicht darauf ge­schlossen werden kann, dass jemand etwas richtig verstanden hat. Die Beobachtung, dass sich im Gehirn neue Verbindungen von Nervenzellen gebildet haben, ist des­halb unterbestimmt in Bezug auf die Frage, ob das Richtige gelernt wurde. Deshalb gilt: Ganz unabhängig vom technischen Fortschritt in den bildgebenden Verfahren der Hirnforschung werden die bunten Bilder niemals die Erhebung von Wissen und Verhalten ersetzen können. Befragungen und Beobachtungen des Verhaltens haben also klare Priorität vor der Beobachtung von Vorgängen im Gehirn: Erst wenn man über das Bewältigen von Anforderungen in Testsituationen festgestellt hat, dass jemand etwas verstanden hat, kann anschließend mit den Methoden der Neurowissenschaften untersucht werden, welche Veränderungen im Gehirn mit die­sen Lernprozessen einhergehen. Aber auch wenn man wissenschaftlich abgesicher­te Zusammenhänge zwischen Lernprozessen und bestimmten Veränderungen im Gehirn gefunden hat, bleiben Befragung und Beobachtung weiterhin die einzigen si­cheren Mittel, um festzustellen, ob etwas richtig gelernt bzw. verstanden wurde.

Auch die Wirksamkeit verschiedener Lernformen kann nur im Rahmen der empiri­schen Lehr- und Lernforschung untersucht werden. Dazu müssen Vergleichsstudien mit mehreren Gruppen durchgeführt werden, die unter verschiedenen Bedin­gungen bzw. mit verschiedenen Lernformen unterrichtet werden. Bei solchen Ver­gleichsstudienist es natürlich zentral, zunächst mithilfe geeigneter Vortests sicherzu­stellen, dass das Ausgangsniveau der verschiedenen Gruppen vergleichbar ist. Dazu werden zum Beispiel Wissenstests mit Fragen wie den oben dargestellten verwendet. Anschließend werden den verschiedenen Gruppen dieselben Inhalte in unterschiedli­eben Lernumgehungen bzw. mit verschiedenen Lernformen präsentiert. Zum Beispiel werden die einen aufgefordert, eine Zusammenfassung zu schreiben, während die an­deren den Auftrag erhalten, Erklärungen zu geben oder genau aufzuschreiben, was sie im Einzelnen noch nicht verstanden haben. Nach Abschluss dieser Interventionen wird mithilfe von Nachtests geprüft, wie viel die Versuchsteilnehmer unter den ver­schiedenen Bedingungen gelernt haben - und ob sich zwischen den verschiedenen Gruppen statistisch bedeutsame Unterschiede feststellen lassen. Wenn sich gezeigt hat, dass - bei vergleichbaren Ausgangsvoraussetzungen und gleichem Zeitaufwand -eine Gruppe deutlich mehr gelernt hat als die übrigen Gruppen, dann kann behauptet werden, dass die betreffende Lernform wirksamer ist als die anderen.

Hingegen lassen sich solche Aussagen auf der Grundlage der Beobachtung des Gehirns nicht machen. Denn aus dem Umfang oder der Art der Veränderung von Nervenverbindungen im Gehirn lässt sich nicht ablesen, welche Lernform im Ver­gleich mit anderen Lernformen am besten geeignet ist, um Individuen auf die Bewältigung von Anforderungen vorzubereiten. Zum Beispiel ist es nicht so, dass be-

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sonders viele Veränderungen bei der Bildung von Nervenzellen darauf hinweisen, dass besonders viel gelernt wurde. Vielmehr ist der Umfang der Veränderung und Aktivierung von Hirnarealen davon abhängig, über wie viel Routine und Expertise die betreffenden Personen verfügen. Ob sich also bei einer bestimmten Lern­form besonders viele oder besonders wenige Veränderungen bei der Bildung von Nervenzellen im Gehirn zeigen, hat folglich keine Bedeutung dafür, ob viel oder we­nig gelernt wurde. Der Blick ins Hirn ist also auch in dieser Hinsicht unterbestimmt.

