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WORKING PAPER FORSCHUNGSFÖRDERUNG Nummer 115, Januar 2019 Bildungsverläufe an Abendgymnasien und Kollegs (Zweiter Bildungsweg) Gabriele Bellenberg, Grit im Brahm, Denise Demski, Sascha Koch und Maja Weegen

Bildungsverläufe an Abendgymnasien und Kollegs (Zweiter ... · sowie das Design der Studie dargestellt. Im zweiten Teil werden die Er-gebnisse der Studie präsentiert. Im Sinne des

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WORKING PAPER FORSCHUNGSFÖRDERUNG

Nummer 115, Januar 2019

Bildungsverläufe an Abendgymnasien und Kollegs (Zweiter Bildungsweg)

Gabriele Bellenberg, Grit im Brahm, Denise Demski, Sascha Koch und Maja Weegen

© 2019 by Hans-Böckler-Stiftung Hans-Böckler-Straße 39, 40476 Düsseldorf www.boeckler.de

„Bildungsverläufe an Abendgymnasien und Kollegs (Zweiter Bildungs-weg)“ von Gabriele Bellenberg, Grit im Brahm, Denise Demski, Sascha Koch und Maja Weegen ist lizenziert unter

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ISSN 2509-2359

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Inhalt Vorwort ................................................................................................... 9

1. Einleitung ......................................................................................... 11

Teil I – Forschungsstand und Design der Studie .................................. 13

2. Abendgymnasien und Kollegs (Zweiter Bildungsweg) alsForschungsgegenstand ........................................................................ 14

2.1 Abendgymnasien und Kollegs .................................................... 15

2.2 Fragestellungen und methodisches Design der Studie .............. 31

Teil II – Ergebnisse der Studie ............................................................. 47

3. Abendgymnasien und Kollegs – eine multiperspektivischeDeskription ........................................................................................... 49

3.1 Bildungs- und Unterstützungsangebote der Schulen .................. 50

3.2 Die Bildungsarbeit an Abendgymnasien und Kollegs aus der Perspektive der Lehrkräfte ............................................................... 55

3.3 Das Bildungsangebot aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler ..................................................................................... 72

3.4 Zusammenfassung .................................................................... 78

4. Schülerinnen und Schüler an Abendgymnasien und Kollegs –die Wiederaufnahme des Schulbesuchs ............................................... 81

4.1 Soziodemografische Merkmale .................................................. 82

4.2 Schulische Erfahrungen im Ersten Bildungsweg ........................ 97

4.3 Berufliche Erfahrungen vor dem Einstieg in das Abendgymnasium/Kolleg ............................................................... 105

4.4 Bildungsbezogene Zulassungsvoraussetzungen ..................... 110

4.5 Motive bzw. Ziele des Erwerbs eines höheren Schulabschlusses .......................................................................... 113

4.6 Zusammenfassung .................................................................. 125

5. Schülerinnen und Schüler an Abendgymnasien und Kollegs –Aspekte des Bildungsverlaufs ............................................................ 128

5.1 Die Schullaufbahnen der Befragten ......................................... 128

5.2 Unterstützende bzw. hemmende Kontextbedingungen des Schulbesuchs: berufliche und private Lebensbedingungen ............ 137

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5.3 Die Lernenden aus der Perspektive der Lehrkräfte .................. 147

5.4 Zusammenfassung .................................................................. 152

6. Schulabgang ohne Schulabschluss (Schulabbruch) ...................... 154

6.1 Schulabbruch – eine Quantifizierung ....................................... 156

6.2 Schulabbruch aus der Perspektive von Lehrkräften ................. 164

6.3 Schulabbruch aus der Perspektive der Abbrecherinnen und Abbrecher ...................................................................................... 190

6.4 Zusammenfassung .................................................................. 200

7. Zusammenfassung der Befunde .................................................... 206

8. Ausblick und Forschungsdesiderata .............................................. 221

9. Literatur ......................................................................................... 225

Autorinnen und Autoren ..................................................................... 231

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Untersuchungsmodell zur Studie ..................................... 33

Abbildung 2: Kohorten-Design der Schülerbefragung ........................... 40

Abbildung 3: Eingeschätzte Belastung durch die Arbeit (nach Geschlecht) Wortlaut des Items: „Meine Arbeit belastet mich…“; ..... 59

Abbildung 4: Stofforientierung, Subjektorientierung und soziale Orientierung der Lehrkräfte (nach Geschlecht) ................................ 69

Abbildung 5: Lebensalter der Schülerinnen und Schüler (nach Geschlecht) ..................................................................................... 83

Abbildung 6: Höchster Bildungsabschluss mindestens eines Elternteils (nach Geschlecht) ........................................................... 84

Abbildung 7: Deutsch als Muttersprache (nach Geschlecht) ................. 86

Abbildung 8: Schülerinnen und Schüler, deren Muttersprache nicht Deutsch ist – Lebensalter beim Erwerb der deutschen Sprache ...... 87

Abbildung 9: Im Haushalt am meisten gesprochene Sprache (nach Geschlecht) ..................................................................................... 88

Abbildung 10: Anteil Schülerinnen und Schüler mit eigenen Kindern (nach Bildungsgang) ........................................................... 90

Abbildung 11: Berufliche Tätigkeit neben dem Schulbesuch (nach Bildungsgang) .................................................................................. 92

Abbildung 12: Schülerinnen und Schüler mit beruflicher Tätigkeit: Wöchentlicher Arbeitsumfang in Stunden (nach Geschlecht) ........... 93

Abbildung 13: (wöchentlicher) Umfang haushaltsbezogener Tätigkeiten (nach Geschlecht) ......................................................... 95

Abbildung 14: Schülerinnen und Schüler mit Kindern: wöchentlich aufgewendete Zeit für Kinderbetreuung (nach Geschlecht) ............. 96

Abbildung 15: Erlebter Schulformwechsel (Erster Bildungsweg)........... 98

Abbildung 16: Wiederholung einer Klasse/Jgst. (Erster Bildungsweg) ................................................................................. 100

Abbildung 17: Gründe, warum im Ersten Bildungsweg zunächst kein höherer allgemeinbildender Schulabschluss angestrebt wurde ............................................................................................. 101

Abbildung 18: Hauptsächliche Beschäftigung in den letzten 12 Monaten vor dem Eintritt in das AG/Kolleg..................................... 107

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Abbildung 19: Hauptsächliche Beschäftigung während des Besuchs der Abendrealschule (vor dem Eintritt in das AG/Kolleg) ..................................................................................... 109

Abbildung 20: Abgeschlossene (schulische oder betriebliche) Berufsausbildung (nach Bildungsgang) .......................................... 111

Abbildung 21: Schulform/Bildungsinstitution des Erwerbs des Mittleren Schulabschlusses ........................................................... 112

Abbildung 22: Motive des Erwerbs eines höheren allgemeinbildenden Schulabschlusses ........................................... 115

Abbildung 23: Erwartungen an Schulbesuch jenseits eines Schulabschlusses .......................................................................... 119

Abbildung 24: Einstieg in AG/Kolleg über Vorkurs (nach Bildungsgang) ................................................................................ 130

Abbildung 25: Verbleib der Schülerinnen und Schüler je Halbjahr ...... 131

Abbildung 26: Kumulierte Schullaufbahnen der Schülerinnen und Schüler der Kohorte 1 (Schulhalbjahre 1 bis 4) .............................. 133

Abbildung 27: Kumulierte Schullaufbahnen der Schülerinnen und Schüler der Kohorte 2 (Schulhalbjahre 4 bis 6) .............................. 134

Abbildung 28: Schullaufbahnen der Schülerinnen und Schüler, die zu Beginn des zweiten Schulhalbjahrs in Kohorte 1 eingestiegen sind ........................................................................... 135

Abbildung 29: Schullaufbahnen der Schülerinnen und Schüler, die zu Beginn des dritten Schulhalbjahrs in Kohorte 1 eingestiegen sind ................................................................................................ 137

Abbildung 30: Dinge, die vom Unterrichtsbesuch/Lernen abhalten… ..................................................................................... 140

Abbildung 31: Soziales Umfeld – (In)Homogenität und Richtung des Einflusses (1. und 4. Schulhalbjahr) ........................................ 145

Abbildung 32: Abbruchquote pro Schule und Schulhalbjahr (Kohorte 1 und 2) ........................................................................... 158

Abbildung 33: Anteil Abbruch (nach Muttersprache) (Kohorte 1) ........ 161

Abbildung 34: Anteil Abbruch (nach Abschluss einer Berufsausbildung) (Kohorte 1) ....................................................... 162

Abbildung 35: Anteil Abbruch (nach Bildungsgang) (Kohorte 1) ......... 162

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Abbildung 36: Anteil Abbruch (nach Bildungsbereich des Mittleren Abschlusses) (Kohorte 1) ............................................................... 164

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Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Erhebungsbausteine ............................................................ 36

Tabelle 2: Sample der Interviewten an den vier Fallschulen ................. 37

Tabelle 3: Übersicht der vorliegenden Datensätze zu den Schülerinnen und Schülern .............................................................. 44

Tabelle 4: Sample der Abgängerinnen und Abgänger ohne Abschluss ........................................................................................ 45

Tabelle 5: Tatsächliche vs. präferierte Arbeitszeiten der Lehrkräfte ...... 57

Tabelle 6: Pädagogische Überzeugungen – Stofforientierung und Subjektorientierung .......................................................................... 66

Tabelle 7: Identifikation mit der Schule (nach Bildungsgang und Schulhalbjahr) .................................................................................. 77

Tabelle 8: Wohnsituation der Schülerinnen und Schüler ...................... 89

Tabelle 9: Schülerinnen und Schüler mit beruflicher Tätigkeit: Wöchentlicher Arbeitsumfang in Stunden (nach Bildungsgang) ....... 94

Tabelle 10: Allgemeinbildende Schulform, an der der höchste Schulabschluss erworben wurde (Erster Bildungsweg) .................... 98

Tabelle 11: Besuch eines Abendrealschul-Kurses in den letzten 12 Monaten vor dem Besuch des AG/Kollegs ..................................... 108

Tabelle 12: Angestrebter Schulabschluss (nach Bildungsgang) ......... 121

Tabelle 13: Zehn häufigste Studienfachwünsche ............................... 123

Tabelle 14: Zehn häufigste Berufsziele ............................................... 124

Tabelle 15: Unterstützung durch wichtigste Bezugspersonen (nach Person) .......................................................................................... 144

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Vorwort Durch die anhaltende Bildungsexpansion werden in den Bildungssyste-men der Bundesländer ergänzend zum klassischen Weg über das Gym-nasium zunehmend mehr abiturführende Bildungsgänge etabliert. Ver-gleichsweise wenig Beachtung finden die ebenfalls zum Abitur führen-den Bildungsgänge im Zweiten Bildungsweg, dabei existieren diese be-reits seit vielen Jahrzehnten an Abendgymnasien und Kollegs. Sie rich-ten sich idealtypischer Weise an eine Klientel, die das (Pflicht-)Schulsystem bereits verlassen und eine berufliche Ausbildung an- und abgeschlossen hat, bevor sie in das schulische Bildungssystem zurück-kehrt, um dort ihre Berufs-, Arbeitsmarkt- und Lebenschancen durch den Erwerb des Abiturs zu erweitern.

Abendgymnasien und Kollegs offerieren schulische Angebote für Er-wachsene und erbringen in diesem hybriden Zuschnitt immer wieder er-hebliche Anpassungsleistungen, um ihrer sich verändernden Klientel Bildungschancen zu eröffnen. Sie haben vielfältige Unterstützungsange-bote für ihre Klientel – die sich substanziell von der gymnasialen Schü-lerschaft im Ersten Bildungsweg unterscheidet – entwickelt, die passge-nau auf die spezifischen (akademischen wie persönlichen) Lebenssitua-tionen der Schülerinnen und Schüler abzielen. Die Lehrkräfte an den Abendgymnasien und Weiterbildungskollegs gehen in der Schule und im Unterricht mit ihren Schülerinnen und Schülern zumeist konstruktive Ar-beitsbündnisse ein, sodass sich die erwachsenen Lerner als solche ak-zeptiert und ernst genommen fühlen.

Dabei stehen die Abendgymnasien und Kollegs nicht selten gerade mit Blick auf diejenigen Schülerinnen und Schüler, die den Zweiten Bil-dungsweg ohne den Erwerb des angestrebten höheren Schulabschlus-ses verlassen, unter politischem Legitimationsdruck. Unsere Daten zei-gen bezogen auf die Frage nach dem Umfang einer vorzeitigen Beendi-gung der Schullaufbahn vergleichbare Befunde wie die der Universitä-ten, die ihre Angebote ebenfalls an (in der Regel) erwachsene Personen richten. Der schulisch-organisationale Charakter der Kollegs und Abendgymnasien mit ihren zeitlich klar strukturierten und curricular vor-gegebenen Angeboten stellt die erwachsenen Lerner mit ihren privaten Verpflichtungen regelmäßig vor große Herausforderungen. Zugleich lie-fert die Studie auch Hinweise auf spezifische Schülergruppen mit einem erhöhten Risiko der vorzeitigen Beendigung der Schullaufbahn.

Das Bedürfnis, systematische Erkenntnisse zu den Bildungslaufbah-nen in Abendgymnasien und Kollegs zu gewinnen und öffentlich disku-tabel zu machen, ist in den Schulen selbst entstanden und wurde durch den Bundesring der Abendgymnasien sowie durch die Ringe der Kol-

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legs, der Abendgymnasien sowie der Abendrealschulen unterstützt. Für uns als Forschungsteam war die enge Zusammenarbeit mit den an der Studie beteiligten Schulen sowie die kontinuierliche Rückmeldung zu unseren Befunden eine große Bereicherung und Unterstützung. Wir sind den Schulen, die für die Realisierung dieser Studie viel Zeit investiert haben, zu großem Dank verpflichtet und möchten uns bei allen Akteuren nachdrücklich für die sehr kooperative Zusammenarbeit bedanken. Die Bereitstellung von differenzierten Daten mehrmals im Schuljahr stellt für die pädagogische Arbeit eine erhebliche zusätzliche Belastung dar. Dass wir Abbrecherinnen und Abbrecher des Abendgymnasiums und des Kollegs für Interviews haben gewinnen können, ist der Akquise der Lehrkräfte vor Ort zu verdanken.

Darüber hinaus gebührt unser Dank der Hans-Böckler-Stiftung, die diese Studie überhaupt erst möglich gemacht und uns während der ge-samten Projektzeit unterstützt hat. Der konstruktive Austausch im wis-senschaftlichen Beirat hat unsere Arbeit zu jeder Zeit stark bereichert. Bochum, im Januar 2019 Gabriele Bellenberg und Grit im Brahm

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1. Einleitung Die Studie „Bildungsverläufe an Abendgymnasien und Kollegs“ stellt die Frage, auf welche Art und Weise Schülerinnen und Schüler dieser Insti-tutionen die durch die Schulen bereitgestellten Bildungs- und Unterstüt-zungsangebote nutzen, in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Besondere Aufmerksamkeit wird auch dem an für Abendgymnasien und Kollegs bislang nicht erforschten Aspekt der Beendigung der Schullauf-bahn ohne Abschluss (Schulabbruch) geschenkt.

An der auf zweieinhalb Jahre angelegten Studie (10/2014 bis 03/2017) beteiligten sich insgesamt 21 Schulen aus fünf Bundesländern: Nordrhein-Westfalen (16 Schulen), Mecklenburg-Vorpommern (zwei Schulen), Schleswig-Holstein, Brandenburg und Hamburg (jeweils eine Schule).

Entlang der Bildungslaufbahn der Schülerinnen und Schüler in Abendgymnasien oder Kollegs werden dabei folgende Abschnitte der Bildungsbiografie im Rahmen ihrer Kontextspezifität näher betrachtet: • die Entscheidung für die Wiederaufnahme des Schulbesuchs • der Verlauf des Schulbesuchs • das vorzeitige Beenden der Schullaufbahn ohne den angestrebten

Schulabschluss des (Fach-)Abiturs Die Lernenden bringen unterschiedliche Voraussetzungen aus der Zeit vor dem erneuten Schulbesuch im Zweiten Bildungsweg mit, die als po-tenziell einflussreich für die weitere Bildungsbiographie gelten. Zudem ist die Wiederaufnahme des Schulbesuchs von individuellen Erwartun-gen begleitet und von unterschiedlichen Motiven getragen; diese er-scheinen insbesondere für das Verständnis der individuellen Nutzungs-qualität der schulischen Angebote bedeutsam.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen fokussieren sich im Pro-jekt die Forschungsperspektiven auf drei Leitfragestellungen: 1. Welche organisationalen und professionellen Rahmenbedingungen

für Bildungsverläufe liegen an Abendgymnasien und Kollegs vor und prägen damit als organisationale Angebote die Nutzung durch die Schülerinnen und Schüler?

2. Wie lassen sich die Bildungsverläufe von Schülerinnen und Schülern der Abendgymnasien und Kollegs beschreiben?

3. Welche Merkmale und Bedingungen kennzeichnen den Schulabgang ohne Schulabschluss (Schulabbruch) an Abendgymnasien und Kol-legs?

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Für die Datenerhebung und -auswertung wurden sowohl quantitative als auch qualitative Verfahren genutzt, die im Kapitel 2.2 vorgestellt werden. Die Datenerhebung fand zwischen Oktober 2014 und Februar 2017 statt.

Im ersten Teil der Studie werden der Forschungsstand zum Thema

sowie das Design der Studie dargestellt. Im zweiten Teil werden die Er-gebnisse der Studie präsentiert. Im Sinne des Angebots- Nutzungs-Modells werden dabei zuerst (Kapitel 3) die Abendgymnasien und Kol-legs multiperspektivisch anhand ihrer Bildungs- und Unterstützungsan-gebote (Kapitel 3.1), der Sichtweise der Lehrkräfte (Kapitel 3.2) sowie der Schülerschaft (Kapitel 3.3) beschrieben. Kapitel 4 beleuchtet die Frage nach der Wiederaufnahme des Schulbesuchs an einem Abend-gymnasium oder einem Kolleg im Kontext der sozioökonomischen Merkmale der Schülerinnen und Schüler (Kapitel 4.1), ihrer bisherigen schulischen und beruflichen Erfahrungen (Kapitel 4.2., 4.3), ihrer bil-dungsbezogenen Zugangsvoraussetzungen (Kapitel 4.4) sowie der Mo-tive und Ziele der Schülerinnen und Schüler (Kapitel 4.5) für diesen Schritt in ihrer Bildungsbiografie. Kapitel 5 geht auf die Bildungsverläufe der Schülerinnen und Schüler ein, indem die Schullaufbahnen (Kapitel 5.1) sowie unterstützende bzw. als hemmend wahrgenommene Faktoren für den Schulbesuch (Kapitel 5.2) vorgestellt werden, bevor die Perspektive der Lehrkräfte auf die Schülerschaft eröffnet wird (Kapitel 5.3). Das Kapitel 6 liefert eine Quantifizierung des Schulabb-ruchs (Kapitel 6.1), beleuchtet dieses Phänomen aus der Perspektive der Lehrkräfte (Kapitel 6.2) sowie aus der Perspektive der Abbrecherin-nen und Abbrecher selbst (Kapitel 6.3). Die Studie endet mit einer Zu-sammenfassung (Kapitel 7).

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Teil I – Forschungsstand und Design der Studie

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2. Abendgymnasien und Kollegs (Zweiter Bildungsweg) als Forschungsgegenstand Abendgymnasien und Kollegs ermöglichen Erwachsenen den nachträg-lichen Erwerb von allgemeinbildenden Schulabschlüssen. Damit gehö-ren sie zu denjenigen Bildungsangeboten, die unter dem Sammelbegriff „Zweiter Bildungsweg“ die Option eines nachgeholten allgemeinbilden-den Schulabschlusses zu einem biografischen Zeitpunkt eröffnen, an dem die Schullaufbahn im allgemeinbildenden Ersten Bildungsweg be-reits abgeschlossen wurde. Abendgymnasien und Kollegs gehören aus historischer Perspektive zu den ältesten Angeboten eines „Zweiten Bil-dungswegs“ und unterscheiden sich von weiteren Optionen (Volkshoch-schulen, Nicht-Schüler-Prüfung etc.) vor allem dadurch, dass sie in ihrer Gestaltung des Bildungsprozesses an den schulischen Organisations-formen des Ersten Bildungswegs orientiert sind. Obwohl die Anzahl der jährlich auf dem Zweiten Bildungsweg erworbenen Schulabschlüsse im Vergleich zum Ersten Bildungsweg gering ausfällt, ist die symbolische Relevanz solcher Bildungsangebote nicht zu unterschätzen, da sie indi-viduelle Bildungschancen auf das gesamte Erwachsenenalter ausdeh-nen. Vor dem Hintergrund der sozialen Selektivität des Ersten Bildungs-wegs wird mit den Angeboten des Zweiten Bildungswegs seit jeher nicht zuletzt die Hoffnung verbunden, zumindest mit Blick auf individuelle Bil-dungs- und Lebensverläufe die Folgen solcher Benachteiligung zu rela-tivieren, ggf. sogar aufzuheben – und damit letztlich auch die gesell-schaftliche Leitidee der Bildungsgerechtigkeit in kleinen Schritten zu verwirklichen (Dahrendorf/Ortlieb 1959).

Das Thema „Zweiter Bildungsweg“ steht eher am Rande des wissen-schaftlichen Aufmerksamkeitsfokus. Die wenigen Beiträge zum Thema beziehen sich zudem auf die gesamte Bandbreite der darunter gefass-ten Bildungsangebote, vor allem auf das Angebot nachgeholter Schul-abschlüsse durch Volkshochschulen („Abschlussbezogene Weiter-bildung“) oder auf Zugangswege zum Hochschulstudium ohne die ent-sprechende schulische Berechtigung der (Fach-)Hochschulreife („Dritter Bildungsweg“). Die geringe Anzahl von Publikationen, die sich spezifisch auf Abendgymnasien und Kollegs als den schulischen Organisations-formen eines Zweiten Bildungswegs beziehen, erlaubt es, nahezu den gesamten Themenbereich der Abendgymnasien und Kollegs generell als ein Forschungsdesiderat zu betrachten. Die vorliegende Studie ver-knüpft vor diesem Hintergrund die Perspektive der Bildungsangebote, welche diese Schulformen offerieren, mit der Perspektive deren Nutzung

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und beschreibt, inwiefern die Schülerinnen und Schüler in ihren je indivi-duellen Lebenskontexten und mit ihren Lernvoraussetzungen die vorge-haltenen Angebote (Bildungsgänge) im Verlauf von vier Semestern nut-zen. Auf diese Weise kann die Spezifik der Bildungslaufbahnen in Abendgymnasien und Kollegs nachvollzogen werden.

Das vorliegende Kapitel zielt darauf, zunächst den Forschungs-gegenstand „Abendgymnasien und Kollegs“ zu präzisieren (Kapitel 2.1). Daran anschließend werden die erkenntnisleitenden Fragestellungen und das methodische Design vorgestellt (Kapitel 2.2). 2.1 Abendgymnasien und Kollegs Das verhaltene Forschungsinteresse an Abendgymnasien und Kollegs ist wohl auf den hybriden Charakter dieser Einrichtungen zurückzufüh-ren, den man auch als schulische Erwachsenenbildung beschreiben kann. Einerseits unterrichten Abendgymnasien und Kollegs Erwachse-ne, deren Schulbesuch auf formaler Freiwilligkeit beruht – und sind so-mit eine Einrichtung des quartären Bereichs der Erwachsenen-/Weiterbildung. Andererseits vermitteln sie ausschließlich schulische Abschlüsse und sind in ihrem Alltag größtenteils entlang schulischer Prinzipien organisiert – und sind somit eine Einrichtung des Schulsys-tems. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht liegen Abendgymnasien und Kollegs als Forschungsobjekt somit auf der Grenze zwischen den Teildisziplinen der Schulforschung und der Erwachsenen-/Weiter-bildungsforschung. In der Konsequenz scheinen beide Disziplinen Abendgymnasien und Kollegs nicht als ihren originären Forschungs-gegenstand zu betrachten: die Schulforschung, weil es um Erwachsene geht, und die Erwachsenenbildungsforschung, weil es sich um allge-meinbildende Schulen handelt (Koch 2011).

Aufgrund der wenigen Forschungsarbeiten und der Spezifik des Ge-genstandes werden im Folgenden zunächst zentrale Merkmale des For-schungsgegenstandes „Abendgymnasien und Kollegs“ näher betrachtet (Kapitel 2.1.1). Es folgt ein kurzer Blick auf Abendgymnasien und Kol-legs im Spiegel der gegenwärtigen Schulstatistik (Kapitel 2.1.2).

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2.1.1 Abendgymnasien und Kollegs zwischen Schule und Erwachsenenbildung

Historische Entwicklung und Verortung im Bildungssystem Die historischen Wurzeln von Abendgymnasien und Kollegs in der Wei-marer Republik bzw. in der jungen Bundesrepublik sind untrennbar mit der Frage des Hochschulzugangs verbunden. Vor dem Hintergrund ei-nes exklusiv auf die höhere Schule begrenzten und zugleich hochgradig sozial selektiven Zugangs zu universitären Bildungsabschlüssen wurden Abendgymnasien und Kollegs als organisationale Alternative etabliert, um für Berufstätige einen nachträglichen, im Erwachsenenalter erwerb-baren Hochschulzugang zu ermöglichen. Als solche wurden Abendgym-nasien und Kollegs unter den Begriff des Zweiten Bildungswegs subsu-miert, der bis in die 1960er-Jahre vor allem für die Idee stand, eine Bil-dungslaufbahn jenseits der höheren Schule zu schaffen. Diese sollte von der Volksschule über die Berufsaufbauschule und das Kolleg an die Universität führen. Seit Ende der 1960er-Jahre steht der Begriff „Zweiter Bildungsweg“ vor allem für solche Bildungsangebote, mit denen nach einer Zeit der Berufstätigkeit ein allgemeinbildender Schulabschluss nachgeholt werden kann. Hierzu gehören neben Abendschulen und Kol-legs spätestens seit den 1970er-Jahren auch Weiterbildungseinrichtun-gen (insbesondere Volkshochschulen, an denen dies bereits in den un-mittelbaren Nachkriegsjahren umgesetzt wurde), die im Zuge der Institu-tionalisierungsprozesse öffentlicher Weiterbildung die Aufforderung er-hielten, u. a. Kurse zum nachträglichen Erwerb eines allgemeinbilden-den Schulabschlusses anzubieten (Kuhnhenne 2005). Ebenso sind dazu die privatwirtschaftlichen Anbieter zu zählen, die zumeist in der Form von „Fernstudien“ die autodidaktische Vorbereitung für die „Nichtschüler-Prüfungen“ begleiten.

Der nachträgliche Erwerb eines gymnasialen Schulabschlusses mit dem Ziel des Hochschulzugangs ist analytisch von der Idee eines Hoch-schulzugangs ohne entsprechenden Schulabschluss zu unterscheiden. Letzteres Konzept wird zur konzeptionellen Abgrenzung auch unter dem Begriff des „Dritten Bildungswegs“ angesprochen und erhält seit den 1990er-Jahren verstärkte bildungspolitische Aufmerksamkeit (Klu-ge/Scholz/Wolter 1990).

Historisch leicht zeitversetzt zur Gründung der gymnasialen Schul-formen „Abendgymnasium“ und „Kolleg“ wurden auch Abendrealschulen sowie Abendhauptschulen gegründet, sodass schulische Organisations-formen eines Zweiten Bildungswegs nicht mehr allein auf den Zugang zu einem Universitätsstudium zielen. Vielmehr bieten sie seit Langem – ebenso wie die Weiterbildungseinrichtungen und privatwirtschaftliche Anbieter – das gesamte Spektrum der allgemeinbildenden Schulab-

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schlüsse an (Sekundarstufe I und II), wozu seit den 1980er-Jahren auch die Fachhochschulreife gehört. In diesem Sinne haben die Einrichtungen des Zweiten Bildungswegs ihre ursprüngliche Kernfunktion – die Ermög-lichung eines Zugangs zur Universität jenseits der höheren Schule – konsequent erweitert und fungieren insgesamt als ein biografisch „nach-gelagertes Parallelsystem“ (Koch 2018) des allgemeinbildenden Ersten Bildungswegs.

Als solches nachgelagertes Parallelsystem ermöglichen die Angebote eines Zweiten Bildungswegs dieselben schulischen Berechtigungen wie Schulen des allgemeinbildenden Ersten Bildungswegs – und sind in der Folge ebenfalls vom „Funktionswandel“ dieser schulischen Berechtigun-gen in gleicher Weise betroffen. Durch die Bildungsexpansion werden immer mehr und immer höhere Schulabschlüsse vergeben, die im Ge-genzug an „Wert“ mit Blick auf berufliche Möglichkeiten und soziale Po-sitionen verlieren. Daher stellt der individuelle nachträgliche Erwerb ei-nes höheren Schulabschlusses zwar immer einen „Bildungsaufstieg“ dar, ist aber in intergenerationaler Perspektive keineswegs mit einem beruflichen oder sozialen Aufstieg gleichzusetzen. Für Personen, die den Ersten Bildungsweg ohne einen Schulabschluss oder nur mit einem Hauptschulabschluss beenden, ist aufgrund dieser Entwicklung der Ein-stieg in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt nur sehr beschränkt möglich. In diesen Fällen erfolgt der Einstieg in den Zweiten Bildungsweg oft nicht im Anschluss an eine Zeit der (geregelten) Berufstätigkeit, sondern soll überhaupt erst die Möglichkeit schaffen, in den Ausbildungs- und Ar-beitsmarkt einzutreten (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016; Harney/Koch/Hochstätter 2007).

Weitgehend unabhängig von diesen Entwicklungen des Zweiten Bil-dungswegs, jedoch ebenfalls in konsequentem Bezug auf den allge-meinbildenden Ersten Bildungsweg, hat das berufliche Bildungssystem im Verlauf der Nachkriegsjahrzehnte diverse institutionelle Möglichkeiten inkorporiert, selbst allgemeinbildende Schulabschlüsse vergeben zu können. Zum einen gehören dazu seit den 1970er-Jahren vor allem die in Ergänzung zur beruflichen Ausbildung erworbenen Schulabschlüsse, zum anderen werden diese aber auch durch explizit darauf ausgerichte-te Bildungsgänge (z. B. Fachoberschule oder berufliche Gymnasien) ermöglicht (Käpernick 2009; Schuchart 2011).

Vor dem Hintergrund einer solchen Pluralisierung der Möglichkeiten, einen allgemeinbildenden Schulabschluss auch im beruflichen Bildungs-bereich zu erwerben, ermöglichen aus der Perspektive individueller Bil-dungsverläufe die Einrichtungen des Berufsbildungssystems womöglich schon eine „zweite Chance“ und machen damit die Einrichtungen des „Zweiten Bildungswegs“ zu einer biografisch „dritten Chance“, einen sol-

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chen Abschluss nachzuholen. Umgekehrt können Einrichtungen des Zweiten Bildungswegs aus individueller Sicht eine „zweite Chance“ er-öffnen, die dann im beruflichen Bildungssystem in einer „dritten Chance“ auf einen höheren allgemeinbildenden Abschluss mündet. Die historisch gewachsene Kennzeichnung eines institutionellen Bereichs als „Zweiter Bildungsweg“ ist somit zu unterscheiden von einer Perspektive auf indi-viduelle Bildungsverläufe, die analytisch als Staffelung von Chancen (auf einen allgemeinbildenden Schulabschluss) betrachtet werden kann (Harney/Koch/Hochstätter 2007).

Die „institutionelle Eigenständigkeit“ von Abendgymnasien und Kol-legs (und ebenso von Abendrealschulen und Abendhauptschulen) hat in historischer Perspektive langfristig zugenommen. Unter institutioneller Eigenständigkeit wird im Allgemeinen die organisationale Eigenständig-keit der Schulen (eigene Schulleitung, eigenes Gebäude, eigener Stamm an Lehrkräften etc.) sowie eine eigene gesetzliche Grundlage und eine spezifische Schulverwaltung verstanden. Als ein prinzipiell freiwilliges öffentliches Bildungsangebot der Bundesländer ist diese insti-tutionelle Eigenständigkeit der Schulen des Zweiten Bildungswegs im-mer gefährdet – insbesondere in Zeiten rückläufiger Schülerzahlen auf-grund demografischer Veränderungen.

Zulassungsvoraussetzungen und Bildungsgänge Abendgymnasien haben sich seit dem Zeitpunkt der ersten Gründungen in der Weimarer Republik stark am Vorbild der höheren Schule orien-tiert. Die in den 1950er-Jahren gegründeten Kollegs wurden bildungspo-litisch zunächst als Oberstufe eines berufsbezogenen Bildungswegs zur Hochschulreife proklamiert, haben aber von Beginn an eine klar allge-meinbildende Ausrichtung angenommen (Oelmann 1985). Beide Schul-formen sind vielfach lokalen oder (v. a. im Falle der Kollegs) auch lan-despolitischen Initiativen entsprungen. Erste bundesweit übergreifende Standards wurden in KMK-Vereinbarungen von 1957 (Abendgymnasien) und 1965 (Kollegs) getroffen (Schick 1975). Veränderungen in der Gym-nasialen Oberstufe des Ersten Bildungswegs sind seitdem in aller Regel mit einigen Jahren Verzögerung dann auch zur Grundlage für Abend-gymnasien und Kollegs geworden. In diesem Zuge sind die Regelungen für beide Bildungsgänge zudem weitgehend angeglichen worden (Ge-samtdauer des Bildungsgangs, Zulassungsvoraussetzungen, Fä-cherstruktur etc.). Die zentrale Differenz besteht nun – abgesehen von der Tageszeit des Unterrichts – letztlich im Umfang der wöchentlichen Unterrichtsstunden (Kollegs mindestens 30 Stunden; Abendgymnasien mindestens 20 Stunden).

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Der Besuch von Abendgymnasien und Kollegs ist an Zulassungsbe-dingungen geknüpft, die bundeseinheitlich in jeweiligen KMK-Verein-barungen festgehalten sind1. Für Abendgymnasien und Kollegs gilt glei-chermaßen, dass Bewerberinnen und Bewerber bei Eintritt in die Einfüh-rungsphase folgende drei berufs-, bildungs- und altersbezogene Vo-raussetzungen erfüllen müssen: • den Nachweis einer abgeschlossenen Berufsausbildung oder einer

mindestens zweijährigen Berufstätigkeit (Führung eines Familien-haushalts ist der Berufstätigkeit gleichgestellt; anerkannt werden auch Zeiten des Wehr- oder Zivildienstes, des Entwicklungsdienstes sowie des Bundesfreiwilligendienstes)

• das Vorliegen des Mittleren Schulabschlusses • das Erreichen (mindestens) des 19. Lebensjahrs im Schuljahr der

Anmeldung Für den Fall, dass die bildungsbezogene Voraussetzung eines Mittleren Schulabschlusses (bzw. eines gleichwertigen Abschlusses) nicht vor-liegt, müssen die Bewerberinnen und Bewerber zunächst einen mindes-tens halbjährlichen Vorkurs besuchen. Kollegs dürfen ersatzweise eine Eignungsprüfung anbieten.

Mit Blick auf den Schulbesuch gilt für Abendgymnasien, dass die Schülerinnen und Schüler (mit Ausnahme der letzten drei Schulhalbjah-re) berufstätig sein müssen. Auch hierbei wird die Führung eines Famili-enhaushalts der Berufstätigkeit gleichgestellt und kann eine nachgewie-sene Arbeitslosigkeit als Ersatz einer Berufstätigkeit anerkannt werden. Demgegenüber sollen Schülerinnen und Schüler der Kollegs prinzipiell nicht berufstätig sein.

Die Schülerinnen und Schüler an Abendgymnasien und Kollegs wer-den in einigen Bundesländern von den Einrichtungen traditionell als „Studierende“ bezeichnet. Parallel dazu wird zudem das Schuljahr in zwei „Semester“ unterteilt, wobei ein Semester einem jeweiligen „klassi-schen“ Schulhalbjahr entspricht. Damit werden Bezeichnungen gewählt, die den Status der Lernenden als „Erwachsene“ sowie die Nähe zur Hochschule betonen. Als Teil der traditionellen Selbstbeschreibung der Einrichtungen dienen diese Begriffe nicht zuletzt der programmatischen Abgrenzung von Einrichtungen des Ersten Bildungswegs und damit letztlich der legitimatorischen Absicherung einer „institutionellen Eigen-ständigkeit“. Die Unterteilung des Schuljahrs in zwei Semester hat dar-

1 Vereinbarung zur Gestaltung der Abendgymnasien: Beschluss der Kultusminister-konferenz vom 21.06.1979 i. d. F. vom 07.02.2013; Vereinbarung zur Gestaltung der Kollegs: Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 21.06.1979 i. d. F. vom 31.05.2012.

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über hinaus auch Folgen für die Art und Weise, wie der Bildungsprozess im Alltag faktisch organisiert wird. So besteht für die Schulen die Gele-genheit, den Einstieg in die „Einführungsphase“ halbjährlich zu ermögli-chen (September und Februar). In der Folge werden dann auch zweimal pro Jahr Abiturprüfungen abgehalten bzw. die Schulabschlüsse verge-ben. Ebenso ermöglicht diese Art der Organisation den Schulen, die Wiederholung eines Schuljahrs für Schülerinnen und Schüler auf die Wiederholung eines Schulhalbjahrs („Semesters“) zu reduzieren.

Die im Verlauf der Jahrzehnte stattgefundene organisationale Anglei-chung von Abendgymnasien und Kollegs hat dazu geführt, dass die bei-den historisch different entstandenen Schulformen nun z. T. innerhalb einer Organisation als unterschiedliche Bildungsgänge angeboten wer-den. Diese Entwicklung ist vor allem im Bundesland Nordrhein-West-falen konsequent verfolgt worden, wo unter dem Dachbegriff eines „Wei-terbildungskollegs“ nicht nur die gymnasialen Bildungsgänge „Abend-gymnasium“ und „Kolleg“ subsumiert werden, sondern zudem auch der Bildungsgang der Abendrealschule angeboten werden kann.2 Im Zuge dieser äußeren Angleichung ist zudem eine innere Differenzierung anzu-treffen. So wird im Rahmen des Bildungsgangs „Abendgymnasium“ seit dem Jahr 2002 in Nordrhein-Westfalen (vereinzelt auch in anderen Bun-desländern) der Lehrgang „Abitur-Online“ nach dem Prinzip des „Blen-ded Learning“ angeboten. Ebenso bieten v. a. nordrhein-westfälische Weiterbildungskollegs den Bildungsgang „Abendgymnasium“ auch als Vormittagsunterricht unter der Bezeichnung „Abendgymnasium am Vormittag“ an (Bildungsportal des Landes Nordrhein-Westfalen, o. J.).

Die vier Bildungsgänge sind im Kern entlang der Frage der Berufstä-tigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler entworfen. Die traditionelle Bil-dungsgangvariante des „klassischen“ Abendgymnasiums beruht dabei auf der Unterstellung von Berufstätigkeit, die zudem „typische“ Zeitmodi (wochentags bis ca. 17 Uhr) aufweist. Demgegenüber beruhen Kollegs auf der Annahme, dass eine solche „klassische“ berufliche Tätigkeit während des dreijährigen Schulbesuchs eingestellt wird. Familientätig-keit stand historisch lange im Hintergrund und nur der seltene Bildungs-gang „Abendgymnasium am Vormittag“ ist dem Anspruch nach explizit auf Personen ausgerichtet, die im Schichtdienst arbeiten oder Kinder versorgen, welche vormittags Erziehungs- und Bildungsorganisationen besuchen. Der Bildungsgang „Abitur-Online“ entspringt dem Anspruch, eine zeitliche Flexibilität zu ermöglichen, die auf immer weniger „klassi-sche“ Arbeitszeiten reagiert. Aus einer Forschungsperspektive macht es

2 APO-WbK vom 23. Februar 2000 zuletzt geändert durch Verordnung vom 13. Mai 2015 (SGV.NRW.223)

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Sinn, diese Ausdifferenzierung der gymnasialen Bildungsgänge in Ana-lysen konsequent zu berücksichtigen.

Abendgymnasien und Kollegs als Forschungsdesiderat Als Forschungsgegenstand liegen Abendschulen und Kollegs auf der Grenze zwischen Schulforschung und Erwachsenenbildungsforschung und erhalten von beiden Disziplinen in den letzten zwei Dekaden ver-gleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Eine sichtbare Ausnahme von die-ser Regel sind zwei Publikationen: Zum einen erschien im Jahr 2009 ein Themenheft „Zweiter Bildungsweg“ der „Hessischen Blätter für Volksbil-dung“ (3/2009), zum anderen wurde fünf Jahre später das Themenheft „Das Versprechen sozialer Durchlässigkeit. Zweiter Bildungsweg und Abschlussorientierte Erwachsenenbildung“ der Online-Zeitschrift „Maga-zin erwachsenenbildung.at“ (21/2014) veröffentlicht. Da die Erwachse-nenbildungsforschung die Stichworte „Zweiter Bildungsweg“ und „nach-geholter Schulabschluss“ vornehmlich auf „klassische“ Weiterbildungs-einrichtungen – mit Blick auf die BRD v. a. auf Volkshochschulen – be-zieht, sind die schulischen Organisationsformen jedoch nur partiell Ge-genstand der dort versammelten Beiträge.

Richtet sich der Blick spezifisch auf Abendschulen und Kollegs, dann stehen zumeist die Schülerinnen und Schüler im Fokus – dies sowohl hinsichtlich ihrer Merkmale als auch mit Blick auf das sozial konstruierte Adressatenbild (Seitter 2009; Tosana 2008). Survey-Studien zu Abend-schulen und Kollegs sind selten (Harney/Koch/Hochstätter 2007; für Schulen des Zweiten Bildungswegs in Belgien: Glorieux et al. 2011). Vereinzelt werden auch Absolventinnen und Absolventen zum For-schungsgegenstand, etwa wenn sie in das Hochschulsystem eintreten (Alheit/Rheinländer/Watermann 2008; Spiegler/Bednarek 2014). Hierbei werden sie allerdings z. T. mit weiteren Personengruppen unter die „Non-traditionals“ gefasst und nicht immer als eigene Gruppe analysiert. Ähnliches gilt für den Übergang in den Ausbildungsmarkt, den Schuchart (2011) für Personen untersucht, die den Mittleren Schulabschluss im be-ruflichen Bildungssystem nachholen. Eine Literaturübersicht findet sich bei Freitag (2012), die den Zweiten und Dritten Bildungsweg unter der traditionalen Perspektive des (sozial selektiven) Hochschulzugangs thematisiert. Koch untersucht die Forschungsliteratur zu Abendschulen und Kollegs dagegen unter der wissenssoziologischen Perspektive, wel-che Legitimationsangebote sie für die Einrichtungen u. a. mit Blick auf den Erhalt ihrer institutionellen Eigenständigkeit anbieten (Koch 2018).

Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Wissen über Abendschulen und Kollegs begrenzt ist und diese somit insgesamt als ein weitgehen-des Forschungsdesiderat bezeichnet werden können. Dies gilt in beson-derer Weise für solche Fragestellungen, die aus der spezifischen Per-

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spektive der Akteure vor Ort als besonders relevant empfunden werden. So stellt etwa die hohe Anzahl von Schülerinnen und Schülern, die ihre erneute Schullaufbahn ohne einen weiteren Abschluss vorzeitig been-det, für die alltägliche Bildungspraxis ebenso wie für die generelle Legi-timierung der Einrichtungen eine kontinuierliche Herausforderung dar. Dieses Phänomen ist an Abendgymnasien und Kollegs nicht neu, wie zumindest in einer Randbemerkung schon vor einem halben Jahrhun-dert deutlich wird (Stöbe 1968, S. 91). Das Verlassen des Abendgymna-siums bzw. Kollegs ohne den angestrebten nachgeholten Schulab-schluss findet heute jedoch – etwa mit Blick auf die Bildungsexpansion und den damit einhergehenden Funktionswandel schulischer Berechti-gungen – zweifellos unter deutlich veränderten Rahmenbedingungen statt. Im Gegensatz bspw. zur Hochschulforschung, die sich dem Phä-nomen des Studienabbruchs seit den 1990er-Jahren zugewandt hat, ist das Phänomen mit Blick auf den Zweiten Bildungsweg nach wie vor ein Forschungsdesiderat.

Zwischen Erwachsenenbildung und Schule – der hybride Charakter von Abendgymnasien und Kollegs Abendgymnasien und Kollegs können aus analytischer Sicht als ein nachgelagertes Parallelsystem zum Ersten Bildungsweg kategorisiert werden, da sie als Teil des schulischen Berechtigungssystems diesel-ben Schulabschlüsse wie die Einrichtungen des allgemeinbildenden Ers-ten Bildungswegs anbieten. Als Parallelsystem können sie auch insofern deklariert werden, als sie den Bildungsprozess weitgehend schulisch or-ganisieren: Der Unterricht wird von staatlich geprüften Lehrkräften durchgeführt, er wird als Fachunterricht auf der Grundlage verbindlicher Lehrpläne gehalten, der Unterricht findet in 45-Minuten-Einheiten (bzw. Doppelstunden) statt, Schuljahres- bzw. Ferienzeiträume entsprechen dem Ersten Bildungsweg etc.

Zugleich werden Abendgymnasien und Kollegs in der Systematik des Bildungssystems zumeist dem quartären Bildungsbereich der Erwach-senenbildung/Weiterbildung zugeordnet. Diese Zuordnung basiert im Kern auf dem biografischen Zeitraum, zu welchem dieser Bildungspro-zess stattfindet: Die Entscheidung zum erneuten Schulbesuch wird von Erwachsenen getroffen und ist somit per definitionem das Ergebnis einer (formal) eigenständigen und freiwilligen Entscheidung.3 Dass es sich bei

3 Schülerinnen und Schüler im Ersten Bildungsweg werden in aller Regel im Verlauf des Besuchs der Gymnasialen Oberstufe ebenfalls volljährig und unterliegen auch nicht mehr der Schulpflicht. Insofern ist zu beachten, dass im Falle von Abendgym-nasien/Kollegs bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme des Schulbesuchs, spätestens im Verlauf des Aufnahme-Schuljahrs (s. o.), das Erwachsenenalter erreicht sein muss. Impliziert ist damit, dass die Bildungslaufbahn im allgemeinbildenden Schul-

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den Schülerinnen und Schülern um Erwachsene handelt, wird von Abendschulen und Kollegs bereits seit ihrer Gründungszeit zudem in den Selbstbeschreibungen betont. Diese etablierten Selbstbeschreibun-gen („Studierende“, „Schulen für Erwachsene“, „Semester“) sind z. T. auch in rechtliche Grundlagen eingeflossen und schlagen sich in organi-sationalen Elementen nieder, die Abendgymnasien und Kollegs aus analytischer Sicht zu einer „hybriden“ Einrichtung machen. Da die Schul-forschung einerseits und die Erwachsenenbildungs-/Weiterbildungs-forschung andererseits partiell unterschiedliche Perspektiven auf ihren jeweiligen Forschungsgegenstand einnehmen, ist der hybride Charakter von Abendgymnasien und Kollegs auch für ihre empirische Erforschung bedeutsam. Aus diesem Grund sollen im Folgenden Merkmale von Abendgymnasien und Kollegs resümiert werden, die auf verschiedene Bildungsbereiche verweisen und in ihrer Gesamtheit den spezifischen Hybridcharakter dieser Einrichtungen erzeugen.

Dass Abendgymnasien und Kollegs zunächst grundlegend als schuli-sche Bildungseinrichtung bezeichnet werden können, zeigt sich v. a. an-hand folgender Merkmale: • Berechtigungssystem und Selektionsfunktion: Die Aufgabe von

Abendgymnasien und Kollegs ist die Vermittlung von (allgemein-bildenden) schulischen Abschlüssen, wobei sie ausschließlich nur diese Zertifikate vergeben. Wie alle in das schulische Berechtigungs-system eingebundenen Bildungsorganisationen haben sie grundsätz-lich nicht nur die Funktion zu qualifizieren, sondern entlang von schu-lischen Leistungen ebenso zu selektieren (Allokationsfunktion). Bil-dungsangebote der Erwachsenenbildung/Weiterbildung hingegen nehmen in aller Regel gerade nicht am Berechtigungssystem teil (Ausnahme z. B. Aufstiegsfortbildung zum Meister mit Erwerb der Hochschulreife), weshalb auch die Selektionsfunktion für weite Berei-che der Weiterbildung nur eingeschränkt oder gar nicht vorliegt.

• Dauer und zeitliche Intensität: Die Dauer eines gymnasialen Bil-dungsgangs an Abendgymnasien bzw. Kollegs gleicht derjenigen ei-ner Gymnasialen Oberstufe des Ersten Bildungswegs (drei Jahre). Im Vergleich zu nichtschulischen Angeboten der allgemeinen und beruf-lichen Weiterbildung handelt es sich in doppelter Hinsicht um einen untypisch zeitintensiven Bildungsprozess, da er fast täglich und zu-dem über eine Dauer von mehreren Jahren stattfindet.

system bereits biografisch abgeschlossen wurde und dass es nicht einfach um deren bruchlose Fortführung im (noch) Jugendalter geht, sondern um eine Wiederaufnah-me auf der Basis der (formal) eigenständigen Entscheidung eines Erwachsenen nach einer Phase der Berufstätigkeit.

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• Standardisierung der Lerninhalte und Prüfungen: Wie im Schulsystem üblich, sind die Lerninhalte durch bundeslandeigene Richtlinien (Lehrpläne, EPA) (mindestens) festgelegt und z. T. Gegenstand zent-raler Prüfungen. Auch dies ist für den Bereich der Erwachsenenbil-dung ungewöhnlich.

• Zulassungsvoraussetzung: Als Zulassungsvoraussetzung für den Be-such eines gymnasialen Bildungsgangs wird u. a. der Mittlere Ab-schluss vorausgesetzt. Während Zulassungsvoraussetzungen in der Weiterbildung eher die Ausnahme darstellen, ist eine schulische Be-rechtigung als Eingangsvoraussetzung im Bereich schulischer Orga-nisationen (hier für den Zugang zu einem Bildungsgang, der Ab-schlüsse der Sekundarstufe II vermittelt) üblich und Ausdruck eben jenes gestaffelten schulischen Berechtigungssystems. Vor diesem Hintergrund ist für Abendgymnasien und Kollegs spezifisch, dass die Zulassungsvoraussetzungen die Möglichkeit beinhalten, über den Besuch eines „Vorkurses“ auch ohne einen Mittleren Abschluss einen Zugang zu erhalten. Dies setzt genaugenommen eben jenes schuli-sche Berechtigungssystem an dieser Stelle außer Kraft. Eine Beson-derheit ist weiterhin die aus der Gründungszeit des Zweiten Bil-dungswegs tradierte Voraussetzung einer mehrjährigen Berufstätig-keit (bzw. ein Äquivalent) oder einer abgeschlossenen Berufsausbil-dung. Entgegen der ursprünglichen Programmatik des Zweiten Bil-dungswegs wurden diese beruflichen Voraussetzungen jedoch nie systematisch zum Referenzpunkt des Unterrichts. Da sie allerdings auch kein Gegenstand einer darauf inhaltlich bezogenen beruflichen Weiterbildung sind (wie z. B. im Falle einer Aufstiegsfortbildung), handelt es sich hier um eine Aufnahmevoraussetzung, die weder der Logik des (beruflichen) Schulsystems noch derjenigen des Weiterbil-dungssystems entspricht. Man kann dies als ein spezifisches Element von Abendgymnasien und Kollegs klassifizieren.

• Umgang mit (Leistungs-)Heterogenität: An Übergängen des Bil-dungssystems müssen die aufnehmenden Bildungsorganisationen – trotz z. T. äußerer Leistungsdifferenzierung – nicht selten mit einer besonders ausgeprägten Leistungsheterogenität der Lernenden um-gehen (z. B. Übergang von der Primarstufe zur Sekundarstufe oder von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II) (Behörde für Schule und Berufsbildung 2012) Für Abendgymnasien und Kollegs gilt dies in besonderer Weise, da die Leistungsheterogenität nicht nur auf unter-schiedlichen abgebenden Organisationen beruht, sondern zudem auf einem unterschiedlichen Lebensalter der Lernenden sowie deren (zunehmend) pluralen Verläufen durch das Bildungssystem. In dieser Hinsicht ähneln sie eher Einrichtungen der Erwachsenen-/Weiter-

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bildung. Als Instrument des Umgangs mit einer solchen Leistungshe-terogenität steht Abendgymnasien und Kollegs insbesondere die Ein-gruppierung von Bewerberinnen und Bewerbern in einen Vorkurs zur Verfügung, um die Leistungsvoraussetzungen vor Eintritt in die ei-gentliche Schullaufbahn herzustellen bzw. anzugleichen. Darüber hinaus haben sie – im Gegensatz zu Weiterbildungsorganisationen oder auch bspw. zum Hochschulsystem – durch ihre schulische Or-ganisationsform vergleichsweise weniger Möglichkeiten, individuali-sierend auf die Leistungsheterogenität einzugehen. Ihnen steht letzt-lich und vor allem das schulische Instrument der Wiederholung (z. T. aber eben von Halbjahren („Semestern“) anstatt von ganzen Schul-jahren) zur Verfügung, welches eine (in der schulischen Organisation-form häufig angestrebte) Leistungshomogenisierung der Lerngruppen tendenziell verstärken kann.

Als typische Merkmale einer Einrichtung der Erwachsenenbildung las-sen sich folgende Aspekte festhalten: • Erwachsene Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Als zentrales Merk-

mal, das Abendgymnasien und Kollegs zu einer Einrichtung der Er-wachsenen-/Weiterbildung macht, ist die prinzipielle Volljährigkeit der Lernenden als Voraussetzung für den Schulbesuch zu nennen.

• Freiwillige Teilnahme: Als weitere, ebenso zentrale Charakteristik ist die Freiwilligkeit der Entscheidung zur Teilnahme am Bildungspro-zess zu nennen. Ist diese Entscheidung positiv ausgefallen, ist der Besuch von Abendgymnasien und Kollegs – mit Blick auf die Anwe-senheit – dann gemäß der schulischen Logik zwar verbindlich, enthält allerdings die permanente und v. a. sanktionslose „Exit-Option“. Die Verpflichtung zur konsequenten Anwesenheit ist zwar in der Erwach-senenbildung nicht durchgängig anzutreffen, ist allerdings in Bil-dungsangeboten mit einer Zertifikatsvergabe in aller Regel ebenso gültig. Dass die formale Freiwilligkeit der Entscheidung für einen Be-such von Abendgymnasien und Kollegs ggf. eine durch soziale, be-rufliche etc. Umstände erzwungene Entscheidung ist, ist ein Aspekt, der generell auch für die Erwachsenen-/Weiterbildung gilt. Die zentra-le Differenz zum Ersten Bildungsweg ist daher zunächst einmal for-maler Art: die fehlende Schulpflicht sowie die fehlende Vormund-schaft der Eltern.

• Abbruch des Bildungsprozesses: Während das Verlassen der Schule ohne Abschluss im Bereich des Ersten Bildungswegs ein Phänomen ist, welches zwar relevant, aber quantitativ eher überschaubar ist (als Vergleich: im Jahr 2016 verließen 6 % einer Alterskohorte die Schule ohne Hauptschulabschluss (Destatis 2016, S. 35)) und sich zudem

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auf spezifische Schulphasen und Schulformen konzentriert, ist der frühzeitige Abbruch von Bildungsprozessen im Bereich der Erwach-senenbildung ein verbreitetes und gängiges Phänomen (ebenso wie etwa im Hochschulbereich). Dass an Abendgymnasien und Kollegs ein relevanter Anteil der Schülerinnen und Schüler schon vor dem Erwerb eines Abschlusses die Schule wieder verlässt, ist in diesem Sinne als ein typisches Merkmal von Einrichtungen zu betrachten, die eine freiwillige Höherqualifizierung anbieten (Erwachsenenbildung, Hochschule). Ebenso kennen diese Bildungsbereiche ein Phänomen, welches auch an Schulen des Zweiten Bildungswegs anzutreffen ist: Bewerberinnen und Bewerber treten trotz einer erfolgreichen Zulas-sung gar nicht erst den Schulbesuch an. Für Abendschulen und Kol-legs gilt zudem parallel die Beobachtung, dass bereits zu Beginn des Bildungsgangs in den ersten Wochen besonders viele Schulabbrüche zu verzeichnen sind.

• Lebenssituation von Erwachsenen: Da es sich bei den Schülerinnen und Schülern an Abendgymnasien und Kollegs um Erwachsene han-delt, entspricht die Lebensphase derjenigen von Lernenden in der Erwachsenen-/Weiterbildung. Diese Lebensphase impliziert ent-sprechend differente Merkmale in der Lebenssituation bzw. insge-samt deutlich pluralere Modi der alltäglichen Lebensführung. Zur Le-bensphase Erwachsener werden insbesondere die Führung eines ei-genen Haushalts, eine berufliche Tätigkeit bzw. die eigenständige Fi-nanzierung des Lebensunterhalts sowie ggf. die Gründung einer Fa-milie gerechnet. Damit erweitert sich gegenüber dem Jugendalter, wie es den Ersten Bildungsweg weitgehend kennzeichnet, auch die soziale Rahmung, die Einfluss auf den Bildungsprozess nimmt. Ne-ben den Eltern und Peers sind dies nun ggf. auch die Lebenspartne-rin oder der Lebenspartner, eigene Kinder, aber auch in beruflicher Hinsicht Kolleginnen und Kollegen sowie nicht zuletzt ggf. der Arbeit-geber.

Als spezifische Mischformen differenter Bildungsbereiche lassen sich darüber hinaus folgende Merkmale konstatieren: • Relevanz beruflicher Tätigkeit: Für allgemeinbildende Schulen spielt

der Aspekt der beruflichen Tätigkeit der Lernenden für den Bildungs-prozess und dessen organisatorische Gestaltung i. d. R. keine Rolle. Demgegenüber ist er sowohl für berufsbildende Schulen als auch für den quantitativ umfangreichen Bereich der beruflichen Weiterbildung naturgemäß von zentraler Bedeutung. Die zeitliche Gestaltung der Bildungsgänge an Abendschulen und Kollegs richtet sich im Kern an dem Aspekt der beruflichen Tätigkeit (bzw. Äquivalenten) aus (s. o.)

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und weist in dieser Hinsicht – trotz ausschließlich allgemeinbildender Lerninhalte – Merkmale einer beruflichen Schul- und Weiterbildung auf. Eine Besonderheit ist allerdings, dass die berufliche Ausbildung bzw. berufliche Tätigkeit als Zulassungsvoraussetzung fungiert. Dies ist ansonsten nur bei spezifischen Varianten der beruflichen Weiter-bildung anzutreffen, welche sich dann aber im Bildungsprozess in-haltlich auf diese individuellen beruflichen Voraussetzungen beziehen (z. B. Aufstiegsfortbildung). Mit Blick auf die Rolle beruflicher Tätigkeit verknüpfen Abendgymnasien und Kollegs insofern Elemente aus drei Bildungsbereichen (allgemeinbildende Schulen, berufliche Bildung, berufliche Weiterbildung) in einer ganz eigenen Kombination.

• „Schuljahre“ in „Semester“-Logik: Abendgymnasien und Kollegs füh-ren den Unterricht in der Logik von Jahrgangsstufen (Einführungs- und Qualifikationsphase) durch und richten sich bei den Ferien- bzw. Schulzeiten nach den länderspezifischen Zeiträumen des Ersten Bil-dungswegs. Eine Spezifik ist die in einigen Bundesländern anzutref-fende „Semester“-Logik, in welche die Schuljahre eingeteilt werden und die entsprechende organisatorische Folgen aufweisen: Einschu-lung und Abschlussprüfung (Abiturprüfung) finden zweimal pro Schul-jahr statt und Einstufungen bzw. Wiederholungen können in der Logik von Schulhalbjahren stattfinden (s. o.).

• Mit diesem Element einer „Semester“-Logik für den Beginn der Bil-dungsgänge und die Abschlussprüfungen weisen Abendgymnasien ein organisationales Element auf, welches vor allem für Hochschulen üblich ist und auch in Teilen der Erwachsenenbildung (insbesondere Volkshochschulen) Anwendung findet. Dass die Wiederholung einer Jahrgangsstufe auf diese Weise auf ein Schulhalbjahr reduziert wer-den kann, stellt ein eigenes organisationales Element zwischen Schul- und Hochschul-Logik her. Das hochschulische Element, nur einzelne Kurse/Module zu wiederholen, wird jedoch zugunsten der schulischen Organisationslogik suspendiert, bei der grundsätzlich in allen Lernbereichen (Unterrichtsfächern) die Inhalte wiederholt wer-den müssen.4

• „Vorkurs“: Der ein- bzw. halbjährige Vorkurs, der den gymnasialen Bildungsgängen vorangeht, ist zwar nach schulischer Logik organi-siert, stellt allerdings für den allgemeinbildenden Schulbereich ein unübliches Instrument dar, um den Übergang in die Gymnasiale

4 Für die Erforschung von Abendgymnasien und Kollegs anhand der öffentlichen Schulstatistik verbindet sich mit der „Semester“-Logik ein Problem, da in ihr die Zah-len gemäß der Schuljahres-Logik erfasst bzw. dargestellt werden. Eine präzise Er-fassung von Übergängen, Wiederholungen und Schulabbrüchen liegt aufgrund der lediglich einmaligen Erfassung der Daten pro Schuljahr (Stichtag 15. Oktober) somit nicht vor.

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Oberstufe zu gestalten. Solche spezifischen Kurse, die an einem Übergang im Bildungssystem von den aufnehmenden Bildungsorga-nisationen angeboten werden, sind fachspezifisch im Hochschulsys-tem anzutreffen bzw. als etablierte Bildungsgänge im Übergangssys-tem der beruflichen Bildung. Als fächerübergreifende Einrichtung, die aber keinen eigenständigen Bildungsgang der Berufsvorbereitung darstellt, ist das organisationale Element des Vorkurses am ehesten als ein spezifisches organisationales Element von Abendgymnasien und Kollegs anzusehen, welches Elemente der Hochschule, der Be-rufsbildung und der allgemeinbildenden Schulbildung zusammenführt.

• Rolle des Schulabschlusses „Fachhochschulreife“: Im Gegensatz zur Gymnasialen Oberstufe des Ersten Bildungswegs, in welcher die Fachhochschulreife im Verhältnis zur Allgemeinen Hochschulreife quantitativ eine „Restkategorie“ darstellt, spielt die Fachhochschulrei-fe an Abendgymnasien und Kollegs eine deutlich wichtigere Rolle. Quantitativ erreicht sie zwar nicht den Umfang der Allgemeinen Hochschulreife, stellt jedoch keine Ausnahme dar, sondern ist eine etablierte und umfangreich genutzte Alternative zu dieser. Eine sol-che Rolle als „regulärer“ Schulabschluss spielt die Fachhochschulrei-fe nur im Bereich der Berufsschulen.

• Einzugsbereich der Einrichtungen: Während allgemeinbildende Schu-len des Ersten Bildungswegs oft in einer räumlichen „Quasi-Konkurrenz“ stehen, kennzeichnet Abendschulen und Kollegs mit Blick auf ihren Einzugsbereich, dass sie füreinander in aller Regel keine wechselseitige Konkurrenz darstellen. Ähnlich wie im Bereich der Erwachsenenbildung die Volkshochschulen oder wie z. T. auch berufliche Schulen, fungieren sie zumeist als alleiniges Angebot in ei-ner spezifischen Kommune bzw. Region. Parallele Angebote eines Nachholens von allgemeinbildenden Schulabschlüssen an Volks-hochschulen sind selten, stattdessen gibt es zumeist eine Arbeitstei-lung, bei der die Volkshochschulen vor allem das Nachholen des Hauptschulabschlusses anbieten (Harney/Koch/Hochstätter 2007). Eine ähnliche „Arbeitsteilung“ ist ebenfalls gängig, wenn sowohl ein Abendgymnasium als auch ein Kolleg als eigenständige Schulen in derselben Kommune differente Bildungsgänge anbieten.

Insgesamt zeigt diese Übersicht, wie Abendgymnasien und Kollegs in ih-rer organisatorischen Gestaltung des Bildungsprozesses zwar vornehm-lich auf schulische Elemente rekurrieren, zugleich aber in wesentlichen Hinsichten eine Einrichtung der Erwachsenen-/Weiterbildung darstellen und zudem Anleihen an Organisationsprinzipien des beruflichen Bil-dungssystems sowie des Bildungsbereichs der Hochschule vornehmen.

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Dieser hybride Charakter der Einrichtungen stellt für deren Erforschung eine Herausforderung dar, da die jeweiligen Forschungsdisziplinen (Schulforschung, Erwachsenen- bzw. Weiterbildungsforschung, Berufs-bildungsforschung, Hochschulforschung) z. T. differente Aspekte in den Blick nehmen und z. T. differente Fachbegriffe und Erklärungsangebote ausgebildet haben. Eine gehaltvolle Analyse von Abendgymnasien und Kollegs bedarf daher auch eines Blicks über die engeren Grenzen der einzelnen Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft.

2.1.2. Abendgymnasien und Kollegs im Spiegel der amtlichen Schulstatistik

Während zuvor vor allem der hybride Charakter der allgemeinbildenden Institutionen des Zweiten Bildungswegs betont wurde, widmet sich die-ses Kapitel insbesondere einer quantitativen Beschreibung auf Grundla-ge schulstatistischer Kennzahlen (Destatis 2017). Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei neben der gesamtdeutschen Darstellung auf die Bundesländer gelegt, die an der vorliegenden Studie teilgenommen ha-ben (Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein).

Schulen und Schülerschaft Die Anzahl der Abendgymnasien und Kollegs in Deutschland ist über die vergangenen Jahrzehnte hinweg als weitgehend stabil zu beschreiben: Im Schuljahr 2016/17 gab es in Deutschland 104 Abendgymnasien und 67 Kollegs; zehn Jahre zuvor waren es 100 Abendgymnasien und 66 Kollegs. Mit Blick auf die Gesamtheit aller allgemeinbildenden weiterfüh-renden Schulen machen sie mit 0,8 Prozent nur einen marginalen Anteil aus. Zwischen den Bundesländern gibt es deutlich erkennbare Differen-zen im Ausmaß der Verbreitung von Abendgymnasien und Kollegs. So befinden sich beispielsweise in Nordrhein-Westfalen mit 28 Abendgym-nasien und 26 Kollegs 31,6 Prozent aller bundesdeutschen allgemein-bildenden Bildungsinstitutionen des Zweiten Bildungsweges, die eine Hochschulreife vermitteln. In Bayern – als vergleichbar bevölkerungsrei-chem Flächenland – ist der Anteil mit 6,4 Prozent (5 Abendgymnasien und 6 Kollegs) deutlich geringer.

In Deutschland besuchten im Schuljahr 2016/17 insgesamt 29.006 Schülerinnen und Schüler ein Abendgymnasium oder ein Kolleg. Relati-viert an der Gesamtschülerschaft der allgemeinbildenden Sekundarstufe II – als in der amtlichen Schulstatistik herangezogene Vergleichsgrup-pe – entspricht dies einem Anteil von 2,9 Prozent. Betrachtet man die Schülerzahlen an Abendgymnasien und Kollegs innerhalb der Bundes-

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länder, wird deutlich, dass hinter diesem gesamtdeutschen Mittelwert deutliche Abweichungen nach unten wie oben stehen: Während die Schülerzahlen an Abendgymnasien und Kollegs in Schleswig-Holstein mit 318 Schülerinnen und Schülern (0,8 Prozent der Gesamtschüler-schaft der allgemeinbildenden Sekundarstufe II), in Mecklenburg-Vor-pommern mit 437 Schülerinnen und Schülern (2,6 Prozent) und in Bran-denburg mit 610 Schülerinnen und Schülern (1,9 Prozent) im Schuljahr 2016/17 insgesamt sehr gering ausfallen, zählen Hamburg mit 1.021 Schülerinnen und Schülern (3,3 Prozent) und insbesondere Nordrhein-Westfalen mit 13.138 Schülerinnen und Schülern (4,8 Prozent) zu den Ländern mit vergleichsweise hohen Schülerzahlen und -anteilen an Abendgymnasien und Kollegs.

Im Schuljahr 2016/17 werden in der Schulstatistik 14,1 Prozent der Schülerinnen und Schüler an Abendgymnasien und Kollegs als auslän-dische Schülerinnen und Schüler ausgewiesen.

Knapp die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler an deutschen Abendgymnasien ist im Schuljahr 2016/17 zwischen 21 und 26 Jahren alt; an Kollegs deckt diese Altersspanne sogar 63 Prozent der Schüle-rinnen und Schüler ab. Der Altersmittelwert beträgt an Abendgymnasien 24,8 Jahre, an Kollegs liegt er mit 24,1 Jahren geringfügig darunter.

Absolventinnen und Absolventen Insgesamt haben in Deutschland im Abgangsjahr 2016 4.783 Schülerin-nen und Schüler die Allgemeine Hochschulreife an einem Abendgymna-sium oder einem Kolleg erworben; weitere 2.484 Schülerinnen und Schüler gelten als Absolventinnen und Absolventen dieser Institutionen mit einer Fachhochschulreife. Dies entspricht relativen Anteilen von 1,6 Prozent aller Absolventinnen und Absolventen mit Allgemeiner Hochschulreife sowie 13,5 Prozent derer mit Fachhochschulreife. Bun-desweit werden 7,5 Prozent der an Abendgymnasien und Kollegs erfolg-reich abgeschlossenen Allgemeinen Hochschulreifeprüfungen von aus-ländischen Schülerinnen und Schülern abgelegt; bei den Absolventinnen und Absolventen mit Fachhochschulreife ist der Anteil mit 19,4 Prozent mehr als doppelt so hoch.

Ein Blick auf die Länder zeigt auch hier erkennbare Differenzen: Nach den Stadtstaaten Berlin (3,3 %) und Bremen (2,9 %) ist der Anteil der Absolventinnen und Absolventen von Abendgymnasien und Kollegs an allen Absolventinnen und Absolventen mit Allgemeiner Hochschulreife in Nordrhein-Westfalen mit 2,6 Prozent am höchsten. In Hamburg liegt die-ser Anteil bei 2,0 Prozent. In den übrigen Bundesländern, die an der vor-liegenden Studie teilnehmen, liegen die Anteile zwischen 0,3 Prozent in Schleswig-Holstein und 1,2 Prozent in Brandenburg und fallen damit deutlich geringer aus.

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Sowohl mit Blick auf die Anzahl der Abendgymnasien und Kollegs, die absoluten Schülerzahlen als auch bei den Absolventenzahlen wird die zentrale Stellung des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen deutlich: 31,6 Prozent aller deutschen Abendgymnasien und Kollegs liegen in Nordrhein-Westfalen, 45,3 Prozent aller Schülerinnen und Schüler an deutschen Abendgymnasien und Kollegs sowie 42,7 Prozent aller Ab-solventinnen und Absolventen mit Allgemeiner Hochschulreife stammen aus Nordrhein-Westfalen. Nicht zuletzt diese hohen Anteile begründen auch den nordrhein-westfälischen Schwerpunkt der Studie, deren Er-gebnisse im Folgenden vorgestellt werden.

2.2 Fragestellungen und methodisches Design der Studie Vor dem Hintergrund der wenigen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die sich explizit auf die Situation von Abendgymnasien und Kollegs bezie-hen, wurde das folgende Forschungsprojekt entworfen: Im Zentrum des Interesses steht die Frage, welche organisationalen und professionellen Rahmenbedingungen an Abendgymnasien und Kollegs vorliegen und wie dieses (Bildungs- und Unterstützungs-)Angebot durch die Schülerin-nen und Schüler genutzt wird. Dabei geht es vor allem um die (Bil-dungsverläufe der) Schülerinnen und Schüler. Besondere Aufmerksam-keit wird auch dem an für Abendgymnasien und Kollegs bislang nicht er-forschten Aspekt der Beendigung der Schullaufbahn ohne Abschluss (Schulabbruch) gewidmet.

An der auf zweieinhalb Jahre angelegten Studie (10/2014 bis 03/2017) beteiligten sich insgesamt 21 Schulen aus fünf Bundesländern: Nordrhein-Westfalen (16 Schulen), Mecklenburg-Vorpommern (zwei Schulen), Schleswig-Holstein, Brandenburg und Hamburg (jeweils eine Schule)5. Den Schwerpunkt des Samples stellen somit Schulen aus Nordrhein-Westfalen, welches traditionell (u. a. aufgrund der Einwohner-zahl) die mit Abstand meisten Abendschulen bzw. Kollegs aufweist (et-wa ein Drittel (31,6 %) aller bundesdeutschen Abendgymnasien und Kol-legs befindet sich in Nordrhein-Westfalen, vgl. Kapitel 2.1.2). Im For-schungsfokus stehen ausschließlich die gymnasialen Bildungsgänge, da

5 In einigen Bundesländern werden im Zweiten Bildungsweg traditionell die Begriffe „Studierende“ (statt Schülerinnen und Schüler) und „Semester“ (statt Schulhalbjahr) genutzt (s. o.). In der Darstellung der Forschungsergebnisse werden demgegenüber die Begriffe „Schülerinnen und Schülern“ sowie „Schulhalbjahre“ verwendet. Dies soll u. a. möglichen Missverständnissen bei Leserinnen und Lesern vorbeugen, die ohne eine Vorkenntnis feldspezifischer Sprachtraditionen auf die vorliegende Darstellung der Forschungsergebnisse zurückgreifen.

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die bisherige Forschung Hinweise darauf gibt, dass sich die Situation an Abendrealschulen deutlich von derjenigen an gymnasialen Bildungsgän-gen unterscheidet (Harney/Koch/Hochstätter 2007) und somit eigener, spezifisch darauf zugeschnittener Forschungsfragen und -designs be-darf.

Um solche Aspekte und Merkmale identifizieren und erfassen zu können, die für Bildungsverläufe sowohl mit als auch ohne den ange-strebten Schulabschluss relevant sind, wurden aufgrund des in Kapitel 2 ausgeführten disziplinären Grenzgängertums ausgewählte, im Kontext der Schul- und Hochschulforschung entwickelte Modelle zur Erklärung der Dropout- bzw. der Abbruchthematik ausgewertet. Analog zur ein-schlägigen nationalen wie internationalen Forschung wird dabei ein mul-tikausales, komplexes Wechselspiel zwischen den Lernausgangslagen und Verhaltensdispositionen, den spezifischen Umweltbedingungen der Lernenden sowie den institutionellen und organisationalen Rahmen-bedingungen der Schulen, an denen gelernt wird, zugrunde gelegt (Tinto 1993, Lee/Burkam 2003; Ricking/Schulze/Wittrock 2009; Heublein u. a. 2010). Zudem liegt eine Analyse auf Grundlage einer Angebots-Nutzungs-Logik nahe, die auch in der Schul- und Unterrichtsforschung (Helmke 2012) gängig ist. Demzufolge wird angenommen, dass Bil-dungsverläufe Ausdruck einer (gegebenen oder nicht gegebenen) Pas-sung von kontextuell bedingten, organisationalen (schulischen und un-terrichtlichen) Angeboten und deren (ebenfalls kontextuell bedingter) in-dividueller Nutzung darstellen. Aus der Perspektive einer individuellen Schullaufbahnbetrachtung erscheint es zudem sinnvoll, diese ange-nommenen Wirkungskomponenten auch mit dem zeitlichen Verlauf – vor der Entscheidung zur Wiederaufnahme, der tatsächlichen Wiederauf-nahme des Schulbesuchs sowie während des Schulbesuchs – zu ver-knüpfen. Damit wird die Phase vor der erneuten Aufnahme des Schul-besuchs bis zu der mit der Anmeldung getroffenen Entscheidung zur Wiederaufnahme als relevante Voraussetzung betrachtet, die (indirekt) Einfluss nimmt auf die (individuelle) Nutzungsqualität der organisationa-len Angebote während des Prozesses des Schulbesuchs. Das aus die-sen theoretischen Überlegungen abgeleitete Modell (vgl. Abbildung 1) ermöglicht schließlich eine differenzierte Betrachtung der unterschiedli-chen – auch im Längsschnitt relevanten – Phasen: • Der Entscheidung der Wiederaufnahme des Schulbesuchs (z. B. im

Kontext der bisherigen schulischen und beruflichen Erfahrungen und individuellen Kontexte),

• dem Verlauf des Schulbesuchs (z. B. im Kontext der Beweggründe bei der Anmeldung, der individuellen Wahrnehmung der organisatio-

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nal vorgefundenen Angebote und/oder der individuellen Kontexte) und

• dem vorzeitigen Beenden der Schullaufbahn ohne angestrebten Schulabschluss (z. B. im Kontext der schulischen Erfahrung im Zwei-ten Bildungsweg, der Motive zu Beginn, der Nutzung der schulischen Angebote und/oder der jeweiligen privaten/beruflichen Lebensbedin-gungen).

Demzufolge bringen die Lernenden unterschiedliche Voraussetzungen aus der Zeit vor dem erneuten Schulbesuch im Zweiten Bildungsweg mit (vgl. Kapitel 4.2), die als potentiell einflussreich für die weitere Bildungs-biographie gelten. Dazu gehören beispielsweise die (sozialen, familiä-ren) Herkunftsbedingungen der Schülerinnen und Schüler, die schuli-schen und beruflichen Voraussetzungen (schulische Vorerfahrungen im Ersten Bildungsweg, Berufserfahrung und berufliche Tätigkeiten vor dem erneuten Schulbesuch).

Zudem bringen die Lernenden mit der Entscheidung für die Wieder-aufnahme des Schulbesuchs Erwartungen mit, die von unter-schiedlichen Motiven gestützt werden, welche vor allem für die Nut-zungsqualität der schulischen Angebote bedeutsam erscheinen (vgl. Kapitel 4.5).

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Abbildung 1: Untersuchungsmodell zur Studie

Quelle: eigene Darstellung auf der Basis von Tinto 1993; Ricking/Schulze/Wittrock 2009; Heublein u. a. 2010

Mit der Entscheidung, im Zweiten Bildungsweg einen studienqualifizie-renden Schulabschluss zu erwerben, finden die Lernenden in den Orga-nisationen (Abendgymnasien und Kollegs) unterschiedliche Angebote vor (vgl. Kapitel 3.1). Dazu zählen die Bildungsgänge, die von den Schü-lerinnen und Schülern an den Standorten gewählt werden können, die schulischen Unterstützungsangebote sowie letztlich auch der Unterricht als konkretes Bildungs- und Lernangebot. Auch die professionellen Überzeugungen der Lehrenden bezogen auf die Ausgestaltung der Leh-rer-Schüler-Beziehung bzw. des pädagogischen Arbeitsbündnisses als Teil des unterrichtlichen Angebots werden als bedeutsame Bestandteile der Angebote berücksichtigt.

Diese Angebote können jedoch nur dann Wirkungen erzeugen, wenn sie von den Schülerinnen und Schülern auch effektiv genutzt werden.

Voraussetzungen der Lernenden

− (soziale) Herkunfts-

voraussetzungen − schulische Erfahrungen − berufliche Erfahrungen − Motive und Erwartungen an den

erneuten Schulbesuch

vor der Wiederaufnahme des Schulbesuchs

Organisational aus-gestaltete Angebote

− Bildungsgangangebote an

den Standorten − Unterstützungsangebote − Ausgestaltung des Unter-

richts

Kontext

− private und berufliche Lebensbe-dingungen

− Unterstützung

in der Familie und dem Freundeskreis

Prozess des Schulbe-suchs

Schulabschluss

vorzeitiger Abbruch ohne angestrebten Ab-

schluss

Entscheidung zur Wieder-aufnahme

des Schulbesuchs

Individuelle Nutzung der Angebote

− Lernmotivation und

-bereitschaft − Leistungsfähigkeit − akademische Integration − soziale Integration − Wahrnehmung der schuli-

schen und unterrichtlichen Angebote

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Daher wird im Rahmen der vorliegenden Auswertungen insbesondere die subjektiv wahrgenommene akademische und soziale Integration (Kontakt zu Lehrenden und Mitschülerinnen und Mitschülern) und die subjektive Wahrnehmung und Interpretation der schulischen und unter-richtlichen Angebote (z. B. Schul- und Unterrichtsklima, Wahrnehmung des unterrichtlichen Anforderungsniveaus etc.) berücksichtigt (vgl. Kapi-tel 3.3).

Da es sich bei den Schülerinnen und Schülern im Zweiten Bildungs-weg um Erwachsene handelt, müssen auch solche Kontexte betrachtet werden, die die Nutzungsqualität der schulischen Angebote potentiell beeinflussen. Dazu zählen insbesondere die privaten und beruflichen Lebensbedingungen (vgl. Kapitel 5.2). Viele Schülerinnen und Schüler haben soziale und/oder finanzielle Verantwortung für die eigene Familie und sind in Voll- oder Teilzeit berufstätig. Daher stehen die außerschuli-schen Lebensbedingungen (Berufstätigkeit, Elternschaft, Familienpflege) in der Regel in zeitlicher Konkurrenz zum Schulbesuch und den Lernak-tivitäten der Schülerinnen und Schüler.

Als weitere relevante Kontexte auf Seiten der Lernenden werden die individuellen, familiär und/oder sozial bedingten Unterstützungssysteme angenommen. So weisen Hillenbrand/Ricking (2011) auf die Bedeutung von Familie und Peers für die Entwicklungspfade der Schülerinnen und Schüler hin.

Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen lassen sich die Forschungsperspektiven auf drei Leitfragestellungen fokussieren: • Welche organisationalen und professionellen Rahmenbedingungen

für Bildungsverläufe liegen an Abendgymnasien und Kollegs vor und prägen damit als organisationale Angebote die Nutzung durch die Schülerinnen und Schüler?

• Wie lassen sich die Bildungsverläufe von Schülerinnen und Schülern der Abendgymnasien und Kollegs beschreiben?

• Welche Merkmale und Bedingungen kennzeichnen den Schulabgang ohne Schulabschluss (Schulabbruch) an Abendgymnasien und Kol-legs?

Wie die oben ausgeführten modellbezogenen Überlegungen nahelegen, wurde ein multiperspektivischer Ansatz gewählt, um die unterschiedli-chen Sichtweisen der beteiligten Akteursgruppen auf die Bildungsverläu-fe der Schülerinnen und Schüler umfassend analysieren zu können. Für die Datenerhebung und -auswertung wurden sowohl quantitative als auch qualitative Verfahren genutzt. Die Datenerhebung fand zwischen Oktober 2014 und Februar 2017 statt. Die insgesamt sieben differenten Erhebungsbausteine beziehen sich jeweils schwerpunktmäßig (jedoch

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nicht immer ausschließlich) auf eine der o. g. Fragestellungen und ha-ben entsprechend jeweils unterschiedliche thematische Schwerpunkte (vgl. Tabelle 1):

Tabelle 1: Erhebungsbausteine Thematischer Schwerpunkt

Erhebungsbaustein

Organisationale und professionelle Rah-menbedingungen

1. Dokumentenanalyse professioneller und organisationaler Angebote der Schulen (alle Schulen)

2. Leitfadengestützte Interviews mit Lehrkräf-ten (mit und ohne Funktionsaufgaben)

3. Fragebogenerhebung Lehrkräfte

Bildungsverläufe 4. Fragebogenerhebung Schülerinnen und Schüler (Längsschnitt)

5. Erhebung Schulverwaltungsdaten

Schulabgang ohne Abschluss (Schulab-bruch)

6. Leitfadengestützte Interviews mit Schulabb-recherinnen und -abbrechern

7. Leitfadengestützte Interviews mit Lehrkräf-ten (siehe Baustein 2)

Quelle: eigene Darstellung

Erhebungsbaustein 1: Dokumentenanalyse zur Deskription der institutionellen Bildungs- und Unterstützungsangebote Um die (organisationalen) Angebotsstrukturen beschreiben zu können, welche die individuellen Bildungsverläufe prägen, wurden die vielfältigen Bildungs- und Unterstützungsangebote ausgewählter Einzelorganisatio-nen exemplarisch anhand einer Dokumentenanalyse erfasst. Die Doku-mente wurden seitens der an der Studie beteiligten Schulen zur Verfü-gung gestellt.

Im Zuge der Analyse wurden 103 Dokumente sowie die jeweiligen In-ternetauftritte der Schulen analysiert. Hierbei handelt es sich z. B. um Schulprogramme, Jubiläumsschriften, Anmeldeunterlagen oder Lose-Blatt-Sammlungen. Diese Dokumente wurden u. a. hinsichtlich allge-meiner Organisationsmerkmale, außerschulischer Aktivitäten, der Struk-tur des Bildungsangebotes und der Ausgestaltung des Unterstützungs-angebotes gesichtet. Die Auswertung erfolgte angelehnt an die qualitati-ve Inhaltsanalyse gemäß Mayring (2002, S. 48 ff.).

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Erhebungsbaustein 2 und 7: Leitfadengestützte Interviews mit Schulleitungen bzw. Funktionsträgern und Lehrkräften Als Ergänzung und Vertiefung der Dokumentenanalyse wurden die or-ganisationalen Bildungs- und Beratungsangebote darüber hinaus an ausgewählten Schulen auf der Grundlage von leitfadengestützten Exper-teninterviews analysiert. Das Sample der Interviewstudie mit den Schul-leitungen sowie schulischen Funktionsträgerinnen und -trägern umfasst 19 Personen an vier Schulen. Mit der Bezeichnung „schulische Funkti-onsträgerinnen und -träger“ sind an dieser Stelle insbesondere Perso-nen gemeint, die Beratungsaufgaben wahrnehmen. Bei der Auswahl der vier exemplarisch fokussierten Standorte wurde auf eine größtmögliche Breite hinsichtlich folgender Merkmale geachtet: • Schulform bzw. Bildungsgang (Kolleg/Abendgymnasium), • Trägerschaft (staatlich/privat) und • Bundesland (innerhalb/außerhalb von Nordrhein-Westfalen).

Der für diese Erhebungen entwickelte Leitfaden umfasst Fragen (1) nach Zielstellungen der Bildungsangebote, (2) zum Verlauf des Schulbesuchs, (3) zum Beratungs- und Unterstützungsangebot sowie (4) Fragen zum Schulabbruch. An den Standorten wurden neben Vertre-terinnen und Vertretern der Schulleitung Personen interviewt, die an ih-rer Schule als Beraterinnen und Berater tätig sind. Überwiegend handelt es sich um Lehrkräfte, die zusätzlich Beratungsangebote offerieren. Ta-belle zeigt das Sample der Interviewpartner an den vier ausgewählten Schulen nach ihrer schulischen Funktion:

Tabelle 2: Sample der Interviewten an den vier Fallschulen

Standort 1 Standort 2 Standort 3 Standort 4 Schulleitung Schulleitung Schulleitung Schulleitung Beratungslehrer Beratungslehrer Studienberatung Laufbahnberatung Sozialberatung Verbindungslehrer Schulseelsorge Coachingprojekt Berufs- und Studi-

enberatung Sozialpädagogi-

sche Ehe-, Fami-lien und Lebensbe-ratung

AStA Abteilungsleitung Projektkoordination Lehrerrat Koordination für

Förderung

Quelle: eigene Darstellung

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Aus Gründen der höchstmöglichen Anonymität der Schulstandorte wie der Interviewpartner wird in der Darstellung der Ergebnisse stets die männliche Form (z. B. Beratungslehrer) gewählt, auch wenn die inter-viewte Person weiblich ist. Die Zugehörigkeit zu den Standorten wird nicht kenntlich gemacht, die Funktionstätigkeit benannt.

Über diese Erhebung hinaus wurden an vier nordrhein-westfälischen Standorten jeweils drei halbstrukturierte leitfadengestützte Interviews mit Lehrkräften geführt, in denen Bildungsverläufe und insbesondere das Thema „Schulabbruch im Zweiten Bildungsweg“ fokussiert wurden. Im Rahmen dieses Erhebungsbausteins konnten sieben Lehrerinnen und fünf Lehrer befragt werden. Der den Interviews zugrundeliegende Leitfa-den umfasst die folgenden zentralen Themenblöcke: (1) (Veränderung der) Schülerklientel, (2) Ausmaß von Schulabbruch, (3) wahrge-nommene Gründe für den Schulabbruch, (4) Umgang mit (potentiellen) Abbrecherinnen und Abbrechern sowie (5) wahrgenommene Möglichkei-ten, um einem Abbruch entgegenzuwirken.

Alle Interviews wurden angelehnt an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring im Sinne der Vorgehensweise einer inhaltlichen Struktu-rierung ausgewertet (Mayring 2008, S. 82 ff.). Für die Auswertung der Interviews wurde dementsprechend ein Kategoriensystem entwickelt, welches schwerpunktmäßig deduktiv aus den Leitfragen der Interviews abgeleitet wurde. Berücksichtigt wurden dabei beispielsweise folgende Inhaltsbereiche: Zielgruppe bzw. das Schülerklientel, Verlauf des Schul-besuchs, Bedingungen für einen erfolgreichen Schulbesuch, Schülerin-nen und Schüler mit besonderem Unterstützungsbedarf, Zeitpunkte mit besonderem Beratungsbedarf, Ablauf von Beratungsprozessen sowie Aufgaben bzw. Funktionen und Zukunft des Zweiten Bildungswegs. Darüber hinaus wurden wenige Auswertungskategorien induktiv aus dem Material heraus ergänzt, z. B. die Kategorien zum Lehrer-Schüler-Verhältnis. Erhebungsbaustein 3: Fragebogenerhebung Lehrkräfte Im Zeitraum zwischen Juni und September 2016 wurde eine standardi-sierte Onlinebefragung von Lehrerinnen und Lehrern an Abendgymnasi-en und Kollegs durchgeführt, in der sowohl individuelle Merkmale der Lehrkräfte als auch ihre Wahrnehmung der jeweiligen Organisation so-wie Angaben zur Ausgestaltung der Lehrer-Schüler-Beziehungen und unterrichtlichen Arbeitsbündnisse erfasst wurden. Es liegen Daten von 411 Lehrkräften aus 22 Schulen6 vor, die Rücklaufquote beträgt

6 Eine Schule hat lediglich an der Lehrkräftebefragung teilgenommen, sodass sich im Vergleich zu den anderen Erhebungsbausteinen eine Abweichung in der Anzahl der Schulen ergibt.

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49,0 Prozent. Die Geschlechterverteilung – 53,4 Prozent der Befragten sind Lehrerinnen, 46,6 Prozent Lehrer – in der Stichprobe entspricht fast dem Bundesdurchschnitt, wenn man Abendgymnasien und Kollegs zu-sammennimmt (2017/18 57 % weibliche und 43 % männliche Lehrkräfte (eigene Berechnungen nach Destatis 2018, Tabelle 7.2). Die meisten Befragungspersonen sind nach eigenen Angaben ausschließlich (64,4 %) bzw. überwiegend (17,4 %) in gymnasialen Bildungsgängen tä-tig, weitere 9,6 Prozent der Lehrkräfte geben an, zu etwa gleichen Teilen in beiden Bildungsgängen zu unterrichten.

Es wurden sowohl individuelle Merkmale der Lehrkräfte als auch ihre Wahrnehmung der Organisation erfasst; der Fragebogen beinhaltete neben Abfragen (berufs-)biographischer Merkmale, der Arbeitssituation und der beruflichen Zufriedenheit auch Likert-Skalen zur Einschätzung des pädagogischen Selbstverständnisses der Befragten sowie ihrer Wahrnehmung des Schulklimas und der organisationalen Schwerpunkt-setzungen. Die Reliabilitäten der eingesetzten Skalen wurden überprüft sowie mögliche Mittelwertunterschiede hinsichtlich des Geschlechts, der Berufserfahrung, des Bildungsgangs und der Arbeitszeit analysiert, da-bei wurde ein Signifikanzniveau von p <0,05 zugrunde gelegt.

Erhebungsbaustein 4: Fragebogenerhebung Schülerinnen und Schüler Die Bildungsverläufe an Abendgymnasien bzw. Kollegs wurden zudem über eine standardisierte Befragung der Schülerinnen und Schüler zu mehreren Befragungszeitpunkten erhoben (vgl. Abbildung 2): Die Schü-lerinnen und Schüler wurden zunächst am Beginn des insgesamt drei-jährigen gymnasialen Bildungsgangs befragt, d. h. im ersten Schulhalb-jahr (erster Befragungszeitpunkt). Es folgte eine weitere Erhebung im zweiten Schulhalbjahr (zweiter Befragungszeitpunkt) und zuletzt noch eine Erhebung kurz vor dem ersten möglichen Schulabschluss (Fach-hochschulreife) im vierten Schulhalbjahr (dritter Befragungszeitpunkt)7.

Die Startgruppe dieser Kohorte (K1) wurde im November/Dezember 2014 befragt. Da ein Teil der Abendgymnasien bzw. Kollegs im Gegen-satz zu Schulen des Ersten Bildungswegs halbjährlich einschult, wurden in diesen Schulen die Erstbefragung zusätzlich im April/Mai 2015 für die-jenigen Schülerinnen und Schüler durchgeführt, die erst zum 1. Februar aufgenommen wurden. Die zu diesem Zeitpunkt befragten Schülerinnen und Schüler nahmen somit in ihrem ersten Schulhalbjahr zum ersten Mal an der Befragung teil. Die beiden Befragtengruppen wurden zu-

7 Die halb- oder ganzjährigen Vorkurse wurden nicht in die Erhebung aufgenommen, da sonst im Rahmen des Untersuchungszeitraums die Kohorte nicht bis zum mögli-chen ersten Schulabschluss hätte verfolgt werden können.

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sammengefasst, da aus systematischer Sicht – wenn auch zeitversetzt – alle Befragten im Schuljahr 2014/15 einen gymnasialen Bildungsgang begonnen haben. Die Befragung der „Startgruppe“ der Kohorte fand somit im Zeitraum November 2014 bis Mai 2015 statt. Entsprechend fanden die folgenden Befragungszeitpunkte je nach Einschulungszeit-punkt zeitversetzt statt.

Aufgrund der Dauer des Forschungsprojekts konnte diese Kohorte (K1) nur bis zum Abschluss des vierten Schulhalbjahrs verfolgt werden, weshalb zum Beginn der Erhebungen (Schuljahr 2014/15) parallel die Befragung einer zweiten Kohorte (K2) initiiert wurde. Die erste Befra-gung richtete sich an Schülerinnen und Schüler im vierten Schulhalbjahr (erster Befragungszeitpunkt für K2) und wurde ein Jahr später kurz vor dem Abitur im sechsten Schulhalbjahr wiederholt (zweiter Befragungs-zeitpunkt für K2). Wie schon bei Kohorte 1 wurde auch bei Kohorte 2 aufgrund der halbjährlichen Einschulungspraxis einiger Schulen der ers-te Befragungszeitpunkt von November 2014 bis Mai 2015 durchgeführt.

Abbildung 2: Kohorten-Design der Schülerbefragung

Quelle: eigene Darstellung

Der Fragebogen enthält Items zu vier verschiedenen Themenbereichen, die für das Verständnis von individuellen Bildungsverläufen als relevant betrachtet werden: So werden in einem ersten Teil Fragen zum individu-ellen Bildungsverlauf vor dem Eintritt in ein Abendgymnasium bzw. Kol-leg erfragt (z. B. Schulabschluss im Ersten Bildungswegs; Gründe für Beendigung der allgemeinbildenden Schullaufbahn, Vorliegen einer Be-rufsausbildung). Den zweiten und umfangreichsten Teil bilden Fragen zu individuellen Motiven, Einstellungen und Wahrnehmungen hinsichtlich des erneuten Schulbesuchs (z. B. Motive des erneuten Schulbesuchs,

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angestrebter Schulabschluss und dessen Verwendung, berufliche Tätig-keit, demografische Merkmale). Drittens wird als Pendant dieser Indivi-dualaspekte auch die Wahrnehmung der sozialen Kontextfaktoren des Schulbesuchs erhoben (Unterstützung durch soziale Bezugspersonen, Hemmnisse für Schulbesuch und Lernaktivitäten). Viertens werden Fra-gen zu der Wahrnehmung der einzelschulischen Rahmenbedingungen in den Fragebogen aufgenommen (Schulklima, Lehrer-Schüler-Inter-aktion).

An der als Online-Erhebung durchgeführten Befragung nahmen Schülerinnen und Schüler von 21 Schulen teil. Im Rahmen der Kohor-te 1 wurden beim ersten Befragungszeitpunkt 1.841 gültige Fragebögen ausgefüllt (Rücklauf 78,3 %). Zu den beiden weiteren Befragungszeit-punkten verringerte sich diese Anzahl auf 1.561 Fragebögen (Rücklauf: 70,8 %) und 1.244 (67,5 %). In dem Rückgang des Rücklaufs zeigt sich das typische Problem der nachlassenden Teilnahmebereitschaft bei mehrfachen Befragungswiederholungen (Panel-Mortalität). In dem Rückgang der absoluten Zahlen dokumentiert sich dahingegen v. a. das im Interessenfokus der Studie stehende Phänomen des Verlassens des Abendgymnasiums bzw. Kollegs ohne einen dort erworbenen Schulab-schluss.

In der Kohorte 2 zeigt sich eine parallele Tendenz. Zum ersten Befra-gungszeitpunkt beteiligten sich 1.534 Schülerinnen und Schüler (72,8 %), zum zweiten Befragungszeitpunkt 717 Schülerinnen und Schü-ler (61,2 %). Der stärkere absolute Rückgang der gültigen Fragebögen ist hier allerdings nicht allein auf das Phänomen des Verlassens der Schule ohne dort erworbenen Abschluss zurückzuführen. Vielmehr ver-lässt (im Unterschied zum Ersten Bildungsweg) in der Kohorte 2 eine bedeutsame Anzahl von Schülerinnen und Schülern zwischen den bei-den Befragungszeitpunkten die Einrichtung mit dem Schulabschluss der Fachhochschulreife.

Für beide Kohorten gilt, dass sich die Befragung ausschließlich an diejenigen Schülerinnen und Schüler richtet, die zum Befragungszeit-punkt zur Schülerschaft der Schule gehören. Hatten Schülerinnen und Schüler die Schule zum erneuten Befragungszeitpunkt bereits verlassen (unabhängig davon, ob mit oder ohne Schulabschluss), nahmen sie nicht weiter an der Erhebung teil.

Für die gesamte Schülerbefragung (alle Befragungszeitpunkte beider Kohorten) beträgt die Rücklaufquote durchschnittlich 71,5 Prozent. Für Schulen des Zweiten Bildungswegs ist dies eine hohe Rücklaufquote. Sie ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Befragung während der Unterrichtszeiten durchgeführt wurde. Um die schulischen Abläufe möglichst wenig zu stören, mussten die Befragungen in jenen Zeiträu-

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men (in der Regel nach den Herbst- und Osterferien) durchgeführt wer-den, in denen Klausuren geschrieben wurden.

Dass somit auch die Erstbefragung der Kohorte 1 im Zeitraum nach den Herbst- bzw. Osterferien durchgeführt wurde, ist auch mit Blick auf die Thematik des Schulabgangs ohne Abschluss relevant. So kennen die Abendgymnasien und Kollegs ein Phänomen, welches ebenso in der Erwachsenen-/Weiterbildung sowie im Hochschulbereich weithin be-kannt ist: Zum einen gibt es Bewerberinnen und Bewerber, die trotz er-folgreicher Zulassung den eigentlichen Schulbesuch gar nicht erst be-ginnen. Zum anderen bricht insbesondere in den ersten vier bis sechs Wochen eines Bildungsgangs ein vergleichsweise hoher Anteil der Schülerinnen und Schüler den Schulbesuch wieder ab. Diesbezüglich kann man von einer „Entscheidungsphase“ sprechen, in welcher das faktische Passungsverhältnis zwischen Lernenden und Bildungsinstituti-on – welches dann im Falle von Abendgymnasien und Kollegs mehrere Jahre halten muss – auf die Probe gestellt wird. „Schulabbruch“ beruht somit in diesen ersten Wochen in aller Regel auf der Einschätzung sei-tens der Lernenden, dass dieses Passungsverhältnis nicht (zufrieden-stellend) vorliegt bzw. alternative Angebote des Ausbildungs- bzw. Ar-beitsmarktes attraktiver sind. Aus einer Forschungsperspektive ist je-doch vielmehr interessant, warum einige Schülerinnen und Schüler, die sich über diese anfängliche Findungsphase hinaus auf einen längerfris-tigen Schulbesuch einlassen, zu einem späteren Zeitpunkt die Schule dennoch ohne einen Abschluss vorzeitig verlassen.

Erhebungsbaustein 5: Schulverwaltungsdaten In einem separaten Prozess wurde anhand von Schulverwaltungsdaten die Schullaufbahn der befragten Schülerinnen und Schüler erhoben und ausgewertet. Um dies zu ermöglichen, wurden die Befragten im Zuge der Fragebogenerhebung gebeten, einen individuellen Anonymisie-rungscode anzugeben (bestehend aus mehreren Teilen wie bspw. dem Geburtstag der Mutter usw.). Zugleich wurden die Befragten aufgefor-dert, diesen Code ihrer Schule mitzuteilen, damit diese die individuellen Schullaufbahndaten anonymisiert (unter Angabe des Codes) an das Forschungsprojekt übermitteln konnte. Das Forschungsteam wiederum war dann anhand des anonymen Codes in der Lage, die Befragungsda-ten und die Schullaufbahndaten aufeinander zu beziehen. Auf diese Weise wurde ein anonymisiertes Verfahren sichergestellt, bei dem die subjektive Perspektive der Befragten mit den Angaben zur Schullauf-bahn gekoppelt werden konnte. Wie die Tabelle 3 zeigt, konnten auf diese Weise zusätzlich zur Befragung der Schülerinnen und Schüler für n = 1.656 (Kohorte 1) bzw. für n = 1.212 Befragte (Kohorte 2) die Schul-laufbahnen ausgewertet werden. Weiterhin konnten in einem zusätzli-

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chen Schritt die Aussagen der Schülerinnen und Schüler mit deren Schullaufbahndaten gekoppelt werden. Dies war für n = 1.386 (Kohor-te 1) bzw. für n = 1.065 Befragte (Kohorte 2) möglich (vgl. Tabelle 3).