Wie kommt diese Unterbestimmtheit zustande? Sie entsteht dadurch, dass die Lehr­und Lernforschung und die Neurowissenschaften unterschiedliche Phänomene auf verschiedenen theoretischen Ebenen erklären. Gegenstand der Lehr- und Lern­forschung ist das Verhalten von Personen. Unterschiede im Verhalten wie Leis­tungsunterschiede werden beispielsweise mit Unterschieden im Wissen oder in der Intelligenz erklärt. Gegenstand der Neurowissenschaften sind Vorgänge im mensch­lichen Gehirn. Diese Vorgänge werden biologisch bzw. chemisch erklärt. Es ist zwar grundsätzlich möglich, geistigen Zuständen bestimmte Hirnzustände zuzuordnen, mit denen sie im Allgemeinen gemeinsam auftreten. Aber solche Zuordnungen sind aufgrund der individuellen Unterschiede niemals eindeutig. Denn jedes Gehirn ist aufgrund der Lerngeschichte der betreffenden Person anders. Dadurch kommt die oben dargestellte Unterbestimmtheit zustande: Auch wenn ich einen bestimmten Hirnzustand identifizieren kann, kann ich damit noch nicht mit Sicherheit sagen, in welchem geistigen Zustand sich die betreffende Person befindet - ob sie zum Beispiel das zweite Newtonsehe Gesetz verstanden hat. Vielmehr kann ich das nur herausfin­den, indem ich ihr Verhalten untersuche und prüfe, ob sie in der Lage ist, bestimmte Anforderungen zu bewältigen.

Erklärungen für ausbleibende Lernzuwächse, die auf Vorgänge im Gehirn ab­zielen (z.B.: "Es wurde nicht genügend Dopamin ausgeschüttet", oder: "Der lin­ke Parietallappen war nicht aktiviert"), können grundsätzlich nichts zur Steigerung der Lernwirksamkeit von Unterricht beitragen. Selbst wenn die physiologischen Indikatoren zuverlässig messbar sind (was zum jetzigen Stand der Forschung nur sel­ten der Fall ist), kann die Lehrkraft daraus keine Handlungen ableiten. Stellen wir uns eine Expertenkommission vor, die die Ursachen für einen Flugzeugabsturz he­rausfinden soll und die nach wochenlanger, kostenintensiver Recherche zu dem Ergebnis kommt: "Es war die Gravitationskraft, die den Absturz auslöste". Das ist zwar aus Sicht der Physik korrekt, aber es erklärt nicht, warum nur das besagte und nicht alle anderen Flugzeuge abgestürzt sind. Statt sich auf allgemeine Gesetze der Physik zu konzentrieren, wird die Kommission nach Konstruktionsmängeln und Fehlfunktionen bei dem speziellen Flugzeug suchen, die dazu führten, dass zum Zeitpunkt des Absturzes die Auftriebskräfte nicht größer als die Gravitationskraft wa­ren. Parallel dazu muss die Lehrkraft herausfinden, warum es nicht zur Passung zwi­sehen ihrem Input und dem Vorwissen der Lernenden gekommen ist.

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4. Haben neurowissenschaftliche Untersuchungen zu diesem unterrichtsrelevanten Wissen etwas beigetragen?