Darüber hinaus wurden die an der Studie beteiligten Schulen gebe-ten, anhand der Schulverwaltungsdaten nicht nur die Schullaufbahnen der (spezifischen Gruppe der) Befragten zu dokumentieren, sondern zu-dem die Gesamt-Schülerzahlen (alle angemeldeten Schülerinnen und Schüler) des jeweiligen Schulhalbjahrs, welches befragt wurde, zur Ver-fügung zu stellen (wie viele Schülerinnen und Schüler sind in das Schul-halbjahr eingestiegen, wie viele waren am Ende noch anwesend etc.). Diese aggregierten Informationen dienten zum einen der Berech-nung der Rücklaufquote, zum anderen der Quantifizierung des Schulab-bruchs in einer aggregierten Querschnittsperspektive. Sie ergänzen so-mit die längsschnittlichen Informationen zu den Schullaufbahnen, welche nur für die Teilgruppe der Befragungsteilnehmerinnen und -teilnehmer vorliegen. Die aggregierten Informationen wurden – beginnend im Schul-jahr 2014/15 – für die Kohorte 1 (erstes Schulhalbjahr) und die Kohor-te 2 (viertes Schulhalbjahr) in Halbjahresschritten bis zum Ende der Ko-horte erhoben8.

8 Wie schon bei den Befragungsdaten wurden bei denjenigen Schulen, die zweimal pro Jahr einschulen, die Angaben für diese beiden Zeitpunkte (Schulbeginn Septem-ber und Februar) zusammengelegt und als eine (Gesamt-)Gruppe behandelt.

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Tabelle 3: Übersicht der vorliegenden Datensätze zu den Schülerinnen und Schülern

Datensatz

„Befragung“ Datensatz „Schullauf-bahnen“

Datensatz „Kopplung Befragung und Schul-laufbahnen“

Datensatz „Angemelde-te Schülerin-nen und Schüler“

Gruppe Befragte (Erste Befra-gung K1/K2 im Schuljahr 2014/15)

Befragte (Erste Befra-gung K1/K2 im Schuljahr 2014/15)

Befragte (Erste Befra-gung K1/K2 im Schuljahr 2014/15)

Angemeldete Schülerinnen und Schüler (2014/15 bis 2016/17)

„n“ K1: n = 1.841 K2: n = 1.534

K1: n = 1.656 K2: n = 1.212

K1: n = 1.386 K2: n = 1.065

21 Schulen

Rücklauf (Quote)

K1: 78,3 % K2: 72,8 %

K1: 70,5 % K2: 57,5 %

K1: 59,0 % K2: 50,5 %

100 %

Quelle: eigene Darstellung Erhebungsbaustein 6: Leitfadengestützte Interviews mit Schulabbrecherinnen und -abbrechern Ein weiterer Erhebungsbaustein zielte auf das Phänomen des Schulabb-ruchs. Um die Perspektive der Betroffenen zu analysieren, wurden Inter-views mit Schulabbrecherinnen und -abbrechern geführt. Die insgesamt 14 Gespräche fanden zwischen Juni 2015 und April 2016 statt. Die leit-fadengestützten Interviews wurden inhaltsanalytisch ausgewertet. Das der Auswertung zugrundeliegende Kategoriensystem wurde zunächst deduktiv entwickelt und anschließend induktiv aus dem Material heraus ergänzt. Der Interviewleitfaden umfasste vier Themenbereiche: (1) Gründe für den Schulbesuch, (2) Erfahrungen während des Schulbe-suchs, (3) Prozess des Schulabbruchs, (4) Pläne für die Phase nach dem Schulabbruch.

Im Rahmen der Durchführung dieser Teilstudie stellte sich, durchaus erwartungsgemäß, die Gewinnung von Interviewpartnern als große Her-ausforderung dar. Es wurde ein Maßnahmenset umgesetzt, in dem die Schulen entsprechende Personen vor Ort angesprochen und aufgefor-dert haben, sich mit dem Forschungsteam in Verbindung zu setzen. Zu-gleich erhielten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Incentive für die Teilnahme und es wurden ihnen, falls gewünscht, die Möglichkeit of-

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feriert, das Interview – aufgrund der größeren Anonymität – telefonisch durchzuführen.

Das Sample der interviewten Schulabbrecherinnen und Schulabbre-cher lässt sich wie folgt beschreiben (vgl. Tabelle 4): Das Alter der Inter-viewten liegt zwischen 19 und 45 Jahren (11 Frauen und 5 Männer). Es handelt sich um ehemalige Schülerinnen oder Schüler unterschiedlicher Schulstandorte. Der Bildungsgang „Kolleg“, der unter den Schulen des untersuchten Samples überrepräsentiert ist, stellt auch hier den haupt-sächlich besuchten Bildungsgang dar.

Tabelle 4: Sample der Abgängerinnen und Abgänger ohne Abschluss Name (anonymisiert)

Alter besuchtes Schulhalbjahr

Bildungsgang

Anna 34 – – Katharina 24 1 Kolleg Nadine 20 1 und Vorkurs Kolleg Lisa 24 1 Kolleg Markus 45 3 Abi-Online Melanie 44 0 Abi-Online Sandra 29 3 Kolleg Sabrina 24 2 Kolleg Julia 23 Vorkurs Vorkurs Jennifer 19 2 Kolleg Jan 38 1 Kolleg Tobias 19 Vorkurs – Vanessa 21 1 Kolleg Sarah 31 2 Kolleg Alexander 25 2 Kolleg Christian 23 5 Abendgymnasium Quelle: eigene Darstellung Die befragten Schülerinnen und Schüler haben lediglich in Ausnahmefäl-len vor der Beendigung der Schullaufbahn an einem Kolleg oder einem Abendgymnasium länger als zwei Schulhalbjahre die Schule besucht. Es wurden insgesamt 16 Personen interviewt, 12 der Interviews sind in die Auswertung eingeflossen. Die vier nicht berücksichtigten Interviews sind in Tabelle 4 durch Schattierung kenntlich gemacht. Die so markier-ten Interviews wurden nicht mit in die Auswertung einbezogen, da sich im Laufe der Interviewdurchführung herausgestellte, dass die Personen keinen Schulabbruch im hier definierten Sinne erlebt hatten. Sie hatten

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z. B. bereits vor Aufnahme des Schulbesuchs ihre Anmeldung zurück-gezogen oder den Schulbesuch formal lediglich unterbrochen (Beurlau-bung).

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Teil II – Ergebnisse der Studie Die vorliegende Studie zielt darauf ab, die Wahrnehmung und Nutzung der schulischen Bildungsangebote aus dem Blickwinkel der verschiede-nen Akteursgruppen zu beschreiben. Im Fokus stehen die Schülerinnen und Schüler unter der Perspektive ihrer Bildungsverläufe. Ein besonde-res Interesse gilt zudem der Deskription der Bildungs- und Unterstüt-zungsangebote der Einrichtungen sowie der Tatsache, dass ein relevan-ter Anteil der Schülerinnen und Schüler den erneuten Schulbesuch wie-der beendet, bevor der angestrebte Abschluss erreicht wird. • Zunächst werden die Bildungseinrichtungen mit ihren Bildungs- und

Unterstützungsangeboten in den Blick genommen und als rahmende Faktoren der Bildungsverläufe einer näheren Betrachtung unterzogen (Kapitel 3). Dabei werden die Schulen anhand von Dokumenten (Ka-pitel 3.1) und aus der Perspektive der Lehrkräfte (Kapitel 3.2) sowie der Schülerinnen und Schüler (Kapitel 3.3) beschrieben.

• In einem weiteren Schritt werden die Schülerinnen und Schüler an Abendgymnasien bzw. Kollegs näher betrachtet (Kapitel 4). Dabei geht es um die sozio-demografischen Merkmale derjenigen Schüle-rinnen und Schüler, die an einer der beiden Schulformen einen gym-nasialen Bildungsgang beginnen (Kapitel 4.1), ihre schulischen Vorer-fahrungen im Ersten Bildungsweg (Kapitel 4.2), ihre berufliche Situa-tion (Kapitel 4.3), die Erfüllung bildungsbezogener Zulassungsbedin-gungen (Kapitel 4.4) sowie ihre Motive und Ziele zur Wiederaufnah-me des Schulbesuchs (Kapitel 4.5).

• In Kapitel 5 werden dann die Schullaufbahnen der Befragten darge-stellt (Kapitel 5.1) und die subjektive Einschätzung von unterstützen-den und hemmenden Faktoren des Schulbesuchs (Kapitel 5.2). Schließlich wird die Perspektive der Lehrenden auf die Schülerinnen und Schüler fokussiert (Kapitel 5.3).

• Im letzten Kapitel wird auf das Phänomen „Schulabgang ohne Schul-abschluss“ eingegangen (Kapitel 6). Diesbezüglich geht es zunächst um eine Quantifizierung des Schulabbruchs (Kapitel 6.1), anschlie-ßend und vor allem um die Perspektiven der differenten Akteure: ei-nerseits der Lehrkräfte (Kapitel 6.2), andererseits der ehemaligen Schülerinnen und Schüler, die ihre Schullaufbahn vor dem Erwerb des angestrebten Schulabschlusses vorzeitig beendet haben (Kapi-tel 6.3).

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Aufgrund des weitgehend ausstehenden Wissens über den Gegenstand folgt die Darstellung der Forschungsergebnisse dem Anliegen, eine em-pirische Deskription im Sinne einer systematischen Bestandsaufnahme der grundlegenden Merkmale und Rahmenbedingungen von Bildungs-verläufen an Abendgymnasien und Kollegs vorzunehmen.

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3. Abendgymnasien und Kollegs – eine multiperspektivische Deskription Abendgymnasien und Kollegs stellen als Bildungseinrichtungen insofern einen ungewöhnlichen organisationalen Kontext dar, als sie schulische Elemente mit solchen der Erwachsenen- und Weiterbildung vereinbaren. Vor dem Hintergrund dieses hybriden institutionellen Charakters und auf der Grundlage des in Kapitel 2.2 entworfenen Modells (vgl. Abbildung 1) werden im nachfolgenden Kapitel die Abendgymnasien und Kollegs in den Blick genommen. Dabei geht es zum einen um die Bildungs- und Unterstützungsangebote als dem organisationalen Angebot und zum anderen um die Wahrnehmung und Ausgestaltung der Organisation und ihrer Angebote aus der Sicht der Lehrkräfte sowie aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler. Drei Frageperspektiven liegen diesem Kapitel zugrunde: • Welche (für schulische Organisationen typischen sowie untypischen)

Bildungs- und Unterstützungsangebote sind an Abendgymnasien und Kollegs anzutreffen? (Kapitel 3.1)

• Wie nehmen die Lehrkräfte ihre eigene berufliche Situation wahr, welche professionellen Überzeugungen liegen ihrer Bildungsarbeit zugrunde und wie stellt sich aus ihrer Perspektive das Beratungsan-gebot der Schulen dar? (Kapitel 3.2)

• Wie nehmen die Schülerinnen und Schüler ihre Schule bzw. ihre Lehrkräfte wahr? (Kapitel 3.3)

Zur Beantwortung dieser Fragen wird auf mehrere der Erhebungsbau-steine zurückgegriffen (vgl. Kapitel 2.2): Die Bildungs- und Unterstüt-zungsangebote der an der Studie beteiligten Schulen werden anhand schulischer Dokumente analysiert. Die Deskription der spezifischen Per-spektive der Lehrkräfte auf ihre berufliche Situation sowie ihrer pädago-gischen Überzeugungen rekurriert auf die Fragebogenerhebung der Lehrkräfte. Der Aspekt des Beratungsangebots wird auf der Grundlage von leitfadengestützten Interviews mit Lehrkräften in Funktionsrollen dargestellt. Die Perspektive der Schülerinnen und Schüler auf die schu-lischen Rahmenbedingungen wird anhand des standardisierten Frage-bogens ausgewertet, welcher im Rahmen der Schülerbefragung (Längs-schnitt) eingesetzt wurde.

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3.1 Bildungs- und Unterstützungsangebote der Schulen Bei den analysierten Einrichtungen handelt es sich um 21 Schulen, von denen die Mehrheit (16 Schulen) in Nordrhein-Westfalen, einige auch in anderen Bundesländern (je eine Schule in Brandenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein, zwei Schulen in Mecklenburg-Vorpommern) ange-siedelt sind. Eine Schule ist in privater, 20 in staatlicher Trägerschaft. Wenngleich in dieser Studie nur diejenigen Bildungsgänge interessieren, die zum Abitur bzw. zur Fachhochschulreife führen, so befinden sich im Untersuchungssample in der Mehrheit Schulen, in denen auch der Bil-dungsgang der Abendrealschule angeboten wird, der zur Fachober-schulreife führt: • Acht der Schulen bieten neben dem Studiengang des Kollegs und

des Abendgymnasiums noch die Abendrealschule an, • sechs Schulen offerieren die beiden gymnasialen Bildungsgänge des

Kollegs und des Abendgymnasiums, haben aber keine Abendreal-schule am Standort,

• zwei Schulen sind ausschließlich Kollegs, • drei Schulen sind ausschließlich Abendgymnasien, • zwei Schulen bieten neben dem Abendgymnasium noch die Abend-

realschule an, verfügen aber nicht über ein Kolleg-Angebot.

Schulen mit dem Bildungsgang Abendgymnasium weisen zumeist unter diesem Dach zielgruppenspezifisch differenzierte Angebote aus, denn neben dem klassischen Abendgymnasium gibt es noch das Abend-gymnasium am Vormittag bzw. Abi-Online, die zum selben Abschluss führen, aber jeweils Lernangebote zeitlich so verankern, dass damit un-terschiedliche zeitliche Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler be-friedigt werden (vgl. Kapitel 2.1.1).

Gemessen an der Anzahl der in den einzelnen Institutionen tätigen Lehrkräfte (hier werden Personen, nicht Vollzeitäquivalente erfasst; ge-zählt werden immer die Lehrkräfte für alle angebotenen Bildungsgänge) lassen sich grob drei Typen von Schulen unterscheiden: • Kleine Schulen (3 Schulen), an denen das Bildungsangebot von ma-

ximal 15 Lehrkräften offeriert wird. Hierbei handelt es sich um reine Abendgymnasien, die das Angebot auch nur in dieser klassischen Form am Abend anbieten oder aber in ausschließlicher Kollegform. Die Größe des Lehrerkollegiums an diesen Schulen ist daher ver-gleichbar mit einer typischen Grundschule.

• Mittelgroße Schulen (15 Schulen), die über eine Lehrkraftstärke zwi-schen 22 und 57 Personen verfügen, entsprechen von ihrer Größe

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her am ehesten einer durchschnittlichen Sekundarstufen-I-Schule. In der Mehrheit handelt es sich um Schulen, die entweder alle drei Bil-dungsgänge (Kolleg, Abendgymnasium, Abendrealschule) unter ei-nem Dach anbieten oder aber nur Kolleg und Abendgymnasium (6 Schulen).

• Große Schulen (3), die ein Kollegium in einer Stärke zwischen 60 und 85 Personen haben und damit der eines Gymnasiums ähneln. Zwei dieser vier Schulen bieten Kolleg, abendgymnasiale Angebote sowie die Abendrealschule an, die beiden übrigen verfügen ausschließlich über Angebote des Kollegs sowie des Abendgymnasiums.

Wie bereits in Kapitel 2.1.1 dargestellt, weisen Kollegs und Abendgym-nasien einen hybriden Charakter zwischen Erwachsenenbildung, Schule und Hochschulsystem auf. Gemäß dieser Logik wird in der folgenden Darstellung zwischen schultypischen (Kapitel 3.1.2) und schuluntypi-schen (Kapitel 3.1.1) Merkmalen unterschieden.

3.1.1 Schuluntypische Elemente zur Erhöhung der Passung zwischen individuellen Lernvoraussetzungen und schulischem Angebot Aus den Dokumenten der Schulen wird deutlich, dass sie zahlreiche An-gebote offerieren, die über schulische Merkmale hinausgehen. Dazu ge-hören Aufnahmegespräche und Aufnahmeprüfungen zu Beginn der insti-tutionellen Laufbahn in Abendgymnasien und Kollegs, aber auch spezifi-schen Vorkurse sowie ein breit gefächertes Beratungsangebot, dessen Zielstellungen vielfach nicht schulisch ausgerichtet sind.

Aufnahmegespräche und oder Aufnahmeprüfungen Bei Aufnahme bzw. im Vorfeld des Schulbesuchs greift an vielen Schu-len ein erstes Beratungsangebot, das auch Aspekte zukünftiger Unter-stützungsmöglichkeiten beinhaltet. Dieses umfasst in der Regel Ein-gangsgespräche (auch Beratungsgespräche oder Aufnahmegespräche genannt) und ggf. Einstufungstests in Deutsch, Mathematik und/oder Englisch. Darüber hinaus können Sprachtests im Bereich weiterer Fremdsprachen wie Russisch oder Spanisch eingesetzt werden. Diese Einstufungstests sind von den untersuchten Schulen teilweise nur für bestimmte Bildungsgänge vorgesehen. Sie dienen in erster Linie einer Einschätzung von Förderbedarfen und werden nicht als Selektions-instrument verstanden. Anhand dieser Tests entscheiden viele Schulen darüber, ob Interessenten und Interessentinnen mit Realschulabschluss

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in einen Vorkurs eingestuft werden (und über dessen Dauer) oder mit dem gewählten Bildungsgang unmittelbar beginnen können.

Viele Schulen nutzen die Erstbegegnung mit Schulinteressierten, um über die formalen Aspekte hinaus (Prüfung der rechtlichen Vorausset-zungen der Bewerberinnen und Bewerber) die Unterstützung der zu-künftigen Schülerinnen und Schüler dezidiert zu planen und halten die Informationen, die sie dazu durch fragebogengestützte, insgesamt sys-tematisierte Abfragen erheben, schriftlich fest. Zu den Informationen, welche die Schulen dafür bei ihren potenziellen Schülerinnen und Schü-lern einholen, gehören Aspekte wie z. B. der schulische und berufliche Werdegang des Bewerbers oder der Bewerberin, benötigte Hilfen, bis-heriges Durchhaltevermögen (Selbsteinschätzung), Vereinbarkeit des Schulbesuchs mit dem Privatleben, Migrationshintergrund, soziale und personale Kompetenzen.

Die Aufnahmegespräche und die daraus von Schulseite gestaltete Passung der Angebote zu den Voraussetzungen der Bewerberinnen und Bewerber werden von jeder Schule individuell unterschiedlich gestaltet und basiert in aller Regel auf langjährigen Erfahrungen. Ein zentrales Element zur Herstellung von Passung ist dabei die rechtlich für diese Schulen verankerte Möglichkeit, Vorkurse anzubieten.

Vorkursangebote für die Bildungsgänge Kolleg und Abendgymnasium Schülerinnen und Schüler, die an Abendgymnasien und Kollegs ein Abi-tur erwerben wollen, weisen sehr unterschiedliche schulische Biografien auf, bevor sie diesen Weg wählen, um ihre formale Qualifikation zu er-weitern. Nicht selten handelt es sich um Personen, deren letzter Schul-besuch zeitlich schon lange zurückliegt.

Aus diesem Grund bieten Abendgymnasien und Kollegs typischer-weise vorlaufende Lernangebote an, um die leistungsbezogen hetero-gene Schülerschaft auf die schulischen und abschlussspezifischen An-sprüche vorzubereiten. Ein typisches Element, die Lernvoraussetzungen für die Teilnahme an einem zum Abitur führenden Bildungsgang zu si-chern, ist das Angebot von Vorkursen. Klassisch und im Schulrecht ver-ankert dienen diese dazu, auch solchen Schülerinnen und Schülern den Schulbesuch zu ermöglichen, die nicht über den Realschulabschluss verfügen und daher diesen formalen Aspekt für den Zugang nicht erfül-len. Über die Teilnahme an Vorkursen ist dieser Schülergruppe der Weg zum Abitur an Kollegs oder Abendgymnasien dennoch möglich.

Die Schulen unseres Samples bieten ebenfalls Vorkurse an, eine ein-zige Schule hat dieses Angebot vor einiger Zeit eingestellt und überlässt diese Vorqualifikationsmöglichkeit zum Realschulabschluss der örtlichen Volkshochschule. Für alle anderen Schulen sind diese Vorkurse ein

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konstituierendes Merkmal. Dabei handelt es sich nach den Dokumenten allerdings um standortspezifisch ausgeformte und sich sehr voneinander unterscheidende Angebote, die auch für Personen geöffnet werden, die bereits über einen Realschulabschluss verfügen. Vorkurse erstrecken sich in aller Regel über ein oder zwei Schulhalbjahre, sind z. T. für das Kolleg und das Abendgymnasium gemeinsam gestaltet oder aber mehr-heitlich bildungsgangspezifisch ausgeformt. In aller Regel handelt es sich um Unterricht in den Hauptfächern Deutsch, Mathematik, Englisch und zweite Fremdsprache in einem wöchentlichen Umfang zwischen 12 und 20 Wochenstunden.

Einige der Schulen im Sample weisen auf ihren Homepages spezifi-sche Vorkurse für solche Schülerinnen und Schüler aus, deren Mutter-sprache eine andere als Deutsch ist und/oder deren Sprachkenntnisse im Deutschen gering sind. Eine der Schulen adressiert ihre diesbezügli-chen Angebote in arabischer Sprache, eine andere Schule bietet als zweite Fremdsprache Türkisch an. Diese Schülergruppe ist, das machen diese Angebote deutlich, für die Kollegs und Abendgymnasien eine quantitativ bedeutsame Zielgruppe. Soweit ersichtlich, umfasst das An-gebot in diesen Vorkursen spezifischen Deutschunterricht („Deutsch als Zweitsprache“) sowie teilweise ergänzend dazu auch Unterricht in den Hauptfächern.

Einige wenige der untersuchten Schulen haben eine äußere Differen-zierung der Eingangsklassen in der Einführungsphase des Kollegs nach dem Kriterium der Abschlussorientierung (Abschluss FHR oder AHR). Diese findet nicht zuletzt dort Anwendung, wo ein umfangreicher Aben-drealschulbereich (in NRW) dazu führt, dass eine große Anzahl der Ab-solventen in den gymnasialen Bereich übergeht, aber dort im Falle feh-lender beruflicher Vorerfahrung nur die Fachhochschulreife erwerben darf.

Umfassende Beratungsangebote während der Schulzeit Viele Schulen verfügen über ein breites Set an institutionalisierten Bera-tungsangeboten für ihre Schülerinnen und Schüler, die während der ge-samten Schulzeit in Anspruch genommen werden können. In aller Regel handelt es sich um die Bereiche Individualberatung, Laufbahnberatung, Sozialberatung, Studien- bzw. Berufsberatung. Einige Schulen offerieren schulseelsorgerische Angebote, Suchtpräventionsangebote oder ein Schulschlichtungsteam. Darüber hinaus existieren „klassische“ schuli-sche Beratungen zu Fehlzeiten oder schulischen Leistungen durch Ver-bindungslehrerinnen und -lehrer, Stufenkoordinatoren und -koor-dinatorinnen oder Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer.

Dass ein Beratungsschwerpunkt vieler Schulen auf der Zeit nach dem Schulbesuch im Sinne einer Studien- und Berufswahlbedeutung liegt,

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lässt den Schluss zu, dass sich Fragen der beruflichen Orientierung für die erwachsenen Lerner noch einmal neu stellen.

Kooperationen bestehen während des Beratungsprozesses mit den unterschiedlichsten Akteuren wie z. B. mit der Agentur für Arbeit, Studi-enberatungen der Hochschulen, kirchlichen Einrichtungen, städtischen Beratungsstellen, Drogen- und Suchtberatung, der Polizei, VHS oder psychologischen Beratungsstellen. Die Schulen im Sample erweisen sich in diesem Feld bereit vernetzt mit ihrem Umfeld.

3.1.2 (Pflicht)schultypische Elemente des Unterrichtsangebots sowie der Förderung

Zu den schultypischen Elementen gehören das Fächerangebot für die zum Abitur führenden Bildungsgänge an Abendgymnasien und Kollegs, die Förderangebote sowie Schulpartnerschaften und Austauschpro-gramme.

Unterrichtsfächer und unterrichtliche Förderangebote, Arbeitsgemeinschaften Die angebotenen Unterrichtsfächer sind durch die Vorgaben des Zent-ralabiturs vorstrukturiert und entsprechen den typischen gymnasialen Fächern. In kleineren Schulen ist das Angebot an Fächern einge-schränkter als an großen, das Spektrum bewegt sich allerdings in einem gymnasial typischen Rahmen. Neben den drei Kernfächern (Deutsch, Mathematik und Englisch) werden häufig auch die Fächer Geschichte, Arbeitslehre, Politik, Gesellschaftslehre, Erdkunde, Biologie, Chemie, Physik, Religion, Französisch oder Latein angeboten. Standortspezifisch werden darüber hinaus vereinzelt auch die Fächer Informatik sowie wei-tere Fremdsprachen wie Niederländisch, Spanisch, Russisch oder Tür-kisch offeriert. Zum Fach Türkisch, das nur an einer einzigen Schule als zweite Fremdsprache angeboten wird, markiert diese Schule die Funkti-onen dieses Angebots in ihrem Schulprogramm: „Mit dem Alleinstellungsmerkmal unserer Schule, das einzige Weiterbildungs-kolleg in Nordrhein-Westfalen zu sein, das Türkisch als Zweite Fremdsprache anbietet, setzen wir ein deutliches Zeichen im Sinne von Förderung und In-tegration von Menschen aus sogenannten `bildungsfernen´ türkischstämmigen Schichten. Für junge Erwachsene der zweiten und dritten Einwanderergenerati-on kann ein solches Angebot zum einen eine `Türöffner´-Funktion zur schuli-schen Weiterbildung überhaupt darstellen, zum anderen kann es helfen, die ei-gene sprachlich-kulturelle Identität zu festigen und ihre sprachlichen Kompeten-zen zu erweitern, um so ihre gesellschaftliche Integration zu befördern“ (Schul-programm 2016, S. 8).

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Schulen bieten darüber hinaus während der Einführungs- sowie z. T. auch während der Qualifikationsphase Vertiefungs- oder Förderkurse in den Hauptfächern oder – deutlich seltener – fächerübergreifend Kurse zur allgemeinen Lernunterstützung außerhalb des regulären Curriculums an.

Zudem verfügen die Schulen über ein Set an Arbeitsgemeinschaften unterschiedlichster Art, in denen die Schülerinnen und Schüler kulturelle, freizeit-, oder hobbybezogene bzw. sportliche Angebote wahrnehmen können.

Schulen engagieren sich des Weiteren, die spezifischen Kenntnisse ihrer Schülerklientel zertifizierbar zu machen – und kommen hier den erwachsenenbildnerischen Möglichkeiten nahe. Einige Schulen zertifi-zieren insbesondere die spezifischen Sprachkenntnisse ihrer Schülerkli-entel, um dieser anschließend eine europäische Anerkennung ihres Sprachenniveaus zu ermöglichen. So wird z. B. das TÖMER-Sprach-zertifikat vergeben, welches sich am Europäischen Referenzrahmen für Sprachen orientiert.

Schulpartnerschaften, Austauschprogramme, Förderverein Die untersuchten Schulen verfügen über weitverzweigte Schulpartner-schaften und breite internationale Austauschprogramme, wie sie auch an Gymnasien und Gesamtschulen zu finden sind. Mit dieser Art der Ausrichtung markieren die Schulen ihre gymnasiale, oberstufenbezoge-ne Bildungsorientierung, die über den rein schulisch-fachbezogenen Rahmen hinausgeht.

An vielen Schulstandorten existieren zudem schuleigene Förderver-eine, welche die Schulen vor allem finanziell unterstützen. Auch dies ist ein typisches pflichtschulisches Element.

Die besondere Interpretation des Bildungsauftrags der Kollegs und Abendschulen wird daran deutlich, dass zwei der Schulen des Samples in der jeweils ortsansässigen Jugendvollzugsanstalt Kurse anbieten, al-so sozusagen eine aufsuchende Pädagogik praktizieren.

Über die Beschreibungen hinaus, wie sie sich aus Dokumenten rekon-struieren lassen, wird folgend die Lehrerperspektive auf die Institution und ihre Angebote in den Blick gerückt.

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3.2 Die Bildungsarbeit an Abendgymnasien und Kollegs aus der Perspektive der Lehrkräfte In diesem Kapitel werden Perspektiven der Lehrkräfte auf die Institution, in der sie tätig sind, dargestellt. Dabei geht es zuerst um die Einschät-zung der Arbeitszeiten und das (spezifische) Belastungsempfinden der Lehrkräfte (Kapitel 3.2.1). Diesem Unterkapitel liegt die Fragebogenstu-die der Lehrkräfte (vgl. Kapitel 2.2) zugrunde. In Kapitel 3.2.2 wird an-hand der Interviews mit Lehrkräften in Funktionsrollen die Einschätzung der Beratungsaufgaben durch die Lehrkräfte dargestellt, bevor in Kapi-tel 3.2.3 die ihre pädagogischen Überzeugungen vorgestellt werden, die ebenfalls Gegenstand der Fragebogenstudie dieser Akteursgruppe wa-ren.

3.2.1 Arbeitszeitbezogene Wahrnehmungen und Beanspruchungsempfinden der Lehrkräfte

Die folgenden Auswertungen basieren auf der Online-Erhebung, an der sich 411 Lehrkräfte beteiligt haben (vgl. Kapitel 2.2). Dabei interessiert für die Beschreibung der Organisation, wie die im Abendgymnasium und Kolleg tätigen Lehrkräfte ihre Arbeitszeiten (, die durch die zeitliche Lage der Bildungsgänge bestimmt sind,) und ihre subjektiv wahrgenommene Belastung einschätzen.

Die Gruppe der befragten Lehrpersonen zeigt in Bezug auf die Be-rufserfahrung ein vergleichsweise heterogenes Bild.9 27, 2 Prozent der Befragten sind seit weniger als sechs Jahren im Zweiten Bildungsweg tätig, 25,1 Prozent zwischen sechs und zehn Jahren und weitere 24,1 Prozent elf bis 15 Jahre. 3,9 Prozent der befragten Lehrkräfte ge-ben eine Berufstätigkeit zwischen 16 und 20 Jahren an, weitere 19,7 Prozent sind seit mehr als 20 Jahren im Zweiten Bildungsweg tätig.

Die Analyse der tatsächlichen Arbeitszeiten offenbart, dass mehr Lehrkräfte im Vormittagsbereich als im Abendbereich tätig sind. In Be-zug auf die präferierten Arbeitszeiten zeigt sich ein auffällig hoher Anteil an fehlenden Werten (43,1 %). Insgesamt lässt sich eine leichte Favori-sierung von Arbeitszeiten im Vormittagsbereich feststellen, Tabelle 5 stellt die tatsächlichen und präferierten Arbeitszeiten gegenüber. Auf ei-ner vierstufigen Likert-Skala zur Messung der Zufriedenheit mit den Ar-beitszeiten bzw. dem Stundenplan zeigt sich eine geringere Zufrieden-

9 Soweit nicht anders vermerkt, werden in der Folge gültige Prozentwerte berichtet.

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heit von Befragungspersonen, die nach eigenen Angaben zu etwa glei-chen Teilen am Vormittag und am Abend unterrichten (M = 2,95; SD = 0,92) gegenüber Lehrkräften, die ausschließlich (M = 3,46; SD = 0,57) bzw. überwiegend vormittags (M = 3,27; SD = 0,662) oder überwiegend (M = 3,48; SD = 0,55) bzw. ausschließlich abends (M = 3,44; SD = 0,63) lehren.

Tabelle 5: Tatsächliche vs. präferierte Arbeitszeiten der Lehrkräfte Arbeitszeiten tatsächlich präferiert ausschließlich vormittags 21,3 % 30,8 % überwiegend vormittags 26,0 % 29,9 % vormittags und abends zu ungefähr gleichen Teilen

27,2 % 19,2 %

überwiegend abends 10,8 % 11,5 % ausschließlich abends 14,7 % 8,5 % 100,0 % 100,0 % Anmerkung: Gültige Prozentwerte (n = 389 bzw. 234) Quelle: eigene Darstellung

Mehrheitlich zeigen sich die Befragungspersonen zufrieden mit der Tä-tigkeit an ihrer Institution des Zweiten Bildungswegs, lediglich neun Be-fragte (2,3 %) geben an, dass sie lieber an einer Schule des Ersten Bil-dungswegs unterrichten würden. Als Begründungen werden hier bei ei-ner offenen Frage der Wunsch nach der Arbeit mit jüngeren Schülerin-nen und Schülern, ein höheres Leistungsniveau im Ersten Bildungsweg und eine Unzufriedenheit mit den Arbeitszeiten bzw. dem Stundenplan genannt. Darüber hinaus seien Schülerinnen und Schüler im Abendbe-reich häufig sehr müde, sodass viel Aufwand in die Schaffung einer an-regenden und motivierenden Lernumgebung gelegt werden müsse. 37 Befragte (9,4 %) haben keine Präferenz bezüglich des Bildungsganges, weitere 35 (8,9 %) würden gerne parallel in beiden Bildungsgängen un-terrichten.

311 der befragten Lehrkräfte geben an, lieber an einer Schule des Zweiten Bildungswegs zu unterrichten als an einer Einrichtung im Ersten Bildungsweg; dies entspricht einem Anteil von 79,3 Prozent an den gül-tigen Prozentwerten. Als Grund für eine Präferenz für ein Abendgymna-sium oder ein Kolleg wird in der offenen Frage insbesondere die Arbeit mit Erwachsenen benannt, die auch einen als positiv wahrgenommenen Wegfall der Elternarbeit bedingt. Die Lebenserfahrung der Schülerinnen und Schüler bereichere das Unterrichtsgesehen und ermögliche Ge-

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spräche auf Augenhöhe, zudem werden die Lernbereitschaft der Schüle-rinnen und Schüler sowie ihre Wertschätzung des Schulbesuchs als hoch eingeschätzt. Schul- und Unterrichtsklima werden von den Befrag-ten als positiv wahrgenommen; zudem wird im Abendgymnasium bzw. Kolleg eine Möglichkeit gesehen, den Lernenden Chancen zu ermögli-chen und Selektionsentscheidungen im Ersten Bildungsweg zu revidie-ren. Als positiv werden auch die Arbeitszeiten herausgestellt, ebenfalls werden von einigen Befragungspersonen die formalen Vorgaben als weniger reglementierend eingeschätzt als im Ersten Bildungsweg.

In Bezug auf die Zufriedenheit mit der beruflichen Tätigkeit können auf Basis von explorativen Faktorenanalysen die Dimensionen „Zufrie-denheit mit dem Unterricht“ (vier Items; α = 0,68), „Zufriedenheit mit dem Kollegium“ (zwei Items; α = 0,82) und „Zufriedenheit mit Bildungspolitik und organisatorischen Rahmenbedingungen“ (α = 0,51; Auswertung auf Einzelitemebene) identifiziert und Subskalen gebildet werden. Auf den vierstufigen Skalen zeigt sich eine überdurchschnittliche Zufriedenheit mit dem Kollegium (M = 3,09; SD = 0,71) und dem Unterricht (M = 3,13; SD = 0,41); hinsichtlich des Geschlechts und der Arbeitszeit lassen sich dabei keine signifikanten Unterschiede zwischen den Teilstichproben feststellen. Weniger positiv werden die Fortbildungsmöglichkeiten (M = 2,87; SD = 0,80) und insbesondere die Anerkennung der Schulen des Zweiten Bildungswegs durch die Bildungspolitik (M = 1,91; SD = 0,73) bewertet.

Eine weitere Skala misst die Arbeitssituation und die erfahrene Wert-schätzung (sechs Items; α = 0,77) durch Kollegiumsmitglieder oder Schülerinnen und Schüler; der Mittelwert der vierstufigen Skala liegt in der Gesamtstichprobe bei 3,21 und verweist damit auf eine als hoch eingeschätzte Wertschätzung (SD = 0,46). In Bezug auf diese Skala las-sen sich ebenfalls keine signifikanten Geschlechterunterschiede feststel-len, ebenso keine Unterschiede in Abhängigkeit von der Arbeitszeit.

Auf der fünfstufigen Skala zum Ausmaß der Arbeitsbelastung (vgl. Abbildung 3) ergibt sich über alle Lehrkräfte hinweg ein Mittelwert von 3,23 (SD = 0,88), wobei sich durchschnittlich eine leicht geringer einge-schätzte Belastung bei den Lehrerinnen zeigt (M = 3,17; SD = 0,90) als bei den Lehrern in der Stichprobe (M = 3,30; SD = 0,86), die Unter-schiede sind jedoch nicht signifikant. Die wahrgenommene Belastung liegt damit leicht über dem Mittelwert von 3. Beim Vergleich der Lehr-kräfte aus den unterschiedlichen Bildungsgängen geben Befragungs-personen, die ausschließlich (M = 3,23; SD = 0,88) oder überwiegend (M = 3,42; SD = 0,82) in gymnasialen Bildungsgängen unterrichten, eine höhere durchschnittliche Arbeitsbelastung an als ihre Kolleginnen und Kollegen in der Abendrealschule (ausschließlich in der Abendrealschule:

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M = 2,92; SD = 0,93; überwiegend in der Abendrealschule: M = 2,78; SD = 0,67), die Zellen sind jedoch teilweise gering besetzt und die Mit-telwertunterschiede in den durchgeführten Post-hoc-Tests nicht signifi-kant. Ebenfalls lassen sich keine überzufälligen Unterschiede in Bezug auf die vorwiegende Lage der Arbeitszeit feststellen.

Abbildung 3: Eingeschätzte Belastung durch die Arbeit (nach Geschlecht) Wortlaut des Items: „Meine Arbeit belastet mich…“;

Anmerkung: fünfstufige Skala von 1 = gar nicht bis 5 = sehr stark (n = 365) Quelle: eigene Darstellung Bei den Lehrern in der Stichprobe (M = 2,82; SD = 0,56) erfolgt nach ei-gener Angabe eine stärkere Trennung von Berufs- und Privatleben (drei Items; α = 0,63) als bei ihren Kolleginnen (M = 2,65; SD = 0,54), die Mit-telwertdifferenz ist signifikant. Lehrerinnen berichten häufiger, dass Schwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern oder Probleme aus dem Arbeitsalltag sie auch in der Freizeit beschäftigen. Die Analyse offenbart weder überzufällige Differenzen zwischen Lehrkräften aus unterschiedli-chen Bildungsgängen noch signifikante Unterschiede in Abhängigkeit von der Arbeitszeit.

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3.2.2 Beratungstätigkeiten aus der Sicht der Lehrkräfte Um die Spezifik der organisationalen Angebote der Kollegs und Abend-schulen mit Blick auf Beratungsangebote zu erfassen, wurden Interviews mit Lehrkräften geführt, die entweder zur Schulleitung gehören oder aber spezifische Funktionsaufgaben übernehmen (in aller Regel Bera-tungslehrkräfte) (vgl. Kapitel 2.2). Diese geben einen vertieften Einblick in die Angebote der Schulen, wie sie anhand der Dokumentenanalyse in Kapitel 3.1 dargestellt wurden. Aufnahmegespräche aus der Sicht der Lehrkräfte Ausgehend von der Annahme, dass der Eingangsphase in den Schulen eine besondere Bedeutung hinsichtlich eines erfolgreichen Schulbe-suchs zukommt, wie auch von der Feststellung, dass hier die Schulen besondere Aktivitäten entfalten, wurden die Interviewpartner zu diesen Aspekten spezifisch befragt.

Die Schulen widmen der Aufnahmesituation der zukünftigen Schüler-schaft viel Aufmerksamkeit. Über die Vorlage und Prüfung formaler Do-kumente hinaus finden bei Aufnahme z. T. zusätzliche persönliche Ge-spräche statt. Dabei werden in einigen Bereichen auch Tests genutzt, deren Funktion vor allem die Einstufung der Schülerinnen und Schüler in der Institution (Vorkurs, Bildungsgang etc.) sowie die Planung gezielter Fördermaßnahmen (vor allem im Bereich sprachlicher Unterstützung) ist, während die Eingangsselektion nicht das Ziel dieser Angebote dar-stellt.

Die Lehrkräfte nehmen die Aufnahme neuer Schülerinnen und Schü-ler als sensiblen Zeitpunkt für die Eruierung und Planung von Bera-tungsbedarfen im Sinne von Orientierungshilfen wahr. Erhöhten (schul-bezogenen) Beratungsbedarf sehen die Befragten auch zu solchen Zeit-punkten, in denen Schülerinnen und Schüler eine Rückmeldung über ih-ren Leistungsstand erhalten, beispielsweise wenn die Zeugnisse ausge-stellt werden.

Beratungsangebote und Beratungsanlässe Die institutionalisierten wie auch die informellen Angebote für die Bera-tung von Schülerinnen und Schülern stellen in den Augen der Inter-viewpartnerinnen und -partner eine Antwort auf die wahrgenommene große Heterogenität der Schülerschaft dar. Der Beratungsbedarf, den die Befragungspersonen sowohl außer- wie innerschulisch skizzieren, ist breit gefächert: Typische schulische Beratungsanlässe sind z. B. Fehl-zeiten der Schülerinnen und Schüler, ihre schulischen Leistungen und daraus resultierende Noten, Prüfungen oder Konflikte mit Lehrkräften

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und anderen Schülerinnen und Schülern. Auch Aspekte der Berufs- und Studienberatung oder Fragen zur Einstufung, zum Kurssystem oder bei sprachlichen Problemen und auch Herausforderungen durch die paralle-le Berufstätigkeit werden genannt.

Zugleich sind sich die Befragten einig, dass außerschulische Bera-tungsanlässe die Gespräche mit den Schülerinnen und Schülern domi-nieren, z. B. Fragen der Sicherung des Lebensunterhalts, gesundheitli-che bzw. psychische Probleme, familiäre/partnerschaftliche Probleme bis hin zu Obdachlosigkeit oder Drogenabhängigkeit. In diesen Inter-viewausschnitten wird deutlich, dass es sich bei den Schulen um Ein-richtungen der Erwachsenenbildung handelt und die Lebensaufgaben von Erwachsenen mit vollzeitschulischem Lernen in Konflikt treten kön-nen. Der folgende Interviewausschnitt, bei dem ein Seelsorger spricht, verdeutlicht diese Thematik exemplarisch:

„Es geht a) um unterrichtliche Dinge. Das ist aber nur ein geringerer Teil. Dafür haben wir Lerncoaching, das auch im Rahmen der Beratung stattfindet. Das ist auch ganz wesentlich. Aber das sind unterrichtliche Dinge. Häufig haben aber unterrichtliche Prozesse ihre Ursachen in außerordentlichen Zusammenhän-gen. Eben psychische Schwierigkeiten. Das heißt, wir haben zu tun mit Tren-nungs- – Wie fangen wir an? – Kindererziehung. Wir haben Erwachsene dort, mittlerweile haben fast 15 Prozent aller Leute Kinder. Das heißt, die Schwierig-keiten, die dadurch entstehen, dass man ein echtes Leben führt. Nicht mehr wie als Schule, sondern das ist ein echtes Leben. Das heißt mit Krankheit, mit ster-benden Eltern, mit kranken Kindern. Mit Kampf mit Sozialamt. Mit Unterhalts-fragen. Mit Trennungen. Mit Rechtsverfahren wegen Unterhaltsleistung des nicht mehr vorhandenen Vaters, der vielleicht nicht zahlt. Das sind also diese echten Dinge. Ja. Und diese Probleme, die belasten eben unsere Studierenden. Und dadurch haben sie eben mehr zu leisten als jetzt jemand auf dem Ersten Bildungsweg, der zwar mit Pubertät zu kämpfen hat und Hormonen und das ist auch alles ganz schrecklich. Aber es hat eine andere Qualität.“ (Schulseelsor-ge)

Die Beratungsanlässe werden – dies wird in den Interviews deutlich – oft mit Problemlagen der Schülerinnen und Schüler verbunden, die vielfältig sein können, aber schwerpunktmäßig außerschulisch zu verorten sind und mit einer eigenverantwortlichen Lebensführung zusammenhängen.

Deutlich wird zudem, dass die individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler, die sich aus ihrer (erwachsenen) Lebenssitu-ation ergeben, das Angebot der Schulen in starkem Maße prägen. Ein Sozialberater verdeutlicht dies wie folgt:

„Also wir haben, sage ich mal, eine unglaublich große Bandbreite an Problem-lagen. Also sehr viele Schüler haben erst einmal ein Problem mit dem BAföG-Amt, da geht es schlicht und einfach um die Finanzierung ihres alltäglichen Le-bens. Ganz viele haben aufgrund von, wie soll ich das formulieren, haben z. T. massive Schulden: Handy-Verträge irgendwann mal abgeschlossen, zahlungs-unfähig gewesen, die Augen davor verschlossen, Briefe nicht geöffnet und ha-ben dadurch eine finanziell massive Schieflage. Dann haben wir viele, ja doch

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es sind schon viele, mit psychischen Erkrankungen. Also es gibt durchaus Schüler hier, ich sage jetzt einfach mal Schüler (unv.), die bereits in psychologi-scher oder psychiatrischer Behandlung waren oder auch noch aktuell sind und aufgrund dieser psychischen Erkrankungen es auch immer wieder zu Proble-men kommt. Also aktuell habe ich sicherlich drei mit einer Psychose. Es gibt Personen mit einer paranoiden Schizophrenie. Depressionen, alles das, was man sich so vorstellen kann, kommt hier eben auch vor bei den Schülern.“ (So-zialberatung)

Die Interviewpartner schildern damit seitens der Schülerschaft schwieri-ge Lernausgangs- und Lebensbedingungen. Die wahrgenommenen Vo-raussetzungen werden auch als einschränkend für die aktuelle Schulbi-ografie gesehen. Vorherige Bildungs-, Lebens- und Scheitererfahrungen werden mit Aufnahme des Schulbesuchs in die Institution miteingebracht und bringen entsprechenden Beratungs- und Unterstützungsbedarf sei-tens der betroffenen Schülerinnen und Schüler mit sich:

„Hier sind auch viele, die schon mal psychisch erkrankt waren, dadurch eine brüchige Biografie haben, die hier sind und das Gefühl haben so: Das ist meine letzte Chance, irgendwie nochmal einen Schulabschluss zu machen. Da geht es auch nochmal viel dann um Biografiearbeit. Was hindert mich eigentlich aus meiner Geschichte, hier richtig einzusteigen, hier richtig mitzuarbeiten?“ (Le-bensberatung,)

Als ein weiterer wichtiger Beratungsanlass mit Blick auf die an das an-gestrebte Abitur anschließende Zielperspektive der Schülerinnen und Schüler wird seitens der befragten Lehrkräfte darauf verwiesen, dass ein Teil der Schülerinnen und Schüler übersteigerte und unrealistische Stu-dienvorstellungen besitzt, die aus Unsicherheiten und einem Mangel an Wissen resultieren:

„Manche haben auch, das muss ich sagen, manche haben komische Vorstel-lungen von irgendwelchen Studiengängen, die wollen dann Psychologie und die haben keine Ahnung, was Psychologie heute bedeutet und das ist z. B. was.“ (Verbindungslehrkraft)

„Das Schlimmste sind irgendwelche Schüler, die haben noch niemals einen Realschulabschluss, die kommen dann und sagen: ‚Ich will Medizin studieren‘.“ (Verbindungslehrkraft)

Darüber hinaus wird in den Interviews deutlich, dass neben Personen, die institutionalisierte Beratungsangebote offerieren, Klassen- und Fach-leiter umfangreiche Beratungstätigkeiten gegenüber der Schülerschaft übernehmen.

Die Schulen bieten einerseits eigene institutionalisierte Beratungsan-gebote an, andererseits bauen sie mit verschiedenen relevanten Part-nern Kooperationen auf, um die Bedürfnisse der Schülerschaft zu erfül-

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len. Es wird eine intensive Suche nach individueller Unterstützung durch die Schule deutlich:

„Ich hatte vorhin angesprochen, was auffällt, dass wir zunehmend auch psychi-sche Erkrankungen haben, dass man da in irgendeiner Form auch darauf rea-giert. Das haben wir dann z. B. in einer Kooperation mit einem außerschuli-schen Partner der Ehe- und Familienberatungsstelle da z. B. angebahnt, um eben besser auch diese Bedürfnisse berücksichtigen zu können der Studieren-den, damit sie dann eben wieder auch vielleicht verzögert, aber doch ihr Abitur hier noch schaffen auch aufgrund von Erkrankungen. […] Also wir lösen das Problem nicht selbst, sondern informieren über bestimmte Beratungsangebote und geben auch Möglichkeiten, dass sie sich dann vom Unterricht freistellen können, und haben dann die Möglichkeit, dann diese Probleme zu lösen, und kommen dann nach einem halben Jahr wieder und steigen dann wieder neu ein.“ (Schulleitung)

Die Interviewpartnerinnen und -partner benennen in den Gesprächen ein umfangreiches und vielfältiges Netzwerk an Kooperationspartnern, mit denen sie zusammenarbeiten:

„Ja, also bei mir sind das sehr viele. Also, das ist z. B. angefangen von der Po-lizei, Kriminalitätsvorbeugung, Opferschutz, Jugendgerichtshilfe, Jugendamt, freie Träger vor Ort, oder wenn es um das freiwillige soziale Jahr geht, alle nie-dergelassenen Angebote, Beratungsstellen, Erziehungsberatungsstelle, Schul-psychologie. Mit all diesen kooperieren wir.“ (Sozialberatung)

Teilweise werden die Lernvoraussetzungen als zu schwierig einge-schätzt, um seitens der Schule in ausreichendem Maße Unterstützung gewähren zu können:

„Wir stellen fest, dass psychische Probleme zunehmen, die wir zuweilen nicht bewältigen können. Also die Dispositionen, die sie mitbringen, die gehören in eher eine Therapie, als dass sie hier in der Schule, sage ich mal, therapiert werden könnten. Das ist nicht so einfach.“ (Schulleitung)

Die Lehrkräfte erleben die Frage, wie weit die Unterstützung über ihre fachliche Rolle als Lehrkraft hinausgehen kann, als Gradwanderung und stellen ihr diesbezügliches Verhalten z. T. auch kollektiv infrage. Damit ist auch die Frage nach der eigenen Lehrerrolle und ihren professionel-len Grenzen verbunden. Darüber hinaus wird auch festgestellt, dass der Beratungsbedarf in den letzten Jahren zugenommen hat:

„Das ist immer so eine Gradwanderung. Wir haben tausend Diskussionen ge-führt darüber, ‚Wie weit können wir Menschen mit – sagen wir mal – psychi-schen Problemen helfen?‘. Können wir nicht. Wir können zuhören, wir können irgendwie da sein, ich mein, ich kann auch jemanden an die Hand nehmen, aber das ist schon grenzwertig, nicht? Und dann kann ich ihm sagen, `Geh da-hin, geh dahin, geh dahin. Da sind Profis, die kümmern sich´. Das kann ich alles tun, aber mehr eigentlich nicht. So, und dann ist die Frage: Wer sind wir hier und in welcher Funktion sind wir hier tätig? Bin ich jetzt Fachmann für Deutsch

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und Geschichte – jetzt in meinem Fall – oder für Mathe und Chemie oder was auch immer, für das jeweilige Fach, oder bin ich – auch wenn es sich um Er-wachsene handelt – bin ich auch als, ja, als Pädagoge im weitesten Sinne, als Berater hier aktiv, und wie kann ich die Studierenden da unterstützen? Und die-se Unterstützungsnotwendigkeit oder der Bedarf – um es so zu formulieren –, der ist aus meiner Sicht erhöht – der hat sich erhöht.“ (Schulleitung)

Die Frage nach der Grenze der Lehrerrolle wird von einem Inter-viewpartner auch auf die Außenwirkung der Institution gewendet. In sei-nen Augen besteht die Gefahr, dass der schulische Charakter durch ei-nen zu stark therapeutischen Ansatz in den Hintergrund gedrängt wird:

„Wir stehen immer zwischen der Gefahr, wenn wir die Beratung – aus meiner Sicht – noch offensiver machen, entsteht der Eindruck, dass wir hier eher eine therapeutische Einrichtung als ein Weiterbildungskolleg sind.“ (Schulseelsorge)

Seiner Ansicht nach wird sogar die Funktion des Zweiten Bildungs-wegs – ein Angebot für Menschen zu sein, die sich beruflich bereits be-währt haben – durch diese Entwicklung infrage gestellt:

„Also das ist so eine Schwierigkeit, der Zweite Bildungsweg darf einfach nicht Eindruck erwecken, als sei er ein Auffangbecken für Gescheiterte. Sondern es ist eben auch eine Möglichkeit der Weiterqualifizierung für Menschen, die ein-fach sich bewährt haben in ihrem Tätigkeitsfeld und mehr Verantwortung über-nehmen wollen. Deswegen ist das immer so eine gewisse Balance.“ (Seelsor-ge)

Die Lernvoraussetzungen der Schülerschaft aus der Perspektive der Schulvertreter Aus der Sicht der interviewten schulischen Funktionsträgerinnen und -träger an allen Standorten ist es charakteristisch für die eigene Schüler-schaft, dass sie als „vielfältig“, „divers“ und „heterogen“ wahrgenommen wird. In den Interviews wird diese Wahrnehmung sehr breit mit unter-schiedlichen Kriterien unterlegt: Geschlecht, Migrationshintergrund, Leis-tung, Motivation oder Formen der Berufstätigkeit neben dem Schulbe-such spielen diesbezüglich in den Interviews eine Rolle. Diese Gruppe bringt also in der Wahrnehmung der Schule sehr unterschiedliche Vo-raussetzungen mit, wenn sie als Schülerinnen und Schüler in dieser In-stitution lernen.

Aufgrund ihrer Funktion betonen viele Lehrkräfte die auf dieser Tätig-keit basierenden Erfahrungen, wenn sie auf psychische Erkrankungen bei einem Teil der Schülerschaft verweisen. Für die Schulvertreter spielt bei der Charakterisierung der Schülerschaft auch eine z. T. problemati-sche Erfahrung ihrer Schülerinnen und Schüler im Ersten Bildungsweg eine Rolle. Aus der Perspektive der Befragten bringen viele Lernende nicht erfolgreich verlaufende Bildungslaufbahnen im Ersten Bildungsweg mit in den erneuten Schulbesuch.

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Ein Beratungslehrer charakterisiert die Schülerschaft wie folgt:

„Was wir hier feststellen ist eine sehr, sehr große Heterogenität, die wir aber in allen Klassen haben. Also von ganz, ganz leistungsschwach bis ganz, ganz leistungsstark. Das ist eine echte Herausforderung. Dann auch sehr, sehr schwache Deutschkenntnisse bis zu ganz ausgeprägten Deutschkenntnissen. Das ist je höher die Schüler gehen noch immer ein Problem, oder das wird ein Problem. Und wir haben einen hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern, die nicht in Deutschland geboren sind, die einen Migrationshintergrund haben. Und was wir feststellen ist, dass es Schülerinnen und Schüler gibt, die irgendwo ge-scheitert sind. Das sind häufig gesundheitliche Gründe, das sind auch private Gründe, die dazu geführt haben, dass sie im Ersten Bildungsweg abgebrochen haben, nicht weitergekommen sind und es ist häufig so, dass diese Problematik nicht geklärt ist und sie dann mit dieser Problematik hier auch wieder auflaufen. Wir haben eine hohe Anzahl von Schülerinnen und Schülern, die tatsächliche eine psychische Erkrankung haben. Also sehr häufig tauchen Depressionen auf, aber eben auch andere Bereiche, und das ist häufig ein Problem.“ (Bera-tungslehrkraft)

Während diese Einschätzung der Lehrkraft die Herausforderung heraus-stellt, den Unterricht aufgrund der häufig eingeschränkten Lernaus-gangslagen der Schülerschaft infolge sprachlicher Defizite, schulischer Scheiternserfahrungen, persönlicher Probleme oder psychischer Er-krankungen auch angemessen didaktisch zu gestalten, sollen im folgen-den Kapitel die professionellen – unterrichts- und lernbezogenen – Überzeugungen der Lehrkräfte in den Blick genommen werden. 3.2.3 Professionelle Überzeugungen und unterrichtsbezogene Wahrnehmungen der Lehrkräfte In der quantitativen Befragung der Lehrkräfte (vgl. Kapitel 2.2) wurden ihre beruflichen Überzeugungen, ihre Selbstwirksamkeitserwartungen sowie das Ausmaß an sozialer Orientierung und Unterstützung/Scaf-folding erfasst.

Hinsichtlich der persönlichen Zielsetzungen bzw. Motive für die päda-gogische Arbeit/die Arbeit als Lehrkraft können die Motive „Herstellung von Chancengleichheit“ (vier Items; α = 0,74; M = 3,24; SD = 0,52), „Wissensvermittlung und Studierfähigkeit“ (drei Items; α = 0,65; M = 3,24; SD = 0,47) sowie „Unterstützung der Persönlichkeitsentwick-lung der Studierenden“ (zwei Items; α = 0,61; M = 3,36; SD = 0,56) diffe-renziert werden (jeweils vierstufige Skalen).

Über die allgemein hoch eingeschätzte Bedeutsamkeit dieser Motive durch die gesamte Gruppe hinaus zeigen sich hier relevante ge-schlechtsspezifische Unterschiede: Der Aspekt der Chancengleichheit spielt für die Lehrerinnen in der Stichprobe (M = 3,30; SD = 0,50) eine signifikant größere Rolle als für die Lehrer (M = 3,16; SD = 0,55). Die

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Wissensvermittlung und Sicherstellung der Studierfähigkeit steht bei Lehrkräften, die ausschließlich in der Abendrealschule tätig sind (M = 2,79; SD = 0,44), signifikant geringer im Fokus als bei Lehrerinnen und Lehrern, die ausschließlich (M = 3,31; SD = 0,44) oder überwiegend (M = 3,25; SD = 0,48) in gymnasialen Bildungsgängen unterrichten bzw. zu etwa gleichen Anteilen in beiden Bildungsgängen tätig sind (M = 3,19; SD = 0,51).

In der vorliegenden Studie wurden zudem Daten zu den pädagogi-schen Überzeugungen der Lehrkräfte erhoben. Mit Kischkel (1979; auch Fend 2008: S. 308) können bei Lehrkräften stofforientierte und subjekt-orientierte pädagogische Konzepte unterschieden werden. Beide im Rahmen der hier durchgeführten Untersuchung adaptierten Skalen ba-sieren auf jeweils vier Einzelitems, die in Tabelle 6 dargestellt sind.

Die Auswertung der Daten aus der Lehrerbefragung zeigt, dass auf den vierstufigen Skalen die Subjektorientierung (M = 2,70; SD = 0,60) höher ausgeprägt ist als die Stofforientierung (M = 2,36; SD = 0,53). Bei der Stofforientierung lässt sich zudem ein signifikanter, jedoch kleiner Geschlechterunterschied derart feststellen, dass diese für die männli-chen Lehrkräfte bedeutsamer ist (: M♀ = 2,31; SD = 0,49; M♂ = 2,42; SD = 0,56).

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Tabelle 6: Pädagogische Überzeugungen – Stofforientierung und Subjektorientierung

Stofforientierung Subjektorientierung

Ein Fachlehrer sollte sich in seiner freien Zeit mehr mit fachwissen-schaftlicher als mit pädagogischer Literatur beschäftigen.

Ein Fachlehrer, der in erster Linie Wissen vermitteln und nicht erziehen will, ist für den Lehrerberuf nicht ge-eignet.

Die Schule hat heutzutage ein so umfangreiches Wissen zu vermitteln, dass die erzieherischen Bemühun-gen dagegen etwas zurücktreten müssen.

Fachlehrer sollten vor allem Päda-gogen und weniger Fachwissen-schaftler sein.

Die Schule sollte sich wieder mehr auf die Vermittlung des Lehrstoffes konzentrieren und sich weniger mit allgemeinen Erziehungsproblemen beschäftigen.

Die Schule sollte nicht in erster Linie Wissen vermitteln, sondern vor allem charakterlich gefestigte und autono-me Menschen heranbilden.

Im Zweifelsfall muss die Vermittlung fundierten Wissens Vorrang vor all-gemeinen pädagogischen Bemü-hungen haben.

Auch für einen Fachlehrer ist päda-gogisches Geschick wichtiger als fundiertes Fachwissen.

α = 0,67 α = 0,74

Quelle: eigene Darstellung

Tendenziell ist bei Lehrkräften, die ausschließlich oder überwiegend in gymnasialen Bildungsgängen unterrichten, die Stofforientierung höher sowie die Subjektorientierung geringer als bei Lehrerinnen und Lehrern im Bildungsgang Realschule. Es zeigen sich keine signifikanten Mittel-wertdifferenzen in Bezug auf die Subjekt- und die Stofforientierung in Abhängigkeit der Berufserfahrung (gruppierte Werte). Darüber hinaus lassen sich auch keine signifikanten Mittelwertunterschiede zwischen den Einzelschulen feststellen; die im Vergleich zur Stofforientierung stärker ausgeprägte Subjektorientierung kennzeichnet somit tendenziell die Befragungspersonen im Sample unabhängig von der Organisations-zugehörigkeit. Entsprechend nimmt die Intraklassenkorrelation (ICC) – als Maß des Varianzanteils, der sich durch die Schulzugehörigkeit erklä-

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ren lässt – sowohl bei der Stoff- als auch bei der Subjektorientierung ei-nen Wert von null an.

Als eine weitere Dimension des pädagogischen Selbstverständnisses wurde die soziale Orientierung der Lehrkräfte (Clausen 2002; adaptierte und gekürzte Skala; α = 0,70; auch Gerecht u. a. 2007) erhoben. Die modifizierte Skala umfasst die drei vierstufigen Einzelitems (1) “Wenn ein Studierender ein persönliches Anliegen hat, gehe ich auch im Unter-richt darauf ein“, (2) “Die persönlichen Beziehungen zu meinen Studie-renden haben Vorrang vor schnellem Vorankommen im Stoff“ sowie (3) “Für persönliche und soziale Angelegenheiten nehme ich mir auch im Unterricht Zeit“. Ein hoher Zustimmungswert auf dieser Skala kann folg-lich ebenfalls als eine stärkere Subjektorientierung gedeutet werden; je höher die Ausprägung, desto schülerorientierter erscheint der Unterricht organisiert. Geschlechterunterschiede lassen sich bei der sozialen Ori-entierung nicht feststellen, der Mittelwert in der Stichprobe beträgt 2,53 (SD = 0,58). Auch in Bezug auf die unterschiedlichen Bildungsgänge, die Arbeitszeiten und die Berufserfahrung im Zweiten Bildungsweg las-sen sich keine signifikanten Effekte feststellen.

Abbildung 4 veranschaulicht zusammenfassend die Skalenmittelwer-te in Bezug auf die erhobenen pädagogischen Überzeugungen – Stoff- und Subjektorientierung sowie soziale Orientierung – differenziert nach Geschlecht. Mit Hilfe einer Clusteranalyse (Ward-Verfahren) auf Basis der Variablen soziale Orientierung, Subjektorientierung und Stofforientierung lassen sich zwei Gruppen von Lehrkräften differenzieren: • Das erste Cluster (46,3 % der Befragungspersonen) ist durch eine

ausgeprägte Subjektorientierung (M = 3,18; SD = 0,38) und eine ver-gleichsweise starke soziale Orientierung (M = 2,77; SD = 0,51) ge-kennzeichnet. In Cluster 1 finden sich anteilig mehr Lehrkräfte, die nach eigenen Angaben ausschließlich oder überwiegend im nicht-gymnasialen Bildungsgang unterrichten.

• Die Befragungspersonen im zweiten Cluster (53,7 %) zeigen hinge-gen eine überdurchschnittliche Stofforientierung (M = 2,56; SD = 0,50), während bei ihnen die Subjektorientierung (M = 2,28; SD = 0,40) und die soziale Orientierung (M = 2,32; SD = 0,56) ver-gleichsweise geringer ausgeprägt sind.

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Abbildung 4: Stofforientierung, Subjektorientierung und soziale Orientierung der Lehrkräfte (nach Geschlecht)

Anmerkung: n = 364 bis 376 Quelle: eigene Darstellung Die männlichen Lehrkräfte in der Stichprobe werden seltener Cluster 1 (41,2 %) als Cluster 2 (58,8 %) zugeordnet, bei den Lehrerinnen ist die Wahrscheinlichkeit für die Clusterzugehörigkeit ausgeglichener (51,3 % in Cluster 1 und analog 48,7 % in Cluster 2).

Das durch die Lehrkräfte angegebene Ausmaß an Scaffolding und Unterstützung der Lernenden fällt hoch aus; dazu kann eine Skala ge-bildet werden, die das Ausmaß von Scaffolding und Unterstützung durch die Lehrenden erfasst, beispielsweise durch die Bereitstellung von Zu-satzinformationen oder die Vereinfachung von Aufgaben (neun Items; α = 0,76; Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft Berlin 2016). Bezüglich dieser Unterstützungsleistungen zeigen sich zwischen den Geschlechtern nur geringe und nicht signifikante Unterschiede, der Mittelwert in der Stichprobe auf der vierstufigen Skala beträgt 3,22 (SD = 0,36). Wiederum sind auch die Unterschiede hinsichtlich der Ar-beitszeiten und Bildungsgänge nicht überzufällig.

Die Lehrkräfte zeigen gegenüber dem theoretischen Mittelwert leicht erhöhte Selbstwirksamkeitserwartungen (sechs Items; α = 0,82; adap-tierte Version nach Röder/Jerusalem 2007; siehe auch Senatsverwal-tung für Bildung, Jugend und Wissenschaft Berlin 2016), wobei sich kei-ne signifikanten Unterschiede in Bezug auf das Geschlecht oder das Un-terrichten in den unterschiedlichen Bildungsgängen feststellen lassen. Der Mittelwert in der Gesamtstichprobe liegt auf der vierstufigen Likert-

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Skala bei 2,99 (SD = 0,39). Lehrkräfte sind somit tendenziell eher davon überzeugt, auch nicht motivierte oder leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler für den Unterricht interessieren und einer Resignation von Lernenden entgegenwirken zu können. Es findet sich bei der Analyse kein Hinweis auf eine Abhängigkeit der Selbstwirksamkeit von der Be-rufserfahrung im Zweiten Bildungsweg.

Wahrnehmung der Organisation durch die Lehrkräfte Im Hinblick auf die Einschätzungen der Lehrkräfte bezüglich ihrer Orga-nisation wurden in der Fragebogenstudie die Schwerpunktsetzungen und die Leistungsorientierung der Schule, das Schul- und Unterrichts-klima sowie die Arbeitskultur im Kollegium erfasst. Die Schwerpunktset-zungen an der Schule wurden auf Grundlage vierstufiger Likert-Skalen erfragt (5 Items; α = 0,70). Zur Analyse eines möglichen Einflusses des organisationalen Kontextes wurden ebenfalls die Intraklassenkorrelatio-nen (ICC) berechnet. Laut Angabe der Befragungspersonen legen die Schulen den größten Wert auf Toleranz im alltäglichen Umgang (M = 3,56; SD = 0,58; ICC = 0,02), es folgen eine begründete Entschul-digung von Fehlstunden der Schülerinnen und Schüler (M = 3,01; SD = 0,81 ICC = 0,09), die Fähigkeit zur Teamarbeit (M = 2,99; SD = 0,73; ICC = 0,12), ein diszipliniertes Verhalten (M = 2,86; SD = 0,70; ICC = 0,15) sowie die Einhaltung der Rechtschreibung in al-len Unterrichtsfächern (M = 2,81; SD = 0,72; ICC = 0,08). Die Lehrerin-nen in der Stichprobe nehmen nach eigenen Angaben an ihren Schulen ein signifikant größeres Gewicht auf die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler zur Teamarbeit wahr als die männlichen Kollegen (M♀= 3,09; SD = 0,71; M♂ = 2,89; SD = 0,73). Die Einhaltung der Rechtschreibung in allen Fächern wird nach Einschätzung der Lehrkräfte, die ausschließ-lich in gymnasialen Bildungsgängen unterrichten (M = 2,88; SD = 0,68), an der Schule deutlicher fokussiert als dies Lehrende angeben, die aus-schließlich im Bildungsgang Abendrealschule tätig sind (M = 2,38; SD =0,77).

Die Lehrkräfte sollten darüber hinaus die Bedeutsamkeit der Leis-tungsorientierung an ihrer Schule einschätzen. Die Skala zur Leistungs-orientierung an der Schule (PISA 2003; Ramm, Prenzel, Baumert et al. 2006) wurde auf Basis der Ergebnisse durchgeführter Faktorenanalysen um vier Items gekürzt, die Reliabilität der aus den verbleibenden sieben Items gebildeten Skala konnte auf diese Weise auf.77 verbessert wer-den. Beispielitems sind hier „Wir sind eine leistungsorientierte Schule“, „In unserer Schule werden hohe Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler gestellt“ oder „Unsere Schule hat den Ehrgeiz besser zu sein als andere Schulen“. Über alle Lehrkräfte hinweg beträgt der Mittelwert der vierstufigen Skala zur Leistungsorientierung 2,68 (SD = 0,46), die Be-

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funde verweisen dabei auf eine etwas stärkere Ausprägung bei Befra-gungspersonen, die ausschließlich in gymnasialen Bildungsgängen un-terrichten (M = 2,74; SD = 0,43). Signifikante Unterschiede zwischen den Männern und Frauen im Sample lassen sich nicht nachweisen. Die Intraklassenkorrelation in Höhe von 0,16 verweist auf differentielle Ant-wortmuster in Abhängigkeit von der Zugehörigkeit zur Einzelschule.

Schließlich sollten die Lehrkräfte das Schulklima bewerten; es wurde auf Basis einer adaptierten Skala von Ditton/Merz (2000) erfasst (sieben Items; α = 0,75), die beispielsweise die Items „Im Allgemeinen herrscht hier ein freundlicher Umgangston zwischen Lehrkräften und Studieren-den“ oder „Probleme von einzelnen Studierenden werden an unserer Schule sehr ernst genommen“ beinhaltete. In Bezug auf das wahrge-nommene Schulklima lassen sich keine Geschlechterunterschiede fest-stellen; auf der vierstufigen Skala wird über alle Befragungspersonen hinweg ein Mittelwert von 3,47 (SD = 0,37) erzielt, also ein gutes Schul-klima attestiert.

Mit einem Durchschnittswert von 2,72 (SD = 0,53) wird die Arbeitskul-tur im Kollegium (neun Items; α = 0,88; Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft Berlin 2016) bei gleicher Skalierung weniger positiv bewertet. Beispielitems sind hier „Im Kollegium werden Entschei-dungen transparent und nachvollziehbar getroffen“ oder „Der Umgang im Kollegium ist von gegenseitigem Respekt und Rücksichtnahme ge-prägt“. Unterschiede zwischen Männern und Frauen lassen sich nicht feststellen. Personen, die zu etwa gleichen Teilen vormittags und abends unterrichten (M = 2,58; SD = 0,53) bewerten die Arbeitskultur im Kollegium signifikant weniger positiv als Personen, die überwiegend vormittags tätig sind (M = 2,81; SD = 0,49).

Das Klima im eigenen Unterricht (zwei Items; α = 0,69; „Generell empfinde ich den Umgang mit den Studierenden als angenehm“ sowie „Mein Unterricht verläuft in einem angenehmen Klima“) wird mit einem Mittelwert von 3,66 (SD = 0,43) auf einer vierstufigen Skala überwiegend als sehr gut eingeschätzt, die Bewertung fällt bei Lehrkräften, die aus-schließlich abends unterrichten (M = 3,81; SD = 0,35), signifikant positi-ver aus als bei den Befragungspersonen, die nach eigenen Angaben überwiegend vormittags lehren (M = 3,62; SD = 0,45); Zusammenhänge mit dem Geschlecht, der Berufserfahrung oder dem Bildungsgang, in dem unterrichtet wird, lassen sich hingegen nicht nachweisen. Zur Ska-lenbildung wurde das Item „Die Studierenden treten auch mit persönli-chen Belangen an mich heran (z. B. bei Problemen etc.)“ aufgrund der Verschlechterung der internen Konsistenz nicht berücksichtigt. Es zeigt sich jedoch, dass die Lehrkräfte gemäß ihrer Selbsteinschätzung von den Schülerinnen und Schülern als Ansprechpersonen – auch über

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fachliche bzw. schulische Belange hinaus – wahrgenommen werden, denn 44,3 Prozent stimmen dem Item voll zu, weitere 45,6 Prozent stimmen eher zu.

Die Skala zur Einschätzung der Beziehung der Schülerinnen und Schüler untereinander (drei Items) weist lediglich eine geringe Reliabili-tät in Höhe von.56 auf, sodass die Auswertung auf Einzelitemebene er-folgt. Die befragten Lehrkräfte bewerten die Atmosphäre zwischen den Lernenden tendenziell positiv, der Mittelwert auf einer vierstufigen Skala beträgt 3,22 (SD = 0,47). Zudem geben die Lehrerinnen und Lehrer an, dass die Schülerinnen und Schüler eher mit- als gegeneinander arbeiten (M = 3,36; SD = 0,67), etwas weniger Zustimmung erfährt das Item „In den Klassen, in denen ich unterrichte, wird jeder Studierende zum Ego-ist, sobald es um Noten geht“ (M = 2,99; SD = 0,68; Item wurde reco-diert). Signifikante Mittelwertunterschiede in Abhängigkeit des Ge-schlechts, des Bildungsganges oder der Dauer der Berufstätigkeit im Zweiten Bildungsweg lassen sich nicht feststellen.

Während in diesem Kapitel die Perspektive und die Einschätzungen er Lehrkräfte im Vordergrund standen, wird im folgenden Kapitel die Sichtweise der Schülerinnen und Schüler auf die Angebote der Abend-gymnasien und Kollegs dargestellt. 3.3 Das Bildungsangebot aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler

Die folgenden Auswertungen beziehen sich auf die 3.114 Schülerinnen und Schüler der Kohorte 1, die entweder im Schulhalbjahr 2014/2015 (N = 2.101) oder im Schulhalbjahr 2015 (N = 1.013) mit dem Schulbe-such begonnen haben. Diese wurden aufgefordert, das Schulklima zu bewerten.

Auf Basis von Faktorenanalysen und Reliabilitätsanalysen lassen sich diesbezüglich die beiden Subskalen forderndes Schulklima und Stellen-wert von Disziplin (sechs Items, Cronbachs α = 0,74 in Schulhalbjahr 1) sowie Schüler-Lehrer-Verhältnis/Wohlbefinden (fünf Items, α = 0,81 in Schulhalbjahr 1) identifizieren. Darüber hinaus wurden Fragen zur Iden-tifikation mit der Schule in den Fragebogen aufgenommen, die aufgrund der geringeren Reliabilität auf Einzelitemebene ausgewertet werden. Va-rianzanalysen und Post-Hoc-Tests geben Aufschlüsse darüber, inwie-fern sich zwischen den Bildungsgängen Unterschiede im Antwortverhal-ten der Schülerinnen und Schüler zeigen. Ebenfalls wird geprüft, ob sich signifikante Geschlechterunterschiede feststellen lassen.

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Disziplinprobleme können den Anteil der Lernzeit verringern und so-mit auch den Lernerfolg negativ beeinflussen (z. B. Creemers 1994). Die Skala zur Erfassung der von den Schülerinnen und Schülern wahrge-nommenen Wertschätzung von Disziplin an den Schulstandorten bein-haltet Items wie „An meiner Schule wird viel Wert auf eine begründete Entschuldigung von Fehlstunden gelegt“ oder „An meiner Schule wird viel Wert auf gutes Benehmen gelegt“. Im ersten Schulhalbjahr berichten Befragte im Bildungsgang Kolleg mit einem Mittelwert von 3,51 (SD = 0,69) auf der fünfstufigen Skala tendenziell eine stärkere Schwer-punktsetzung auf ein diszipliniertes Verhalten als die Schülerinnen und Schüler in den Bildungsgängen Abendgymnasium (M = 3,40; SD = 0,70), Abendgymnasium am Vormittag (M = 3,36; SD = 0,75) oder Abitur-Online (M = 3,48; SD = 0,60). Die Post-Hoc-Tests verweisen da-bei auf einen signifikanten Unterschied zwischen den Befragten im Kol-leg und im „klassischen“ Abendgymnasium10. Ob dieses Ergebnis auf differente Wahrnehmungsmuster der Schülerinnen und Schüler in den unterschiedlichen Bildungsgängen, ein stärkeres Einfordern von Diszip-lin durch die Lehrkräfte an Kollegs oder darauf zurückzuführen ist, dass in den Bildungsgängen, die zum Abitur führen, Disziplinprobleme in ge-ringerem Maße auftreten, kann an dieser Stelle nicht beantwortet wer-den. In den Schulhalbjahren 2 und 4 lassen sich auf dem 5 %-Niveau keine signifikanten Unterschiede zwischen den Befragten in den ver-schiedenen Bildungsgängen identifizieren. Die Abweichungen sind im zweiten Schulhalbjahr zwischen dem Abendgymnasium am Vormittag (M = 3,52; SD = 0,71) und dem Bildungsgang Abitur-Online (M = 3,29; SD = 0,54) am größten. Im vierten Schulhalbjahr variieren die Mittelwer-te nur geringfügig in Abhängigkeit des Bildungsganges und liegen zwi-schen 3,26 (SD = 0,75; Abendgymnasium am Vormittag) und 3,33 (SD = 0,51; Abitur-Online).

In Bezug auf das Geschlecht der Befragungspersonen zeigt sich im ersten Schulhalbjahr ein kleiner signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen; Frauen (M = 3,51; SD = 0,68) berichten tendenziell et-was höhere Werte als Männer (M = 3,44; SD = 0,70). Auch in den Schulhalbjahren 2 und 4 nehmen die Schülerinnen in der Stichprobe ei-ne leicht stärkere Schwerpunktlegung auf ein diszipliniertes Verhalten wahr als die Schüler, die Abweichungen sind jedoch nicht überzufällig. Im Zeitverlauf lässt sich zudem eine Abnahme des auf der Skala erziel-ten Mittelwerts in der Gesamtstichprobe feststellen (MSchulhalbjahr 1 = 3,47;

10 Dass die Unterschiede zu den Bildungsgängen Abitur-Online und Abendgymnasium am Vormittag nicht signifikant sind, könnte auch durch die geringere Zellenbesetzung bedingt sein, die folgenden Ergebnisse sind somit vorsichtig zu interpretieren.

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SD = 0,69; MSchulhalbjahr 2 = 3,40; SD = 0,72; MSchulhalbjahr 4 = 3,30; SD = 0,71).

Die geringen Intraklassenkorrelationen zeigen an, dass der Großteil der Varianz auf individueller Ebene verortet ist. Im ersten Schulhalbjahr beträgt der Varianzanteil, der auf die Einzelschulebene entfällt, 4 Prozent, der Anteil sinkt in den Schulhalbjahren 2 (ICC = 0,02) und 4 (ICC = 0,01) noch einmal.

Beispielitems zur Erfassung des Wohlbefindens in der Schule und der Wahrnehmung der Schüler-Lehrer-Beziehungen lauten „An dieser Schu-le fühle ich mich sehr wohl“, „Insgesamt habe ich zu meinen Lehrern vol-les Vertrauen“ oder „Die Lehrer nehmen mich als Erwachsenen ernst“ (fünf Items, α = 0,81 in Schulhalbjahr 1; jeweils fünfstufige Skalierung). In den Varianzanalysen zeigen sich im ersten Schulhalbjahr signifikante Einflüsse der Schulform: Befragte an Kollegs (M = 3,77; SD = 0,76) er-zielen im Durchschnitt geringere Werte als Schülerinnen und Schüler an Abendgymnasien (M = 3,96; SD = 0,74) sowie im Bildungsgang Abitur-Online (M = 4,13; SD = 0,54), zudem ist der Mittelwertunterschied zwi-schen den Befragten in den Bildungsgängen Abitur-Online und Abend-gymnasium am Vormittag (M = 3,79; SD = 0,83) überzufällig groß. Zu den weiteren Messzeitpunkten lassen sich ebenfalls signifikante Unter-schiede zwischen den Befragten aus den unterschiedlichen Bildungs-gängen identifizieren. Auch in den Folgehalbjahren ist die Einschätzung von Schülerinnen und Schülern an Kollegs (MSchulhalbjahr 2 = 3,70; SD = 0,74; MSchulhalbjahr 4 = 3,54; SD = 0,81) im Durchschnitt weniger posi-tiv als bei den Befragten im Bildungsgang Abitur-Online (MSchulhalb-

jahr 2 = 3,99; SD = 0,69; MSchulhalbjahr 4 = 3,96; SD = 0,65). Zudem zeigen sich noch signifikante Mittelwertunterschiede zu Befragungspersonen, die das Abendgymnasium am Vormittag (MSchulhalbjahr 2 = 3,94; SD = 0,70) oder in den Abendstunden (MSchulhalbjahr 4 = 3,74; SD = 0,81) besuchen. Im vierten Schulhalbjahr fällt der vergleichsweise geringe Mittelwert bei Schülerinnen und Schülern im Bildungsgang Abendgymnasium am Vormittag auf (MSchulhalbjahr 4 = 3,43; SD = 0,82), der signifikant niedriger ist als bei den Abendgymnasiasten der beiden anderen Formen; gleich-wohl liegt auch dieser Durchschnittswert über dem theoretischen Mittel-punkt der Skala von 3. Des Weiteren ist festzustellen, dass die Schüler-Lehrer-Beziehungen und das Wohlbefinden im Mittel im Zeitverlauf et-was weniger positiv eingeschätzt werden (MSchulhalbjahr 1 = 3,86; SD = 0,75; MSchulhalbjahr 2 = 3,76; SD = 0,77; MSchulhalbjahr 4 = 3,64; SD = 0,82).

Zu keinem Messzeitpunkt lässt sich bei der Skala zum Wohlbefinden ein signifikanter Unterschied im Antwortverhalten von Schülerinnen und Schülern feststellen. Die Intraklassenkorrelationen, als Indikator für den

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organisationalen Varianzanteil, liegen zwischen 0,04 (Schulhalbjahr 2) und 0,08 (Schulhalbjahr 4). Ebenso wie bei der Erfassung der Schwer-punktlegung auf ein diszipliniertes Verhalten entfällt somit der weitaus größere Anteil der Varianz auf die Individualebene.

Auch die in den Folgefragebögen in den Schulhalbjahren 2 und 4 ein-gesetzte Skala der PISA 2009-Erhebung (Hertel et al. 2014: S. 53 f.) gibt Hinweise auf die Wahrnehmung der Schüler-Lehrer-Beziehungen. Die Skala konstituiert sich aus den folgenden vierstufigen Items: • Ich komme mit den meisten meiner Lehrerinnen/Lehrer gut aus. • Den meisten meiner Lehrerinnen/Lehrer ist es wichtig, dass ich mich

wohlfühle. • Die meisten meiner Lehrerinnen/Lehrer interessieren sich für das,

was ich zu sagen habe. • Wenn ich zusätzlich Hilfe brauche, bekomme ich sie von meinen Leh-

rerinnen/Lehrern. • Die meisten meiner Lehrerinnen/Lehrer behandeln mich fair. Cronbachs α nimmt in beiden Schulhalbjahren einen Wert von.87 an, somit liegt die Reliabilität der Skala leicht höher als bei der Erhebung im Rahmen der PISA-Studie (α = 0,83; Hertel et al. 2014: S. 54). Über alle Befragten der Kohorte 1 hinweg zeigt sich zudem zu beiden Messzeit-punkten ein höherer Mittelwert (MSchulhalbjahr 2 = 3,11; SD = 0,59; MSchulhalb-

jahr 4 = 3,04; SD = 0,60) als im deutschen PISA-Schülerfragebogen aus dem Jahr 2009 (M = 2,84; SD = 0,61; Hertel et al. 2014: S. 54). Dem-nach wird das Schüler-Lehrer-Verhältnis von den Schülerinnen und Schülern in der Stichprobe positiv bewertet.

Auch bei dieser Skala zeigen sich Einflüsse der Schulform. Befragte im Bildungsgang Abitur-Online (MSchulhalbjahr 2 = 3,23; SD = 0,51; MSchulhalb-

jahr 4 = 3,22; SD = 0,47) schätzen die Schüler-Lehrer-Beziehungen im Mit-tel positiver ein als Personen an Kollegs (MSchulhalbjahr 2 = 3,06; SD = 0,57; MSchulhalbjahr 4 = 3,01; SD = 0,59). Schülerinnen und Schüler, die das Abi-tur am Vormittag erwerben wollen, erzielen im zweiten Schulhalbjahr (MSchulhalbjahr 2 = 3,31; SD = 0,55) auf der Skala durchschnittlich höhere Werte als Befragungspersonen im Bildungsgang Kolleg, im vierten Schulhalbjahr (MSchulhalbjahr 4 = 2,94; SD = 0,73) allerdings einen signifi-kant niedrigeren Mittelwert als Schülerinnen und Schüler, die in den Bil-dungsgang Abitur-Online eingeschrieben sind. Aufgrund der geringen Zellenbesetzungen in den Bildungsgängen Abitur-Online und Abend-gymnasium am Vormittag sind die Ergebnisse jedoch vorsichtig zu inter-pretieren.

In Bezug auf die Wahrnehmung der Schüler-Lehrer-Beziehungen las-sen sich keine signifikanten Geschlechterunterschiede feststellen. Für

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 76

diese Skala betragen die Intraklassenkorrelationen 0,05 (Schulhalb-jahr 2) bzw. 0,04 (Schulhalbjahr 4), sodass ebenfalls der weitaus größe-re Varianzanteil auf der Individualebene zu verorten ist.

Die Fragen hinsichtlich der Identifikation mit dem Schulstandort wur-den aufgrund der geringen internen Konsistenz (α = 0,59 in Schulhalb-jahr 1) auf Einzelitemebene ausgewertet. Tabelle 7 stellt die Mittelwerte differenziert nach Bildungsgang zu den drei Messzeitpunkten dar; es handelt sich um fünfstufige Likert-Skalen. Zwei Items wurden recodiert, sodass ein höherer Wert durchgängig mit einer stärkeren Identifikation mit der Organisation einhergeht.

Die Mittelwerte liegen zumeist nahe am theoretischen Mittel der Items von 3, jedoch zeigen die hohen Standardabweichungen an, dass die Werte vergleichsweise stark streuen. Einmal mehr deuten sich Unter-schiede zwischen den Bildungsgängen an; in der Tendenz scheinen sich die Schülerinnen und Schüler an den Kollegs in etwas geringem Maße mit ihrer Schule zu identifizieren, da sie jedoch die größte Befragten-gruppe darstellen, weicht der Gruppen- zumeist nur wenig vom Ge-samtmittelwert ab.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 77

Tabelle 7: Identifikation mit der Schule (nach Bildungsgang und Schulhalbjahr)

Quelle: eigene Darstellung

Kolleg AGy

(klas-sisch)

AGy (am Vormit-tag)

AGy („Abitur-Online“)

Gesamt

Item Schulhalbjahr Mittelwert (Standardabweichung)

Ich gehe nur deshalb noch einmal in die Schule, um ei-nen höheren Schulabschluss zu bekommen – alles andere hier ist mir egal. (recodiert)

1 2 4

3,02 (1,31)

2,95 (1,26)

2,91 (1,23)

2,98 (1,33)

2,99 (1,26)

2,88 (1,33)

2,99 (1,40)

2,84 (1,28)

2,80 (1,24)

3,25 (1,25)

3,27 (1,22)

3,19 (1,27)

3,03 (1,32)

2,98 (1,26)

2,92 (1,26)

Der Ruf meiner Schule ist mir wichtig.

1 2 4

2,92 (1,27)

2,83 (1,23)

2,71 (1,21)

3,00 (1,33)

2,98 (1,24)

2,85 (1,26)

3,01 (1,23)

3,14 (1,23)

2,77 (1,37)

2,94 (1,21)

2,76 (1,13)

2,90 (1,24)

2,95 (1,28)

2,89 (1,23)

2,77 (1,24)

Wenn jemand schlecht über meine Schule redet, ist mir das ganz egal. (recodiert)

1 2 4

2,80 (1,29)

2,81 (1,28)

2,84 (1,32)

2,92 (1,39)

2,97 (1,33)

3,02 (1,36)

2,86 (1,37)

2,88 (1,32)

2,94 (1,43)

2,97 (1,31)

2,78 (1,23)

3,14 (1,32)

2,85 (1,33)

2,86 (1,29)

2,92 (1,34)

Wenn ich mor-gen wegziehen müsste, würde ich meine Lehr-kräfte vermis-sen.

1 2 4

2,68 (1,25)

2,73 (1,22)

2,75 (1,23)

2,90 (1,29)

2,94 (1,27)

2,86 (1,31)

3,05 (1,29)

3,18 (1,34)

2,63 (1,27)

2,77 (1,23)

2,87 (1,30)

3,10 (1,25)

2,77 (1,27)

2,84 (1,26)

2,80 (1,26)

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 78

In Bezug auf die vier betrachteten Items erzielen Schülerinnen zu allen Messzeitpunkten höhere Werte als Schüler. Mit Ausnahme des Items „Wenn ich morgen wegziehen müsste, würde ich meine Lehrkräfte ver-missen“ sind diese Abweichungen signifikant. 3.4 Zusammenfassung Abendgymnasien und Kollegs sind hybride Institutionen: Sie bieten schulfachlich-inhaltlich strukturierte und auf die Berechtigungsvergabe „Fachhochschulreife“ bzw. „Abitur“ hin ausgerichtete Curricula in einer spezifischen, erwachsenengerechten zeitlichen und organisationalen Strukturierung an. Einerseits ähneln sie Gymnasien in ihren curricularen wie überfachlichen Angeboten, andererseits zeigen ihre Angebote er-wachsenenpädagogische Ausrichtungen, denn sie fokussieren zahlrei-che Angebote ihrer Schulumwelten auf die Passung zwischen den indi-viduellen Lernvoraussetzungen und den schulischen Anforderungen. Die Schullaufbahn begleitende Beratungsangebote fokussieren dabei spezi-fisch die außerschulische Lebenssituation der Schülerinnen und Schü-ler.

Die 21 in der Studie untersuchten Schulen sind – wenngleich dies im vorliegenden Kapitel nicht auf Einzelschulebene nachvollzogen wird – sehr unterschiedlich profiliert (durch die angebotenen Unterrichtsfächer sowie die außerunterrichtlichen Angebote). Allen gemeinsam ist es, dass sie in ihr schulisches Umfeld hinein breit vernetzt sind.

Aus der Sicht der Lehrkräfte ist der Bereich der Passung der Bil-dungsangebote an die spezifischen Lernvoraussetzungen der Schüler-klientel ein dominantes Thema ihrer organisationalen Selbstwahrneh-mung. Hierfür werden vielfältige Anstrengungen unternommen und brei-te Angebote offeriert, die über lernbezogen-curriculare Angebote weit hinausgehen. Dass dabei die Rolle der dort tätigen Lehrkräfte als Fach-lehrkräfte unter Druck gerät, wird wahrgenommen und teilweise als Her-ausforderung markiert.

Die befragten Lehrkräfte bewerten ihre Arbeitssituation im Zweiten Bildungsweg sowie das Schul- und Unterrichtsklima überwiegend sehr positiv. An der erwachsenen Schülerklientel schätzen die Befragungs-personen interessante Lehr-Lern-Situationen und Gespräche auf Au-genhöhe, zudem wird der Wegfall der Elternarbeit als positiv erachtet. Die Absicht, (benachteiligten) erwachsenen Lernenden eine (zweite) Chance zu ermöglichen, stellt für eine Reihe der befragten Lehrkräfte ein zentrales Motiv für ihre pädagogische Arbeit dar. In den Analysen fällt die ausgeprägte Subjektorientierung der Befragten auf, das päda-

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 79

gogische Arbeitsbündnis erscheint somit stärker auf die Person als auf die Sache/den Inhalt fokussiert.

Wie Helsper und Hummrich (2008, S. 65) darstellen, beeinflusst die Ausgestaltung des Arbeitsbündnisses auch die dem Lehrberuf inhären-ten antinomischen Spannungsverhältnisse:

„Das pädagogische Arbeitsbündnis ist idealtypisch als gemeinsamer, aber diffe-renter – auf Lehrerseite als Vermittlungsabsicht, auf Schülerseite als Aneig-nungsorientierung angegangener – Bezug von Lehrern und Schülern auf die Sache zu bestimmen. Durch die Sachorientierung sind Lehrer und Schüler auf-einander bezogen, wobei sich je nach Ausgangslage der Schüler (Person) und der je spezifischen Sache und Sachorientierung unterschiedliche Strukturvari-anten der Ausbalancierung der Antinomien ergeben, also von Heteronomie und Autonomie bis zur Nähe und Distanz […].“

Die Ergebnisse der durchgeführten Clusteranalysen verweisen in Bezug auf die pädagogischen Orientierungen der Lehrkräfte auf zwei Gruppen: Lehrkräfte im Cluster 1 zeigen eine besonders ausgeprägte Subjektori-entierung sowie eine starke soziale Orientierung, während in Cluster 2 die Stofforientierung stärker ausgeprägt ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich folgern, dass sich hinsichtlich der pädagogischen Überzeu-gungen innerhalb der Profession unterschiedliche Schwerpunkt-setzungen identifizieren lassen. Auf Basis der verfügbaren Datengrund-lage lässt sich nicht feststellen, inwiefern die starke Subjektorientierung ausschließlich Merkmal der Lehrkräfte im Zweiten Bildungsweg ist.

Vor dem Hintergrund nicht immer erkannter schulischer Leistungsan-sprüche, die in den Interviews mit Abbrecherinnen und Abbrechern evi-dent wurden (vgl. Kapitel 6.3), muss kritisch hinterfragt werden, inwie-fern der in der Lehrkräftebefragung identifizierte Vorrang der Subjektori-entierung gegenüber der Stofforientierung zielführend ist. Eine Vielzahl der Interviewpartner berichtete in der Retrospektive auf den eigenen Schulabbruch von einer Überforderung im Hinblick auf die schulischen Anforderungen, die insbesondere in Prüfungssituationen eintritt bzw. of-fensichtlich wird (vgl. Kapitel 6.3). Die ausgeprägte soziale Orientierung der Lehrkräfte könnte somit – wenn auch unintendiert – den Abbruch von Schülerinnen und Schülern dann begünstigen, wenn hierdurch bei den Lernenden der Eindruck erweckt wird, die soziale sei wichtiger als die akademische Integration und der Unterricht sei vorwiegend „Spaß“ (vgl. Zitat Jennifer, S. 181); das Vor- und Nachbereiten des Unterrichts sei nicht notwendig und die Lerninhalte bzw. die Kompetenzerreichung seien gegenüber der persönlichen/sozialen Entwicklung der Schülerin-nen und Schüler nachgeordnet. Andererseits kann argumentiert werden, dass eine ausgeprägte Subjektorientierung und ein positives Schulklima einem Abbruch vorbeugen können.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 80

Sowohl mit ihrer Wahrnehmung des Schulklimas, der Schüler-Lehrer-Beziehung als Indikator des pädagogischen Arbeitsbündnisses als auch der Einschätzung des persönlichen Wohlbefindens an der Schule spie-geln die Schülerinnen und Schüler die Einschätzung der Lehrkräfte. Die Lernenden fühlen sich an den Institutionen insgesamt sozial gut ange-nommen. Dennoch ergeben sich Hinweise auf differentielle Einschät-zungen zwischen den besuchten Bildungsgängen. Schülerinnen und Schüler im Bildungsgang Kolleg nehmen tendenziell eine stärkere Schwerpunktlegung auf Disziplin in ihren Schulen wahr, bewerten die Schüler-Lehrer-Beziehungen weniger positiv und identifizieren sich in eher geringerem Maße mit ihrer Schule. Besonders positiv schätzen Be-fragte, die das Abitur vorwiegend onlinegestützt erwerben wollen, das Verhältnis zu den Lehrkräften ein. Dieser Befund mag zunächst überra-schen, kann jedoch als Hinweis gedeutet werden, dass diese Schülerin-nen und Schüler den Mehrwert der Präsenzzeiten sowie das flexiblere Lernarrangement schätzen.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 81

4. Schülerinnen und Schüler an Abendgymnasien und Kollegs – die Wiederaufnahme des Schulbesuchs Im Zentrum des Forschungsinteresses an Abendgymnasien und Kollegs als Schulformen des Zweiten Bildungswegs steht zumeist die Akteurs-gruppe der Schülerinnen und Schüler. Durch den erneuten Schulbesuch bringen sie ihr Anliegen zum Ausdruck, einen zusätzlichen Schulab-schluss erwerben und auf diese Weise ihre Bildungsbiografie modifizie-ren zu wollen. Die Ausführungen des vorliegenden Kapitels 4 fokussie-ren die Schülerinnen und Schüler, die am Beginn des gymnasialen Bil-dungsgangs (erstes Schulhalbjahr) einer Schule des Zweiten Bildungs-weges stehen. Anschließend wird diese Perspektive in Kapitel 5 auf den Verlauf der Schulzeit im Zweiten Bildungsweg erweitert.

Den nachfolgenden Betrachtungen unterliegen im Kern vier Frage-stellungen: 1. Welche Personen nehmen an den abiturführenden Angeboten des

Zweiten Bildungswegs teil? (Kapitel 4.1) 2. Mit welchen schulischen Vorerfahrungen aus dem Ersten Bildungs-

weg kommen die Schülerinnen und Schüler an die Schulen des Zwei-ten Bildungswegs? (Kapitel 4.2)

3. Welche berufs- und bildungsbezogenen Voraussetzungen bringen die Schülerinnen und Schüler in den erneuten Schulbesuch ein? (Kapitel 4.3 und 4.4)

4. Aufgrund welcher Motive und mit welchen Zielstellungen nehmen die Schülerinnen und Schüler den Schulbesuch im Zweiten Bildungsweg auf? (Kapitel 4.5)

Zur Beantwortung dieser Fragen wird auf die Ergebnisse der Schüler-Fragebogenerhebung zurückgegriffen. Es werden die Angaben derjeni-gen Schülerinnen und Schüler analysiert, die mit dem Schuljahr 2014/15 einen abiturführenden Bildungsgang an einem Kolleg oder einem Abendgymnasium aufgenommen haben. Aus dieser Gruppe haben im November/

Dezember bzw. April/Mai 1.841 Schülerinnen und Schüler an der On-line-Befragung teilgenommen – dies entspricht einem Rücklauf von 78,3 Prozent (vgl. Kapitel 2.2). Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Befragung besuchen zu 55,1 Prozent den Bildungsgang „Kolleg“, zu 27,3 Prozent den Bildungsgang „Abendgymnasium“, zu 10,3 Prozent den relativ jungen Bildungsgang „Abitur-Online“ und zu 7,3 Prozent den eher seltenen Bildungsgang „Abendgymnasium am Vormittag“.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 82

4.1 Soziodemografische Merkmale Die Gruppe derjenigen Schülerinnen und Schüler, die im Schuljahr 2014/15 in das erste Schulhalbjahr der „Einführungsphase“ (Klasse 11) eingetreten ist, soll zunächst anhand ausgewählter soziodemografischer Merkmale beschrieben werden.

4.1.1 Geschlecht und Lebensalter In der Gruppe der Befragten sind Schüler mit 53,2 Prozent gegenüber den Schülerinnen mit 46,8 Prozent leicht überrepräsentiert. Diese un-gleiche Verteilung der Geschlechter entspricht der Zusammensetzung der bundesdeutschen Schülerschaft an Kollegs und Abendgymnasien im Schuljahr 2014/15 (♂: 52,0 %; ♀: 48,0 %) (Destatis 2015, S. 47; eigene Berechnung). Hinsichtlich des Lebensalters weisen Abendgymnasien und Kollegs für den Schulbesuch formal zwar eine Untergrenze (Volljäh-rigkeit), jedoch keine Obergrenze auf. Sie stehen dem Anspruch nach für einen erneuten Bildungsprozess über die gesamte Zeitspanne des Erwachsenenalters zur Verfügung. Traditionell werden beide Schulfor-men jedoch vornehmlich von jungen Erwachsenen besucht (Hamacher 1968, S. 173). Die bundesdeutsche Schülerschaft an Kollegs und Abendgymnasien weist im Schuljahr 2014/15 einen Median von 24 Jah-ren auf (Destatis 2015, S. 74 ff.; eigene Berechnung). Die vorliegende Stichprobe zeigt ein mittleres Lebensalter der Schülerinnen und Schüler von 24 Jahren (M = 24,4 Jahre bzw. Median = 23 Jahre) (vgl. Abbil-dung 5) und entspricht damit in etwa dem bundesdeutschen Mittel. Dass an den meisten Schulen vereinzelte Personen jenseits der Lebensmitte eine Schullaufbahn beginnen – und in anekdotischen Beschreibungen der Schülerschaft nicht selten als Beispiel „Lebenslangen Lernens“ eine besondere Aufmerksamkeit erhalten – ist eher die Ausnahme: Nur 1,2 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler sind über 45 Jahre alt. Über 90 Prozent der Befragten sind dagegen zwischen 18 und 30 Jahre alt. Insofern ähnelt die Altersstruktur am ehesten dem Bil-dungsbereich Hochschule.

Es zeigen sich kleinere geschlechtsspezifische Differenzen: Die männlichen Teilnehmer der befragten Gruppe sind im Durchschnitt et-was jünger als die teilnehmenden Schülerinnen (M♂ = 24,1; M♀ = 24,7 Jahre). Insbesondere bei der Gruppe der Befragten im Alter von 31 Jahren und älter ist der Anteil der Frauen überdurchschnittlich (10,3 %) bzw. der Männer unterdurchschnittlich (6,7 %). Bei den hier gebildeten Altersgruppen zeigt die Unterscheidung nach dem Ge-

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 83

schlecht einen signifikanten Zusammenhang auf, welcher möglicher-weise auf Phasen von Schwangerschaft und Familiengründung zurück-zuführen ist.