Auch wenn in der Wissenschaft Geist und Gehirn noch getrennt betrachtet werden müssen, weil die Gesetzmäßigkeiten, nach denen sie zusammenwirken, noch gänz­lich unbekannt sind, können beide Perspektiven voneinander profitieren. Es könn­te sich immerhin zeigen, dass Erkenntnisse über das Gehirn gewonnen werden, wel­che psychologische Theorien über den Geist in Frage stellen. So wurden vor wenigen Jahrzehnten noch psychische Krankheiten wie Schizophrenie oder Autismus auf früh­kindliche Störungen der Mutter-Kind-Beziehung zurückgeführt. Das klingt aus heuti­ger Sicht absurd: Wir kennen die internen Störungen der Hirnfunktionen bei diesen Krankheiten recht gut und wissen, dass sie sich weder durch Umwelteinflüsse auslö­sen noch heilen lassen. In der klinischen Psychologie musste man als Ergebnis der Hirnforschung Theorien und Hypothesen aufgeben. Wie aber sieht es in der Lehr­und Lernforschung aus? Zwingen uns Erkenntnisse aus der Hirnforschung zu neu­en Sichtweisen des schulischen Lernens? In der Expertise von Stern, Grabner und Schumacher (2005) wurde gezeigt: Keine Einsicht der Lehr- und Lernforschung zur Unterrichtsgestaltung musste aufgrund von Ergebnissen der Neurowissenschaften re­vidiert werden. Psychologische Theorien zum Konzeptwechsel, zur Motivation, zur grafisch-visuellen Wissensrepräsentation können recht präzise Bedingungen für lern­wirksamen Unterricht aufzeigen (mehr dazu bei Feiten und Stern 2012).

Eigenständige neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse, die zur Revision von Empfehlungen der Lehr- und Lernforschung zur Unterrichtsgestaltung geführt haben, lagen bis zum Jahre 2005 nicht vor (vgl. Stern/Grabner/Schumacher 2005). Aber hat sich in der Zwischenzeit der Forschungsstand vielleicht so verändert, dass die damali­gen Schlussfolgerungen nicht mehr zutreffen?

Einen aktuellen Überblick über die neurowissenschaftliche Forschung in die­sem Bereich bietet der 2012 veröffentlichte Aufsatz "Neuroeducation - A Critical Overview of An Ernerging Field" von Daniel Ansari, Bert De Smedt und Roland Grabner (2012). Die Autoren weisen gleich zu Anfang einschränkend daraufhin, dass sich die in diesem Bereich vorliegenden neurowissenschaftlichen Untersuchungen nicht mit der Erklärung von Leistungsunterschieden zwischen gesunden Personen be­fassen. Stattdessen beschäftigen sie sich mit pathologischen Phänomenen - insbeson­dere mit Dyslexie und Dyskalkulie. Es geht dabei also darum, Leistungsunterschiede zwischen gesunden Personen und Personen mit bestimmten Leistungsstörungen zu erklären. Da sich diese Untersuchungen nicht mit Leistungsunterschieden zwi­schen gesunden Personen befassen, können sie folglich auch nicht erklären, wa­rum zum Beispiel einige Schülerinnen und Schüler die eingangs dargestellte Mechanikaufgabe lösen können und andere nicht. Der Forschungsstand hat sich in den letzten fünf Jahren also nicht so stark verändert, dass sich nun behaupten ließe,

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Neurowissenschaften und Lehr-Lern-Forschung I

die Neurowissenschaften würden eigenständige Vorschläge zur Gestaltung schulischer Lerngelegenheiten aufstellen.

Ein denkbarer Einwand könnte nun folgendermaßen lauten: "Aber die Neurowissen­schaften bestätigen doch Vieles, was die Lehr- und Lernforschung sagt. Und indem sie dies tun, leisten sie doch auch einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung des Schul­unterrichts. Beispielsweise bestätigen sie, dass Personen mit höherer Lernmotivation besser lernen als Personen mit niedrigerer Lernmotivation." Dieser Einwand lässt sich mit zwei Überlegungen zurückweisen:

Erstens werden vielfach Ergebnisse der Verhaltensforschung, zu der auch die Lehr­und Lernforschung zählt, als Resultate der Neurowissenschaften ausgegeben. Das trifft auch auf das dargestellte Beispiel zu: Um diese Behauptung begründen zu kön­nen, muss man nämlich zunächst Unterschiede in der Lernmotivation erheben, in­dem Personen mit geeigneten Tests befragt werden. Anschließend muss verglichen werden, wie sich diese Motivationsunterschiede auf Leistungen beim Lernen aus­wirken. Auch dies geschieht wiederum mit entsprechenden Tests, mit denen geprüft wird, wie Personen unterschiedliche Anforderungen bewältigen. Damit wird deutlich, dass diese Behauptung nur durch die Untersuchung des Verhaltens von Personen ge­stützt werden kann. Hingegen trägt die Untersuchung von Gehirnzuständen zu die­ser Einsicht nichts bei.

Zweitens werden vielfach Erkenntnisse der Lehr- und Lernforschung mit unpassen­den oder viel zu allgemeinen Befunden der Neurowissenschaften unterfüttert. In die­sem Fall wird also das Richtige mit den falschen Gründen gestützt. Um das obige Beispiel noch einmal aufzugreifen: Das ist so, als würde man auf die Frage: "Warum ist dieses Flugzeug abgestürzt?", antworten: "Wegen der Schwerkraft." Diese Antwort ist natürlich viel zu allgemein, denn es interessiert einen ja gerade, warum manche Flugzeuge in der Luft bleiben - und manche nicht.

Ein häufiger Einwand von Anhängern und Anhängerinnen der neurowissenschaftli­chen Perspektive ist, dass erst die Hirnforschung die Bedeutung der Emotionen für das Lernen erkannt habe und dass man erst seitdem wisse, dass Angst ein schlech­ter Ratgeber beim schulischen Lernen sei. Dieses Argument entbehrt allerdings jeg­licher Grundlage und ist wohl auf die Tatsache zurückzuführen, dass viele Kinder mit Schulangst bei Medizinern landen. Wir können derzeit selbst mit Hilfe der bes­ten Hirnscannings nicht zwischen verschiedenen Emotionen unterscheiden. Wir wissen also durch den Blick ins Hirn nicht, ob jemand gerade traurig oder fröhlich ist. Und die Rolle der Angst beim Lernen wurde bereits zu Zeiten geklärt, als der Behaviorismus noch die Psychologie dominierte. Angst kommt auf, wenn negati­ve Konsequenzen, also Strafreize zu erwarten sind, und diesen kann man nur durch Flucht oder Vermeidung entgehen. Durch das Verabreichen von Strafen kann man also erreichen, dass ein Individuum ein unerwünschtes Verhalten unterlässt. Möchte

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man hingegen Verhalten aufbauen, müssen positive Konsequenzen erlebt werden. Eltern und Lehrpersonen könnten sich manches Ärgernis ersparen, wenn sie Straf­und Belohnungsreize gezielter einsetzen würden. Ziel der Schule ist es, Verhalten und Kompetenzen aufzubauen, die nicht spontan erworben werden. Dies kann nur gelin­gen, wenn die Lernenden mit dem Verhalten positive Erlebnisse verbinden. Dazu ge­hört Kompetenzerleben, also die Bewältigung einer Anforderung. Aus der Tatsache, dass Lehrpersonen und Eltern eine lange bekannte Einsicht - nämlich dass man durch Strafen Verhalten ab-, aber nicht aufbauen kann - nicht konsequent nutzen, lässt sich also keineswegs ableiten, dass Neurowissenschaften zu neuen pädagogischen Einsichten geführt haben bzw. führen können.

5. Worin liegen die Stärken neurowissenschaftlicher Untersuchungen in Bezug auf das Verständnis menschlichen Lernens?

Daraus, dass die Neurowissenschaften keine Bedeutung für die Gestaltung schulischer Lerngelegenheiten haben, folgt selbstverständlich nicht, dass sie keinen Beitrag zum Verständnis menschlichen Lernens leisten können. Das wäre ein Fehlschluss. Um die Bedeutung der Neurowissenschaften für die psychologische Forschung zum mensch­lichen Lernen zu veranschaulichen, werden im Folgenden sechs exemplarische Fälle der Kooperation zwischen beiden Disziplinen dargestellt.