Abbildung 5: Lebensalter der Schülerinnen und Schüler (nach Geschlecht)

Anmerkung: n = 1.811 Quelle: eigene Darstellung

4.1.2 Bildungshintergrund der Eltern Der erneute Besuch einer Schule mit dem Ziel eines zusätzlichen höhe-ren Bildungsabschlusses kann aus der Sicht des Einzelnen als Versuch eines individuellen Bildungsaufstiegs gedeutet werden. Mit der Idee ei-nes Zweiten Bildungswegs ist historisch immer schon die (bildungspoliti-sche) Vorstellung bzw. das Anliegen verbunden worden, den Bildungs-stand des Elternhauses zu überschreiten und mit dem individuellen zu-gleich einen intergenerationalen Bildungsaufstieg zu vollziehen. Aus bil-

6,7%

4,1%

8,7%

13,8%

23,9%

27,2%

15,6%

10,3%

5,7%

7,7%

12,3%

21,0%

25,9%

17,2%

8,3%

4,8%

8,2%

13,2%

22,5%

26,5%

16,4%

0% 50% 100%

ab 31 Jahre

29 bis 30 Jahre

27 bis 28 Jahre

25 bis 26 Jahre

23 bis 24 Jahre

21 bis 22 Jahre

18 bis 20 Jahre

gesamt Schülerinnen Schüler

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 84

dungssoziologischer Perspektive ist damit auch die Frage nach einer „bildungsbezogenen Risikolage“, d. h. der möglicherweise formal gering qualifizierten Eltern angesprochen (Autorengruppe Bildungsberichter-stattung 2016, S. 27).

Der höchste Bildungsabschluss der Elterngeneration wurde in der Be-fragung in separaten Items für den Vater und die Mutter erhoben und anschließend für die Auswertung zu einem Index „Höchster Bildungs-abschluss Eltern“ kombiniert11. Da bei Schülerinnen und Schülern zu Beginn eines gymnasialen Bildungsgangs aufgrund der formalen Zu-gangsbedingungen der Mittlere Schulabschluss vorliegen muss, können die beiden Generationen so in Relation gesetzt werden.

Die Stichprobe setzt sich zu 7,8 Prozent aus Schülerinnen und Schü-lern zusammen, deren Eltern keinen Schulabschuss aufweisen, weitere 18,2 Prozent der Befragten haben Eltern, deren höchster Schulab-schluss der Hauptschulabschluss oder ein Äquivalent darstellt (vgl. Ab-bildung 6).

11 Bei unterschiedlichen Bildungsabschlüssen der Eltern wurde der jeweils höhere für den Index herangezogen. Wenn einer der Bildungsabschlüsse unbekannt war, wurde der andere als Referenz benutzt.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 85

Abbildung 6: Höchster Bildungsabschluss mindestens eines Elternteils (nach Geschlecht)

Anmerkung: n = 1.085 Quelle: eigene Darstellung

Knapp ein Drittel der Eltern (30,0 %) hat höchstens den Mittleren Ab-schluss erreicht, wohingegen bei durchschnittlich 23,9 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Elterngeneration bereits einen Abschluss der Sekundarstufe II als höchsten Schulabschluss aufweist. Weitere 17,2 Prozent der Eltern verfügen über einen Abschluss einer Hochschu-le. Dabei erweist sich das Geschlecht als statistisch signifikantes Unter-scheidungsmerkmal: Die Schülerinnen kommen häufiger als ihre männ-lichen Mitschüler aus Elternhäusern mit optionsgeringeren Schulab-schlüssen. 29,4 Prozent der Schülerinnen geben an, dass der höchste Bildungsabschluss mindestens eines Elternteils kein Schulabschluss oder maximal der Hauptschulabschluss sei, bei den Schülern ist dieser Anteil mit 23,0 Prozent deutlich geringer. Umgekehrt kommen 23,4 Prozent der Schüler aus Elternhäusern, in denen mindestens ein Elternteil einen Abschluss an einer (Fach-) Hochschule oder sogar eine

4,1%

19,3%

25,6%

28,0%

15,4%

7,6%

1,6%

14,6%

22,0%

32,3%

21,3%

8,1%

2,9%

17,2%

23,9%

30,0%

18,2%

7,8%

0% 50% 100%

Promotion

Abschluss an FH/Uni

Abitur/FHR

Mittlerer Abschluss

Hauptschulabschluss

kein Abschluss

gesamt Schülerinnen Schüler

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 86

Promotion aufweist; bei den Schülerinnen ist dies mit 16,2 Prozent deut-lich seltener der Fall.

Ein intergenerationaler Bildungsaufstieg liegt zusammengenommen also zum Zeitpunkt der Befragung bei etwa einem Viertel der Schülerin-nen und Schüler bereits vor (♂: 23,0 %; ♀: 29,4 %). Ein knappes Drittel der Befragten unternimmt mit dem Schulbesuch zugleich den Versuch, die formale Qualifikation der Elterngeneration in dieser Hinsicht zu über-schreiten (♂: 28,0 %; ♀: 32,3 %). Für die vergleichsweise größte Gruppe ist der erneute Schulbesuch ein Weg, an das (höchste) Schulabschluss-level der Elterngeneration anzuschließen (♂: 44,0 %; ♀: 38,2 %).

4.1.3 Migrationserfahrung und Muttersprache Im hier befragten Schuljahr 2014/15 beträgt der Anteil ausländischer Schülerinnen und Schüler an bundesdeutschen Abendgymnasien und Kollegs 11,6 Prozent (Abendgymnasien 14,5 %; Kollegs 8,8 %) (De-statis 2015, S. 47; eigene Berechnung). Diese Daten beruhen auf der formalen nationalstaatlichen Zugehörigkeit. Da dieses formale Kriterium einen unzureichenden Indikator für die Erfassung des Migrationshinter-grunds der Schülerinnen und Schüler darstellt, wurde dieser in der vor-liegenden Studie durch die Angabe des Geburtslandes, der Mutter-sprache und des täglichen Sprachgebrauchs („Verkehrssprache“) opera-tionalisiert.

Insgesamt gaben 17,5 Prozent der Befragten an, nicht in Deutschland geboren worden zu sein. Da das Geburtsland jedoch nicht zwangsläufig die jeweilige Erstsprache determiniert, wurde ebenfalls erhoben, ob die deutsche Sprache als Muttersprache erlernt wurde. Es zeigt sich, dass insgesamt 70,3 Prozent der Schülerinnen und Schüler die deutsche Sprache als Muttersprache angeben, umgekehrt also 29,7 Prozent der Befragten die deutsche Sprache nicht als Erstsprache erworben haben (vgl. Abbildung 7).

Mit Blick auf den Erwerb der Muttersprache zeigt sich ein signifikanter Unterschied zwischen den Geschlechtern: Während bei den Schülern gut ein Viertel der Befragten angibt, keine Muttersprachlerin bzw. kein Muttersprachler zu sein (26,5 %), liegt der Anteil bei den Schülerinnen bei einem Drittel (33,3 %).

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 87

Abbildung 7: Deutsch als Muttersprache (nach Geschlecht)

Anmerkung: n = 1.810 Quelle: eigene Darstellung Abbildung 8: Schülerinnen und Schüler, deren Muttersprache nicht Deutsch ist – Lebensalter beim Erwerb der deutschen Sprache

Anmerkung: n = 409 Quelle: eigene Darstellung

Diejenigen Befragten, die Deutsch nicht als ihre Muttersprache angeben (n = 409), wurden nach dem Lebensjahr befragt, seit welchem sie die deutsche Sprache erlernen. Die Spanne bewegt sich hierbei vom ersten bis zum 29. Lebensjahr (vgl. Abbildung 8). Ein Anteil von 40,6 Prozent gibt an, die deutsche Sprache bereits seit den frühen Lebensjahren (im Zeitraum bis einschließlich des dritten Lebensjahrs) erworben zu haben.

2,7%

4,4%

10,3%

21,8%

20,3%

24,7%

15,9%

0% 50% 100%

ab 21. Lebensjahr

16. bis 20.Lebensjahr

11. bis 15.Lebensjahr

6. bis 10. Lebensjahr

4. bis 5. Lebensjahr

2. bis 3. Lebensjahr

1. Lebensjahr

Schülerinnen und Schüler

66,7%

73,5%

70,3%

33,3%

26,5%

29,7%

0% 50% 100%

Schülerinnen

Schüler

gesamt

ja nein

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 88

Insgesamt 60,9 Prozent haben noch vor der Einschulung in das deut-sche Schulsystem die deutsche Sprache erlernt. Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich nicht.

Hinsichtlich des Erwerbs und der Nutzung der deutschen Sprache als relevante Größe für unterrichtliche Lehr- und Lernprozesse interessiert auch die Frage, welche Sprache(n) im Alltagsleben der jungen Erwach-senen faktisch genutzt werden. Hierzu wurde erfragt, welche Sprache im eigenen Haushalt aktuell dominiert. Während 72,2 Prozent in ihrem häuslichen Alltag vorwiegend (oder ausschließlich) die deutsche Spra-che nutzen, geben 9,3 Prozent eine andere Sprache als dominierende Sprache an (vgl. Abbildung 9). Fast jeder fünfte Befragte (18,5 %) gibt an, dass zwei Sprachen im eigenen Haushalt gesprochen werden.

Abbildung 9: Im Haushalt am meisten gesprochene Sprache (nach Geschlecht)

Anmerkung: n = 1.810 Quelle: eigene Darstellung 4.1.4 Wohnsituation und familiale Lebenssituation Da es sich bei den Schülerinnen und Schülern um Erwachsene handelt, kann die Lebenssituation deutlich pluraler sein als etwa diejenige von Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe im Ersten Bil-dungsweg. So sind insbesondere Aspekte wie eine (z. T. parallele) Be-rufstätigkeit, ein eigener Haushalt und nicht zuletzt die Gründung einer eigenen Familie relevante Kontexte, wenn diese Personengruppe sich entscheidet, die Schullaufbahn im Zweiten Bildungsweg fortzusetzen.

17,4%

9,3%

73,3%

19,8%

9,3%

70,8%

18,5%

9,3%

72,2%

0% 50% 100%

beide gleich viel

andere Sprache

Deutsch

gesamt Schülerinnen Schüler

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 89

Die Aufgaben, die aus dem Leben der volljährigen Schülerinnen und Schüler erwachsen, können somit in Konkurrenz zu den lernbezogenen Anforderungen stehen, welche die Schule an die Individuen stellt.

Die Schülerinnen und Schüler wurden zunächst nach ihrer aktuellen Wohnsituation befragt (vgl. Tabelle 8). Die Frage zielte auf Personen-gruppen ab, mit denen die Befragten zusammenwohnen. Es zeigt sich eine große Bandbreite von Wohnformen, wobei mit 43,6 Prozent sol-che – den Wohnsituationen der Schülerschaft des Ersten Bildungswe-ges ähnelnden – Varianten dominieren, bei denen die Befragten im Kon-text ihrer Herkunftsfamilie leben, zumeist allein mit ihren Eltern oder zu-sätzlich mit Geschwistern. Jeder Fünfte (19,4 %) gibt an, alleine einen eigenen Haushalt zu führen. Nahezu gleich groß ist der Anteil derjeni-gen, die in einer Partnerschaft leben (16,7 %). Insgesamt geben 11,0 Prozent der Befragten an, in einem Haushalt mit (eigenen) Kindern zu leben.

Tabelle 8: Wohnsituation der Schülerinnen und Schüler

Wohnsituation Eltern und/oder andere Familienmitglieder 43,6 % Allein 19,4 % Partner/in 16,7 % WG 7,4 % Partner/in & Kind(er) 6,8 % Kind(er) 3,5 % Partner/in & weitere Familienmitglieder (kein Kind) 1,3 % Betreutes Wohnen 0,6 % Partner/in & Kind(er) & weitere Familienmitglieder 0,4 % Kind(er) & weitere Familienmitglieder 0,3 % (n = 1.768) 100,0 %

Quelle: eigene Darstellung Neben der Wohnsituation kann auch die Familiengründung einen be-deutsamen Kontext für die Fortsetzung der eigenen Schullaufbahn dar-stellen. 13,5 Prozent der Befragten geben an, für eigene Kinder (oder Stiefkinder) verantwortlich zu sein.12 Von diesen 245 Personen sind

12 Der Anteil von Befragten, die angeben, eigene Kinder zu haben (13,5 %), ist etwas höher als der Anteil derjenigen, die mit Kindern aktuell zusammenleben (11,0 %). Dies erklärt sich zum einen über Schülerinnen und Schüler höheren Lebensalters (40 bis 74 Jahre), bei denen die Kinder vermutlich bereits einen eigenen Haushalt füh-ren. Des Weiteren sind die Personen, die Kinder haben, diese jedoch nicht als dau-erhafte Mitbewohner in ihrem Haushalt angeben, vermutlich getrenntlebende Eltern-

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 90

70,6 Prozent Schülerinnen und nur 29,4 Prozent Schüler. In der Hälfte dieser Fälle (52,1 %) handelt es sich um ein einzelnes Kind, in rund ei-nem Drittel der Fälle (33,9 %) um zwei Kinder und in 14 Prozent der Fäl-le um drei oder mehr Kinder. Von den Schülerinnen und Schülern mit Kindern ist etwa ein Drittel (32,6 %) alleinerziehend, wobei von den Müt-tern 43,6 Prozent alleinerziehend sind, von den Vätern dagegen nur 5,7 Prozent. Mit Blick auf die Gesamtheit der Befragten im ersten Schul-halbjahr sind 4,5 Prozent Alleinerziehende.

Ein signifikanter Unterschied zeigt sich bei der Betrachtung der Bil-dungsgänge und der Lebenssituation der Schülerinnen und Schüler (vgl. Abbildung 10). Der Bildungsgang „Abendgymnasium am Vormittag“, der nicht zuletzt Eltern als zentrale Zielgruppe ausschreibt (Bildungsportal des Landes Nordrhein-Westfalen), weist mit 25,4 Prozent auch den höchsten Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Kindern auf. Im zeit-flexiblen Bildungsgang „Abitur-Online“ ist der Anteil ähnlich überdurch-schnittlich hoch (21,8 %). Das Kolleg als auch der Bildungsgang des klassischen Abendgymnasiums scheinen demgegenüber für Eltern deut-lich weniger attraktiv.

Abbildung 10: Anteil Schülerinnen und Schüler mit eigenen Kindern (nach Bildungsgang)

Anmerkung: n = 1.820 Quelle: eigene Darstellung

teile, die nur begrenzt Kontakt zum Kind haben. Bei letzterer Gruppe handelt es sich zu drei Vierteln um Männer.

78,2%

74,6%

87,8%

89,1%

86,5%

21,8%

25,4%

12,2

10,1

13,5

0% 50% 100%

AGy („Abitur-Online")

AGy (am Vormittag)

AGy (klassisch)

Kolleg

Gesamt

kinderlos Kind(er)

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 91

4.1.5 Zeitumfang beruflicher, häuslicher und familienbezogener Tätigkeiten Über die Lebenssituation bzw. den Lebensalltag von Schülerinnen und Schülern im Zweiten Bildungsweg liegen kaum aktuelle Forschungs-ergebnisse vor (Hamacher 1968). Dabei verändert die Aufnahme eines erneuten Schulbesuchs in bedeutsamer Weise die individuelle Alltags-gestaltung. Dies geschieht allein schon mit Blick auf die zeitlichen Struk-turen des Alltagsablaufs. Zu den je nach Bildungsgang 20 bis 30 wö-chentlichen Unterrichtsstunden addieren sich z. B. unterrichtliche Vor- und Nachbereitung. Je nach beruflicher und familialer Situation unter-scheiden sich die zeitlichen Anforderungen deutlich. Aus diesem Grund wurden die Schülerinnen und Schüler gebeten, den durchschnittlichen Zeitaufwand für berufliche, häusliche und ggf. familienbezogene Aktivitä-ten einzuschätzen. Dabei zeigen die Antworten erwartungsgemäß bei al-len Aspekten jeweils eine sehr große Spannbreite.

Bildungsgänge in Schulen des Zweiten Bildungswegs sind im Kern entlang der Frage der Berufstätigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler entworfen. Abendgymnasien beruhen dabei auf der Unterstellung von Berufstätigkeit, die zudem „klassische“ Zeitmodi (wochentags bis ca. 17 Uhr) aufweist. Demgegenüber beruhen Kollegs auf der Zulassungs-voraussetzung, dass eine solche „klassische“ berufliche Tätigkeit wäh-rend des dreijährigen Schulbesuchs eingestellt wird (vgl. Kapitel 2.1.1). Familientätigkeit stand historisch lange im Hintergrund und nur der sel-tene Bildungsgang „Abendgymnasium am Vormittag“ ist dem Anspruch nach auf Personen ausgerichtet, die Kinder versorgen, welche vormit-tags Erziehungs- und Bildungsorganisationen besuchen. Der jüngste Bildungsgang „Abitur-Online“ entspringt dem Anspruch, eine zeitliche Flexibilität zu ermöglichen, die auf immer weniger „klassische“ Arbeits-zeiten reagiert.

Die Schülerinnen und Schüler wurden zunächst befragt, ob sie neben dem Schulbesuch einer beruflichen Tätigkeit nachgehen und wie viele Stunden sie pro Woche durchschnittlich dafür aufbringen.13 53,6 Prozent der Befragten geben an, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Eine Differenzierung der Befragten nach Geschlecht, Bildungshintergrund des Elternhauses oder Muttersprache zeigt keinerlei bedeutsame Unter-schiede in diesen Anteilen. Signifikante Unterschiede zeigen sich dem-gegenüber jedoch erwartungsgemäß bei einer Unterscheidung der je-weiligen Bildungsgänge, da diese dem Anspruch nach u. a. an dem As-pekt „berufliche Tätigkeit parallel zum Schulbesuch“ ausgerichtet sind

13 Die Frage zielte explizit auf Zeiten parallel zum Schulbesuch und schloss „Ferien-jobs“ aus.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 92

(vgl. Abbildung 11). Eine berufliche Tätigkeit geben in den abendgymna-sialen Bildungsgängen zwischen 53,1 Prozent (AG am Vormittag) und 84,5 Prozent (AG Abitur-Online) der Schülerinnen und Schüler an. Im Gegensatz dazu geben 62,1 Prozent der Befragten des Bildungsgangs „Kolleg“ an, keinerlei beruflichen Aktivitäten nachzugehen.

Zugleich wird bei diesen Anteilen deutlich, dass die mit der zeitlich-organisatorischen Gestaltung eines Bildungsgangs unterstellte Berufstä-tigkeit bzw. zeitbefristet ausgesetzte Berufstätigkeit der Adressaten in empirischer Hinsicht nur partiell zutrifft. Über ein Drittel der Schülerinnen und Schüler an Kollegs geht nach eigenen Angaben einer beruflichen Tätigkeit nach, wohingegen am „klassischen Abendgymnasium“ ein Viertel der Schülerinnen und Schüler angibt, keinerlei beruflicher Tätig-keit nachzugehen. Die Befragten im Abendgymnasium „Abitur-Online“ entsprechen am ehesten dem Adressatenprofil des klassischen (Prä-senz-) Abendgymnasiums. Eine `Zwischenform´ stellt das „Abendgym-nasium am Vormittag“ dar.

Abbildung 11: Berufliche Tätigkeit neben dem Schulbesuch (nach Bildungsgang)

Anmerkung: n = 1.811 Quelle: eigene Darstellung

Diejenigen Schülerinnen und Schüler, die eine berufliche Tätigkeit be-gleitend neben der Schulzeit ausüben, wurden in einen Folgeschritt nach dem Umfang dieser beruflichen Aktivitäten befragt (vgl. Abbil-dung 12). Dazu äußerten sich 893 Schülerinnen und Schüler, wobei sich die Gruppen derjenigen, die wöchentlich im Schnitt bis zu 20 Stunden

84,5%

53,1%

73,9%

37,9%

53,6%

15,5%

46,9%

26,1%

62,1%

46,4%

0% 50% 100%

AGy („Abitur-Online")

AGy (am Vormittag)

AGy (klassisch)

Kolleg

Gesamt

ja nein

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 93

arbeiten (52,6 %), sowie die Gruppe derjenigen, die mehr als 20 Stunden arbeiten (47,4 %), weitgehend die Waage halten. Eine klei-ne Gruppe von 12,1 Prozent der Schülerinnen und Schüler ist neben dem Schulbesuch sogar durchschnittlich mehr als 40 Stunden beruflich eingebunden. Dies entspricht mindestens einer Vollzeitberufstätigkeit, der parallel zum Schulbesuch nachgegangen wird.

Differenziert nach dem Geschlecht fällt zunächst auf, dass Schülerin-nen deutlich häufiger als Schüler angeben, nur bis zu 10 Stunden wö-chentlich einer Arbeit nachzugehen (25,0 % gegenüber 17,5 %). Umge-kehrt geben Schüler deutlich häufiger an, einer zeitintensiven Berufstä-tigkeit (31 oder mehr Stunden) nachzugehen (37,7 % gegenüber 28 %).

Abbildung 12: Schülerinnen und Schüler mit beruflicher Tätigkeit: Wöchentlicher Arbeitsumfang in Stunden (nach Geschlecht)

Anmerkung: n = 893 Quelle: eigene Darstellung

Für den Umfang beruflicher Tätigkeiten spielt vor allem wiederum der Bildungsgang eine zentrale Rolle (vgl. Tabelle 9). Diejenigen befragten Schülerinnen und Schüler des Bildungsgangs „Kolleg“, die (entgegen dem Adressatenbild) einer beruflichen Tätigkeit nachgehen, tun dies

15,4%

22,3%

13,6%

31,2%

17,5%

8,6%

19,4%

15,2%

31,8%

25,0%

12,1%

20,9%

14,3%

31,4%

21,3%

0% 50% 100%

> 40 Std.

31 bis 40Std.

21 bis 30Std.

11 bis 20Std.

01 bis 10Std.

gesamt Schülerinnen Schüler

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 94

häufig bis zu 20 Stunden pro Woche (84,6 %). Demgegenüber sind je-doch 15,4 Prozent der beruflich Tätigen zusätzlich zu den 30 Unter-richtsstunden in einem Umfang jenseits einer Halbtagsstelle eingebun-den. Beruflich aktive Schülerinnen und Schüler des Bildungsgangs „Abendgymnasium am Vormittag“ ähneln hier denjenigen des „Kollegs“. Analytisch spielt hier also nicht der Bildungsgang, sondern vielmehr die Tageszeit des Schulbesuchs die zentrale Rolle. Mehr als den Stunden-umfang einer Halbtagsstelle nehmen erwartungsgemäß die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler am „klassischen Abendgymnasium“ (67,5 %) sowie des Bildungsgangs „Abitur-Online“ (89,1 %) wahr. Auch bei der Frage nach dem Umfang beruflicher Tätigkeiten zeigt sich erneut, dass die Befragten des Online-Bildungsgangs eher dem Adressatenbild des klassischen abendgymnasialen Bildungsgangs entsprechen als dessen eigene Lernerinnen und Lerner.

Tabelle 9: Schülerinnen und Schüler mit beruflicher Tätigkeit: Wöchentlicher Arbeitsumfang in Stunden (nach Bildungsgang)

Gesamt Kolleg AGy

(klas-sisch)

AGy (am Vor-mittag)

AGy („Abitur-Online“)

1 bis 10 Std. 21,3 % 39,0 % 6,3 % 44,4 % 4,1 % 11 bis 20 Std. 31,4 % 45,6 % 26,2 % 38,1 % 6,8 % 21 bis 30 Std. 14,3 % 9,0 % 20,5 % 4,8 % 17,7 % 31 bis 40 Std. 20,9 % 3,8 % 31,3 % 12,7 % 41,5 % > 40 Std. 12,1 % 2,6 % 15,7 % 0,0 % 29,9 % (n = 893) 100,0 % 100 % 100,0 % 100,0 % 100,0 %

Quelle: eigene Darstellung

Die Schülerinnen und Schüler wurden zudem befragt, wie viele Stunden sie pro Woche durchschnittlich für Haushaltsarbeiten aufwenden (vgl. Abbildung 13). Eine große Gruppe von fast zwei Dritteln der Befragten (63,6 %) gibt an, dass Haushaltsarbeiten entweder gar keine Zeit oder nur bis zu 5 Stunden wöchentlich erfordern.

Bei knapp einem Viertel der Befragten (23,9 %) nimmt diese Tätigkei-ten wöchentlich etwa 6 bis 10 Stunden in Anspruch, d. h. im Schnitt pro Tag etwa 1 bis 1,5 Stunden. Etwa jede zehnte Person (12,6 %) wendet nach eigener Einschätzung durchschnittlich mehr als 10 Stunden pro Woche auf. Während fast drei Viertel der Schüler (73,7 %) angeben, gar keine oder wenig Zeit (bis zu 5 Stunden) auf Haushaltsaktivitäten zu verwenden, sind dies bei den Schülerinnen nur die Hälfte (52 %). Jeder

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 95

zehnte Schüler gibt sogar an, keinerlei entsprechende Arbeit zu investie-ren. In allen Antwortkategorien, die höhere Stundenzahlen angeben (ab 6 Stunden aufwärts), sind die Schülerinnen deutlich häufiger als die Schüler vertreten.

Abbildung 13: (wöchentlicher) Umfang haushaltsbezogener Tätigkeiten (nach Geschlecht)

Anmerkung: n = 1.744 Quelle: eigene Darstellung Mit Blick auf die spezifische Gruppe der Befragten, die als Eltern auch erhebliche Zeitressourcen für die Betreuung ihrer Kinder aufwenden, wurde um eine Einschätzung dieses Zeitaufwands gebeten. Unter den Befragten gaben 245 Personen (13,5 %) an, für Kinder verantwortlich zu sein (vgl. Abbildung 13). Aus dieser Personengruppe äußerten sich 235 Befragte zu der Frage, wie viele Stunden sie pro Woche durch-schnittlich mit der Betreuung ihrer Kinder beschäftigt sind (vgl. Abbil-dung 14).

Es zeigt sich, dass etwa jeweils ein Drittel dieser Befragten 1 bis 10 Stunden bzw. 41 und mehr Stunden in die Kinderbetreuung inves-tiert. Insgesamt verbringen sechs von zehn Befragten (59,1 %) mehr als 20 Stunden in der Woche mit der Betreuung ihrer Kinder. Hier zeigen sich erwartungsgemäß erhebliche geschlechtsspezifische Unterschiede,

2,2%

1,5%

3,5%

19,0%

62,8%

10,9%

4,6%

4,7%

9,4%

29,3%

49,3%

2,7%

3,3%

3,0%

6,3%

23,9%

56,5%

7,1%

0% 50% 100%

> 20 Std.

16 bis 20Std.

11 bis 15Std.

06 bis 10Std.

01 bis 05Std.

0 Stunden

gesamt Schülerinnen Schüler

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 96

sodass die Schülerinnen erheblich mehr Zeit für die Kinderbetreuung aufwenden als die Schüler. Abbildung 14: Schülerinnen und Schüler mit Kindern: wöchentlich aufgewendete Zeit für Kinderbetreuung (nach Geschlecht)

Anmerkung: n = 235 Quelle: eigene Darstellung

Die Betreuung bzw. Pflege von Familienangehörigen – in diesem Fall nicht von Kindern – ist bei (vornehmlich) jungen Erwachsenen zwischen 18 und 30 Jahren ein nur begrenzt anzutreffendes Phänomen, kann aber, sofern zutreffend, ein zeitlich relevanter Faktor in der alltäglichen Lebensführung sein. Daher wurde auch erfragt, inwieweit Zeit für Pfle-geaktivitäten aufgewendet wird. Erwartungsgemäß antwortete ein hoher Anteil (80,6 %) der Schülerinnen und Schüler, dass dies in ihrem Alltag nicht vorkomme (n = 1.578). Da eine Antwort auf diese Frage von einer vergleichsweise hohen Anzahl der Befragten zudem schlicht ausgelas-sen wurde, kann man unterstellen, dass dieser Anteil sogar noch höher ist. Aus der Gruppe derjenigen Befragten, die Zeit für die Betreuung bzw. Pflege von Familienangehörigen aufbringen (19,4 %; n = 306), ge-ben 71,6 Prozent an, dies für etwa 1 bis 5 Stunden pro Woche zu tun. Eine vergleichsweise kleine Gruppe von 9,2 Prozent – also etwa jeder Zehnte aus dem Personenkreis derjenigen, die Zeit in die Betreuung

12,5%

6,9%

12,5%

16,7%

51,4%

44,4%

13,0%

14,2%

9,3%

19,1%

34,5%

11,1%

13,6%

11,5%

29,4%

0% 50% 100%

> 40 Std.

31 bis 40 Std.

21 bis 30 Std.

11 bis 20 Std.

01 bis 10 Std.

Gesamt Schülerinnen Schüler

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 97

bzw. Pflege einbringen – gibt dann allerdings auch eine durchschnittli-che Dauer von 16 Stunden oder mehr an. In diesem Sinne gibt es eine sehr kleine Gruppe, die hier etwa im zeitlichen Umfang einer Halbtagstä-tigkeit Pflegeleistungen erbringt. Bezogen auf die Gesamtheit der Be-fragten im ersten Schulhalbjahr entspricht dies einem Anteil von 1,8 Prozent.

4.2 Schulische Erfahrungen im Ersten Bildungsweg Die Aufnahme eines gymnasialen Bildungsgangs eines Abendgymnasi-ums bzw. des Kollegs stellt aus Schülerperspektive die Fortsetzung der eigenen Bildungsbiografie in einer schulischen Institution dar. In diesen erneuten Schulbesuch fließen nicht zuletzt die schulbezogenen Erfah-rungen der Lernenden aus dem Ersten Bildungsweg ein. Pansa (1991) kommt in ihrer Fallstudie eines Abendgymnasiums zu der Einschätzung, dass die vorab im Ersten Bildungsweg besuchte Schulform einen ent-scheidenden Einfluss darauf nimmt, ob der erneute Schulbesuch zu ei-nem Abschluss oder einem Abbruch führe. So mindere insbesondere der vorherige Besuch der Schulform „Gymnasium“ die Wahrscheinlich-keit eines Schulabbruchs im Zweiten Bildungsweg. Zugespitzt schluss-folgert sie: „[…] Gymnasium bereitet auf Gymnasium vor“ (Pansa 1991, S. 118).

Vor diesem Hintergrund wurden die Schülerinnen und Schüler, die im Schuljahr 2014/15 das erste Schulhalbjahr („Einführungsphase“) eines gymnasialen Bildungsgangs des Zweiten Bildungsweges besuchten, danach befragt, an welcher allgemeinbildenden Schulform sie im Ersten Bildungsweg ihren höchsten allgemeinbildenden Schulabschluss erwor-ben haben (vgl. Tabelle 10). Es zeigt sich diesbezüglich die ganze Bandbreite von im Ersten Bildungsweg anzutreffenden Schulformen14: Die größte Gruppe der Befragten hat den höchsten allgemeinbildenden Schulabschluss im Ersten Bildungsweg an der Schulform „Realschule“ erworben (41,7 %). Mehr als ein Viertel – und damit die zweitgrößte

14 Ein relativ hoher Anteil der Befragten (17,7 %) hat bei dieser Frage die offene Ant-wortkategorie „Sonstiges“ gewählt. Eine Analyse der diesbezüglichen Angaben zeigt, dass zusätzlich zu den üblichen Spezialfällen (z. B. Alternativschulen oder einem Schulbesuch an einer nicht zuordenbaren Schulform im Ausland) viele Befragte hier eine berufliche Schulform, eine Volkshochschule oder eine Schule des Zweiten Bil-dungswegs (i. d. R eine Abendrealschule) nennen. Dass mit dem Item explizit nach allgemeinbildenden Schulformen des Ersten Bildungswegs gefragt worden war, wur-de also von einem Teil der Befragten nicht berücksichtigt. Für die Auswertung wur-den diese n = 268 Antworten daher nicht einbezogen.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 98

Gruppe – hat diesen Abschluss an einer Hauptschule erworben (26,7 %). Der vergleichsweise hohe Anteil von Befragten, die mit ihrem Besuch einer Gesamtschule zugleich den Schulabschluss erworben ha-ben (19,2 %), ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass Gesamtschulen im Bundesland Nordrhein-Westfalen vergleichsweise häufig anzutreffen sind und in der hier analysierten Stichprobe der Anteil nordrhein-westfälischer Schülerinnen und Schüler hoch ist. Nur etwa jeder zwölfte Befragte (8,0 %) hat diesen Schulabschluss an einem Gymnasium er-worben. Dieser geringe Anteil an Gymnasiasten kann als Indikator dafür gelesen werden, dass Erfahrungen mit einer gymnasialen Lehr-Lernkultur nur bei einer kleinen Minderheit derjenigen vorliegen, die am Beginn eines gymnasialen Bildungsgangs im Zweiten Bildungsweg ste-hen. Tabelle 10: Allgemeinbildende Schulform, an der der höchste Schulabschluss erworben wurde (Erster Bildungsweg)

Schulform Realschule 41,7 % Hauptschule/Volksschule 26,7 % Gesamtschule 19,2 % Gymnasium 8,0 % Sonstiges 3,5 % Sonderschule/Förderschule 0,8 % (n = 1.599) 100,0 %

Quelle: eigene Darstellung Historisch sind Abendgymnasien und Kollegs in einer Zeit entstanden, in welcher die Durchlässigkeit der verschiedenen Schulformen des Ersten Bildungswegs gering war. Die über die Jahrzehnte zunehmende Durch-lässigkeit vergrößert in der Konsequenz die Anzahl derjenigen, die im Rahmen ihrer individuellen Schullaufbahn im allgemeinbildenden Ersten Bildungsweg verschiedene Schulformen besuchen.

Um den Bildungsverlauf diesbezüglich abbilden zu können, wurden die Schülerinnen und Schüler danach gefragt, ob bzw. wie oft sie im all-gemeinbildenden Ersten Bildungsweg eine Schulform gewechselt haben und zwischen welchen Schulformen gewechselt wurde (vgl. Abbil-dung 15).

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 99

Abbildung 15: Erlebter Schulformwechsel (Erster Bildungsweg)

Anmerkung: n = 1.821 Quelle: eigene Darstellung Deutlich mehr als ein Fünftel der Befragten (22,8 %) gibt diesbezüglich an, bis zum höchsten Schulabschluss im Ersten Bildungsweg die Schul-form innerhalb der Sekundarstufe I – also nach dem Übergang aus der Grundschule – gewechselt zu haben. Von denjenigen Befragten, die zu-dem konkretisierende Angaben zu den gewechselten Schulformen ma-chen, geben 91,8 Prozent an, die Schulform nur einmal während der Sekundarstufe I gewechselt zu haben. Eine kleine Gruppe von 7,3 Prozent hat die Schulform zweimal gewechselt und nur ein margina-ler Anteil von 0,9 Prozent hat im allgemeinbildenden Ersten Bildungsweg dreimal einen Wechsel der Schulform vollzogen.

In der Logik des klassischen dreigliedrigen Schulsystems (sowie der Förderschulen) kann der Wechsel einer Schulform auch als die Erfah-rung eines Aufstiegs (von der Hauptschule zur Realschule oder zum Gymnasium, von der Realschule zum Gymnasium) oder Abstiegs (vom Gymnasium zur Realschule oder Hauptschule, von der Realschule zur Hauptschule) gedeutet werden. Unter dieser Perspektive wurden Anga-ben der Schülerinnen und Schüler zu den von ihnen besuchten Schul-formen danach analysiert, ob dies ein Wechsel hin zu einer höheren o-der niedrigeren Schulform darstellt. Es zeigt sich, dass ein (oder mehre-re) Schulformwechsel für über zwei Drittel der Befragten (69,3 %) ein „Abwärts“ in der Hierarchie der Schulformen bedeutete. Demgegenüber war ein Wechsel nur für etwa jeden zehnten Befragten (11,1 %) ein „Aufwärts“. Eine kleine Gruppe von Mehrfachwechslern (3,0 %) hat ein „Auf und Ab“ in der Hierarchie der Schulformen hinter sich. Die Gruppe derjenigen Schülerinnen und Schüler, die im allgemeinbildenden Ersten Bildungsweg einen Wechsel in oder aus einer Gesamtschule angegeben hat, macht 16,6 Prozent aus. Vor dem Hintergrund bundesdurchschnitt-licher Anteile hinsichtlich des Schulformwechsels sowie auch NRW-bezogener Daten zeigt sich bei den „Abwärtswechseln“ ein erhöhter An-teil gegenüber dem Bundes- bzw. NRW-Durchschnitt (Autorengruppe

22,8% 77,2%

0% 50% 100%ja nein

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 100

Bildungsberichterstattung 2014, S. 256; Bellenberg 2012, S. 147; MSW NRW 2017).

Ein Merkmal schulischer Organisationsformen im Ersten und Zweiten Bildungsweg ist die prinzipielle Möglichkeit, dass Schülerinnen und Schüler eine Jahrgangsstufe wiederholen können bzw. müssen. Solche Wiederholungen können als kritische schulische Erfahrung nachdrückli-chen Einfluss auf eine Bildungsbiografie nehmen. Die Schülerinnen und Schüler wurden daher befragt, ob und ggf. wie häufig sie im Ersten Bil-dungsweg eine Klasse wiederholt haben.

Es zeigt sich, dass weit mehr als ein Drittel der Schülerinnen und Schüler des Zweiten Bildungswegs (39,3 %) die Erfahrung teilt, dass sich im Ersten Bildungsweg die Schullaufbahn durch die Wiederholung einer Klasse bzw. Jahrgangsstufe verzögerte (vgl. Abbildung 16). Zur besseren Einschätzung dieses Anteils bietet sich der Vergleich mit dem entsprechenden Anteil unter den 15-jährigen Schülerinnen und Schülern (überwiegend Klasse 9) aus der PISA-Studie 2012 an. Diese Gruppe weist eine (über die Schulzeit) kumulierte Klassenwiederholungsquote von 12,3 Prozent auf (Prenzel et al. 2013, S. 168). Selbst wenn man al-so eine weitere Erhöhung dieser Quote bis zum Ende der Sekundarstu-fe I unterstellt, wird deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler der Abendgymnasien bzw. Kollegs während ihres vorangegangenen Schul-besuchs im Ersten Bildungsweg bereits überproportional häufig ein Schuljahr wiederholt haben.

Abbildung 16: Wiederholung einer Klasse/Jgst. (Erster Bildungsweg)

Anmerkung: n = 1.834 Quelle: eigene Darstellung

Dabei zeigt sich im Zweiten Bildungsweg der auch aus dem Ersten Bil-dungsweg bekannte Unterschied zwischen den Geschlechtern (Destatis 2016, S. 24 f.): An Abendgymnasien und Kollegs gibt es bei den Schü-lern einen signifikant höheren Anteil von Wiederholern als bei den Schü-lerinnen (♂: 42,3 %; ♀: 35,2 %).

39,3% 60,7%

0% 50% 100%ja nein

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 101

Gründe für die Beendigung der Schullaufbahn im Ersten Bildungsweg Aus einer bildungsbiografischen Perspektive interessiert über die „objek-tiven“ Merkmale der Schullaufbahn hinaus die Frage, wie die Schülerin-nen und Schüler ihre schulischen Erfahrungen im Ersten Bildungsweg subjektiv für sich ausdeuten. Vor dem Hintergrund eines erneut aufge-nommenen Schulbesuchs interessiert hierbei insbesondere die Frage, warum die fachgebundene oder allgemeine Hochschulreife nicht schon im Ersten Bildungsweg erreicht wurde. Um das Themenfeld „Gründe für die Beendigung der Schullaufbahn im Ersten Bildungsweg“ näher zu be-trachten, wurden den Schülerinnen und Schülern 15 mögliche Gründe genannt (vgl. Abbildung 17).

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 102

Abbildung 17: Gründe, warum im Ersten Bildungsweg zunächst kein höherer allgemeinbildender Schulabschluss angestrebt wurde

Anmerkung: Likert-Skala von 1 = trifft gar nicht zu bis 5 = trifft voll zu (n = 1.805 bis 1.817) Quelle: eigene Darstellung

1,16

1,22

1,38

1,47

1,85

1,30

1,57

2,04

2,21

1,92

2,40

2,93

2,22

2,88

2,90

1 2 3 4 5

Ich habe geheiratet

Ich habe ein Kind bekommen

KIND UND/ODER HEIRAT

Meine Familie meinte, ein höherer Abschluss wäreunnötig

Meine Familie meinte, einen höheren Schulabschlusswürde ich nicht schaffen

Meine Lehrer meinten, einen höheren Schulabschlusswürde ich nicht schaffen

ABRATEN DURCH LEHRKRÄFTE/FAMILIE

Meine Freunde meinten, ein höherer Abschluss wäreunnötig

Alle meine Freunde haben auch aufgehört

Einen höheren Schulabschluss fand ich unwichtig

Es hat mich keiner beraten, dass ein höhererAbschluss sinnvoll wäre

RELEVANZSETZUNG HÖHERERSCHULABSCHLUSS

Ich wollte raus von zuhause

Für angestrebte Ausbildung/ Beruf war kein höhererAbschluss notwendig

Ich wollte endlich eigenes Geld verdienen

EIGENSTÄNDIGE LEBENSFÜHRUNG

Meine Schulzeit war einfach so schrecklich

Ich hatte keine Lust mehr auf Schule

Ich hatte zu wenig Selbstdisziplin für die Schule (häufig gefehlt, nicht gelernt…)

FEHLENDE SELBSTDISZIPLIN/ FEHL. MOTIVATION

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 103

Die Befragten konnten rückblickend einschätzen, inwieweit die vorge-schlagenen Gründe auf sie selbst zutreffen (fünfstufige Likert-Antwortskala: 1 = “trifft gar nicht zu“ bis 5 = “trifft voll zu“). Auf Grundlage einer Faktorenanalyse15 lassen sich die 15 Items zu den folgenden fünf Motivdimensionen verdichten: • fehlende Selbstdisziplin/fehlende Motivation • eigenständige Lebensführung • Relevanzsetzung eines höheren Schulabschlusses • Abraten durch Lehrkräfte/Familie • Kinder und/oder Heirat Auffällig ist mit Blick auf das Antwortverhalten, dass die Mittelwerte eher im Bereich der ablehnenden Antworten bis hin zum mittleren Punkt der Antwortskala (3 = trifft teilweise zu) liegen. Dies kann unterschiedliche Ursachen haben: Einerseits wäre möglich, dass weitere – hier nicht zur Auswahl gestellte – Motive grundsätzlich höhere Zustimmungswerte hät-ten erzielen können. Andererseits ist es möglich, dass die Schülerinnen und Schüler mit der zeitlichen Distanz zum Ersten Bildungsweg die kon-kreten Ursachen und Begründungen nicht mehr ausmachen können. Vor allem ist aber anzunehmen, dass nicht nur die hier erfragten subjektiven Wahrnehmungen eine Rolle gespielt haben, sondern die (hier nicht er-hobenen) Schulnoten als „objektive Bedingung“ ebenfalls eine hohe Re-levanz für die Beendigung der Schullaufbahn im Ersten Bildungsweg darstellen. In jedem Fall machen die geringen Mittelwerte über alle Items hinweg eine differenzierte Betrachtung der Gruppen erforderlich, die einzelne Gründe als (eher) zutreffend angeben.

„Fehlende Selbstdisziplin/fehlende Motivation“ Mit Blick auf die fünfstufige Antwortskala vorwiegend im mittleren Be-reich (trifft teilweise zu) – im Vergleich zu den übrigen Items jedoch mit dem vergleichsweise höchsten Zustimmungsgrad – antworten die Be-fragten auf diejenigen Fragen, welche rückblickend (negative) Schuler-fahrungen aufgreifen. Das insgesamt stärkste Motiv, keinen weiteren Schulabschluss realisiert zu haben, liegt im Rückblick somit darin, die Schule als Lernort verlassen zu wollen. Am ehesten wird in diesem Zu-sammenhang der Einschätzung zugestimmt, dass es an „Selbstdisziplin“ gemangelt hätte (M = 2,90). Diese Selbsteinschätzung einer mangeln-den „Reife“ im Jugendalter geht mit der Diskussion zum Zweiten Bil-dungsweg konform. Traditionell fungiert hier das Bild des durch Berufs-

15 Hauptkomponentenanalyse; oblimines Rotationsverfahren; Varianzaufklärung 58,3 %.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 104

erfahrung gereiften Erwachsenen als eine Legitimation für institutionelle Lösungen eines nachgeholten Schulabschlusses (Koch 2011).

Aspekte, die auf eine negative Einstellung zur Schule eingehen, zei-gen statistisch signifikante Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Betrachtet man nur die Gruppe der Schüler, dann steigen die durch-schnittlichen Zustimmungswerte z. T. auf über 3,0. So stimmen die Schüler der Einschätzung fehlender Selbstdisziplin mit einem Mittelwert von 3,14 zu (M♀ = 2,63), dem ablehnenden Gefühl („keine Lust auf Schule“) gegenüber dem Schulbesuch noch mit 3,07 (M♀ = 2,65).

„Eigenständige Lebensführung“ Im thematischen Gegensatz zu den o. g. Items, die eher schwierige schulische Erfahrungen und ein ggf. problematisches Verhältnis zu schulischem Lernen aufgreifen, stehen diejenigen Items, die den Drang der Befragten nach einer eigenständigen Lebensführung thematisieren. Mit Blick auf die Antwortskala sehen die Befragten diese Gründe nur als teilweise zutreffend bzw. als eher nicht zutreffend an. Dabei wird dem Erreichen einer beruflichen Zielperspektive („Für die Ausbildung/den Be-ruf, den ich wollte, war kein höherer Abschluss notwendig“) vergleichs-weise mehr Bedeutung zugewiesen als dem Verlassen des Elternhau-ses (M = 2,40 bzw. M = 1,92).

Im Vergleich der Mittelwerte deutlich stärker geben die Befragten als Grund der Beendigung ihrer Schullaufbahn im Ersten Bildungsweg an, dass sie endlich eigenes Geld verdienen wollten (M = 2,93). Dies ist zu-gleich der höchste Mittelwert aller 16 Fragen und kann insofern als der im Durchschnitt wichtigste Grund benannt werden.

„Relevanzsetzung eines höheren Schulabschlusses“ Die Befragung der Schülerinnen und Schüler enthielt auch Items, die aus der Sicht der Befragten das gemeinsame Element haben, dass in ihnen die subjektive Relevanz eines Schulabschlusses thematisiert wird. Die Aussage, wonach ein höherer Schulabschluss im Ersten Bildungs-weg zum damaligen Zeitpunkt als unwichtig betrachtet wurde, wird von den Befragten durchschnittlich als „eher unzutreffend“ bewertet (M = 2,04). Schülerinnen lehnen diese rückblickende Einschätzung sig-nifikant stärker ab als Schüler (M♂ = 2,33; M♀ = 2,50), waren sich also demnach der Relevanz höherer Schulabschlüsse noch stärker bewusst.

Entgegen den Ergebnissen der Forschung zur Rolle der Peers im Ersten Bildungsweg sprechen die Befragten ihren Peers hinsichtlich der Beendigung des Schulbesuchs nur eine geringfügige Einflussnahme zu. Dass Freunde von einem höheren Schulabschluss abgeraten hätten,

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 105

wird aus der rückblickenden Wahrnehmung heraus von nahezu allen Befragten als „unzutreffend“ betrachtet (M = 1,30).

„Abraten durch Lehrkräfte/Familie“ Wie schon mit Blick auf die Peers sehen die befragten Schülerinnen und Schüler auch ihre Familie rückblickend nicht als einen Einflussfaktor, der ihnen von einem höheren Schulabschluss abgeraten hätte. Auch hier zeigt sich, dass diese Aussagen im Mittel als „gar nicht zutreffend“ be-wertet werden (M = 1,47 und M = 1,38). Weitgehend ähnlich wird auch die Rolle der früheren Lehrkräfte im Ersten Bildungsweg beschrieben. Dass sie von einem höheren Schulabschluss abgeraten hätten, wird vergleichsweise etwas weniger stark ablehnend beantwortet. Es zeigt sich hier ein Mittelwert (M = 1,85), demgemäß die Befragten im Durch-schnitt tendenziell die Antwort „trifft eher nicht zu“ gewählt haben.

„Kinder und/oder Heirat“ Als letztes Themenfeld werden die beiden Items verstanden, die eine Familiengründung oder eine Heirat als relevanten Grund betrachten, der im Ersten Bildungsweg davon abgehalten hat, einen höheren Schulab-schluss zu erwerben. Die niedrigen Mittelwerte (und die geringe Streu-ung) entspringen der Tatsache, dass dieses Merkmal (Kind bzw. Heirat) nur auf einen vergleichsweise kleinen Teil der Befragten zutrifft, auf ei-nen Großteil der Befragten jedoch gar keinen Einfluss nimmt. So geben 94,9 Prozent der Befragten an, dass eine Heirat in keiner Weise Einfluss genommen hat, 93,3 Prozent sagen dies mit Blick auf Kinder. Umge-kehrt stimmen jedoch 5,0 Prozent überwiegend oder voll zu, dass die Familiengründung davon abgehalten habe, keinen höheren Schulab-schluss im Ersten Bildungsweg anzustreben.

4.3 Berufliche Erfahrungen vor dem Einstieg in das Abendgymnasium/Kolleg Als formale Voraussetzungen für die Aufnahme bzw. den Schulbesuch gelten an Abendgymnasien und Kollegs nicht nur das Lebensalter (Voll-jährigkeit), sondern auch der Mittlere Schulabschluss16 sowie eine ab-geschlossene Berufsausbildung bzw. eine mindestens zweijährige Be-rufstätigkeit, wobei die Führung eines Familienhaushalts der Berufs-tätigkeit gleichgestellt ist. Zeiten der Arbeitslosigkeit, des Wehr- oder Zi-

16 Dieser kann durch den Besuch eines Vorkurses bzw. im Fall des Kollegs zudem durch einen Eignungstest ersetzt werden.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 106

vildienstes, des Entwicklungsdienstes, des freiwilligen sozialen und öko-logischen Jahres können zudem angerechnet werden. Die Einforderung einer dem Schulbesuch vorangegangenen Berufstätigkeit bzw. einer ab-geschlossenen Berufsausbildung geht historisch auf die Gründungszeit des Zweiten Bildungswegs zurück. Die Ergänzung der Aufnahme-voraussetzungen durch weitere berufsbezogene Tätigkeiten, insbeson-dere der Führung eines Familienhaushalts oder auch der Arbeitslosig-keit, sind über die Jahrzehnte ergänzt worden. Sie sind nicht zuletzt eine Anpassung an die sich historisch verändernden gesellschaftlichen Rah-menbedingungen seit den 1960er-Jahren, die sich wiederum in den Bio-grafien der Bewerberinnen und Bewerber widerspiegeln – etwa die über die Jahrzehnte zunehmende Arbeitslosigkeit oder die zunehmende Bil-dungsbeteiligung von Frauen im Ersten und parallel dazu im Zweiten Bildungsweg.

Die formale Anerkennung der Pluralität berufsbezogener Situationen, in welchen sich angehende Schülerinnen und Schüler vor dem Besuch eines Abendgymnasiums bzw. Kollegs befinden, ist von Seiten der For-schung bislang nicht in den Blick genommen worden. Daher wurden die Schülerinnen und Schüler zu Beginn des gymnasialen Bildungsgangs danach befragt, welcher berufsbezogenen Tätigkeit sie in den letzten zwölf Monaten vor dem Besuch des Abendgymnasiums bzw. Kollegs nachgegangen waren. Es wurde gezielt nach der „hauptsächlichen“ Tä-tigkeit gefragt, wohl wissend, dass mehrere der Antwortkategorien zu-treffen können.