Neurowissenschaftliche Erklärungen für entwicklungsspezifische kognitive Defizite Neurowissenschaftliche Untersuchungen können Erklärungen für entwicklungsspezi­fische kognitive Defizite liefern, die auf kognitionswissenschaftlicher Ebene bereits be­kannt und untersucht sind. Dies trifft zum Beispiel auf die Studie von Judy DeLoache (2004) zu, in der die mangelnde Fähigkeit von 18 bis 30 Monate alten Kleinkindern, verkleinerte Modelle von Gegenständen wie Stühlen, Rutschen oder Autos als solche zu erkennen (und entsprechend zu handeln), in Beziehung gesetzt wird zu der neuro­wissenschaftlichen Einsicht, dass visuelle Informationen im menschlichen Gehirn in zwei verschiedenen Systemen, nämlich im ventralen und im dorsalen System, verar­beitet werden, die in diesem Entwicklungsstadium noch nicht ausreichend miteinan­der verbunden sind.

Neurowissenschaftliche Erklärungen für kognitive Leistungsstörungen Neurowissenschaftliche Untersuchungen können zur Erklärung kognitiver Leis­tungsstörungen beitragen. Ein Beispiel ist die Erklärung der Lese- und Rechtschreib­schwäche (Dyslexie). Die meisten Kinder mit Dyslexie haben eine verminderte pho­nologische Bewusstheit. Das bedeutet, sie haben Schwierigkeiten, zusammengesetzte Sprachlaute in Wörtern zu erkennen und zu erzeugen. Kinder mit solchen phonologi­schen Defiziten zeichnen sich zudem durch deutlich geringere neuronale Aktivitäten

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Neurowissenschaften und Lehr-Lern-Forschung I

im temporal-parietalen Bereich aus, wenn sie zum Beispiel mit Aufgaben beschäftigt sind, bei ~enen es darum geht zu entscheiden, ob sich bestimmte Silben reimen (vgl. Sirnos u.a. 2002). Da die Aktivierung in dieser Hirnregion mit besserer Lesefähigkeit zunimmt, lässt sich Dyslexie also mit einer verminderten Hirntätigkeit in diesem Bereich erklären.

Außerdem ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass neurowissenschaftliche Unter­suchungen dadurch für die psychologische Lehr- und Lernforschung Bedeutung ge­winnen können, dass sie uns Hinweise auf die Art der neuronalen Ursachen kog­nitiver Leistungsstörungen geben. Zum Beispiel hat sich gezeigt, dass Dyslexie nicht auf einer Fehlentwicklung des phonologischen Systems, sondern auf einer verlang­samten Entwicklung dieses Systems beruht (vgl. Goswami 2004). Da es denkbar ist, dass man auf verlangsamte Entwicklungen mit anderen Trainingsmaßnahmen als auf Fehlentwicklungen reagiert, lassen sich aus solchen Einsichten möglicherweise auch praktische Konsequenzen für die Beseitigung von Leistungsstörungen ableiten.

Verschiedene Ursachen kognitiver Leistungsstörungen Kognitive Leistungsstörungen können mehrere neuronale Ursachen haben. Während sich also in solchen Fällen auf der Verhaltensebene keine Unterschiede feststellen las­sen, können im Zuge neurowissenschaftlicher Untersuchungen bei verschiedenen Personen unterschiedliche Ursachen dieser Störung identifiziert werden. Dies trifft zum Beispiel auf die Lese- und Rechtschreibschwäche zu, der sowohl Störungen im visuellen System als auch Störungen im auditiven System zugrunde liegen können. Entsprechend diesen Unterschieden müssen also verschiedene Trainingsmaßnahmen ergriffen werden, um die kognitive Störung zu beseitigen. Auf diese Weise können neurowissenschaftliche Untersuchungen praktische Konsequenzen für Trainings- bzw. Unterrichtsmaßnahmen haben. Dabei muss allerdings einschränkend hervorgehoben werden, dass sie noch nichts über die inhaltliche Beschaffenheit dieser Maßnahmen aussagen. In erster Linie erfahren wir durch solche Untersuchungen nämlich nur, dass wir verschiedene Trainingsmaßnahmen ergreifen müssen, um die kognitiven Störungen zu beseitigen.