Im Ergebnis zeigt sich, dass mit etwas mehr als einem Drittel (36,3 %) die größte Gruppe der Schülerinnen und Schüler vor dem Ein-tritt einer „klassischen“ beruflichen Tätigkeit nachgegangen ist (vgl. Ab-bildung 18). Zählt man diejenigen hinzu, die eine schulische oder be-triebliche Berufsausbildung absolviert haben, dann bedienen über die Hälfte der Befragten (57,6 %) die klassischen Aufnahmevoraussetzun-gen. Jeder zwanzigste Befragte (5,2 %) führte hauptsächlich einen Fa-milienhaushalt. Fasst man die Angaben zur Arbeitslosigkeit, zur Arbeits-unfähigkeit bzw. Krankheit sowie die Gelegenheitsjobs zusammen, dann befindet sich jeder fünfte Befragte (22,1 %) vor dem Schulbesuch in ei-ner prekären Beschäftigungssituation.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 107

Abbildung 18: Hauptsächliche Beschäftigung in den letzten 12 Monaten vor dem Eintritt in das AG/Kolleg

Anmerkung: n = 1.792 Quelle: eigene Darstellung

Mit dem Ausbau der Abendrealschulen (insbesondere im Bundesland Nordrhein-Westfalen) sucht zunehmend eine spezifische Gruppe den Eingang in Abendgymnasien und Kollegs: Absolventinnen und Absol-venten der Abendrealschule, die ihre Schullaufbahn direkt (im Falle von „Bündelschulen“ z. T. an derselben Schule) in einem gymnasialen Bil-dungsgang fortsetzen wollen17. Vor diesem Hintergrund wurden die

17 Aus analytischer Sicht interessiert diese spezifische Gruppe, da die Aufnahme an ei-ner Abendrealschule nur eine sechsmonatige Berufstätigkeit voraussetzt und unter bestimmten Bedingungen auch besucht werden kann, wenn in der Vollzeitschulpflicht kein Schulabschluss erreicht wurde („Voraussetzungen für Aufnahme und Besuch von Abendrealschulen“: Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 11.09.2014). Aus der Sicht der Schulen bzw. der Schülerinnen und Schüler ergibt sich daraus in vielen Fällen das Problem, dass Absolventinnen und Absolventen von Abendreal-schulen zwar den notwendigen Schulabschluss, jedoch nicht immer eine abge-schlossene Berufsausbildung bzw. zweijährige Tätigkeit vorweisen können. In die-sem Fall dürften sie gemäß der KMK-Vereinbarungen eigentlich nicht an Abendgym-nasien und Kollegs zugelassen werden. Um diese anwachsende Gruppe jedoch nicht vom Erwerb eines weiteren Schulabschlusses abzuhalten, ermöglichen die Bundesländer hier spezifische Lösungen (siehe etwa für NRW: APO-WbK vom

11,3%

3,8%

4,1%

5,2%

6,8%

8,2%

9,8%

14,5%

36,3%

0% 50% 100%

Sonstiges

Bund/Zivildienst/FSJ

Arbeitsunfähigkeit/Krankheit

Kind(er)betreuung/Haushalt

Berufliche Schule (schulischeAusbildung/Berufsvorbereit.)

Arbeitslosigkeit

450€-Job, Gelegenheitstätigkeit

Betriebliche Berufsausbildung

Sozialversicherungspflichtige Voll-oder Teilzeittätigkeit

Schülerinnen und Schüler

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 108

Schülerinnen und Schüler befragt, ob sie in den letzten zwölf Monaten vor dem Besuch des Abendgymnasiums bzw. Kollegs einen Abendreal-schul-Kurs besucht hatten.

Da solche Kurse nicht nur von schulischen Einrichtungen (Abendreal-schulen) angeboten werden, sondern auch von Volkshochschulen sowie in Einzelfällen auch von nichtstaatlichen Weiterbildungseinrichtungen, wurden diese ebenfalls als Antwortmöglichkeit vorgesehen. Es zeigt sich, dass fast jeder fünfte Befragte (18,4 %) zeitlich unmittelbar vor dem Einstieg in den gymnasialen Bildungsgang einen Abendrealschul-Kurs besucht hat (vgl. Tabelle 11). Von diesen Personen haben ca. zwei Drit-tel den Kurs an einer Abendrealschule und ca. ein Drittel an einer Volks-hochschule absolviert. Weitere nichtstaatliche Weiterbildungseinrichtun-gen spielen in quantitativer Hinsicht eine marginale Rolle (0,3 %).

Tabelle 11: Besuch eines Abendrealschul-Kurses in den letzten 12 Monaten vor dem Besuch des AG/Kollegs

Kursbesuch Kein ARS-Kurs 81,6 % ARS-Kurs (an Abendrealschule) 12,1 % ARS-Kurs (an Volkshochschule) 6,0 % ARS-Kurs (sonstige Weiterbildungsanbieter) 0,3 % (n = 1.807) 100,0 %

Quelle: eigene Darstellung Bei der obigen Auswertung zur hauptsächlichen Beschäftigung in dem Jahr vor dem Schulbesuch am Abendgymnasium bzw. Kolleg (vgl. Ab-bildung 18) sind auch jene Schülerinnen und Schüler eingerechnet, die in diesem Jahr einen Abendrealschulkurs absolviert haben. Da Abend-realschul-Angebote bei ihren Schülerinnen und Schülern eine parallele Berufstätigkeit (oder etwa die Führung eines Familienhaushalts) unter-stellen, schließt sich die Frage an, inwiefern diese spezifische Teilgrup-pe (n = 322) Besonderheiten hinsichtlich ihrer Beschäftigung parallel zum Besuch der Abendrealschule aufweist.

Eine nähere Betrachtung dieser Teilgruppe im Abgleich zur Gesamt-gruppe der Schülerinnen und Schüler zeigt tatsächlich deutliche Unter-schiede (vgl. Abbildung 19): Mit 35,1 Prozent (Gesamtgruppe: 57,6 %) ist die Gruppe derjenigen, die eine „klassische“ Berufstätigkeit oder Be-

23. Februar 2000, zuletzt geändert durch Verordnung vom 13. Mai 2015 (SGV.NRW.223)).

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 109

rufsausbildung neben der Abendrealschule absolvierten, deutlich gerin-ger. Abbildung 19: Hauptsächliche Beschäftigung während des Besuchs der Abendrealschule (vor dem Eintritt in das AG/Kolleg)

Anmerkung: n = 322 Quelle: eigene Darstellung

Die Führung eines Familienhaushalts geben nur 2,8 Prozent (Gesamt-gruppe: 5,2 %) an. Mit 23,6 Prozent ist der Anteil der Personen in prekä-ren Beschäftigungssituationen auf den ersten Blick ähnlich (Gesamt-gruppe: 22,1 %), allerdings nutzen 36,6 Prozent die offene Antwortkate-gorie „Sonstiges“ und weisen dort umfangreich darauf hin, dass der Be-such der Abendrealschule die Hauptbeschäftigung gewesen sei. Man kann unterstellen, dass dies in großen Teilen auf geringfügige oder gar nicht vorhandene Erwerbstätigkeit verweist. Die vormaligen Abendreal-schülerinnen und -schüler, die erfolgreich den mittleren Abschluss nach-geholt haben und nun unmittelbar ihre Schulzeit in einem gymnasialen Bildungsgang fortsetzen, befanden sich somit vermutlich sogar deutlich häufiger in prekären Beschäftigungssituationen.

36,6%

1,9%

2,8%

2,8%

14,0%

6,5%

14,3%

5,3%

15,8%

0% 50% 100%

Sonstiges

Bund/Zivildienst/FSJ

Arbeitsunfähigkeit/Krankheit

Kind(er)betreuung/Haushalt

Berufliche Schule(schulische…

Arbeitslosigkeit

450€-Job, Gelegenheitstätigkeit

BetrieblicheBerufsausbildung

Schülerinnen und Schüler

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 110

4.4 Bildungsbezogene Zulassungsvoraussetzungen

Zu den Zulassungsvoraussetzungen gymnasialer Bildungsgänge gehört über das Mindestalter und einen Mittleren Schulabschluss hinaus auch eine abgeschlossene Berufsausbildung oder alternativ eine mindestens zweijährige berufliche Tätigkeit (vgl. Kapitel 2.1.1). Mit Blick auf den Zeit-raum der letzten zwölf Monaten vor dem Besuch der Schule geben ins-gesamt 21,3 Prozent der Befragten an, eine betriebliche oder schulische Ausbildung verfolgt zu haben (vgl. Kapitel 4.3). Da sich der Schulbesuch nicht immer direkt an eine Ausbildung anschließt, wurden die Schülerin-nen und Schüler zudem zeitraumunabhängig befragt, ob sie über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. Diese Frage interessiert nicht nur mit Blick auf die Erfüllung von formalen Zulassungsbedingun-gen, sondern ebenso hinsichtlich der Erfassung der individuellen Bil-dungsverläufe vor dem Einstieg in einen gymnasialen Bildungsgang des Zweiten Bildungswegs. Die Erhebung einer abgeschlossenen Berufs-ausbildung umfasst im vorliegenden Fall sowohl Ausbildungen innerhalb des dualen Systems der Berufsausbildung als auch ausschließlich schu-lische Berufsausbildungen.

Es zeigt sich, dass insgesamt nur etwas mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler (55,2 %) eine Berufsausbildung abgeschlos-sen hat (vgl. Abbildung 20). Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Familiengründung eine der Berufstätigkeit formal gleichgestellte Voraus-setzung für den Schulbesuch darstellt, stellt sich die Frage, ob es mög-licherweise geschlechtsspezifische Differenzen bei der Berufsausübung gibt. Die Auswertungen bestätigen die Annahme nicht. Das Geschlecht der Befragten macht keinen statistisch signifikanten Unterschied; aller-dings verfügt in der vergleichsweise kleinen Gruppe der Befragten mit Kindern (13,5 %) ein geringerer Anteil von Personen über eine abge-schlossene Berufsausbildung (47,7 %). Es ist zu vermuten, dass die Familiengründung den Bildungsverlauf dahingehend beeinflusst hat. Ein signifikanter Unterschied zeigt sich auch entlang der Muttersprache: Personen, die Deutsch nicht als ihre Muttersprache angeben, weisen nur in 43,0 Prozent der Fälle eine abgeschlossene Berufsausbildung auf.

Betrachtet man die verschiedenen Bildungsgänge, dann zeigt sich, dass die Schülerinnen und Schüler bezogen auf eine abgeschlossene Berufsausbildung deutliche Unterschiede aufweisen (vgl. Abbildung 20). In den beiden Bildungsgängen mit Vormittagsunterricht (Kolleg sowie AG am Vormittag) überwiegt der Anteil von Schülerinnen und Schülern ohne abgeschlossene Berufsausbildung (48,8 % und 42,1 %). Demge-

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 111

genüber weisen der klassische abendgymnasiale Bildungsgang sowie das „Abitur-Online“ deutlich höhere Anteile auf (62,9 % und 79,1 %). Den höchsten Anteil verzeichnet der Bildungsgang „Abitur-Online“, in welchem vier von fünf Schülerinnen und Schülern vor dem Besuch des Abendgymnasiums eine Berufsausbildung absolviert haben. Abbildung 20: Abgeschlossene (schulische oder betriebliche) Berufsausbildung (nach Bildungsgang) Anmerkung: n = 1.813 Quelle: eigene Darstellung

Als weitere bildungsbezogene Zulassungsvoraussetzung gilt für Abend-gymnasien und Kollegs traditionell der Mittlere Abschluss18. Die Bil-dungsreformen in der Bundesrepublik haben über die Jahrzehnte die in-stitutionellen Möglichkeiten, diesen Abschluss zu erwerben, ausgewei-tet. Dies gilt sowohl für das allgemeinbildende als auch für das berufs-bildende Schulsystem. Die seit den 1970er-Jahren an Volkshochschulen

18 Liegt dieser nicht vor, kann der Besuch eines halb- oder ganzjährigen Vorkurses als Ersatz fungieren. Kollegs haben zudem gemäß der aktuellen KMK-Vereinbarung die alternative Möglichkeit, eine Eignungsprüfung durchzuführen (Vereinbarung zur Ge-staltung der Kollegs: Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 21.06.1979 i. d. F. vom 31.05.2012). Die einzelnen Bundesländer weisen zudem eigene Regelungen hinsichtlich des Erwerbs eines Mittleren Abschlusses an Abendgymnasien und Kol-legs auf. So können etwa die nordrhein-westfälischen Abendgymnasien und Kollegs Bewerberinnen und Bewerber ohne Mittleren Abschluss in einen Vorkurs einschulen und ihnen mit dem Übergang von der Einführungsphase in die Qualifikationsphase zugleich den Mittleren Abschluss zuerkennen (§ 60 APO-WbK vom 23. Februar 2000, zuletzt geändert durch Verordnung vom 13. Mai 2015 (SGV.NRW.223)).

79,1%

42,1%

62,9%

48,8%

55,2%

20,9%

57,9%

37,1%

51,2%

44,8%

0% 50% 100%

AGy („Abitur-Online")

AGy (am Vormittag)

AGy (klassisch)

Kolleg

Gesamt

abgeschlossene Berufsausbildungkeine abgeschlossene Berufsausbildung

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 112

etablierten Kurse für das Nachholen von Schulabschlüssen sowie die Ausbreitung von Abendrealschulen haben zudem die Möglichkeit des Erwerbs des Mittleren Schulabschlusses in das Weiterbildungssystem selbst ausgedehnt. Die Erweiterung institutioneller Optionen bedingt in der Folge auch eine Pluralisierung der faktisch anzutreffenden Bil-dungswege in die Abendgymnasien bzw. Kollegs. Um deren Umfang empirisch abzubilden, wurden die Schülerinnen und Schüler befragt, an welcher Schulform bzw. Einrichtung sie den Mittleren Abschluss erwor-ben haben.

Es zeigt sich, dass insgesamt 97,2 Prozent der im ersten Schulhalb-jahr befragten Schülerinnen und Schüler die Zulassungsvoraussetzung eines Mittleren Schulabschlusses erfüllen (vgl. Abbildung 21). g erwor-ben haben, sondern erst auf dem Zweiten Bildungsweg selbst.

Abbildung 21: Schulform/Bildungsinstitution des Erwerbs des Mittleren Schulabschlusses

Anmerkung: n = 1.781 Quelle: eigene Darstellung

Jeder dritte Befragte (34,3 %) hat diesen Abschluss an einer Realschule erworben. Insgesamt haben mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler (58,3 %) den Mittleren Abschluss an einer allgemeinbildenden Schulform des Ersten Bildungswegs erworben. Mindestens jeder siebte Befragte (15,2 %) hat diesen allgemeinbildenden Abschluss innerhalb

2,8%

9,2%

13,6%

15,2%

12,1%

5,3%

34,3%

7,6%

0% 50% 100%

kein MittlererAbschluss…

VHS/sonstigeWeiter-…

Abendrealschule

Berufskolleg/Berufsschule

Gesamtschule

Gymnasium

Realschule

Hauptschule

Schülerinnen und Schüler

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 113

des berufsbildenden Schulsystems erhalten. Ein ähnlich großer Anteil (13,6 %) gibt an, den Mittleren Abschluss an einer Abendrealschule er-worben zu haben. Addiert man diejenigen Personen, die an einer Volks-hochschule oder bei anderen Weiterbildungsanbietern den Mittleren Ab-schluss nachgeholt haben, dann gilt für mehr als ein Fünftel (22,8 %) der Befragten, dass sie diesen Abschluss nicht im (allgemein- oder berufs-bildenden) Ersten Bildungsweg erworben haben.

Die Gruppe der Schülerinnen und Schüler, die die deutsche Sprache nicht als ihre Muttersprache erlernt hat, zeigt statistisch signifikante Un-terschiede: So ist in dieser Gruppe der Anteil derjenigen, die ihren Mittle-ren Abschluss im allgemeinbildenden Ersten Bildungsweg erworben ha-ben, vergleichsweise niedriger (49,3 % Anteil gegenüber 61,5 % Anteil in der Gruppe der Muttersprachler). Mit Blick auf den im Zweiten Bil-dungsweg erworbenen Mittleren Abschluss kehrt sich das Bild dann um. Hier haben 30,1 Prozent der Nicht-Muttersprachler gegenüber 19,7 Pro-zent der Muttersprachler diesen Schulabschluss erworben. Dies kann als Indiz dafür gedeutet werden, dass Schülerinnen und Schüler mit nicht-deutscher Muttersprache, die im Ersten Bildungsweg häufiger von Selektionsentscheidungen (z. B. Klassenwiederholungen, Abschulung, Abgang ohne Abschluss) betroffen sind, im Zweiten Bildungsweg stärker von der Möglichkeit profitieren, den Mittleren Abschluss nachholen zu können. 4.5 Motive bzw. Ziele des Erwerbs eines höheren Schulabschlusses Der zentrale Unterschied zwischen allgemeinbildenden Schulen des Ersten und des Zweiten Bildungswegs besteht vor allem darin, dass der Besuch des Abendgymnasiums bzw. Kollegs auf einer formalen Freiwil-ligkeit beruht bzw. als Ergebnis einer bewussten bildungsbiografischen Entscheidung eines Erwachsenen betrachtet wird. Aus wissenschaftli-cher Perspektive stellt sich die Frage, warum Erwachsene in einen sol-chen längerfristigen und umfangreichen Bildungsprozess eintreten. Im Gegensatz zur Teilnahme an informellen oder non-formalen Bildungs-kontexten kann bei der Entscheidung für bzw. dem Eintritt in einen for-malen Lernkontext die damit verbundene Zertifizierung als Motivlage angenommen werden. Im Falle von Schulen des Zweiten Bildungswegs, so kann man unterstellen, ist das Motiv des Schulbesuchs somit direkt oder indirekt auf den Schulabschluss (Fachhochschulreife oder Allge-meine Hochschulreife) bezogen.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 114

Die Debatte zum Zweiten Bildungsweg hat bis in die 1960er-Jahre hinein unterstellt, dass der erneute Schulbesuch aus individueller Per-spektive durch den Wunsch getrieben ist, durch das Nachholen des Abi-turs bzw. den darauf aufbauenden universitären Abschluss einen beruf-lichen Aufstieg im angestammten Berufsbereich zu vollziehen (z. B. vom Krankenpfleger zum Arzt etc.). Diese Vorstellung wurde durch empiri-sche Forschungsarbeiten weitgehend relativiert, in welchen demgegen-über als zentrales Motiv der Wechsel des beruflichen Bereichs heraus-gearbeitet wurde (Hamacher 1968). Vor dem Hintergrund des Funkti-onswandels schulischer Berechtigungen im Ersten Bildungsweg, der Massenarbeitslosigkeit seit den 1980er-Jahren und Phasen des Ausbil-dungsplatzmangels wurde zudem die These aufgestellt, dass für einen Teil der Schülerinnen und Schüler der erneute Schulbesuch dem Anlie-gen bzw. der Notwendigkeit entspringt, für sich überhaupt einen Zugang zum Arbeits- bzw. Ausbildungsmarkt zu eröffnen (Harney/Koch/Hoch-stätter 2007).

Um einen Einblick in die Motive zu erhalten, warum Erwachsene ein Abendgymnasium bzw. Kolleg besuchen und einen allgemeinbildenden Schulabschluss der Sekundarstufe II nachholen wollen, wurden den Schülerinnen und Schülern mögliche Gründe aufgeführt, warum ein wei-terer Schulabschluss angestrebt werden könnte19. Die Befragten sollten auf einer fünfstufigen Antwortskala (von 1 = “trifft gar nicht zu“ bis 5 = “trifft voll zu“) angeben, inwieweit die einzelnen Gründe auf sie selbst zutreffen (vgl. Abbildung 22). Die 23 eingesetzten Items lassen sich zu sieben Faktoren verdichten, die unterscheidbare basale Motive erfas-sen20: • Einkommen/Lebensstandard verbessern • Aufnahme eines Hochschulstudiums • beruflicher Wechsel • sich oder anderen etwas beweisen • Arbeits-/Ausbildungsplatz bekommen • berufliche Position verbessern/absichern • Aufforderung durch Arbeitsagentur/Jobcenter

19 Die angebotenen Motive sind aus der einschlägigen Literatur sowie ergänzend aus Expertengesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern des Zweiten Bildungswegs heraus entwickelt worden.

20 Die Sortierung der Items in thematische Blöcke basiert auf einer Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse; Rotationsverfahren oblimin; Varianzaufklärung 55,6 %). Die Reihenfolge orientiert sich am Grad der Zustimmung durch die Befragten.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 115

Abbildung 22: Motive des Erwerbs eines höheren allgemeinbildenden Schulabschlusses

Anmerkung: n = 1.795 bis 1.819 Quelle: eigene Darstellung

1,13

1,65

2,03

2,16

2,66

2,72

2,79

3,09

3,33

3,44

3,85

3,89

3,59

3,97

4,19

1 2 3 4 5

AUFFORDERUNGARBEITSAGENTUR/JOBCENTER (Single

Items)

… um zu verhindern, dass ich meinen Job verliere und arbeitslos werde.

… um in meinem aktuellen Beruf eine höhere Position zu erlangen.

… um meine aktuelle berufliche Position abzusichern.

... um die Anforderungen meines Berufserfüllen zu können.

BERUFLICHE POSITIONVERBESSERN/ABSICHERN

ARBEITS-/AUSBILDUNGSPLATZBEKOMMEN (Single Item)

SICH ODER ANDEREN ETWAS BEWEISEN(Single Item)

BERUFLICHER WECHSEL (Single Item)

... um an einer Fachhochschule zu studieren.

... wollte schon immer Abitur/FHR machen, hatsich aber nicht ergeben.

… um später ggf. ein Hochschulstudium aufnehmen zu können.

... um an einer Uni zu studieren.

AUFNAHME EINES HOCHSCHULSTUDIUMS

… um mir/meiner Familie einen höheren Lebensstandard zu ermöglichen.

… um mehr Geld zu verdienen.

... weil ich einen Beruf anstrebe, für den icheinen höheren Abschluss benötige.

EINKOMMEN/LEBENSSTANDARDVERBESSERN

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 116

„Einkommen/Lebensstandard verbessern“ Die vergleichsweise höchsten Zustimmungswerte erreichen diejenigen Aussagen, die das Motiv „Einkommen/Lebensstandard verbessern“ ab-bilden. Mit Blick auf die Antwortskala tendieren die Mittelwerte zur Ant-wortstufe 4, d. h. die Befragten bestätigen im Durchschnitt, dass die vor-geschlagenen Gründe „überwiegend zutreffen“. Die höchste Zustim-mung (M = 4,19; SD = 1,16) erhält die Aussage, dass für den angestreb-ten Beruf ein höherer Schulabschluss eine notwendige Bedingung dar-stellt. Damit zeigt sich deutlich, wie intensiv die Befragten ihren Schul-besuch mit der Frage ihrer beruflichen Perspektive verknüpfen. In Ver-bindung mit den beiden Items, die das Einkommen und den Lebens-standard thematisieren, wird zudem evident, dass die Entscheidung zum erneuten Schulbesuch im Zweiten Bildungsweg mit der Hoffnung ver-bunden ist, einen höheren Lebensstandard zu erreichen.

Der Aussage, dass man sich selbst bzw. seiner Familie einen höhe-ren Lebensstandard ermöglichen möchte, wird von Befragten mit Kin-dern signifikant stärker zugestimmt (M = 3,91; SD = 1,35) als von kinder-losen Schülerinnen und Schülern (M = 3,54; SD = 1,43).

„Aufnahme eines Hochschulstudiums“ Ähnlich hohe Zustimmungswerte erreichen diejenigen Aussagen, die im Kern das Motiv der Aufnahme eines Hochschulstudiums benennen. Zu studieren bzw. sich generell die Chance auf ein Hochschulstudium zu eröffnen, wird durchschnittlich mit der Antwortmöglichkeit „trifft überwie-gend zu“ gekennzeichnet (M = 3,89; SD = 1,33 sowie M = 3,85; SD = 1,29).

Das Anliegen, an einer Fachhochschule zu studieren, ist bei den Be-fragten durchschnittlich etwas weniger ausgeprägt (M = 3,33; SD = 1,42) und wird eher mit „trifft teilweise zu“ beantwortet. Dies geht konform mit der Tatsache, dass der Abschluss der Fachhochschulreife quantitativ nicht den Umfang der Allgemeinen Hochschulreife erreicht. Ein Schul-besuch am Abendgymnasium bzw. Kolleg zielt aus Sicht der Befragten eher auf das Abitur und die damit verbundene Möglichkeit eines Univer-sitätsstudiums.

„Beruflicher Wechsel“ Ein aus der Forschung zum Zweiten Bildungsweg empirisch belegtes Motiv des Schulbesuchs ist der angestrebte Wechsel des Berufs bzw. des beruflichen Bereichs, in welchem die Schülerinnen und Schüler eine Ausbildung erworben haben bzw. bis dato tätig gewesen sind. In den beiden diesbezüglichen Items wurde einerseits der Wunsch nach einem

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 117

Berufs(feld)wechsel und andererseits das Anliegen, nicht mehr im bishe-rigen Beruf zu arbeiten, erfragt; die beiden Items wurden zur Skala „Be-ruflicher Wechsel“ zusammengefasst (α = 0,80). Das Motiv des Berufs-wechsels wird von den Befragten im Durchschnitt als „teilweise zutref-fend“ bewertet (M = 3,09; SD = 1,49), wobei diese Skala die höchste Streuung aller motivbezogenen Skalen bzw. Items aufweist.

„Sich oder anderen etwas beweisen“ Jenseits von Items, die sich direkt auf die Verwertbarkeit des Schulab-schlusses für Beruf und Studium beziehen, wurden den Schülerinnen und Schülern auch Aussagen angeboten, die die Wirkung eines zusätz-lichen Schulabschlusses stärker auf das eigene Selbstwertgefühl der Befragten beziehen. So konnten sie angeben, inwieweit der Schulab-schluss auch die Funktion hat, sich selbst oder dem sozialen Umfeld (der Familie bzw. den Freunden) „etwas zu beweisen“. Diese drei Items wurden zur Skala „sich oder anderen etwas beweisen“ zusammenge-fasst (α = 0,74). Das Motiv, sich selbst und anderen etwas zu beweisen, sehen die Befragten im Durchschnitt als „teilweise zutreffend“ an (M = 2,79; SD = 1,09).

„Arbeits-/Ausbildungsplatz bekommen“ Für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die vor dem erneuten Schul-besuch keinen (angestrebten) Ausbildungs- oder Arbeitsplatz finden konnten, stellt diese Herausforderung ein starkes Motiv dar. Dass die Berufsausbildung bzw. berufliche Tätigkeit seit jeher eine formale Zulas-sungsvoraussetzung an Abendgymnasien und Kollegs darstellt, mag er-klären, warum dieses mögliche Motiv in der Forschung bislang nicht ge-zielt erfragt wurde. Sechs Items nehmen auf ein derartiges Motiv Bezug; dazu gehören etwa explizite Aussagen, dass der zusätzliche Schulab-schluss angestrebt wird, „um nicht mehr arbeitslos zu sein“ oder „um ei-nen Ausbildungsplatz zu bekommen“. Die sechs Items bilden die Skala „Arbeits-/Ausbildungsplatz bekommen“ (α = 0,78).

Die empirische Relevanz des damit erhobenen Motivs zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Befragten dieses Motiv im Durchschnitt als „teil-weise zutreffend“ bewerten (M = 2,72; SD = 1,02), wobei der Mittelwert – ähnlich dem o. g. Motiv „sich oder anderen etwas beweisen“ – eine leicht ablehnende Tendenz zum Ausdruck bringt. Bei Schülerinnen und Schülern mit Kindern ist diese ablehnende Tendenz etwas geringer aus-geprägt (M = 2,85; SD = 1,11) als bei kinderlosen Schülerinnen und Schülern (M = 2,70; SD = 1,00).

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 118

„Berufliche Position verbessern/absichern“ Aussagen, die sich auf eine berufliche Verbesserung oder auch eine be-rufliche Absicherung beziehen, können als Ausdruck eines Motivs be-trachtet werden, das die berufliche Position fokussiert. Die einschlägigen vier Items werden im Durchschnitt als „wenig zutreffend“ bewertet. Die Aussage, dass es um die Vermeidung drohender Arbeitslosigkeit gehe, erhält durchschnittlich die geringste Zustimmung (M = 1,65; SD = 1,14). Ein signifikanter Unterschied zeigt sich bei den Aussagen zur Verbesse-rung der beruflichen Position hinsichtlich der Muttersprache: So lehnen Schülerinnen und Schüler, die als Muttersprache nicht die deutsche Sprache angeben, die obige Aussage zur Vermeidung drohender Ar-beitslosigkeit im Durchschnitt weniger ab (M = 1,87; SD = 1,32).

„Aufforderung durch Arbeitsagentur/Jobcenter“ Der Aussage, dass die Arbeitsagentur bzw. das Jobcenter nahegelegt hätten, einen zusätzlichen Schulabschluss anzustreben, wird von den Schülerinnen und Schülern fast durchgängig als „gar nicht zutreffend“ bewertet, entsprechend gering ist der Mittelwert (M = 1,13; SD = 0,54). Eine Häufigkeitsauswertung zeigt, dass mehr als neun von zehn Befrag-ten diese Aussage als „nicht zutreffend“ bewerten (92,5 %), nur eine sehr kleine Gruppe der Schülerinnen und Schüler (3,7 %) sieht sie als „teilweise zutreffend“ bis „voll zutreffend“ an).

Dass am Ende der Schulzeit im Zweiten Bildungsweg idealtypisch ein Schulabschluss steht, legt nahe, dass die individuellen Motive für den erneuten Schulbesuch sich direkt oder indirekt auf diesen Abschluss be-ziehen. Darüber hinaus kann aber auch angenommen werden, dass es weitere Motive jenseits des Erwerbs eines Schulabschlusses gibt, wel-che den Besuch eines Abendgymnasiums bzw. Kollegs initiieren oder die o. g. abschlussbezogenen Gründe zumindest ergänzen. Aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler geht es um die Erwartungshaltung, dass der Schulbesuch über den anvisierten Abschluss hinaus (oder ggf. sogar ohne den letztlichen Erwerb eines solchen) Wirkungen zeigt.

Um solche mit dem Bildungsprozess verknüpften Erwartungen und Hoffnungen zu erfassen, wurden den Befragten 13 Aussagen präsen-tiert, die auf einer fünfstufigen Antwortskala (von 1 = “trifft gar nicht zu“ bis 5 = “trifft voll zu“) bewertet werden sollten.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 119

Hinter diesen 13 Aussagen liegen zwei latente und unterscheidbare Erwartungen bzw. Hoffnungen21 (vgl. Abbildung 23): • persönlichkeitsentwickelnde Allgemeinbildung • Zäsur bzw. Neubeginn im Leben

Abbildung 23: Erwartungen an Schulbesuch jenseits eines Schulabschlusses

Anmerkung: n = 1.822 und 1.8.18 Quelle: eigene Darstellung

„Persönlichkeitsentwicklung“ Zum einen wurden von den Befragten solche Aussagen als thematisch ähnlich betrachtet, in denen die Hoffnung auf die Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit, eine vertiefte Allgemeinbildung, Kreativität, bes-sere sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten oder auch ein stärkeres Ver-ständnis gesellschaftspolitischer Vorgänge etc. geäußert wurde. Die insgesamt acht Items lassen sich entsprechend zu einer als „Persönlich-keitsentwicklung“ bezeichneten Skala zusammenfassen (α = 0,87). Die mit damit eingenommene Perspektive, dass mit dem schulischen Bil-dungsprozess zugleich die Hoffnung auf eine Weiterentwicklung der ei-genen Person besteht, wird von den Befragten im Mittel mit „trifft teilwei-se zu“ bewertet (M = 3,41; SD = 0,91). Das arithmetische Mittel zeigt, dass die Antworten dabei in Richtung einer positiven Beantwortung ten-dieren und auf der Antwortskala schon fast den Antwortbereich „trifft überwiegend zu“ erreichen. Schülerinnen stimmen dieser Erwartungs-haltung signifikant stärker zu als Schüler (M♀ = 3,49; SD = 0,90; M♂ = 3,35; SD = 0,91).

21 Die thematische Zusammenfassung der Items basiert auf einer Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse; Rotationsverfahren oblimin; Varianzaufklärung 55,0 %). Die Reihenfolge entspricht dem Grad der Zustimmung durch die Befragten.

2,75

3,41

1 2 3 4 5

ZÄSUR BZW. NEUBEGINNIM LEBEN (Item-Skala)

PERSÖNLICHKEITSENT-WICKLUNG(Item-Skala)

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 120

„Zäsur bzw. Neubeginn im Leben“ Die weiteren fünf Items sprechen als gemeinsames, latentes Thema die Erwartung an, dass der Schulbesuch eine (positive) Zäsur im Leben darstellen kann. In diesen Aussagen wird die Hoffnung auf einen Neuan-fang im Leben geäußert bzw. der Wunsch, Bisheriges hinter sich zu las-sen und ggf. sogar bisherige soziale Kreise zu verlassen. Mit Blick auf die individuelle Lebensführung wurden Aussagen angeboten, wonach der Schulbesuch mit der Hoffnung auf eine stärkere Strukturierung des Alltags bzw. eine Stärkung der Eigenständigkeit einhergeht. Die fünf Aussagen bilden die Skala „Zäsur bzw. Neubeginn im Leben“ (α = 0,80).

Die mit der Skala erfasste Hoffnung, dass der erneute Bildungspro-zess zugleich auch auf sozialer und individueller Ebene eine Zäsur im Leben darstellt, wird von den Schülerinnen und Schülern im Durch-schnitt mit „trifft teilweise zu“ bewertet (M = 2,75; SD = 1,06). Im Ver-gleich zur obigen Skala „Persönlichkeitsentwicklung“ (M = 3,41) sinkt der durchschnittliche Zustimmungsgrad deutlich und zeigt, dass die Befrag-ten im Durchschnitt eher zu einer ablehnenden Haltung tendieren.

Schulabschlussbezogene Zielvorstellungen Die Motivlage, mit der junge Erwachsene in den Zweiten Bildungsweg eintreten und einen zusätzlichen Schulabschluss anstreben, ist analy-tisch von den konkreten Zielvorstellungen hinsichtlich des angestrebten Schulabschlusses sowie hinsichtlich dessen bildungs- und berufsbezo-gener Verwertung zu unterscheiden. Mit Blick auf den angestrebten Schulabschluss bieten Abendgymnasien und Kollegs parallel zum Ers-ten Bildungsweg seit den frühen 1980er-Jahren nicht nur die Möglich-keit, die Allgemeine Hochschulreife, sondern ebenso die Fachhoch-schulreife zu erwerben. An Abendgymnasien und Kollegs ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die mit letzterem Abschluss die Schule verlassen, deutlich höher als im Ersten Bildungsweg. Insofern stellt der Erwerb der Fachhochschulreife nicht nur die Ausnahme, sondern eine relevante Alternative zum Abitur dar. Folglich muss eine Analyse des abschlussbezogenen Ziels dies ebenso berücksichtigen wie die Mög-lichkeit, dass Schülerinnen und Schüler, die am Beginn des gymnasialen Bildungsgangs stehen, diesbezüglich noch indifferent sind. Für eine kleine Gruppe der Befragten ist zu beachten, dass sie aufgrund formaler Voraussetzungen nur die Fachhochschulreife erwerben darf, unabhän-gig von ihrem womöglich vorhandenen Interesse am Erwerb der Allge-meinen Hochschulreife22.

22 Dies gilt etwa für die nordrhein-westfälischen Abendgymnasien und Kollegs, falls die Schülerinnen und Schüler über die Abendrealschule eintreten und die Dauer der vo-

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 121

Es zeigt sich, dass etwa jeder zehnte Befragte (11,5 %) hinsichtlich des Schulabschlusses noch keine feststehende Meinung hat (vgl. Tabel-le 12). Etwas mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler hat be-reits eine dezidierte Vorstellung hinsichtlich des anvisierten Schulab-schlusses (53,7 %). Ein Drittel (34,8 %) ist sich noch nicht sicher und will zunächst die Fachhochschulreife erreichen und erst dann eine Ent-scheidung über den weiteren Schulbesuch fällen. Befragte, die Deutsch nicht als ihre Muttersprache angeben, streben signifikant seltener das Abitur an (33,6 % gegenüber 45,2 % der Muttersprachler).

Unterscheidet man die Befragten hinsichtlich des Bildungsgangs, den sie besuchen, dann zeigen sich signifikante Unterschiede vor allem für die Schülerinnen und Schüler des Bildungsgangs „Abendgymnasium am Vormittag“. Letztere zielen nur zu etwa einem Viertel (28,8 %) auf den Erwerb der Allgemeinen Hochschulreife, haben dagegen aber den ver-gleichsweise höchsten Anteil an Befragten, die dezidiert die Fachhoch-schulreife als Wunschziel angeben (10,6 %).

rausgehenden Berufstätigkeit bzw. -ausbildung nicht den gymnasialen Zulassungs-voraussetzungen genügt.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 122

Tabelle 12: Angestrebter Schulabschluss (nach Bildungsgang)

Gesamt Kolleg AGy (klas-sisch)

AGy (Vormit-tag)

AGy („Abitur-Online“)

Das lasse ich auf mich zukommen

7,8 % 7,4 % 8,1 % 9,8 % 7,4 %

Nachgedacht, aber noch nicht sicher

3,7 % 3,2 % 4,2 % 4,5 % 3,2 %

Erstmal Fach-hochschulreife, dann vielleicht Abi-tur dranhängen

34,8 % 32,2 % 36,5 % 38,6 % 41,5 %

Fachhochschul-reife, kein Interes-se an Abitur

6,3 % 6,0 % 6,7 % 10,6 % 3,7 %

Abitur, kein Inte-resse an Fach-hochschulreife

41,8 % 42,8 % 43,5 % 28,8 % 43,1 %

Ich darf nur die Fachhochschul-reife erwerben, würde aber gerne auch Abitur ma-chen

5,6 % 8,5 % 1,0 % 7,6 % 1,1 %

(n = 1.831) 100,0 % 100,0 % 100,0 % 100,0 % 100,0 %

Quelle: eigene Darstellung

Über die Frage nach dem anvisierten Schulabschluss hinaus interessie-ren auch die Zielvorstellungen hinsichtlich der angestrebten Verwertung dieses Abschlusses. Ganz grundlegend stellt sich zunächst die Frage, ob der Erwerb des Schulabschlusses auf einen Eintritt in den Arbeits- bzw. Ausbildungsmarkt zielt oder den Besuch einer Hochschule ermög-lichen soll. Auch für die Frage nach der Verwertung des jeweiligen Schulabschlusses ist anzunehmen, dass dieses biografisch noch über

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 123

den Zeitpunkt des Schulabschlusses hinausgehende Ziel von den Be-fragten nicht immer eindeutig benennbar ist.

Weitere Bildungs- und Berufswegplanung Von den Befragten gibt über ein Viertel (28,7 %) an, noch nicht über die Zeit nach dem Schulabschluss nachgedacht zu haben oder diesbezüg-lich keine abschließende Zielvorstellung zu haben. Mehr als jeder Zehn-te (12,0 %) will mit dem Schulabschluss in den Ausbildungs- bzw. Ar-beitsmarkt eintreten, wobei die große Mehrheit den Schulabschluss für den Zugang zu einer Ausbildung nutzen will. Die Mehrheit der Befragten (59,3 %) zielt dagegen darauf ab, mit dem Schulabschluss Zugang zum Hochschulsystem zu bekommen. Es dominiert das Ziel „Universität“ (41,1 %) gegenüber dem Ziel „Fachhochschule“ (18,2 %) im Verhältnis von etwa 2:1.

Tabelle 13: Zehn häufigste Studienfachwünsche

Studienfachwunsch Medizin 13,7 % Psychologie 8,9 % Soziale Arbeit/Sozialpädagogik 7,9 % Ingenieurwissenschaften 6,3 % Informatik 6,1 % Jura 5,5 % Wirtschaftswissenschaften 5,0 % Lehramt 3,0 % Architektur 2,8 % Sportwissenschaft 2,7 % … … (n = 637) 100,0 %

Quelle: eigene Darstellung

Die mögliche Fortsetzung des eigenen Bildungsverlaufs an einer Hoch-schule induziert die Frage nach den konkreten anvisierten Studienfä-chern. Die Frage zur potenziellen Studienfachwahl wurde mit Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten als offene Frage gestellt, bei der die be-fragten Schülerinnen und Schüler eines oder mehrere Studienfächer an-geben konnten. Von denjenigen Befragten, die ein Hochschulstudium anstreben und bereits eine Vorstellung über das gewünschte Studien-fach haben (n = 637), wurden insgesamt 93 verschiedene Fächer ge-nannt. Diese hohe Anzahl verschiedener Studienfächer ergibt sich nicht

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 124

zuletzt dadurch, dass insgesamt 41 Fächer von nur jeweils einer einzi-gen Person angegeben wurden. Demgegenüber kommen in den zehn am häufigsten genannten Studienfächern die Studienwünsche von deut-lich mehr als der Hälfte der Antwortenden zum Ausdruck (61,9 %) (vgl. Tabelle 13). Den höchsten Anteil weist das Studienfach „Medizin“ auf (13,7 %), gefolgt vom Studienfachwunsch „Psychologie“ (8,9 %).

Sowohl im Falle einer direkten Einmündung in den Arbeits- bzw. Aus-bildungsmarkt nach Abschluss des Zweiten Bildungswegs als auch im Falle eines anschließenden Hochschulstudiums verfolgen die Befragten mit ihren Aktivitäten womöglich ein spezifisches Berufsziel. Die Schüle-rinnen und Schüler wurden ebenfalls befragt, ob sie ein spezifisches Be-rufsziel anstreben und um welches es sich dabei handelt. In Parallelität zum anvisierten Studienfach wurde auch die Frage nach dem Berufsziel als offene Frage formuliert. Von denjenigen Schülerinnen und Schülern, die ein konkretes Berufsziel vor Augen haben (n = 739), wurden insge-samt 201 verschiedene berufliche Ziele formuliert. Wie schon bei den Studienfachwünschen ist auch bei den Berufswünschen diese hohe Bandbreite der Tatsache geschuldet, dass 116 Berufsangaben von nur jeweils einer einzigen befragten Person genannt werden. Die zehn häu-figsten Berufsnennungen werden von der Hälfte der Befragten (50,6 %) genannt und weisen deutliche Parallelen zu den Studienfachwünschen auf, da es sich vielfach um akademisierte Berufe handelt (vgl. Tabel-le 14).

Tabelle 14: Zehn häufigste Berufsziele

Berufsziel Mediziner/in 10,7 % Lehrer/in 7,7 % Polizist/in 6,5 % Informatiker/in 4,6 % Jurist/in 4,6 % Psychologe/in 4,1 % Sozialarbeiter/in; Sozialpädagoge/in 5,1 % Ingenieur/in 3,2 % Architekt/in 2,0 % Journalist/in 2,0 % (n = 739)

Quelle: eigene Darstellung

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 125

So führt der Berufswunsch „Mediziner/in“ auch diese Liste an. Als Be-rufswunsch, der von den Befragten überwiegend als Ausbildungsberuf wahrgenommen wird, ist allein der Beruf der Polizist/in nicht schon in der Liste der häufigsten Studienwünsche präsent.

Insgesamt lassen sich sowohl die genannten Studienfachwünsche als auch die konkreten Berufsziele als Ausdruck des Wunsches deuten, ei-nen gesellschaftlich wertgeschätzten Beruf einzuschlagen.

4.6 Zusammenfassung

Um die Wege der Lernenden in den Systemen der Abendgymnasien und Kollegs verstehen zu können, ist eine Kenntnis der Voraussetzun-gen erforderlich, welche die Lernenden beim Eintritt in das System mit-bringen.

Mit Blick auf den Eintrittszeitpunkt zeigt sich zunächst eine deutliche Nähe zum Ersten Bildungsweg, da die Schülerinnen und Schüler gym-nasiale Bildungsgänge des Zweiten Bildungswegs überwiegend im Alter bis Mitte zwanzig unmittelbar nach dem Verlassen des Ersten Bildungs-wegs beginnen. Mehr als die Hälfte von ihnen hat zu diesem Eintritts-zeitpunkt bereits den höchsten Schulabschluss ihrer Eltern erreicht oder übertroffen. Es zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede, bei denen die Eltern der jungen Frauen eine vergleichsweise geringere Schulbildung aufweisen als die Eltern der jungen Männer. Schülerinnen und Schüler, in deren Lebenswelt die deutsche Sprache nicht (allein) die Verkehrssprache darstellt, sind mit einem Anteil von 27,8 Prozent an den Abendgymnasien und Kollegs gegenüber den Oberstufenschülerin-nen und -schülern des Ersten Bildungswegs (für NRW: 11,6 %, eigene Berechnung nach MSW NRW 2017, S. 169) deutlich überrepräsentiert.

Bildungsgänge in Schulen des Zweiten Bildungswegs sind im Kern entlang der Frage der Berufstätigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler entworfen. Die enge Kopplung der Bildungsgänge an die Berufstätigkeit der Schülerinnen und Schüler wird jedoch zunehmend infrage gestellt.

Einerseits weist nur etwa die Hälfte (55,2 %) der Befragten die forma-le Voraussetzung einer abgeschlossenen betrieblichen oder schulischen Berufsausbildung auf. Andererseits stimmt auch die aktuelle berufliche Situation der Schülerinnen und Schüler nur begrenzt mit den unterstell-ten bildungsgangbezogenen Adressatenprofilen überein. Abendgymna-sien zielen auf Personen, die einer Vollzeittätigkeit nachgehen (wochen-tags bis ca. 17 Uhr). Allerdings geht mehr als ein Viertel (26,1 %) der Schülerinnen und Schüler am klassischen Abendgymnasium keiner Be-rufstätigkeit nach.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 126

Demgegenüber beruhen Kollegs auf der Annahme, dass eine solche „klassische“ berufliche Tätigkeit während des dreijährigen Schulbesuchs eingestellt wird, denn das schulische Angebot findet tagsüber statt. Gleichwohl geben hier mehr als ein Drittel (37,9 %) der Kollegschülerin-nen und -schüler an, berufstätig zu sein.

Der jüngste Bildungsgang „Abitur-Online“ entspringt dem Anspruch, eine zeitliche Flexibilität zu ermöglichen, die auf immer weniger „klassi-sche“ Arbeitszeiten reagiert, indem nur wenige Präsenzphasen an der Schule mit regelmäßigen Online-Arbeitsphasen gekoppelt werden. Die Befragten im Abendgymnasium „Abitur-Online“ entsprechen am ehesten dem Adressatenprofil des klassischen (Präsenz-)Abendgymnasiums, denn sie sind überwiegend (84,5 %) berufstätig.

Familientätigkeit stand historisch lange im Hintergrund und nur der seltene Bildungsgang „Abendgymnasium am Vormittag“ ist dem An-spruch nach auf Personen ausgerichtet, die Kinder versorgen, welche vormittags Erziehungs- und Bildungsorganisationen besuchen. Insge-samt geben 13,5 Prozent aller Befragten an, für Kinder verantwortlich zu sein. In dieser Gruppe, die mit 70,6 Prozent überwiegend aus Frauen besteht, verwenden zudem die Mütter deutlich mehr Zeit auf die Kinder-betreuung als die Väter.

Betrachtet man die schulische Herkunft der Befragten im Ersten Bil-dungsweg, weist nur eine Minderheit (8,0 %) Erfahrungen an einem Gymnasium als klassischer abiturführender Schulform auf. Dies lässt die Aufstiegsorientierung der Schülerinnen und Schüler erkennen. Stärker als Schülerinnen und Schüler des Ersten Bildungswegs weisen die Be-fragten gebrochene Laufbahnen in Form von Klassenwiederholungen und Schulformwechseln auf. Zudem hat etwa ein Fünftel der Befragten bereits die Mittlere Reife – als Voraussetzung für den Zugang zum gym-nasialen Bildungsgang am Abendgymnasium oder Kolleg – im Zweiten Bildungsweg (Abendrealschule) erworben.

Wenig eindeutig sind die Angaben der Lernenden zu den Gründen, warum die Schullaufbahn im Ersten Bildungsweg ohne Hochschulreife beendet wurde. Es liegt nahe, dass hierfür insbesondere mangelnde Leistungsfähigkeit und -bereitschaft als auch der Anreiz einer eigen-ständigen Lebensführung von Bedeutung waren.

Betrachtet man die Motive und Ziele, die von den Befragten als aus-schlaggebend für die Wiederaufnahme des Schulbesuchs und den Er-werb eines zusätzlichen Schulabschlusses angegeben werden, dominie-ren Unzufriedenheitsmotive, die sich auf die materielle Situation ebenso beziehen wie auf den Wunsch nach einem Wechsel des Berufs(felds) oder auch auf das Anliegen, überhaupt einen Zugang zum Arbeits- und vor allem Ausbildungsmarkt zu erhalten. Der Wunsch, eine eigenständi-

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 127

ge und erfüllende Lebensführung zu realisieren, gilt also nach wie vor als Antrieb. Dabei ist dieser Antrieb als eher unspezifisch zu beschrei-ben: Eine dezidierte Zielvorstellung, welcher Schulabschluss das unmit-telbare Ziel des Schulbesuchs darstellt (der Erwerb der Fachhochschul-reife oder der Allgemeinen Hochschulreife), hat nur etwa die Hälfte der Befragten.

Über die Hälfte der Schülerinnen und Schüler strebt die Nutzung des zusätzlichen Schulabschlusses (FHR oder AHR) für ein Hochschulstudi-um an, wobei der Wunsch eines Universitätsstudiums überwiegt. Etwa jeder zehnte Befragte hat mit Blick auf die spätere berufliche oder bil-dungsbezogene Verwertung eines zusätzlichen Schulabschlusses kein klares Ziel. Die beruflichen Zielvorstellungen sind divers, dabei jedoch von akademischen Berufen geprägt. Entsprechend weisen die Studien-fachwünsche und die Berufswünsche starke Parallelen auf.

Mit dem Schulbesuch werden über abschlussbezogene Anliegen hin-aus auch weitere Hoffnungen verbunden. So wird im Durchschnitt zu-mindest teilweise die Erwartung einer Persönlichkeitsentwicklung gehegt und in einem etwas geringeren Maße auch der Wunsch nach einer Zä-sur im Leben an den Bildungsprozess herangetragen.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 128

5. Schülerinnen und Schüler an Abendgymnasien und Kollegs – Aspekte des Bildungsverlaufs Zu den zentralen Entwicklungen innerhalb der erziehungswissenschaftli-chen Forschung der letzten Jahrzehnte gehört es, die Teilhabe an for-malen und non-formalen Bildungsangeboten nicht nur in einer Quer-schnitts-, sondern darüber hinaus in einer Längsschnittperspektive zu betrachten. So gilt zum einen das Interesse sowohl den Wegen, die Ler-nende innerhalb von Bildungsinstitutionen nehmen, als auch den Über-gängen zwischen verschiedenen Bereichen des Bildungssystems. Zum anderen interessiert auch die Identifikation neuralgischer Punkte im Bil-dungssystem (z. B. in welchen Schuljahren Klassenwiederholungen o-der Abschulungen besonders häufig vorkommen) sowie ihrer Bedin-gungsfaktoren.