Frühzeitige Diagnose kognitiver Entwicklungsstörungen anhand neurowissenschaftlicher Befunde Es mag im Prinzip möglich sein, anhand neurowissenschaftlicher Befunde kogni­tive Entwicklungsstörungen frühzeitig zu diagnostizieren, bevor sie sich auf der Verhaltensebene zeigen. Dies setzt voraus, dass es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Auftreten bestimmter Hirnzustände zu einem bestimmten Entwick­lungszeitpunkt und dem späteren Auftreten bestimmter Leistungsstörungen gibt. Gegenwärtig lassen jedoch die neurowissenschaftlichen Methoden noch keine zuver­lässige Frühdiagnose - zum Beispiel von Sprachstörungen - im Einzelfall zu.

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Entscheidungen zwischen konkurrierenden kognitionswissenschaftlichen Erklärungen Neurowissenschaftliche Befunde können in manchen Fällen herangezogen wer­den um zu entscheiden, welcher von zwei konkurrierenden kognitionswissenschaft­lichen Erklärungen der Vorzug gegeben werden soll. Erklärt zum Beispiel Theorie A Dyslexie mit Störungen in der visuellen Wahrnehmung und Theorie B mit Störungen beim Sprachverstehen, dann ist es möglich, durch neurowissenschaftliche Untersuchungen der entsprechenden Hirnareale herauszufinden, welche dieser bei­den Erklärungen zutrifft (siehe dazu auch Goswami 2004). Auch im so genannten Normalbereich könnten sich hier interessante Entwicklungen ergeben. Ganz aktuell ist ein Artikel von Immordino-Yang, Christocloulau und Singh (2012) zu nennen, in dem gezeigt wird, dass sich verschiedene Zustände der Aufmerksamkeit im Gehirn identifizieren lassen, die Unterschiede im Lernzuwachs erklären können.

Das Trainieren von Vorläuferfähigkeiten Neurowissenschaftliche Untersuchungen haben ferner gezeigt, dass bestimmte Hirn­areale, die später bei Erwachsenen wichtige Funktionen für das Rechnen über­nehmen, bei Kindern besonders aktiviert werden, wenn sie ihre Finger abzählen (vgl. Dehaene 1997). Dieser Befund ist vereinbar mit der Annahme, dass es sich beim Rechnen mit Fingern um eine mathematische Vorläuferfähigkeit handelt, de­ren Förderung sich positiv auf den späteren Kompetenzerwerb auswirkt. Sollte sich diese Prognose in längsschnittlieh angelegten Trainingsstudien als zutreffend heraus­stellen, dann würden sich aus neurowissenschaftlichen Einsichten - in Kombination mit Ergebnissen psychologischer Längsschnittsstudien - Anleitungen für die Unter­richtsgestaltung ergeben.

In diesem Zusammenhang muss aber beachtet werden, dass allein aus dem Befund, dass durch das Abzählen der Finger bei Kindern Hirnareale aktiviert werden, die später im Erwachsenenalter für das Ausführen von Rechenoperationen relevant sind, noch nicht ableiten lässt, dass die späteren Rechenleistungen gezielt durch das Üben des Fingerabzählens in der Kindheit verbessert werden können. Aus der Tatsache, dass man seine Hände beim Essen sowie beim Schreiben benutzt, würde man ja auch nicht schließen, dass Essen eine gezielte Übung für das spätere Schreiben ist. Dass am Zustandekommen zweier Kompetenzen die gleichen physiologischen Grundlagen beteiligt sind, lässt noch keinerlei Schlüsse über Fördermöglichkeiten zu. Bei der Entwicklung der Rechenleistung kann nämlich angenommen werden, dass diese zudem von einer ganzen Reihe kultureller Faktoren abhängt, die im Zuge der Beschreibung des menschlichen Gehirns überhaupt nicht erfasst werden.

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Neurowissenschaften und Lehr-Lern-Forschung I

6. Fazit

Die sechs dargestellten Fälle machen deutlich, dass neurowissenschaftliche Unter­suchungen für die psychologische Lehr- und Lernforschung durchaus von Bedeutung sind, weil sich mit ihnen Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufdecken lassen, die auf der Verhaltensebene nicht beobachtet werden können. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu beachten, dass sich viele der dargestellten Fälle auf die Diagnose und Erklärung von kognitiven Leistungsstörungen beziehen. Von der unbestreitbaren Kompetenz der Neurowissenschaften hinsichtlich der Diagnose und Erklärung patho­logischer Fälle darf aber nicht vorschnell darauf geschlossen werden, dass ihr damit die gleichen Kompetenzen auch für die Gestaltung von Lerngelegenheiten im nor­malen Schulunterricht zukommen. Für die Frage, was uns Menschen in die Lage ver­setzt, die komplexen Anforderungen, die unsere Umwelt an uns stellt, zu bewältigen, müssen wir die Unterscheidung zwischen Gehirn und Geist beibehalten. Mediziner setzen sich mit der Frage auseinander, ob und wie ein nicht optimal funktionieren­des Gehirn medikamentös optimiert werden kann. Lehrerinnen und Lehrer hin­gegen müssen sich mit dem menschlichen Geist und vor allem dem darin gespei­cherten Wissen auseinandersetzen. Die Auseinandersetzung mit der Hirnforschung ist zweifelsohne interessant, aber nicht erforderlich für die Gestaltung optimaler

Lerngelegenheiten.

Literatur

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Dehaene, S. (1997): The Number Sense. New York: Oxford University Press. DeLoache, J./Uttat, D./Rosengreen, K. (2004): Scale Errors Offer Evidence for a Perception­

Action Dissociation Early in Life. In: Science 304, H. 5673, S. 1027-1029. Feiten, M./Stern, E. (2012): Lernwirksam unterrichten. Berlin: Cornelsen. Goswami, U. (2004): Neuroscience and Education. In: British Journal of Educational

Psychology, H. 74, S. 1-14. Immordino-Yang, M./Christodoulou, A./Singh, V. (2012): Rest Is Not Idleness: Implications

of the Brain's Default Mode for Human Development and Education. In: Perspectives on Psychological Science, H. 7, S. 352-364.

Schumacher, R. (2007): The Brain Is Not Enough. Potentials and Limits in Integrating Neuroscience and Pedagogy. In: Analyse und Kritik 2, H. 1, S. 38-46.

Simas, P./Fletcher, J./Bergman, M. (2002): Dyslexia-specific Brain Activation Profile Becomes Normal Following Successful Remedia! Training. In: Neurology 58, H. 8, s. 1203-1213.

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Bildungsforschung - disziplinäre Zugänge DDS, 104. Jg., 4(2012) I 395

Page 8: BILDUNGSFORSCHUNG Neurowissenschaften und … · Neuroscience and Research on Learning and lnstruction: What Kind of Knowledge Contributes to Educational Outcome? ... (Dyslexie) dazu

I Ralph Schumacher/Elsbeth Stern

Stern, E./Grabner, R./Schumacher, R. (2005): Lehr-Lern-Forschung und Neurowissen­schaften: Erwartungen, Befunde und Forschungsperspektiven. Reihe Bildungsreform, Band 13. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).

Ralph Schumacher, Dr., geb. 1964, Leiter des MINT-Lernzentrums an der ETH Zürich.

Anschrift: ETH Zürich, MINT-Lernzentrum, Clausiusstrasse 59, 8092 Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

Elsbeth Stern, Prof. Dr., geb. 1957, Professorin für Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich.