Für die Erforschung von Schulen bzw. den Schülerinnen und Schü-lern des Zweiten Bildungswegs stellt eine solche längsschnittliche Ver-laufsperspektive bislang ein Desiderat dar. Die nachfolgenden Analysen fokussieren aus diesem Grund Schülerinnen und Schüler an Abend-gymnasien und Kollegs einerseits unter einer Verlaufsperspektive (Schullaufbahnen) und andererseits hinsichtlich von Veränderungen im Zeitverlauf. Drei Frageperspektiven liegen dieser Betrachtung zugrunde: • Wie lassen sich die Schullaufbahnen der Schülerinnen und Schüler

von Abendgymnasien und Kollegs charakterisieren? (vgl. Kapitel 5.1) • Welche (fördernden und hemmenden) Rahmenbedingungen des

Schulbesuchs bzw. der Lernaktivitäten liegen vor und inwiefern wan-deln sich diese im Verlauf der Schulzeit? (vgl. Kapitel 5.2)

• Welche Perspektive haben die Lehrkräfte auf die Schülerinnen und Schüler an Kollegs und Abendgymnasien (Kapitel 5.3)? Dieses Kapi-tel leistet eine differenzierte Beschreibung der (im Zeitverlauf verän-derten) Schülerschaft und ihrer spezifischen Herausforderungen wäh-rend des Schulbesuchs aus Sicht der Lehrkräfte.

5.1 Die Schullaufbahnen der Befragten Die folgenden Auswertungen basieren auf unterschiedlichen Datenquel-len: Primär liegen den Auswertungen Schullaufbahndaten zugrunde, welche die Schulen für die Befragten sowohl der Kohorte 1 (Aufnahme des Schulbesuchs im ersten Schulhalbjahr der Einführungsphase des gymnasialen Bildungswegs im Schuljahr 2014/15) als auch der Kohor-

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 129

te 2 (viertes Schulhalbjahr bzw. Ende der Qualifikationsphase 1 im Schuljahr 2014/15) jeweils zum Ende eines Halbjahres über vier Schul-halbjahre dokumentiert haben (vgl. Kapitel 2.2). Entsprechend geben die Schulen an, wie viele der befragten Schülerinnen und Schüler • in das nächste Schulhalbjahr regelversetzt wurden, • aufgrund einer Wiederholung aus der Kohorte herausfallen, • aufgrund einer Wiederholung in die Kohorte einsteigen, • sich ohne angestrebten Abschluss von der Schule abgemeldet haben

(Dropout) oder • aufgrund eines aussetzenden Schulbesuchs einen unklaren Verbleib

aufweisen. Insgesamt konnten für die erste Kohorte n = 1.656 Schullaufbahnen und für die zweite Kohorte n = 1.212 Schullaufbahnen ausgewertet werden. Ergänzt werden diese Analysen durch Auswertungen der Schülerbefra-gung zum Aspekt „Besuch eines Vorkurses“ (als Voraussetzung für den Einstieg in den abiturführenden Bildungsgang am Abendgymnasium o-der Kolleg). Hierzu wird auf die Aussagen der n = 1.8.41 Befragten re-kurriert, die am ersten Befragungszeitpunkt der Kohorte 1 (Schuljahr 2014/15) teilgenommen haben (vgl. Kapitel 2.2).

Vorkurs als Einstieg in den gymnasialen Bildungsgang An Abendgymnasien und Kollegs muss die Schullaufbahn im Rahmen eines gymnasialen Bildungsgangs nicht zwingend mit dem ersten Schulhalbjahr der Einführungsphase beginnen. So besteht zum einen für die Schulen die Möglichkeit, die Bewerberinnen und Bewerber – falls die individuellen Voraussetzungen vorliegen – ggf. in ein höheres Schul-(halb)jahr einzustufen. Vor allem aber richten Abendgymnasien und Kol-legs traditionell einen dem eigentlichen Bildungsgang vorgeschalteten (halb- oder ganzjährigen) vorbereitenden Vorkurs ein. Für die relativ kleine Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die nicht die Zulassungs-voraussetzung eines Mittleren Schulabschlusses erfüllen, ist dieser Vor-kurs verpflichtend. Er wird aber auch darüber hinaus von Schülerinnen und Schülern besucht, die die formalen Voraussetzungen zwar erfüllen, ihn aber nutzen, um ggf. vorhandene Bildungslücken zu schließen und so die erfolgreiche Teilnahme am gymnasialen Bildungsgang zu sichern.

Die Schülerinnen und Schüler der Kohorte 1 wurden daher befragt, ob sie vor dem Besuch des gymnasialen Bildungsgangs bereits einen Vorkurs absolviert haben. Demzufolge hat jeder fünfte Befragte (21,7 %) vor dem Besuch der Einführungsphase bereits an einem halb- oder ganzjährigen Vorkurs teilgenommen (vgl. Abbildung 24). Für diese quan-titativ nicht unerhebliche Gruppe verlängert sich somit der (anvisierte) Schulbesuch in markanter Weise. Der Anteil, mit dem Bewerberinnen

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 130

und Bewerber vor dem „eigentlichen“ Schulbesuch zunächst diesen Vorkurs besuchen, variiert in statistisch signifikanter Weise nach der Art des Bildungsgangs. So hat von den Schülerinnen und Schülern in den Bildungsgängen „Kolleg“ (19,1 %) und „Abitur-Online“ (19,7 %) nur knapp jeder fünfte Befragte einen Vorkurs besucht, von den Lernenden im Bildungsgang „AG am Vormittag“ in der Tendenz sogar nur jeder sechste Befragte (17,3 %). Demgegenüber hat im „klassischen“ abend-gymnasialen Bildungsgang mit 28,7 Prozent deutlich mehr als ein Viertel der Schülerinnen und Schüler vorab einen Vorkurs besucht.

Abbildung 24: Einstieg in AG/Kolleg über Vorkurs (nach Bildungsgang)

Anmerkung: n = 1.819 Quelle: eigene Darstellung

Die Schullaufbahnen der Schülerinnen und Schüler Über die Frage des Besuchs eines Vorkurses hinaus lässt sich mit Hilfe der Schullaufbahndaten schulhalbjahresweise der Verbleib der Schüle-rinnen und Schüler der beiden Kohorten beschreiben (Abbildung 25). In die Berechnungen gehen jeweils pro Schulhalbjahr alle Schülerinnen und Schüler ein, die von den Schulen in diesem Halbjahr berücksichtigt wurden. Das hat zur Folge, dass in jedem Halbjahr in den Kohorten 1 und 2 nicht nur die Schülerinnen und Schüler berücksichtigt werden, die von Beginn an dabei sind, sondern darüber hinaus auch diejenigen Schülerinnen und Schüler, die durch eine Klassenwiederholung neu in die Kohorte eingestiegen sind. Auf diese Weise kann abgebildet werden,

80,3%

82,7%

71,3%

80,9%

78,3%

19,7%

17,3%

28,7%

19,1%

21,7%

0% 50% 100%

AG („Abitur-Online")

AG (am Vormittag)

AG (klassisch)

Kolleg

gesamt

Vorkurs besucht Kein Vorkurs besucht

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 131

wie häufig die einzelnen Ereignisse am Ende eines jeweiligen Schul-halbjahrs eingetreten sind.

So wird deutlich, dass die Regelversetzung in das nächste Schulhalb-jahr den Normalfall darstellt. Die ersten Daten haben die Schulen am Ende des ersten Halbjahrs erfasst. Dies hat zur Folge, dass nur solche Schülerinnen und Schüler berücksichtigt wurden, die bis zum Ende des ersten Halbjahrs als im System verbleibend gelten. All jene Schülerinnen und Schüler, die in den ersten Wochen und Monaten nach Wiederauf-nahme des Schulbesuchs wieder von diesem zurücktreten (frühzeitiger Dropout), werden in den Schullaufbahndaten nicht erfasst, was den hier konstatierten Dropout im ersten Halbjahr verringert. Am Ende des ersten Schulhalbjahrs gehen 87,5 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Schulhalbjahr 2 über. Von den 12,5 Prozent der Schülerinnen und Schü-ler, für die dies nicht zutrifft, haben sich 4,4 Prozent abgemeldet (Drop-out) und 8,1 Prozent wiederholen das erste Halbjahr.

Abbildung 25: Verbleib der Schülerinnen und Schüler je Halbjahr

Anmerkung: n = 1.656 bis 724 Quelle: eigene Darstellung

4,4 6,3 6,1 3,8

8,1 9,4 5,2 7,2

87,5 83,1 86,7

67,9 70,0

86,8

19,7 24,0

5,2

95,9

0%

50%

100%

1. Hj. 2. Hj. 3. Hj. 4. Hj. 4. Hj. 5. Hj. 6. Hj.

unklarer Verbleib Dropout Wiederholung

Regelversetzung Abschluss

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 132

Auch am Ende von Halbjahr 2 und 3 liegt der Anteil der Regelversetzten jeweils deutlich über 80 Prozent, der Dropout entspricht einem Anteil von 4,4 und 6,3 Prozent. Am Ende des vierten Schulhalbjahrs erhält je-der Fünfte (19,7 %) die Fachhochschulreife und verlässt die Schule als Absolventin bzw. Absolvent. 67,9 Prozent gehen in Schulhalbjahr 5 über und verfolgen damit potenziell die Allgemeine Hochschulreife. Auch am Ende des vierten Schulhalbjahrs liegt der Dropout noch bei 3,8 Prozent.

Da die Schülerinnen und Schüler im Untersuchungszeitraum nur über vier, nicht aber sechs Schulhalbjahre (die für den Erwerb der Allgemei-nen Hochschulreife erforderlich sind) verfolgt werden konnten, wurden parallel zu Kohorte 1 eine zweite Kohorte ab dem vierten Schulhalbjahr bis zum sechsten Schulhalbjahr verfolgt und damit behelfsweise ein „aufgesetzter“ Längsschnitt entwickelt, der annäherungsweise aufklären kann, wie sich die Verläufe weiterentwickeln. Die Auswertung verdeut-licht dabei, dass beide Kohorten sich hinsichtlich des Verbleibs der Schülerinnen und Schüler nach dem vierten Halbjahr zwar grundlegend ähneln, sich aber auch erwähnenswert unterscheiden. So ist sowohl der Anteil der FH-Absolventen in Kohorte 2 mit knapp einem Viertel (24,0 %) als auch der Anteil der Regelversetzten mit 70 Prozent höher als in Ko-horte 1; umgekehrt ist in Kohorte 1 der Dropoutanteil (K1: 3,8 % vs. K2: 2,0 %) sowie der Anteil mit Wiederholung (K1: 7,2 % vs. K2: 3,5 %) erkennbar erhöht.

Trotz nicht vollständig vergleichbarer Gruppenwerte weisen die Aus-wertungen von Kohorte 2 darauf hin, dass mit steigendem Schulhalbjahr anteilig immer weniger Schülerinnen und Schüler ohne den angestreb-ten Abschluss aus dem System ausscheiden und auch immer seltener ein Schul(halb)jahr wiederholen müssen, die Verbleibe- und Erfolgs-wahrscheinlichkeit also ansteigt. Von den Schülerinnen und Schülern aus Kohorte 1, die am Ende des sechsten Halbjahrs noch von den Schulen registriert sind, erwerben knapp 95,9 Prozent die Allgemeine Hochschulreife, das sind immerhin 57,5 Prozent derjenigen, die Ende des vierten Halbjahrs Kohorte 2 bildeten.

Wertet man die Daten ereignisbezogen aus, lässt sich resümieren: • Die Regelversetzung bleibt in jedem Halbjahr der Normalfall. • Der Anteil der Klassenwiederholungen (bzw. treffender Schul-

(halb)jahrwiederholungen) schwankt zwischen 9,4 Prozent im zweiten Halbjahr und 2,9 Prozent im sechsten Halbjahr. Dabei lassen sich tendenziell, nicht aber linear sinkende Wiederholerquoten mit stei-gendem Halbjahr feststellen.

• Dies gilt in gleichem Maße auch für die Dropoutquoten bzw. die An-teile der Schülerinnen und Schüler.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 133

Darüber hinaus lassen sich die Daten auch stärker verlaufsbezogen auswerten. Dies gelingt dann, wenn die Ausgangskohorten kumulativ über die Dauer von vier (Kohorte 1) bzw. drei (Kohorte 2) Halbjahren analysiert werden. Für diese verlaufsbezogenen Auswertungen werden zunächst nur die Schülerinnen und Schüler berücksichtigt, die zu Beginn der Aufzeichnungen (d. h. am Ende des ersten bzw. des vierten Schul-halbjahrs) den Grundstock der beiden Kohorten bildeten. Die Schullauf-bahnen der Schülerinnen und Schüler, die durch eine Klassenwiederho-lung erst später in die Kohorte eingestiegen sind, werden anschließend gesondert dargestellt.

So verdeutlicht Abbildung 26, wie sich die Laufbahnen der Schülerin-nen und Schüler der Kohorte 1 im Verlauf der ersten vier Halbjahre ku-mulieren. Dabei zeichnet sich ab, dass am Ende von vier Schulhalbjah-ren mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler jedes Halbjahr re-gelversetzt wurde (52,9 %) und damit bruchlos durch das Abendgymna-sium bzw. Kolleg gelaufen ist, wobei 11,9 Prozent am Ende des vierten Schulhalbjahrs die Schullaufbahn mit der Fachhochschulreife beenden. Jeder vierte Lernende (24,3 %) fällt in diesem Zeitraum aufgrund einer Wiederholung aus Kohorte 1 heraus und verlängert die eigene Schul-laufbahn durch die Wiederholung wenigstens um ein Schulhalbjahr. 16,4 Prozent bzw. weitere 4,1 Prozent, deren schulischer Verbleib sich bis zum Ende des vierten Halbjahrs als unklar darstellt, brechen den Schulbesuch ohne den angestrebten zusätzlichen Schulabschluss gänz-lich ab.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 134

Abbildung 26: Kumulierte Schullaufbahnen der Schülerinnen und Schüler der Kohorte 1 (Schulhalbjahre 1 bis 4)

Anmerkung: n = 1.656 Quelle: eigene Darstellung

Betrachtet man in dieser Logik auf Grundlage von Kohorte 2 den weite-ren Verlauf der Halbjahre 4 bis 6 (vgl. Abbildung 27), so zeigt sich, dass 84,8 Prozent derjenigen, die am Ende des vierten Schulhalbjahres den Grundstock von Kohorte 2 bilden, am Ende des sechsten Halbjahres die Allgemeine Hochschulreife erwerben. Innerhalb der drei Halbjahre ver-ringert sich die Kohorte um 7,9 Prozent durch Klassenwiederholungen und um 4,8 Prozent durch Dropout, der sich mutmaßlich um weitere 2,5 Prozent erhöht, wenn man die Schülerinnen und Schüler hinzufügt, über deren Verbleib die Schulen keine Angaben machen können, weil diese nicht länger am Unterricht teilnehmen.

4,4 9,8

14,1 16,4 8,1

16,2

19,3 24,3

87,5

71,5 61,1 41,0

11,9

0%

50%

100%

1. Halbjahr 2. Halbjahr 3. Halbjahr 4. Halbjahr

unklarer Verbleib Dropout Wiederholung

Regelversetzung Abschluss

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 135

Abbildung 27: Kumulierte Schullaufbahnen der Schülerinnen und Schüler der Kohorte 2 (Schulhalbjahre 4 bis 6)

Anmerkung: n = 1.212 Quelle: eigene Darstellung

Diese vorangestellten Auswertungen beziehen sich nur auf die Schüle-rinnen und Schüler, die bereits zu Beginn der Erhebung, d. h. am Ende des ersten Schulhalbjahres, von den Schulen statistisch erfasst wurden. Das hat zur Folge, dass bislang weder die Verläufe solcher Schülerin-nen und Schüler, die aufgrund einer Wiederholung aus der Kohorte aus-gestiegen sind, noch die Verläufe derjenigen, die aufgrund einer Wie-derholung in die Kohorte eingestiegen sind, berücksichtigt wurden. Da die Erhebung keine zuverlässige Verfolgung der Schülerinnen und Schüler ermöglichte, die aus der Kohorte ausstiegen, soll die nachfol-gende Analyse sich den Schülerinnen und Schülern widmen, die auf-grund einer Wiederholung (nachträglich) in Kohorte 1 eingestiegen sind. Damit wird der Blick auf sogenannte „gebrochene“ Verläufe gerichtet.

Abbildung 28 verdeutlicht, dass die Wiederholer des zweiten Halb-jahrs nur zu 39,3 Prozent nach dem zweiten Halbjahr regelversetzt wer-den. Im Vergleich konnte zuvor für die Gesamtheit aller Schülerinnen und Schüler des zweiten Schulhalbjahrs festgestellt werden, dass 87,5 Prozent vom zweiten ins dritte Halbjahr regelversetzt werden. Hier haben die Wiederholer des zweiten Halbjahrs eine um die Hälfte gerin-gere Erfolgswahrscheinlichkeit.

3,5 6,2 7,9

70,0 59,6

24,0 27,6

84,8

0%

50%

100%

4. Halbjahr 5. Halbjahr 6. Halbjahr

unklarer Verbleib Dropout Wiederholung

Regelversetzung Abschluss

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 136

Abbildung 28: Schullaufbahnen der Schülerinnen und Schüler, die zu Beginn des zweiten Schulhalbjahrs in Kohorte 1 eingestiegen sind

Anmerkung: n = 84 Quelle: eigene Darstellung Die Berechnungen beziehen sich auf diejenigen Schülerinnen und Schü-ler, die zu Beginn des zweiten sowie zu Beginn des dritten Schulhalb-jahrs durch eine Wiederholung in die Befragungskohorte eingestiegen sind. Dies trifft zu Beginn des zweiten Halbjahrs auf 84 Personen und zu Beginn des dritten Halbjahrs auf 66 Personen zu. Die Mehrheit von 60,7 Prozent kann die Wiederholung des zweiten Schulhalbjahrs nicht in eine erfolgreiche Fortsetzung der Schullaufbahn umsetzen. Die 39,3 Prozent der erfolgreichen Wiederholer des zweiten Halbjahrs (n = 33) werden jedoch zu 90,9 Prozent auch vom zweiten in das dritte und zu 100 Prozent (n = 30) vom dritten in das vierte Schulhalbjahr ver-setzt. Für die Wiederholer, die am Ende des dritten Schulhalbjahrs in Kohorte 1 einsteigen (vgl. Abbildung 29), ergibt sich ein vergleichbares Bild: Zwar ist die Erfolgswahrscheinlichkeit mit 33,3 Prozent noch einmal geringer als für die Wiederholer des zweiten Halbjahrs (39,3 %), doch gelingt es allen 22 erfolgreichen Wiederholerinnen und Wiederholern des dritten Halbjahrs, auch das vierte Halbjahr erfolgreich abzuschlie-ßen.

33 30 30

15

3

36

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

2. Halbjahr 3. Halbjahr 4. Halbjahr

Regelversetzung erneute Wiederholung Dropout

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 137

Abbildung 29: Schullaufbahnen der Schülerinnen und Schüler, die zu Beginn des dritten Schulhalbjahrs in Kohorte 1 eingestiegen sind

Anmerkung: n = 66 Quelle: eigene Darstellung

Demnach lässt sich für die Wiederholer zusammenfassen, dass die Wiederholung eines Schulhalbjahrs die Wahrscheinlichkeit eines erfolg-reichen Schulbesuchs deutlich senkt; einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Lernenden gelingt es jedoch, die Schullaufbahn im Kolleg oder Abendgymnasium nach der Wiederholung erfolgreich (und danach bruchlos) bis zum Ende des vierten Schulhalbjahrs fortzusetzen. Eine weitere Betrachtung dieser Gruppe ist anhand der Daten nicht möglich. 5.2 Unterstützende bzw. hemmende Kontextbedingungen des Schulbesuchs: berufliche und private Lebensbedingungen

Die Lernenden in Abendgymnasien und Kollegs sind Erwachsene. Die-ser zentrale Unterschied gegenüber Schülerinnen und Schülern des Ers-ten Bildungswegs impliziert eine veränderte Lebensphase mit entspre-chend differenten Determinanten der alltäglichen Lebensführung. Zur Lebensphase (junger) Erwachsener werden insbesondere die Führung

22 22

13

31

0

10

20

30

40

50

60

70

3. Halbjahr 4. Halbjahr

Regelversetzung erneute Wiederholung Dropout

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 138

eines eigenen Haushalts, eine berufliche Tätigkeit bzw. die eigenständi-ge Finanzierung des Lebensunterhalts sowie ggf. die Gründung einer Familie gerechnet. Solche deutlich veränderten Lebensbedingungen sind zugleich relevante Rahmenbedingungen des erneuten Schulbe-suchs und der damit verbundenen Bildungsprozesse. Während abend-gymnasiale Bildungsgänge in organisatorischer Hinsicht auf diese Rah-menbedingungen einzugehen versuchen, geht der Tagesunterricht des Bildungsgangs „Kolleg“ z. B. von einer aussetzenden beruflichen Tätig-keit aus – was in der Regel die finanziellen Möglichkeiten einschränkt.

Die Relevanz solcher Kontextbedingungen liegt nicht zuletzt darin, dass der Besuch von Schulen des Zweiten Bildungswegs formal auf ei-ner freiwilligen Entscheidung basiert. Die Entscheidung für einen erneu-ten Schulbesuch kann somit jederzeit widerrufen werden, z. B. weil aus der Sicht der Lernenden die sozialen bzw. individuellen Rahmenbedin-gungen mit dem regelmäßigen Unterrichtsbesuch bzw. den Lernaktivitä-ten in Konflikt oder zumindest in Konkurrenz treten. Dies ist insbesonde-re relevant, als aus der Sicht der Betroffenen die alltäglichen Rahmen-bedingungen (weitgehend) unabänderlich „zum Leben gehören“, der Schulbesuch dagegen einen „freiwilligen Zusatz“ darstellt. Vor diesem Hintergrund stellt aus Sicht der Schülerinnen und Schüler womöglich der Schulbesuch selbst einen „Störfaktor“ oder zumindest eine erschweren-de Zusatzleistung der alltäglichen Lebensführung dar. Aus der analyti-schen Sicht auf die Bildungsverläufe stellt sich jedoch genau umgekehrt die Frage, inwieweit die alltäglichen Lebensbedingungen Einflussfakto-ren auf den Schulbesuch bzw. die Lernaktivitäten darstellen. Mit Blick auf den mehrjährigen Bildungsprozess ist zudem von Interesse, inwie-fern solche Rahmenbedingungen über die Dauer des Schulbesuchs konstant bleiben oder sich ggf. wandeln.

Zur Bearbeitung dieser Desiderata werden zunächst mögliche Fakto-ren der alltäglichen Lebensführung in den Blick genommen, die eine Un-terrichtsteilnahme bzw. die Lernaktivitäten der Schülerinnen und Schüler nach eigener Einschätzung erschweren. Im Anschluss daran wird analy-siert, ob Schülerinnen und Schüler ihr soziales Umfeld als Unterstützung oder als Erschwernis des erneuten Schulbesuchs wahrnehmen. Für die Analyse wird auf die Schülerbefragung rekurriert, wobei die Ergebnisse der Befragung im ersten Schulhalbjahr (1.841 Befragte; Rücklaufquote 78,3 %) mit der 18 Monate später durchgeführten Befragung des vierten Schulhalbjahres (1.288 Befragte; Rücklaufquote 67,5 %) im Sinne eines Trend-Längsschnitts verglichen werden (vgl. Kapitel 2.2).

Restriktionen für Unterrichtsbesuch und Lernaktivitäten Zur Identifizierung solcher Rahmenbedingungen, die die regelmäßige Teilnahme am Unterricht bzw. die Lernaktivitäten der Schülerinnen und

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 139

Schüler hemmen, wurden den Befragten insgesamt 17 Items vorgelegt, in denen mögliche Hemmnisse aufgeführt wurden23. Die Schülerinnen und Schüler konnten auf einer fünfstufigen Likert-Skala einschätzen, wie häufig die jeweils angegebenen Aspekte in ihrem individuellen Fall den schulischen Alltag beeinträchtigen (1 = nie bis 5 = andauernd) (vgl. Ab-bildung 30). Auf Grundlage einer Faktorenanalyse können dabei sechs Dimensionen inhaltlich unterschieden werden24: • Beruf/Geld verdienen • geringer Antrieb/Sozialleben • Krankheit • Schulweg (Einzelitem) • häusliche Situation bzw. Anforderungen (inkl. Kinder) • Arbeitssuche/Behördengänge (Einzelitem)

Insgesamt zeigt sich, dass die Mittelwerte zu fast allen aufgelisteten Faktoren, die das Lernen (vermeintlich) beeinträchtigenden, im Bereich zwischen 1 und 3 liegen (Abbildung 30). Die Verteilungen sind – mit Ausnahme des Einzelitems „Müdigkeit“ – deutlich linkssteil. Damit wei-sen die Schülerinnen und Schüler allen Faktoren nur eine untergeordne-te Rolle zu; die genannten Aspekte beeinträchtigen das eigene Lernen somit eher selten. Da auch unter der offenen Antwortmöglichkeit „Sons-tiges“ kein weiterer, einflussreicher Faktor erkennbar wird, lassen die Auswertungen der Selbsteinschätzung von Gründen, welche das Lernen hemmen, letztlich keine eindeutige Einschätzung zu. Nachfolgend wer-den die Ergebnisse hinsichtlich der erfragten potentiellen Hinderungs-gründe differenziert dargestellt.

23 Die Items wurden aus der Forschungsliteratur entnommen und auf der Basis von Ex-pertengesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern der Abendgymnasien und Kol-legs ergänzt.

24 Hauptkomponentenanalyse; Rotationsverfahren oblimin; Varianzaufklärung 50,3 % für vier Faktoren sowie zwei inhaltlich distinkte Einzelitems.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 140

Abbildung 30: Dinge, die vom Unterrichtsbesuch/Lernen abhalten…

Anmerkung: Likert-Skala (1 = nie bis 5 = andauernd) (n = 1.248 bis 1.824) Quelle: eigene Darstellung

2,47

2,04

2,00

2,68

2,26

2,08

1,22

1,87

1,75

1,20

1,78

1,68

1,52

2,65

2,25

2,26

3,00

2,63

2,31

1,33

2,06

1,93

1,29

2,01

1,84

1,59

1 2 3 4 5

BERUF/GELD VERDIENEN

Nicht genug Zeit, alles zuvereinbaren (Beruf, Familie)

Beruflicher Arbeitsstress

Finanzielle Nöte (z.B. Jobben etc.)

GERINGER ANTRIEB/SOZIALLEBEN

Müdigkeit

Fehlende Motivation

Ich mache lieber etwas mitFreunden

Fehlendes Interesse an einemAbschluss

KRANKHEIT

(Eigene) Krankheit

Psychische Probleme

Abhängigkeit (Medikamente,Alkohol etc.)

SCHULWEG (Einzel-Item)

HÄUSLICHE SITUATION (INKL.KINDER) (Single Item)

ARBEITSSUCHE/ BEHÖR-DENGÄNGE (Single Item)

1. Schulhalbjahr 4. Schulhalbjahr

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 141

„Beruf/Geld verdienen“ Aus der Sicht der Befragten stellt die zeitliche Vereinbarkeit des Schul-besuchs mit parallelen Ansprüche der Arbeitswelt bzw. der Notwendig-keit, den Lebensunterhalt zu finanzieren keinen allzu relevanten Faktor für die Beeinträchtigung des eigenen Lernens dar. Insgesamt laden drei Items auf den Faktor „Beruf/Geld verdienen“. Im Durchschnitt sehen die Befragten dies jedoch als eine „selten“ wirksame Beeinträchtigung an. Die hohe Standardabweichung verweist darauf, dass diese Beeinträchti-gung unter den Befragten durchaus unterschiedlich stark wirkt. So ver-ändert sich dann auch der Mittelwert, wenn man nur diejenigen Befrag-ten betrachtet, die im Rahmen der Befragung angeben, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen: Sowohl für die Wahrnehmung fehlender Zeitres-sourcen hinsichtlich der Vereinbarkeit von Schule, Beruf und Familie (M = 2,76 statt M = 2,47) als auch für die Wahrnehmung der beruflichen Arbeitsbelastung als einen „Störfaktor“ (M = 2,69 statt M = 2,04) steigen die Durchschnittswerte signifikant an. Damit liegen sie im Antwortbereich „trifft teilweise zu“, verbleiben aber dennoch unterhalb des theoretischen Mittelwerts der Skala von 3. Mit Blick auf mögliche Veränderungen der hemmenden Faktoren im Zeitverlauf ist festzustellen, dass die Mittelwer-te aller drei Einzelitems um 0,2 bis 0,3 Skalenpunkte ansteigen. Nach (durchschnittlich) zwei Jahren Schulzeit wird die Vereinbarkeit von Schu-le einerseits und Beruf bzw. Finanzierung des Lebensunterhals anderer-seits somit in der Tendenz als schwieriger wahrgenommen, auch wenn die Beeinträchtigung – absolut betrachtet – nur als „selten“ oder „manchmal“ zutreffend betrachtet wird.

„Geringer Antrieb/Sozialleben“ Freizeitaktivitäten können ebenfalls den Unterrichtsbesuch bzw. die Lernaktivitäten beeinträchtigen. Darüber hinaus wurden den Befragten zwei Items vorgelegt („Motivation“; Interesse am Abschluss“), die zusätz-lich zur sozialen Rahmung auch die eher „innere“ Einstellung zum Schulbesuch thematisieren. Im Antwortverhalten wurde sichtbar, dass eine Kopplung des freizeitbezogenen Interesses am Sozialleben mit ei-ner fehlenden Motivation und der Wahrnehmung eines geringen An-triebs zum Schulbesuch bzw. zum Lernen vorliegt. Im Durchschnitt be-werten sie diesen hemmenden Faktor als „selten“ zutreffend. Allein das Einzelitem „Müdigkeit“ (M = 2,68) ist näher an der mittleren Antwortmög-lichkeit „3 = manchmal“ und weist nicht nur hinsichtlich dieses Themen-bereichs, sondern mit Blick auf alle Items den höchsten Mittelwert auf. Bezogen auf die Veränderung der Wahrnehmung über die Dauer der Schulzeit zeigt sich auch hier, dass im vierten Schulhalbjahr die Beein-trächtigungen durch Müdigkeit, fehlende Motivation und das zur Schule

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 142

konkurrierende Sozialleben höher eingeschätzt werden. Das Einzelitem „Müdigkeit“ erreicht zu diesem Zeitpunkt wieder mit M = 3,0 den höchs-ten aller Durchschnittswerte.

„Krankheit“ In der Faktorenanalyse bildet sich Krankheit als ein das Lernen beein-trächtigender Faktor heraus. In Abgrenzung zu den beiden o. g. Themen schätzen die Schülerinnen und Schüler krankheitsbedingte Hemmnisse jedoch im Durchschnitt als weniger relevant ein. Eine „Krankheit“ (M = 1,87) bzw. „psychische Probleme“ (M = 1,75) beeinträchtigen dem-nach im Durchschnitt nur „selten“ den Schulbesuch, wobei die Mittelwer-te hier vergleichsweise geringer sind als bei den beiden o. g. Rahmen-bedingungen „geringer Antrieb/Sozialleben“ oder auch „Beruf/Geld ver-dienen“. Der sehr geringe Mittelwert bzw. die geringe Streuung des Items „Abhängigkeit“ verweist darauf, dass diese Einschränkung nur in einigen seltenen Fällen als zutreffend betrachtet oder zumindest im Fra-gebogen genannt wird. Dieser Befund steht in erkennbarem Gegensatz zu den geführten Lehrkräfteinterviews, in denen psychische Probleme der Schülerinnen und Schüler wiederkehrend thematisiert wurden, könn-te jedoch auch durch ein sozial erwünschtes Antwortverhalten bedingt sein.

Die erneute Befragung im vierten Schulhalbjahr zeigt auch hier in der längsschnittlichen Betrachtung einen leichten Anstieg der durchschnitt-lich wahrgenommenen Einschränkung – dieser liegt jedoch bei allen krankheitsbezogenen Items bei weniger als 0,2 Skalenpunkten.

„Schulweg“ (Einzelitem) Der Schulweg kann aufgrund der jeweiligen verkehrstechnischen Anbin-dung zu einer Erschwernis des Schulbesuchs beitragen. Das diesbezüg-liche Einzelitem bewerten die Schülerinnen und Schüler im Mittel als ein „seltenes“ Hindernis (M = 1,78). Diese Einschätzung bleibt bis zum vier-ten Schulhalbjahr konstant, wobei der leichte Anstieg des Mittelwerts um 0,23 Skalenpunkte anzeigt, dass auch diese hinderliche Rahmenbedin-gung zum Ende des zweiten Schuljahres hin als etwas stärker empfun-den wird (M = 2,01). Dies deutet auf eine insgesamt gute infrastrukturel-le Erreichbarkeit der Angebote des Zweiten Bildungsweges hin.

„Häusliche Situation bzw. Anforderungen (inkl. Kinder)“ Die Rahmenbedingung „häusliche Situation/Anforderung“ umfasst ins-gesamt fünf Items, die aufgrund ihrer Kohärenz zu einer Skala zusam-mengefasst werden können (α = 0,72). In den Items wird die häusliche Situation als Erschwernis für Lernaktivitäten angesprochen sowie die

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 143

Notwendigkeit, Haushaltsarbeiten zu erledigen, aufgeführt. Drei weitere Items thematisieren die Kinderbetreuung, die Pflege von Familien-angehörigen sowie generell die Notwendigkeit, sich um Angelegenheiten von Familienangehörigen zu kümmern. Insgesamt weist diese Skala ei-nen Mittelwert von M = 1,68 und eine vergleichsweise geringe Standard-abweichung von SD = 0,72 auf. Wie schon bei weiteren Rahmen-bedingungen kommt auch hier zum Tragen, dass nur sehr wenige Be-fragte diese Einschränkung in starkem Maße erleben, wohingegen ein sehr großer Anteil diese als nicht vorhanden kennzeichnet. Eine Unter-scheidung nach Geschlecht zeigt, dass Schülerinnen hier einen signifi-kant höheren Mittelwert aufweisen als Schüler ( M♂ = 1,57; M♀ = 1,80). Wie schon bei den weiteren Rahmenbedingungen steigt auch hier die wahrgenommene Einschränkung im Zeitraum vom ersten zum vierten Schulhalbjahr durchschnittlich leicht an – in diesem Fall um 0,16 Ska-lenpunkte auf M = 1,84 (M♂ = 1,73; M♀ = 1,96).

„Arbeitssuche/Behördengänge“ (Einzelitem) Das Einzelitem „Arbeitssuche/Behördengänge“ wird von den Befragten im Durchschnitt als „seltene“ Einschränkung wahrgenommen (M = 1,52), wobei der Mittelwert fast schon im Bereich des Skalenpunkts „nie“ liegt. Die Einschätzung der Schülerinnen und Schüler ändert sich auch im Zeitverlauf nicht bedeutend. Der Mittelwert steigt um weniger als 0,1 Skalenpunkte – der niedrigsten Steigerung aller Mittelwerte im Verlauf der Schulzeit.

Soziales Umfeld/soziale Bezugspersonen als Einflussfaktor Als relevanter Einflussfaktor auf die Teilnahme an Bildungsprozessen wirkt nicht zuletzt das soziale Umfeld. Dies gilt insbesondere für so dau-erhafte und zeitintensive Bildungsanstrengungen wie dem Besuch einer Schule des Zweiten Bildungswegs. Während für die Schulzeit im Ersten Bildungsweg in aller Regel Eltern oder Peers als differente Bezugsgrup-pen in Frage kommen und untersucht werden, erweitert sich der soziale Rahmen im jungen Erwachsenenalter ggf. auch auf jeweilige Lebens-partnerinnen und -partner. Da mit Blick auf die im Erwachsenenalter zu-nehmende Pluralität sozialer Konstellationen nicht eindeutig ist, aus wel-cher der drei Gruppen die relevanten Bezugspersonen für die Schülerin-nen und Schüler sich im Einzelfall zusammensetzen, wurde ein grup-penunspezifischer Zugriff gewählt. Die Schülerinnen und Schüler wur-den um eine Einschätzung zu denjenigen drei Personen gebeten, die ihnen subjektiv am nächsten stehen und deren Meinung für sie einen hohen Stellenwert einnimmt. Die Befragten wurden dann gebeten, diese drei Personen dahingehend zu bewerten, wie intensiv diese den erneu-ten Schulbesuch unterstützen oder erschweren. Die Einschätzung konn-

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 144

te für jede der drei Personen jeweils auf einer fünfstufigen Likert-Skala abgetragen werden (1 = erschwert stark bis 5 = erleichtert stark).

Insgesamt überwiegt der Anteil der Befragten, der die relevanten Be-zugspersonen als unterstützend wahrnimmt (vgl. Tabelle 15). Mit Blick auf die erste (und in der Fragelogik damit wichtigste) Bezugsperson gibt deutlich über die Hälfte der Befragten (60,7 %) an, dass dieser Mensch den Schulbesuch ein wenig oder sogar stark erleichtert. Hinsichtlich der weiteren beiden nahestehenden Personen verringert sich zwar der An-teil an Schülerinnen und Schülern, der bei der jeweiligen Person eine positive Unterstützung wahrnimmt, allerdings trifft dies immer noch je-weils die auch etwa die Hälfte der Befragten zu (Person 2: 52,6 %; Per-son 3: 48,5 %).

Tabelle 15: Unterstützung durch wichtigste Bezugspersonen (nach Person)

Person 1 Person 2 Person 3 erschwert stark 6,5 % 4,1 % 4,5 % erschwert ein wenig 10,4 % 10,2 % 9,4 % weder/noch bzw. von beidem gleich-viel

22,5 % 33,1 % 37,6 %

erleichtert ein wenig 17,2 % 21,9 % 20,7 % erleichtert stark 43,5 % 30,7 % 27,8 % (n = 1.753 bis 1.802) 100,0 % 100,0 % 100,0 %

Quelle: eigene Darstellung

Die subjektiv wichtigste Bezugsperson stellt aus der Sicht von mehr als jedem fünften Befragten (22,5 %) weder eine Erleichterung noch eine Erschwernis für den Schulbesuch dar. Hinsichtlich der beiden weiteren Bezugspersonen äußern sich jeweils sogar ein Drittel der Befragten in dieser Weise (Person 2: 33,1 %; Person 3: 37,6 %). Für die „erstplatzier-te“ Person geben immerhin 16,9 Prozent der Schülerinnen und Schüler an, dass sie den erneuten Schulbesuch eher bzw. stark erschwert. Mit Blick auf die zweite und ebenso hinsichtlich der dritten Person wird dies von ähnlich vielen Befragten so eingeschätzt (Person 2: 14,3 %; Per-son 3: 13,9 %).

Über die vergleichende Betrachtung der drei jeweiligen Bezugsper-sonen hinaus interessiert mit Blick auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler vor allem, wie sich aus deren individueller Perspektive das je-weilige soziale Umfeld insgesamt darstellt. Bietet es insgesamt eine un-

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 145

terstützende oder eher eine hemmende Rahmung – oder nehmen die Befragten ihr relevantes Umfeld als indifferent wahr? Damit ist zugleich die Möglichkeit impliziert, dass die drei relevanten Bezugspersonen sich in der „Richtung“ ihrer Einflussnahme (erschwerend oder erleichternd) nicht unbedingt gleichen. Aus der Sicht der einzelnen Schülerinnen und Schüler kann sich das subjektiv bedeutsame Umfeld hinsichtlich seiner Unterstützungsleistung als „homogen“ oder auch als „inhomogen“ erwei-sen.

Um dieser Frage nachzugehen, werden pro Befragten die Einschät-zungen hinsichtlich der drei Bezugspersonen zu einem Gesamtindex „(In)Homogenität des sozialen Umfelds“ zusammengezogen. So kann zum einen unterschieden werden, ob sich dieses Umfeld in seiner Reak-tion auf den Schulbesuch als homogen oder inhomogen erweist. Dar-über hinaus gibt ein solcher Index Auskunft darüber, ob das Umfeld in seiner Homogenität bzw. Inhomogenität als unterstützend oder als hemmend wahrgenommen wird25.

Betrachtet man nun den Einfluss des sozialen Umfelds als Kombina-tion der drei relevantesten Bezugspersonen, dann zeigt sich im ersten Schulhalbjahr, dass ein Drittel der Befragten (34,1 %) ihr näheres Um-feld als durchweg unterstützend wahrnimmt (vgl. Abbildung 31).

25 Die Antwortskala wurde auf drei Stufen verdichtet: „erleichternd“, „indifferent“ und „erschwerend“. In dem Fall, dass alle drei Personen gleichermaßen als erschwerend (als indifferent/als erleichternd) eingeschätzt werden, wird das Umfeld als „homogen“ betrachtet“. Wird bei der Einschätzung der drei Bezugspersonen die Stufe „indiffe-rent“ mit einer weiteren Einschätzung gekoppelt, wird „Inhomogenität mit Tendenz zu erleichternd bzw. erschwerend“) festgestellt. Werden zur Einschätzung der drei Per-sonen die Stufen „erleichternd“ sowie „erschwerend“ kombiniert oder werden alle drei Stufen genutzt, dann wird von einer „Inhomogenität (erleichternd und erschwerend)“ gesprochen.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 146

Abbildung 31: Soziales Umfeld – (In)Homogenität und Richtung des Einflusses (1. und 4. Schulhalbjahr)

Anmerkung: n = 1.749 und 1.228 Quelle: eigene Darstellung

Weitere 17,6 Prozent nehmen es zumindest als überwiegend unterstüt-zend wahr, sodass die Hälfte der Befragten ihren relevanten Nahbereich insgesamt als (eher) positiv wirkende Rahmung einschätzt. Als demge-genüber durchweg bzw. überwiegend erschwerend empfinden insge-samt 10,1 Prozent der Befragten ihre wichtigsten Bezugspersonen. Für etwa ein Viertel der Schülerinnen und Schüler (23,0 %) stellt sich ihr Umfeld als durchgängig indifferent in seiner Einflussnahme auf den Schulbesuch dar. Jeder siebte Befragte nimmt den Einfluss des sozialen Nahbereichs als sehr ambivalent wahr, d. h. unter den drei wichtigsten Bezugspersonen befindet sich mindestens eine, die den Schulbesuch unterstützt und mindestens eine, die diesen erschwert.

Aufgrund der mehrjährigen Dauer des Schulbesuchs stellt sich die Frage, inwiefern sich die Wahrnehmung der Bezugspersonen durch die Schülerinnen und Schüler ändert. Befragt man die Schülerinnen und Schüler 18 Monate später im vierten Schulhalbjahr, dann fallen die Ein-schätzungen zu ihrem sozialen Umfeld weitgehend ähnlich aus. Eine Veränderung weisen nur die beiden „Extremgruppen“ auf: So sinkt der Anteil von Schülerinnen und Schülern, die ihr Umfeld als homogen in seiner unterstützenden Wirkung wahrnehmen, von 34,1 Prozent auf 30,6 Prozent. Demgegenüber wächst der Anteil der Befragten, die ihre Bezugspersonen durchweg als eine Erschwernis des Schulbesuchs

4,8%

7,7%

23,9%

14,3%

18,6%

30,6%

3,1%

7,0%

23,0%

15,2%

17,6%

34,1%

0% 50% 100%

Bezugspersonen homogen(erschwerend)

Bezugspersonen inhomogen(Tendenz erschwerend)

Bezugspersonen inhomogen(erleichternd & erschwerend)

Bezugspersonen homogen(indifferent)

Bezugspersonen inhomogen(Tendenz erleichternd)

Bezugspersonen homogen(erleichternd)

1. Schulhalbjahr 4. Schulhalbjahr

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 147

wahrnehmen, um fast die Hälfte von 3,1 Prozent auf 4,8 Prozent. Addiert man zu Letzterem die Gruppe derjenigen, die zumindest in der Tendenz erschwerende Reaktionen wahrnehmen, dann steigt der Anteil auf 12,5 Prozent. Somit äußert sich im vierten Schulhalbjahr nicht mehr nur jeder zehnte, sondern jeder achte Befragte in diese Richtung.

5.3 Die Lernenden aus der Perspektive der Lehrkräfte

In den Interviews mit den Lehrkräften mit und ohne Funktionsaufgaben (vgl. Kapitel 2.2) wird in Bezug auf die Schülerschaft ein hohes Maß an Heterogenität benannt und als herausfordernd beschrieben, die Schüle-rinnen und Schüler seien „sehr, sehr bunt gemischt“ (Beratungslehr-kraft). Heterogenität bezieht sich dabei insbesondere auf den Aspekt des vorhandenen Vorwissens und auf das Leistungsniveau der Schüle-rinnen und Schüler, umfasst aber auch weitere Aspekte wie beispiels-weise das Lebensalter, Migration, den sozioökonomischen Status oder die Familiensituation. In diesem Kontext wird in den Gesprächen eben-falls mehrfach angeführt, dass sich die Schülerklientel im Zeitverlauf deutlich verändert habe. Waren es nach Angabe der Befragungsperso-nen vormals insbesondere ältere und im Berufsleben stehende Perso-nen, die sehr bewusst eine Weiterqualifikation über den Besuch eines Abendgymnasiums anstrebten, sind es nun vermehrt jüngere Schülerin-nen und Schüler, die sich durch den Besuch einer Schule des Zweiten Bildungswegs Anregungen und Optionen für die Ausgestaltung ihrer be-ruflichen Berufsperspektive erhoffen. Viele Schülerinnen und Schüler würden „erst noch eine berufliche Perspektive suchen“ (Vormittagskoor-dination), wobei „die Ziele optional häufig wechseln“ (ebd.). Das nach-folgende Zitat illustriert diesen wahrgenommenen Wandel der Schüler-klientel:

„Also als ich angefangen bin, 1990, hier, war ich teilweise jünger als die Kolle-giaten. Soll heißen, dass auch die Kollegiaten wesentlich älter waren. Jetzt ha-ben wir glaube ich einen Schnitt so um die Anfang 20. Ganz viele Neunzehnjäh-rige auch, aber wenn man hier Mitte 20, ist man schon alt. Damals hatte ich, als ich anfing, war ich glaube ich 32. Da war es so, dass es Kollegiaten gab, die waren Mitte 30, 40 und älter. Das heißt, Leute, die aus Berufen kamen, bewusst dann aus dem Polizeidienst erst mal ausgeschieden sind, um ihr Abitur nach-zumachen und dann eine höhere Laufbahn einzuschlagen. Ähnlich auch in an-deren Berufen. Also die waren älter. Die haben das noch bewusster gewählt, das Kolleg, um sich beruflich weiterzuqualifizieren. Heute ist es ganz häufig ein Parkplatz für arbeitslose oder perspektivlose junge Erwachsene, die halt, ja, hoffen, hier neue Ideen, Impulse zu bekommen. Aber auch z. T. völlig orientie-rungslos hier stranden will ich mal sagen. Aber es ist unsere Klientel, mit der wir uns befassen müssen.“ (Klassenlehrkraft)

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Der Ausdruck „befassen müssen“ lässt bei der befragten Person eine Präferenz der Schülerklientel der früheren Jahre vermuten. Eine ähnli-che Schlussfolgerung legt der folgende, an einem anderen Schulstand-ort gewonnene Interviewausschnitt nahe, in dem die frühere Schülerkli-entel als sehr engagiert und motiviert beschrieben wird:

„Also im Abendbereich war es früher so, dass hauptsächlich berufstätige Leute hierhin kamen und gearbeitet – also hier noch die Schule nachgearbeitet ha-ben. Und das war immer ein sehr, sehr angenehmes Arbeiten. Die waren ganz anders motiviert. Die wussten ja, wo es hingeht und wie viel Zeit sie dafür ein-planen müssen, weil die meistens ja auch noch Familie haben“ (Beratungslehr-kraft).

Mehrere Interviewpassagen stützen diesen Eindruck einer zunehmen-den Unsicherheit oder Offenheit in Bezug auf berufliche Zielvorstellun-gen, welche in den Interviews mit den Schülerinnen und Schüler bestä-tigt wird. Zudem nehmen die befragten Lehrkräfte auch unrealistische berufliche Zielvorstellungen der Schülerinnen und Schüler wahr, darüber hinaus sei das Selbstbild der Lernenden ebenfalls häufig verzerrt. Eine Reihe von Interviewausschnitten verdeutlicht diese Wahrnehmung von realitätsfernen Berufswünschen und Selbsteinschätzungen:

„[…] und auch deren Wahrnehmung ihrer eigenen Leistung, die auch ganz ver-rückt manchmal ist. […] Also mit dem Erwachsenenalter, das bedingt nicht eine bessere Einschätzung seines Leistungsvermögens.“ (Verbindungslehrkraft)

„Manchmal haben die auch so hehre Ziele. Wollen Psychologie studieren und sind jenseits von irgendeinem überhaupt nur Abschluss.“ „Ja, bei manchen hat man allerdings auch schon das Gefühl, oh, oh, ist da die Selbsteinschätzung wirklich – wird die dem wirklich gerecht werden.“ (Stufen-koordination)

Die Befragungspersonen berichten, dass viele ihrer Schülerinnen und Schüler gebrochene Bildungsbiographien aufweisen, in diesem Kontext wird der Zweite Bildungsweg häufig als Schule der zweiten Chance be-schrieben. Diese Brüche manifestieren sich beispielsweise in Klassen-wiederholungen, Abschulungen oder Ausbildungsabbrüchen und führen bei den Schülerinnen und Schülern zu Erfahrungen des Scheiterns. In der Folge wird der Besuch einer Schule des Zweiten Bildungswegs von einigen Lehrkräften als eine bewusste Entscheidung interpretiert. Ande-re Lehrkräfte verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass Schüle-rinnen und Schüler den Zweiten Bildungsweg häufig aufgrund fehlender Optionen einschlagen würden.

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„Und eben auch viel mehr die nicht mehr so wie diese klassische Klientel, ich habe eine Ausbildung gemacht, habe bewusst eine Ausbildung gemacht und gehe dann in den Zweiten Bildungsweg, um mich fortzubilden, sondern eher die Klientel, ich habe das nicht geschafft, das nicht geschafft, das nicht geschafft, und jetzt versuche ich es mal hier. Also das hat sich schon sehr verändert und damit natürlich auch die Umgehensweise und eben die Umgehensweise mit den Problematiken.“ (Stufenkoordination)

In diesem Kontext wird zudem die Einschätzung geäußert, dass die Schülerinnen und Schüler es nicht gelernt hätten zu lernen und zudem „natürlich erst mal sich wieder ans Lernen, an Unterricht und so weiter gewöhnen [müssten]“ (Vertrauenslehrkraft). Die Lehrkräfte nehmen bei ihrer Schülerklientel insbesondere Defizite in den Bereichen Selbstregu-lation und Selbstorganisation wahr, wie der folgende Ausschnitt aus ei-nem Interview aufzeigt:

„Ja, dann habe ich oft den Eindruck, dass die nicht gut lernen können. Also, dass die wenig Methoden gelernt haben, wie sie selbst lernen können, das fällt vielen ganz schwer, obwohl sie ja schon älter sind und schon viele Schulen hin-ter sich haben, merkt man trotzdem, dass denen das schwerfällt. Also, wir ha-ben hier z. B. so ein Unterrichtsfach EVA – also das unterrichte ich neben Ma-the auch, das macht jeder Kollege – `Eigenverantwortliches Arbeiten´. Da merkt man ganz deutlich, wie schwer denen das fällt, sich 45 Minuten auf etwas zu konzentrieren. Also, man muss die immer wieder antreiben und auffordern, ir-gendwas zu machen. Also, das ist ein Raum voller Materialien, aber die tun sich ganz schwer damit, für sich zu entscheiden, was hilft mir jetzt, was muss ich jetzt machen und dann konzentriert 45 Minuten zu arbeiten.“ (Klassenlehrkraft).