Anschrift: ETH Zürich, Institut für Verhaltenswissenschaften, Universitätstrasse 6, 8092 Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

Z iel des Buches ist es,

Studierenden der

Bildungswissenschaften

und praktizierenden Lehr­

personen einen Zugang zu

evidenzbosiertem Wissen zu

eröffnen. Dies geschieht auf

der Grundlage einer interdisziplinären Sicht auf die Frage

nach Effektivität und Effizienz von Bildung. Insbesondere die

bildungsökonomische, die psychologische und die erzie­

hungswissenschaftliche Perspektive, aber auch die fachdi­

daktische Sicht werden exemplarisch behandelt. Das Fazit

lautet: Bildung kann sehr effektiv sein, man muss ober genau

hinschauen, wie sie funktioniert.

Kari-Oswald Bauer, Niels Logemann (Hrsg.)

Effektive Bildung

Zur Wirksamkeit und Effizienz

pädagogischer Prozesse

2012, 204 Seiten, br., 26,90 € ISBN 978-3-8309-2680-1

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396 I DDS, 104. Jg., 4(2012) Bildungsforschung - disziplinäre Zugänge

REZENSIONEN

Andreas Füchter/Klaus Moegling (Hrsg.) (2011): Diagnostik und Förderung. 3 Teile. Immenhausen: Prolog. Teil 1: Didaktische Grundlagen. 112 S., 17,80 €

Teil 2: Beispiele aus der Unter­richtspraxis. 165 S., 22,80 €

Teil 3: Forschungsergebnisse. 126 S., 19,80 €

Diese drei Sammelbände von Füchter und Moegling widmen sich der Diag­nostik und Förderung. Dabei han­delt es sich um die Buchversion ei­ner Ausgabe der kostenlosen Zeitschrift Schulpädagogik Online mit z.T. überar­beiteten und ergänzten Beiträgen. Die einzelnen Ausgaben der Zeitschrift sind nur temporär begrenzt online zugäng­lich, sodass dieser Umstand den offen­sichtlichen Mehrwert der Buchausgabe ausmacht.

Teil 1: Didaktische Grundlagen

Der Band "Didaktische Grundlagen" be­steht aus einer E-Mail-Korrespondenz zwischen den in der außeruniversitären Lehrerbildung tätigen Fritz Zaugg und Andreas Füchter und zwei Aufsätzen Füchters. Zaugg und Füchter diskutieren - durchaus kontrovers - unter anderem Zauggs "Lern- und Förderkreislauf", der eine Trennung von formativer, an den Lernprozess zurückgebundener Diagnos­tik und Leistungsbewertung vorsieht. Füchter reflektiert in seinem ersten Aufsatz die geforderte Diagnosekorn-

petenz Lehrender, identifiziert eine pro­fessionelle Diagnostik als Aufgabe für die Aus- und Weiterbildung Lehrender und benennt Aufgabenbereiche der päda­gogisch-psychologischen und didakti­schen Diagnostik. Beim Einsatz von Diagnostik im Unterricht macht er auf die Gefahr aufmerksam, "dass die von der Allgemeindidaktik und [ ... ] der Fachdidaktik rekonstruierten Modelle [ ... ] durch ein eher schlichtes, letztlich kybernetisch inspiriertes Standardmodell von Unterricht ersetzt werden" (S. 69). Wahrend dieser Beitrag Füchters den Begriff der Diagnostik ordnend und sys­tematisierend bearbeitet, wird im zweiten Beitrag zur Förderung nicht frei von Redundanzen argumentiert. Zunächst schlägt Füchter vor: "Die um das Problem der Adaptivität kreisenden Dis­kurse um Individualisierung, innere Dif­ferenzierung und den Umgang mit Heterogenität lassen sich in der Vor­stellung einer adressatengerechten För­derung [ ... ] aufheben" (S. 100). Diese ad­ressatengerechte Förderung entpuppt sich jedoch in seinen weiteren Ausführungen und Praxisbeispielen als innere Differen­zierung. Um dem Anspruch des Sammel­bandes, didaktische Grundlagen von Diagnostik und Förderung zu liefern, ge­recht zu werden, wäre m.E. noch die Auseinandersetzung mit zumindest fol­genden Aspekten sinnvoll gewesen: Problematisierung der Wirkungserwar­tungen an Methoden und curriculare Grundlagen für innere Differenzierung.

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