Bei der Auswertung der Interviews fällt auf, dass die Befragten von ei-nem großen Anteil von Schülerinnen und Schülern berichten, der physi-sche und insbesondere psychische Erkrankungen aufweise. Exempla-risch für diese Einschätzung sind nachfolgend mehrere Interviewaus-schnitte aufgeführt:

„Also ich habe manchmal das Gefühl, ich habe eine Inklusionsgruppe“ (Klas-senlehrkraft). „Wir haben Leute, wie gesagt, ein nicht geringer Teil, die psychisch vorbelastet sind, so möchte ich das jetzt mal nennen, mehr oder weniger stark, die auf-grund von Drogenabhängigkeit, sage ich jetzt mal, erst mal auch hier später einsteigen.“ (Beratungslehrkraft) „[…] aber diejenigen, die wirklich ja mit schwierigen Lebensbedingungen ge-kommen sind, die vielen Kranken. Viele Studierende, die psychisch krank sind, dann auch eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von chronisch kranken Stu-dierenden. Also die jetzt körperlich chronisch krank sind.“ (Jahrgangsstufenko-ordination)

Es kann an dieser Stelle allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass die Interviewten in Beratungsfunktion insbesondere intensiven Kontakt zu erkrankten Lernenden haben. Diese Einschätzung bekräftigt auch die

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folgende Aussage einer Lehrerin, die neben ihrer Tätigkeit als Klassen-lehrkraft ebenfalls eine beratende Funktion innehat:

„Dann haben wir aber auch ganz viele normale Leute in Anführungszeichen, al-so die, sage ich jetzt mal, eigentlich unauffällig sind, die selbst auch meinen Be-ratungskontext nicht tangieren. Das macht natürlich auch ein Gros aus, aber man hat ja irgendwie auch immer so ein bisschen so seinen kleinen Tunnel-blick.“ (Beratungslehrkraft)

Mitunter erscheint zudem die Trennschärfe zwischen unterschiedlichen belastenden Faktoren nicht gegeben zu sein, da sich Problemlagen be-dingen und gegenseitig verstärken können:

„Also wir haben viel mehr […] Studierende mit psychischen Problemen, mit fi-nanziellen Problemen, die bedingen sich ja, die Problemfelder familiär, Freun-deskreis, eben Psyche, Geld.“ (Stufenkoordination)

In einer Reihe von Interviews werden Probleme von Schülerinnen und Schülern in der Bildungssprache benannt. An dieser Stelle deutet sich in den Gesprächen ein eher kompensatorischer und defizitorientierter Um-gang mit den entsprechenden Lernenden an, da nach Auskunft der Be-fragten versucht wird, bildungssprachlichen Defiziten durch zusätzlichen oder vorgeschalteten Deutschunterricht zu begegnen; die Notwendigkeit eines durchgängigen sprachsensiblen Unterrichts in allen Fächern wird in den Interviews hingegen nicht thematisiert.

Zudem verwiesen einige Befragungspersonen darauf, dass eine Rei-he von Schülerinnen und Schülern die Anforderungen für den Zweiten Bildungsweg formal nicht erfülle, sondern lediglich aufgrund von Son-dergenehmigungen teilnehmen könne.

Einige Interviewpassagen lassen Rückschlüsse auf die Schüler-Lehrer-Beziehungen zu. Im Allgemeinen schätzen die befragten Lehr-kräfte die Arbeit mit den erwachsenen Lernern, die durch ihre Lebens- und Berufserfahrung Unterrichtsgespräche bereicherten. Zudem berich-ten mehrere Befragungspersonen von einer großen Wertschätzung, die sie durch die Schülerinnen und Schüler erfahren. Im Vergleich zum Ers-ten Bildungsweg wird zudem das Ausbleiben von Elternarbeit als positiv bewertet. Deutlich wird an dieser Stelle jedoch auch, dass die Nutzung des Unterrichtsangebots auf Freiwilligkeit beruht, sodass in den Gesprä-chen mehrfach auf die große Anzahl von Fehlstunden verwiesen wird. Ein hohes Maß an Fluktuation und hohe Fehlzeiten erschwerten das Ar-beiten im Klassenverband; der versäumte Stoff wird nach Auskunft der Lehrkräfte von den Schülerinnen und Schülern überwiegend nicht nach-gearbeitet.

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„[…]und da stoße ich echt manchmal an meine Grenzen, […] wo ich denke, ich habe die Hälfte des Kurses nur dasitzen und immer wieder eine andere Hälfte und […] eben kontinuierliches Arbeiten ist dann nicht möglich“. (Stufenkoordina-tion)

Die Befragungspersonen berichten von einem großen Verständnis für die Schülerinnen und Schüler, das Kollegium sei zumeist „nah an den Kollegiaten dran“ (Klassenleitung) und habe „ein offenes Ohr […] für de-ren Problemlagen und deren Bedürfnisse“ (ebd.). Es sei „recht viel Tole-ranz gegenüber Pluralität und ganz viel Offenheit vom Kollegium“ (Ver-bindungslehrkraft) zu beobachten. Dabei fungieren die Lehrkräfte zu-meist auch als Ansprechpartner über unterrichtliche Belange hinaus und sie sind bestrebt, eine Vertrauensbasis zu den Schülerinnen und Schü-lern aufzubauen. In Bezug auf Beratungsanlässe sei für die Schülerin-nen und Schüler oftmals das Vertrauen oder die persönliche Beziehung zu der jeweiligen Lehrkraft wichtiger als die formale Funktion, sodass nicht immer Personen in Beratungsfunktion aufgesucht würden.

An dieser Stelle offenbart sich jedoch das ebenfalls in den Interviews mit den anderen Akteursgruppen herausgearbeitete Spannungsverhält-nis zwischen Nähe und Distanz, das von den Befragungspersonen z. T. auch als belastend erlebt wird. Mitunter scheint es schwierig, zwischen der Rolle des Fachlehrers und der Rolle als Beratungskraft oder Ver-trauensperson zu differenzieren und klare Grenzziehungen vorzuneh-men:

„… und ich habe auch den Eindruck, dass viele Kollegen wirklich bis an die per-sönliche Schmerzgrenze gehen. Und auch sich ganz viel auf Studierende ein-lassen, wirklich über die Grenzen des Fachlehrerseins hinaus und das zehrt na-türlich. Es sind auch unglaublich viele Krankheitsfälle und so gerade in diesem Semester. (..) Haben wir uns gestern auch drüber unterhalten, das ist natürlich irgendwann hat das auch alles so seinen Preis.“ (Stufenkoordination)

Darüber hinaus verweisen weitere Interviewausschnitte auch auf Belas-tungen und Antinomien des Lehrerberufs, die ebenfalls das Schüler-Lehrer-Verhältnis beeinflussen:

„Als Stufenkoordinator führt man auch ganz viele Gespräche, aber häufig ist man ja auch Fachlehrer, das ist eine schwierige Situation, weil verständlicher-weise die dann auch nicht alles erzählen wollen, weil man in diesem Beno-tungsverhältnis steht.“ (Stufenkoordination) „[…] gerade in so Momenten, da kommt ja dann auch häufig, wenn es dann ir-gendwie um die Noten geht, dann kommen dann die wahnsinnigsten Geschich-ten, weil die dann erklären wollen, warum sie irgendwas nicht machen können. Das darf natürlich nicht dazu führen, dass sie jetzt die Noten geschenkt kriegen, aber andererseits geht man dann mit so einem Gefühl, ja, du müsstest da jetzt irgendwie in einer ganz anderen Weise darauf reagieren, auch nicht als Fach-lehrer und das kann ich jetzt aber nicht.“ (Stufenkoordination)

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Bedingt durch die im Vergleich zum Ersten Bildungsweg ältere Schüler-klientel deutet sich zudem ein Spannungsverhältnis zwischen einer früh-zeitigen Rückmeldung und Beratung durch die Lehrkräfte und der Aner-kennung der Freiwilligkeit des Schulbesuchs an:

„Aber da muss man den Studierenden auch einfach ihnen ihr Erwachsensein lassen und dementsprechend schon vorsichtig nachgehen, solchen Wahrneh-mungen, die man hat. Und auch nicht zu sehr in eine Richtung drängen, das ist nämlich meiner Erfahrung nach oft kontraproduktiv.“ (Vertrauenslehrkraft)

Wie eine Lehrerin anmerkt, müssten auch die Schülerinnen und Schüler ihre neue Rolle im Zweiten Bildungsweg erst internalisieren. Sie führt in diesem Zusammenhang an, „dass es doch starke Persönlichkeiten braucht, um sich nicht infantilisiert zu fühlen oder so in eine andere Zeit zurückversetzt zu fühlen“ (Verbindungslehrkraft). 5.4 Zusammenfassung

Das vorliegende Kapitel widmete sich der Betrachtung der Bildungsver-läufe von Schülerinnen und Schülern an Abendgymnasien und Kollegs. Anders als im gymnasialen Bildungsgang des Ersten Bildungsweges steht zu Beginn der Bildungslaufbahn im Zweiten Bildungsweg die Ein-stufungsfrage an: Formal können Schülerinnen und Schüler, die nicht über einen Realschulabschluss verfügen, diese Voraussetzung durch den erfolgreichen Besuch eines Vorkurses nachholen. Diese Option wird auch für solche Schülerinnen und Schüler angeboten, die zwar die for-malen Voraussetzungen erfüllen, deren Lernvoraussetzungen zur Teil-nahme am regulären Bildungsgang jedoch gestärkt werden sollen. Der Vorkurs übernimmt in diesen Fällen die Funktion eines unterrichtsvorbe-reitenden Förderkurses. Insgesamt 21,7 Prozent der Befragten nehmen dieses Angebot wahr. Insbesondere bei den Schülerinnen und Schülern des klassischen Abendgymnasiums wird dieses Angebot häufig genutzt (28,7 %).

Lässt man – wie in der vorliegenden Studie geschehen – außer Acht, dass es eine Gruppe von Personen gibt, die ihre Entscheidung für den erneuten Schulbesuch in den ersten sechs bis acht Wochen wieder re-vidiert, führt etwas mehr als die Hälfte (52,9 %) der hier analysierten Schullaufbahnen vom ersten bis zum vierten Schulhalbjahr ohne Unter-brechung zum Abschluss der Fachhochschulreife (11,9 %) bzw. zum Einstieg in das zweite Jahr der Qualifikationsstufe (41,0 %). Etwa ein Viertel der Schullaufbahnen (24,6 %) wird durch eine Wiederholung (ei-

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nes vollen Schuljahrs oder eines Schulhalbjahrs) verzögert, wobei diese Wiederholungen zu zwei Dritteln schon in der Einführungsphase (Schul-halbjahr 1 und 2) stattfinden. Die Freiwilligkeit des Schulbesuchs im Zweiten Bildungsweg drückt sich auch darin aus, dass ein relevanter An-teil der Schülerinnen und Schüler (20,5 %) den Weg zur Fachhochschul-reife bzw. zum Abitur in den ersten vier Schulhalbjahren vorzeitig formal abbricht oder den Schulbesuch ohne Exmatrikulation nicht fortführt. Hierfür lassen sich jedoch keine markanten Zeitpunkte feststellen.

Die Schullaufbahn von Wiederholern weist ein erhöhtes Dropoutrisiko auf. Nur einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Lernenden gelingt es, die Schullaufbahn im Kolleg oder Abendgymnasium nach der Wie-derholung erfolgreich (und ohne weitere Brüche) bis zum Ende des vier-ten Schulhalbjahrs fortzusetzen.

Für erwachsene Lerner stellt der Schulbesuch eine besondere Her-ausforderung dar, da sie neben den schulischen Aufgaben in der Regel auch die Aufgaben einer eigenständigen Lebensführung (Finanzierung des Lebensunterhalts/Familie) bewältigen müssen. Daher wurden die äußeren Rahmenbedingungen der Befragten analysiert. Unerwarteter-weise fühlen sich die meisten Befragten nur wenig beansprucht durch diese doppelte Aufgabenbewältigung, wobei das Beanspruchungserle-ben im Verlauf der Schulzeit moderat ansteigt. Bei der Analyse mögli-cher Gründe, welche die Schülerinnen und Schüler vom Lernen abhal-ten, können keine eindeutigen Einflussfaktoren identifiziert werden.

Von ihrem engeren sozialen Umfeld fühlen sich die Befragten mehr-heitlich in positiver Weise unterstützt. Dies lässt jedoch tendenziell im Verlauf des Schulbesuchs nach.

Die Lehrkräfte nehmen gemäß ihrer Selbstbeschreibung die spezifi-schen Herausforderungen der erwachsenen Lerner wahr und begegnen diesen verständnisvoll-empathisch. Gleichwohl stelle die wahrgenom-mene Zieldiffusität, mit der die Lernenden die Schullaufbahn einschla-gen, gekoppelt mit den häufig problematischen Erfahrungen im Ersten Bildungsweg, für das schulische Lernen im Zweiten Bildungsweg eine zentrale Herausforderung auch an die Lehrertätigkeit dar. Im Vergleich zu der von den Schülerinnen und Schülern berichteten Bedeutung von Faktoren, die potentiell vom Schulbesuch bzw. dem Lernen abhalten, erscheinen die Ausführungen der Lehrkräfte zu psychisch und physisch Kranken sehr prominent. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass dies eine spezifische Sichtweise – z. B. bedingt durch den Kontakt zu diesen Lernenden bedingt durch Beratungsfunktionen – darstellt.

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6. Schulabgang ohne Schulabschluss (Schulabbruch) Wenn Erwachsene einen mehrjährigen Schulbesuch an einem Abend-gymnasium oder Kolleg aufnehmen, dann ist das (zentrale) Ziel in aller Regel der Erwerb eines Schulabschlusses: der Fachhochschulreife oder der Allgemeinen Hochschulreife. Traditionell erreicht jedoch nur ein Teil der Schülerinnen und Schüler, die einen gymnasialen Bildungsgang be-ginnen, letztlich dieses Ziel. Für Abendgymnasien und Kollegs stellt dies sowohl für die pädagogische Arbeit als auch mit Blick auf die legitimato-rische Absicherung (z. B. der institutionellen Eigenständigkeit) eine kon-tinuierliche und relevante Herausforderung dar.

Der gymnasiale Bildungsgang ermöglicht (parallel zur gymnasialen Oberstufe des Ersten Bildungswegs) den gestuften Erwerb von zwei Ab-schlüssen: Fachhochschulreife und Allgemeine Hochschulreife. Unter Schulabbruch wird daher der Abgang von der Schule vor dem ange-strebten, nächsthöheren Schulabschluss verstanden. Dies ist mit Blick auf den gymnasialen Bildungsgang an Abendgymnasien bzw. Kollegs besonders zu betonen, da Schülerinnen und Schüler nicht nur vor dem erstmöglichen Erwerb eines Abschlusses (Fachhochschulreife) die Schule wieder verlassen, sondern ein Teil auch mit dem Übergang in das letzte Jahr der Qualifikationsstufe den Anspruch auf die Fachhoch-schulreife erwirbt, dann aber die Schullaufbahn während des letzten Schuljahres vorzeitig beendet. In letzterem Fall haben die Schülerinnen und Schüler formal bereits (den Anspruch auf) einen Abschluss an ei-nem Abendgymnasium bzw. Kolleg erworben, gehen aber von der Schu-le noch vor dem zusätzlich angestrebten Schulabschluss „Allgemeine Hochschulreife“ von der Schule ab. Aus analytischer Sicht wird in beiden Fällen das Phänomen des Schulabbruchs erzeugt.26

Das Phänomen des vorzeitigen Abbruchs institutioneller Bildungspro-zesse wird parallel in verschiedenen Teildisziplinen der Erziehungswis-senschaft erforscht (für eine Übersicht siehe etwa das Themenheft „Drop out im Bildungssystem – Situation und Prävention“ der Zeitschrift für Pädagogik, 2/2011). Dass die Forschungszugänge der Teildisziplinen

26 In formaler Hinsicht gleichen sich hinsichtlich der Stufung der Abschlüsse die gym-nasiale Oberstufe im Ersten Bildungsweg, die gymnasialen Bildungsgänge im Zwei-ten Bildungsweg sowie die gestuften Studiengänge im Hochschulbereich (Ba-chelor/Master). In empirischer Hinsicht allerdings ähneln die Schulen des Zweiten Bildungswegs diesbezüglich eher den Hochschulen, da an Abendgymnasien bzw. Kollegs – im Gegensatz zu Schulen des Ersten Bildungswegs – ein relevanter Anteil der Schülerinnen und Schülern bereits mit der Fachhochschulreife die Schullaufbahn beendet.

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sich z. T. in Begriffen bzw. Erklärungsansätzen unterscheiden, liegt nicht zuletzt daran, dass die Spezifika eines jeweiligen Bildungsbereichs eine gewichtige Rolle spielen. Hinsichtlich des hybriden institutionellen Cha-rakters von Abendgymnasien und Kollegs scheinen das Lebensalter der Lernenden (Erwachsene) sowie die Freiwilligkeit der Teilnahme am Bil-dungsprozess besondere Relevanz zu haben: So kennen die Einrich-tungen zum einen das Phänomen, dass der Schulbesuch trotz erfolgrei-cher Zulassung von einigen Bewerberinnen und Bewerbern gar nicht erst angetreten wird. Zum anderen entscheidet sich in den ersten ca. vier bis sechs Wochen des beginnenden Bildungsgangs eine ver-gleichsweise hohe Anzahl der Schülerinnen und Schüler dafür, die Schule nicht weiter zu besuchen. Das Phänomen des Abgangs ohne den nächstmöglichen Schulabschluss zieht sich dann allerdings auch über den weiteren Zeitraum des Bildungsgangs bis zu dessen Ende. Diese Erscheinungsform(en) des Schulabbruchs an Abendgymnasien und Kollegs zeigen Parallelen zum Studienabbruch im Bereich der Hochschule bzw. zum Dropout im Bereich der Erwachsenen-/Weiter-bildung, jedoch weniger zu Erscheinungsformen an Schulen des Ersten Bildungswegs. Insofern liegt es nahe, entsprechende konzeptionelle Deutungsangebote aus der Hochschulforschung bzw. der Erwachsenen-/Weiterbildungsforschung aufzugreifen, zugleich aufgrund des hybriden Charakters der Einrichtungen für die Analyse jedoch deren „schulische Seite“ ebenfalls im Blick zu halten.

Aus einem organisationalen Blickwinkel der Schulen ebenso wie für die betroffenen Schülerinnen und Schüler ist der Abbruch der Schullauf-bahn nach wie vor der Gefahr ausgesetzt, die Konnotation des „Schei-terns“ zu erhalten. Demgegenüber stellt die Beendigung der Schullauf-bahn aus individueller Sicht oft einen Übergang zu etwas Anderem bzw. Neuem dar. Insofern interessiert beim Phänomen des Schulabbruchs nicht zuletzt auch die biografische Ausdeutung seitens der Beteiligten: der Lehrkräfte und insbesondere der Abbrecherinnen und Abbrecher.

Vor diesem Hintergrund liegen den folgenden Ausführungen drei Fra-gestellungen zugrunde: • Wie hoch ist das quantitative Ausmaß des Schulabgangs ohne Ab-

schluss an Abendgymnasien und Kollegs? (vgl. Kapitel 6.1) • Wie nehmen Lehrkräfte den Schulabgang ohne nächstmöglichen

Schulabschluss (Schulabbruch) wahr? (vgl. Kapitel 6.2) • Wie nehmen die ehemaligen Schülerinnen und Schüler ihren Schul-

abgang ohne nächstmöglichen Schulabschluss (Schulabbruch) wahr? (vgl. Kapitel 6.3)

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Die Auswertungen basieren auf verschiedenen „Erhebungsbausteinen“ (vgl. Kapitel 2.2): Zunächst werden – im Sinne einer rahmenden Infor-mation – einige quantitativ-beschreibende Merkmale des Phänomens „Schulabbruch an Abendgymnasien und Kollegs“ aufgeführt. Dazu wird auf die Schulverwaltungsdaten der an der Studie beteiligten Schulen sowie auf die Schülerbefragung zurückgegriffen. Den Schwerpunkt des Kapitels bilden dann die Perspektiven der beteiligten Akteure auf das Phänomen des Schulabbruchs. Nicht zuletzt werden die Interviews mit Schulabbrecherinnen und -abbrechern herangezogen, um den Prozess des Schulabbruchs auch aus ihrer Perspektive beschreiben zu können.

6.1 Schulabbruch – eine Quantifizierung Der Abbruch der Schullaufbahn an Abendgymnasien und Kollegs ist seit deren Gründungszeit ein bekanntes Phänomen. Da die Fachhochschul-reife an Schulen des Zweiten Bildungswegs erst in den 1980er-Jahren eingeführt wurde, bezog sich diese vorzeitige Beendigung der erneuten Schullaufbahn bis dahin ausschließlich auf den Erwerb der Allgemeinen Hochschulreife. Genaue Angaben zum Anteil derjenigen, die ohne Schulabschluss den Bildungsgang wieder beenden, liegen in der wis-senschaftlichen Debatte nicht vor. Stöbe (1968) vermerkt in einer (nicht ganz eindeutigen) Fußnote eine Zählung erfolgreicher Teilnehmer am „Hauptkurs“ von sechs Abendgymnasien im Schuljahr 1956/57. Warning (2005) analysiert für hessische Abendgymnasien und Kollegs Angaben der 1990er-Jahre und setzt die Anzahl von Anfängerinnen und Anfän-gern zu den Absolventinnen und Absolventen ins Verhältnis. Indirekt lässt sich aus beiden Angaben zumindest erschließen, dass Schulabb-ruch sowohl in den 1950er-Jahren als auch in den 1990er-Jahren rele-vante Anteile der Schülerschaft betraf.

Abbruchquote pro Schulhalbjahr Für die Quantifizierung des Schulabbruchs an Abendgymnasien und Kollegs wurden die an der Studie beteiligten Schulen gebeten, begin-nend mit dem Schuljahr 2014/15 im halbjährlichen Turnus die Schüler-zahlen mitzuteilen (alle angemeldeten Schülerinnen und Schüler; vgl. Kapitel 2.2). Dies ermöglicht es, das Phänomen „Schulabbruch“ zu-nächst aus der organisationalen Perspektive der Schulen zu betrachten. Die halbjährliche Erfassung geht darauf zurück, dass ein Teil der Schu-len im Halbjahresrhythmus den gymnasialen Bildungsgang beginnt bzw. beendet („Semester-Logik“). Es wurden die aggregierten Zahlen für die-jenigen Schulhalbjahre erhoben, in welchen die Schülerbefragung

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durchgeführt wurde (vgl. Kapitel 2.2). Aufgrund der zwei Kohorten kann daher ab dem Schuljahr 2014/15 für die ersten drei Schulhalbjahre (Ko-horte 1) und für die letzten drei Schulhalbjahre (Kohorte 2) für die Zeit-einheit „Halbjahr“ eine Abbruchquote pro Schule berechnet werden.

Für die Berechnung des Schulabbruchs wird die Personenzahl am Beginn des Halbjahres (Einstieg in das Halbjahr) zu derjenigen am Ende des Halbjahres in Relation gesetzt. Zu letzterer Gruppe gehören alle die-jenigen, die • offiziell versetzt werden, • nicht versetzt werden (Wiederholung), • einen Abschluss (falls möglich) erwerben oder • beurlaubt werden.

Alle weiteren Schülerinnen und Schüler haben folglich im Verlauf des Halbjahres die Schule ohne einen Abschluss verlassen und können der Kategorie „Abbruch“ zugeordnet werden.

Da die hier vorliegenden Schulverwaltungsdaten (Betrachtung pro Schulhalbjahr) nur eine Querschnittsperspektive ermöglichen, ist aller-dings zu beachten: Einige Schülerinnen und Schüler werden zwar formal in das nächste Schulhalbjahr „versetzt“, besuchen aber nach dem Halb-jahreswechsel schlichtweg die Schule nicht weiter. Da die Schülerzahlen im vorliegenden Fall für aufeinanderfolgende Schulhalbjahre erhoben wurden, konnte anhand der Daten des jeweils folgenden Schulhalbjah-res geprüft werden, ob zum Beginn des neuen Halbjahres ggf. weniger Schülerinnen und Schüler den Schulbesuch fortsetzten, als aufgrund der Versetzung möglich gewesen wäre. Diese Personen gehören sachlo-gisch ebenfalls der Kategorie „Abbruch“ des abgelaufenen Schulhalbjah-res an und wurden entsprechend eingerechnet.

Demgegenüber konnte auf der Grundlage der vorliegenden Daten nicht genauer bestimmt werden, ob beurlaubte Personen zu einem spä-teren Zeitpunkt (ggf. erst nach Jahren) ihren Schulbesuch fortsetzen o-der nicht wiederaufnehmen. Da ein solcher „Abbruch auf Raten“ vermut-lich für einen Teil der Beurlaubten zutrifft, gibt die hier berechnete Ab-bruchquote den Abbruch nicht in vollem Umfang wieder. Da andererseits Beurlaubungen nur eine selten gewählte Handlungsoption sind, fällt dies jedoch kaum ins Gewicht. Größer ist jedoch der Anteil von Schülerinnen und Schülern, die ein Schul(halb)jahr wiederholen, insbesondere in der Einführungsphase. Anhand der vorliegenden Daten kann auch für diese Gruppe nicht bestimmt werden, wie viele der nicht versetzten Schülerin-nen und Schüler im nachfolgenden Schuljahr dann zur Wiederholung ei-nes Schul(halb)jahres schlichtweg nicht mehr erscheinen. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die faktischen Abbruchquoten

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tendenziell höher ausfallen, als die hier vorgenommene Auswertung zeigt (vgl. Abbildung 32).

Anzumerken ist: Die im Folgenden auf der Grundlage der angemelde-ten Schülerinnen und Schüler berechneten Abbruchquoten liegen deut-lich höher als diejenigen, die anhand der individuellen Schullaufbahnda-ten errechnet werden (vgl. etwa Kapitel 5.1 bzw. siehe auch weiter unten die Auswertung mit Blick auf unterscheidbare Gruppen). Dies erklärt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass diese individuellen Schullaufbahnen nur für diejenigen Schülerinnen und Schüler erhoben wurden, die an den Befragungen teilnahmen. Da die erste Befragung zeitlich in der Mitte des ersten Schulhalbjahrs stattfand, floss z. B. der traditionell sehr hohe An-teil von Schulabgängerinnen und -abgängern der ersten vier bis sechs Schulwochen nicht in die Analyse der Schullaufbahnen ein. Dieser wird aber in der folgenden Auswertung sichtbar, die auf die Anmeldezahlen zu Beginn des Schuljahrs rekurriert (vgl. Kapitel 2.2).

Abbildung 32: Abbruchquote pro Schule und Schulhalbjahr (Kohorte 1 und 2)

Anmerkung: n = 21 Schulen Quelle: eigene Darstellung

Als Ergebnis zeigt sich zunächst, dass der Abbruch der Schullaufbahn ein Phänomen ist, welches im Verlauf des Bildungsgangs in jedem Halb-jahr anzutreffen ist. Dabei tritt es vor allem am Beginn des Bildungs-gangs auf und nimmt dann in einem kurvenförmigen Verlauf ab bzw. pendelt sich auf einer Höhe zwischen zehn und acht Prozent ein. So

0%10%20%30%40%50%60%70%80%90%

100%

1. Hj. 2. Hj. 3. Hj. 4. Hj. 4. Hj. 5. Hj. 6. Hj.

Höchste Einzelquote Niedrigste Einzelquote Alle Schulen

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zeigt das erste Schulhalbjahr die höchste durchschnittliche Abbruchquo-te (28,6 %), woraufhin sich bereits im zweiten Halbjahr die Abbruchquo-te annähernd halbiert (16,3 %). In den weiteren vier Halbjahren schwankt die durchschnittliche Abbruchquote zwischen 11,2 Prozent und 4,7 Prozent, weshalb man hier von einer dritten Stufe sprechen kann. Im Vergleich zum zweiten Halbjahr stellt dieser Durchschnittswert dieses Grundniveaus zwischen acht und zehn Prozent wiederum (fast) eine Halbierung dar. Dass bei dieser dritten Stufe das vierte und sechste Halbjahr jeweils die etwas niedrigeren Werte aufweisen, legt die These nahe, dass die zunehmende Nähe zu einem jeweiligen Schulabschluss (FHR/AHR) womöglich motiviert, nicht „kurz vor der Ziellinie“ abzubre-chen. Umgekehrt zeigt sich aber auch, dass immerhin 8,0 bzw. 8,3 so-wie 4,7 Prozent der Schülerinnen und Schüler dieser beiden Halbjahre abbrechen, obwohl der nächstmögliche Schulabschluss zeitlich nahe-rückt27.

Aus der Forschung ist seit Längerem bekannt, dass Einzelorganisati-onen desselben institutionellen Bereichs sich in ihrer Praxis und ihren Ergebnissen z. T. sehr unterscheiden. So überrascht es nicht, dass die Abbruchquoten der einzelnen Schulen durchaus unterschiedlich ausfal-len. Die Spannweite ist insbesondere im ersten Halbjahr besonders groß: Die Differenz zwischen der Schule mit der niedrigsten (14,2 %) und der höchsten (56,8 %) Abbruchquote ist mit 42,6 Prozentpunkten sehr markant. Zugleich ist damit gesagt, dass in einigen Schulen etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler bereits im ersten Halbjahr die Schule wieder verlässt. Die Spannweite verringert sich im zweiten Halb-jahr auf 29,6 Prozentpunkte und schwankt ab dem dritten Halbjahr zwi-schen 23,8 und 17,2 Prozentpunkten Differenz (durchschnittlich 21,3).

Zudem ist zu beachten, dass ab dem dritten Halbjahr immer auch ei-ne Schule bzw. mehrere Schulen gar keinen Abbruch mehr verzeich-nen28.

Unterschiede zwischen Schülergruppen Zusätzlich zu den aggregierten Schülerzahlen der Schulhalbjahre (offizi-ell angemeldete Schülerinnen und Schüler) wurden in einem separaten

27 Mit Blick auf die Vorgehensweise der Auswertung zeigt sich: Eine Berechnung der Abbruchquoten für die Zeiteinheit „Halbjahr“ ist nicht nur aufgrund der halbjährlichen Einschulungspraxis einiger Schulen notwendig, sondern macht zudem Unterschiede in der Abbruchquote sichtbar, die bei der Zeiteinheit „Schuljahr“ eingeebnet würden.

28 Es ist für das fünfte und sechste Schulhalbjahr nicht vollständig auszuschließen, dass ggf. Schülerinnen und Schüler im letzten Schuljahr gemäß der hier angewand-ten Definition abgebrochen haben, die Schule dies jedoch aufgrund des bereits er-worbenen Anspruchs auf die Fachhochschulreife nicht als Schulabbruch verbucht. Insofern ist die empirische Abbruchquote ggf. höher, als die vorliegenden Daten an-geben.

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Prozess die Schullaufbahnen derjenigen Schülerinnen und Schüler er-hoben, die an der Schülerbefragung teilnahmen (vgl. Kapitel 2.2). Am ersten Befragungszeitpunkt der Kohorte 1 nahmen n = 1.841 Schülerin-nen und Schüler teil. Es konnten für insgesamt n = 1.386 dieser Befrag-ten (Kohorte 1) verwertbare Angaben zu den individuellen Schullaufbah-nen (anhand eines anonymisierten Codes) zugeordnet, d. h. die Befra-gungsdaten mit den Schullaufbahndaten erfolgreich gekoppelt werden (vgl. Kapitel 2.2)29. Auf diese Weise lässt sich dann analysieren, inwie-fern das Phänomen des Schulabbruchs bei spezifischen Gruppen von Schülerinnen und Schülern ggf. gehäuft auftritt.

Es liegen somit für die Kohorte 1 für n = 1.386 Schülerinnen und Schüler Daten vor, die eine Auskunft zum Stand der individuellen Schul-laufbahn nach vier Schulhalbjahren geben. Aus dieser Gruppe haben nach diesen vier Schulhalbjahren n = 228 der Schülerinnen und Schüler die Schule ohne einen Abschluss bereits wieder verlassen (Kategorie „Schulabbruch“)30. Demgegenüber haben n = 735 Befragte die Schule nach diesen zwei Jahren mit einem Fachhochschulreife-Abschluss ver-lassen oder sind in das fünfte Schulhalbjahr versetzt worden – wodurch sie formal ebenfalls die Voraussetzungen zum Erwerb der Fachhoch-schulreife erfüllen (Kategorie „Schulabschluss“). Die übrigen n = 423 Be-fragten konnten entweder aufgrund einer Wiederholung nicht weiterver-folgt werden (n = 327) oder die zur Verfügung stehenden Daten lassen keine eindeutige Aussage über einen möglichen Schulabbruch zu (n = 96). Für die auswertbaren n = 963 Schülerinnen und Schüler, die eindeutig einer der beiden Kategorien „Schulabbruch“ oder „Schulab-schluss“ zugeordnet werden können, ergibt sich somit: Nach zwei Jah-ren haben 23,7 Prozent der Befragten (eindeutig) die Schule ohne einen Abschluss verlassen, während 76,3 Prozent (eindeutig) einen Schulab-schluss erworben haben.

29 In der Erfassung der individuellen Schullaufbahndaten aus den Schulverwaltungsda-ten ergaben sich an einigen Stellen Unstimmigkeiten bzw. Unklarheiten, die nicht be-hoben werden konnten.

30 Dieser Anteil ist mit 16,5 Prozent im Vergleich zu den o. g. Abbruchquoten (Quer-schnitts-Angabe pro Schulhalbjahr) vergleichsweise niedrig. Dies erklärt sich zum ei-nen über die Wiederholer bzw. Beurlaubten, die eine eigene Kategorie bilden und für die hier nicht gesagt werden kann, ob sie letztlich ihre Schullaufbahn mit oder ohne Schulabschluss beenden. Weiterhin ist zu beachten, dass die erste Befragung zeit-lich in der Mitte des ersten Schulhalbjahrs stattfand, sodass der hohe Anteil von Schulabgängerinnen und -schulabgängern in den ersten vier bis sechs Schulwochen hier nicht einfließt (vgl. Kapitel 2.2). Zugleich sind die Zahlen auch ein Indiz dafür, dass vergleichsweise mehr Schülerinnen und Schüler, die den Schulbesuch zu ei-nem späteren Zeitpunkt der Schullaufbahn abbrechen, gar nicht erst an der Befra-gung teilgenommen haben bzw. ihre Schullaufbahndaten seltener zur Verfügung ge-stellt haben. Ersteres wiederum kann ein Indiz für vergleichsweise höhere Fehlzeiten schon im ersten Schulhalbjahr sein.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 161

Unterteilt man die Schülerinnen und Schüler nach Gruppen, dann lässt sich zunächst festhalten, dass hinsichtlich mehrerer Unterschei-dungsmerkmale keine signifikanten Unterschiede sichtbar werden31: Weder das Geschlecht der Lernenden noch der Bildungshintergrund der Eltern gehen mit Differenzen hinsichtlich des Anteils vorzeitigen Schul-abbruchs einher. Dies gilt ebenso wenig für die Unterscheidung von Schülerinnen und Schülern hinsichtlich einer Verantwortung für eigene Kinder.

Ein statistisch signifikanter Unterschied zeigt sich dagegen, wenn man die Lernenden nach ihrer Muttersprache unterscheidet (vgl. Abbil-dung 33). Von denjenigen Befragten, die die deutsche Sprache als ihre Muttersprache angeben, verlassen 21,8 Prozent vorzeitig die Schule. Unter Schülerinnen und Schülern mit einer anderen Muttersprache ist dieser Anteil 7,0 Prozentpunkte höher (28,8 %).

Abbildung 33: Anteil Abbruch (nach Muttersprache) (Kohorte 1)

Anmerkung: n = 953 Quelle: eigene Darstellung Zu den traditionellen Zulassungsvoraussetzungen eines gymnasialen Bildungsgangs auf dem zweiten Bildungsweg gehört u. a. die abge-schlossene Berufsausbildung (oder alternativ eine mindestens zweijäh-rige Berufstätigkeit) (vgl. Kapitel 2.1.1). Insofern verfügt die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler in den gymnasialen Bildungsgängen über ei-ne abgeschlossene Berufsausbildung. Diesbezüglich unterschieden sie sich z. B. vom Bildungsgang der „Abendrealschule“, der diese Zulas-sungsvoraussetzung nicht kennt und nicht zuletzt von Schülerinnen und Schülern besucht wird, die den Zugang zu einer Berufsausbildung an-streben (vgl. Kapitel 4.3).

31 Wenn nicht anders benannt, wird ein Signifikanzniveau von 5 % zugrunde gelegt.

28,8%

21,8%

71,2%

78,2%

0% 50% 100%

Muttersprachenicht Deutsch

Muttersprache Deutsch

mit Abschluss (FHR) ohne Abschluss

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 162

Mit Blick auf den Abbruch des Schulbesuchs innerhalb der ersten beiden Schuljahre zeigen sich hinsichtlich des Merkmals „abgeschlos-sene Berufsausbildung“ signifikante Unterschiede (vgl. Abbildung 34):

Abbildung 34: Anteil Abbruch (nach Abschluss einer Berufsausbildung) (Kohorte 1)

Anmerkung: n = 951 Quelle: eigene Darstellung Von den Befragten mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung verlas-sen 18,5 Prozent vorzeitig die Schule, wohingegen von den Befragten ohne abgeschlossene Berufsausbildung etwa ein Drittel die Einrichtung ohne einen Schulabschluss verlässt (31,9 %).

Ein sehr ähnliches Ergebnis zeigt sich, wenn man die Schülerinnen und Schüler hinsichtlich des von ihnen besuchten Bildungsgangs be-trachtet (vgl. Abbildung 35).

31,9%

18,3%

68,1%

81,7%

0% 50% 100%

Keine abgeschlosseneBerufsausbildung

AbgeschlosseneBerufsausbildung

mit Abschluss (FHR) ohne Abschluss

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 163

Abbildung 35: Anteil Abbruch (nach Bildungsgang) (Kohorte 1)

Anmerkung: n = 957 Quelle: eigene Darstellung

Der Anteil von Schülerinnen und Schülern, der vorzeitig ohne Abschluss die Einrichtung wieder verlässt, ist auch in diesem Fall signifikant unter-schiedlich: Den höchsten Anteil verzeichnet der klassische abendgym-nasiale Bildungsgang, den nahezu ein Drittel der Befragten (30,7 %) oh-ne einen Abschluss wieder verlässt. Die beiden Bildungsgänge, die ih-ren Unterricht in der ersten Tageshälfte platzieren („Kolleg“ sowie „Abendgymnasium am Vormittag“) werden demgegenüber nur von etwa einem Fünftel der Lernenden wieder abgebrochen (21,6 % bzw. 18,8 %). Unter den Befragten des Bildungsgangs „Abitur-Online“ ver-lässt sogar nur ein Sechstel die Schule vor dem erstmöglichen Erwerb eines Schulabschlusses (16,5 %).

Der Mittlere Schulabschluss stellt eine weitere Zulassungsvorausset-zung für den Besuch eines Abendgymnasiums bzw. Kollegs dar. Dabei hat die Ausdifferenzierung des Bildungssystems dazu geführt, dass die-ser Abschluss nicht nur an verschiedenen allgemeinbildenden Schulfor-men des Ersten Bildungswegs, sondern zudem im Bereich der Berufs-bildung sowie auch im quartären Bereich der Weiterbildung erworben werden kann. Der Bildungsbereich, in welchem die Schülerinnen und

16,5%

18,8%

30,7%

21,6%

23,5%

83,5%

81,3%

69,3%

78,4%

76,5%

0% 50% 100%

AGy ("Abitur-Online")

AGy (am Vormittag)

AGy (klassisch)

Kolleg

Gesamt

mit Abschluss (FHR) ohne Abschluss

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 164

Schüler ihren Mittleren Abschluss erworben haben, geht in diesem Fall auch mit Unterschieden hinsichtlich des Phänomens des Schulabbruchs einher (vgl. Abbildung 36).

Abbildung 36: Anteil Abbruch (nach Bildungsbereich des Mittleren Abschlusses) (Kohorte 1)

Anmerkung: n = 938 Quelle: eigene Darstellung

Unter denjenigen Schülerinnen und Schülern, die ihren Mittleren Ab-schluss an einer allgemeinbildenden Schule (Erster Bildungsweg) er-worben haben, beendet jeder Fünfte den Schulbesuch schon vor dem möglichen Erwerb eines Schulabschlusses (19,8 %). In der Gruppe der Schülerinnen und Schüler, die ihren Mittleren Abschluss stattdessen im Bereich der beruflichen Bildung erworben hat, liegt der Anteil dagegen bei 29,3 Prozent – somit im Vergleich etwa um die Hälfte höher. Der An-teil der Abbrecherinnen und Abbrecher steigt noch einmal, wenn man die Gruppe der Schülerinnen und Schüler betrachtet, die ihren Mittleren Abschluss erst im Weiterbildungssystem nachträglich erworben hat. Ein Drittel dieser Befragten geht von der Schule ohne einen Schulabschluss ab (34,1 %). Differenziert man diese letzte Gruppe aus, dann zeigt sich, dass im Falle des Besuchs einer Volkshochschule der Anteil des Ab-bruchs nur bei 28,3 Prozent liegt und somit eher demjenigen des berufli-chen Bereichs entspricht. Bei den Absolventinnen und Absolventen der Abendrealschulen zeigt sich demgegenüber mit 39,3 Prozent der höchs-te Anteil eines vorzeitigen Abbruchs der Schullaufbahn.

34,1%

29,3%

19,8%

65,9%

70,7%

80,2%

0% 50% 100%

Weiterbildung (inkl.ARS und Vorkurs)

Berufliche Schulen

Erster Bildungsweg(allgemeinbildenden

Schulen)

mit Abschluss (FHR) ohne Abschluss

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 165

6.2 Schulabbruch aus der Perspektive von Lehrkräften Zur qualitativ-vertiefenden Analyse der Sicht von Lehrkräften auf das Thema Schulabbruch im Zweiten Bildungsweg wurden zwischen April und Juli 2016 an vier nordrhein-westfälischen Standorten jeweils drei halbstrukturierte leitfadengestützte Interviews mit Lehrkräften geführt. Im Rahmen der Interviewstudie konnten fünf Lehrer und sieben Lehrerinnen befragt werden. Das kürzeste Gespräch dauerte 20 Minuten, das längs-te 64 Minuten. Der den Interviews zugrundeliegende Leitfaden umfasst die folgenden zentralen Themenblöcke: • Ausmaß von Schulabbruch, • wahrgenommene Gründe für den Schulabbruch, • Umgang mit (potentiellen) Abbrecherinnen und Abbrechern sowie • wahrgenommene Möglichkeiten, um Abbruch entgegenzuwirken.

Die Interviews wurden aufgezeichnet, vollständig transkribiert, anonymi-siert und inhaltsanalytisch mit Hilfe des Programms MAXQDA (Version 12.3.1) ausgewertet. Das Kategoriensystem wurde deduktiv aus dem eingesetzten Leitfaden entwickelt sowie induktiv aus dem Material her-aus ergänzt. Die einzelnen Sinneinheiten stellten die Kodiereinheiten der Analyse dar. Sofern bekannt oder aus den Interviews ersichtlich, wurden Angaben zum Geschlecht, zu den unterrichteten Fächern, zum Stun-denumfang oder Bildungsgang sowie zur Ausübung von Funktionen in-nerhalb der Schule als Dokumentenvariablen in MAXQDA aufgenom-men.

Bei der Auswertung der Interviews ist zu beachten, dass – ebenfalls begünstigt durch die teilweise geringen Kollegiumsgrößen an Abend-gymnasien und Kollegs – die Lehrkräfte neben dem Kerngeschäft des Unterrichts häufig weitere Funktionen innehaben, beispielsweise als Jahrgangsstufenkoordinator/in oder Vertrauenslehrer/in. Diese Rollen könnten sich in einer spezifischen Sichtweise auf die Schülerschaft und das Phänomen des Schulabbruchs manifestieren, ist doch davon aus-zugehen, dass Schülerinnen und Schüler an Funktionslehrkräfte insbe-sondere in spezifischen Problemsituationen herantreten. Zudem oblag die schlussendliche Auswahl der Befragungspersonen der Schule, auch wenn seitens des Forscherteams darum geben wurde, hinsichtlich des Geschlechts und der Berufserfahrung zu variieren.

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 166

Schulabbruch: Wahrnehmung des quantitativen Ausmaßes und des Zeitpunkts Das Ausmaß von Schulabbruch an der jeweiligen Einzelschule wird von den Befragungspersonen übereinstimmend als sehr hoch beschrieben, wie die nachfolgenden Interviewausschnitte illustrieren:

„[…] das ist schon echt extrem. Ein Beispiel: Ich habe eine eigene Klasse. Bei denen bin ich gestartet mit ungefähr 24 Leuten. Da sind jetzt vielleicht noch 14 drin, mit der Tendenz nach unten, weil einige es auch einfach nicht schaffen werden. Und die sind dann schon Wiederholer und gehen dann ganz von der Schule weg, was dazu führt, dass wir Klassen auch immer wieder zusammen-legen müssen und teilweise dann in Abschlussklassen auch da halt nur noch mit einer einzigen Klasse quasi zugegen sind. Und dann haben wir da vielleicht 20 Leute, die da noch ihren Abschluss machen. Das ist schon echt viel, ein-fach.“ (Beratungslehrkraft) „Uns ist auch als Schule ja klar, dass diese Dropout-Problematik eine massive Problematik ist.“ (Lehrkraft) „Ja, der Schulabbruch ist schon eklatant.“ (Beratungslehrkraft) „Also ich weiß, dass die Abbruchquote enorm hoch ist. Ich weiß nur nicht aus welchen Gründen.“ (Beratungslehrkraft) „[…] und ich glaube, im Gegensatz zu anderen Schulen haben wir einen großen Schwund von Schülern. Das merkt man immer wieder. Also, zum Ende des Semesters sind die Klassen immer kleiner als zu Beginn. Ich erlebe das jetzt gerade ganz aktuell mit meinem ersten Semester, was mit 18 oder 19 Leuten gestartet ist und jetzt sind es nur noch elf. Also, das ist fast auf die Hälfte zu-sammengeschrumpft in den wenigen Monaten.“ (Klassenlehrkraft)

Schulabbruch habe nach Angabe der Interviewpartner im Zeitverlauf zu-genommen. Allerdings wird in den Gesprächen deutlich, dass diese Ein-schätzung eines hohen und zunehmenden Dropouts nicht immer auf statistischen Kennzahlen basiert, sondern zumeist auf persönlichen Er-fahrungen und Vermutungen, dies können die folgenden Interviewaus-schnitte verdeutlichen:

„Abbrecher-Quoten, nein, Quoten weiß ich jetzt nicht.“ (Jahrgangsstufenkoordi-nation) „Ja, ist eine hohe Abbrecherquote liegt vor. Allerdings jetzt nicht statistisch be-legt. Also ich kenne keine Zahlen. Einfach eben aus Erfahrung. Und ich würde denken, dass gerade im ersten Schuljahr, ja, so erstes, zweites Semester ist die Abbrecherquote gefühlt höher“ (Verbindungslehrkraft).

In Bezug auf eine datengestützte Schul- und Unterrichtsentwicklung kann dieser Befund als ein Hinweis auf eine im Vergleich zur Evidenz-basierung stärker ausgeprägte Ersatzwissensorientierung (siehe für eine Unterscheidung dieser unterschiedlichen Orientierungen im schulischen Kontext z. B. van Ackeren et al. 2013) interpretiert werden; die befragte

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 167

Lehrkraft verlässt sich hinsichtlich der Quantifizierung des Schulabb-ruchs in höherem Maße auf ihr Bauchgefühl als auf empirisch abgesi-cherte Befunde oder Kennzahlen. Dies mag auch durch Definitionsprob-leme begünstigt sein, denn wie die Auswertung der Interviews verdeut-licht, werden in der Schulpraxis Schulabbruch, Beurlaubung und Wie-derholung mitunter nicht trennscharf voneinander unterschieden bzw. können nicht immer eindeutig klassifiziert werden. Eine Beurlaubung wird in diesem Kontext beispielsweise als „Pseudoabbruch“ (Stufenko-ordination) oder „Abbruch auf Zeit“ (Beratungslehrkraft) bezeichnet. In diesem Zusammenhang kann Schulabbruch eher als ein schleichender Prozess eingeschätzt werden denn als eine bewusste Entscheidung:

„Und häufig ist dann ja erst mal der Schritt Beurlaubung, der erste Schritt ist ja häufig die Beurlaubung und gar nicht dieses ‘Ich höre ganz auf’, und das ist ja nur so ein Pseudoabbruch. Die kommen nicht unbedingt wieder oder, wenn sie wiederkommen, kommen sie für drei, vier Wochen wieder, und dann hat es sich erledigt. Aber es gibt eigentlich […] ja ganz so richtig ganz konkret Abbrecher, die das auch bewusst abbrechen, sind die wenigsten.“ (Stufenkoordination)

Der Schulabbruch werde von vielen Schülerinnen und Schülern auch deshalb hinausgezögert, um weiterhin BAföG zu erhalten, einige wollten „das BAföG bis zur letzten Sekunde mitnehmen“ (Stufenkoordination). Definitionsprobleme und begrifflichen Unschärfen verdeutlichen auch die folgenden Interviewausschnitte:

„Ich hatte jetzt gerade zwei Leute, bei denen wir uns nicht so ganz einig waren, ob wir sie jetzt entlassen haben oder ob sie sich abgemeldet haben. Das ist dann auch ein ziemlicher Übergang.“ (Stufenkoordination). „Es ist natürlich die Frage, wen man als Abbrecher bezeichnet. Wenn jemand zum zweiten Mal das erste oder zweite Semester nicht schafft, muss er gehen oder sie.“ (Jahrgangskoordination)

Wolf (1975, S. 76 ff.) unterscheidet vier selektionsrelevante Phasen im Zweiten Bildungsweg, (1) die Entscheidungsphase, (2) die Prüfungs-phase, (3) die Kollegphase und (4) die Hochschulphase. In Bezug auf den Zeitpunkt des Schulabbruchs wird übereinstimmend auf die hohen Abbruchsquoten in den Vorkursen und frühen Schulhalbjahren verwie-sen, „die Vorkurse halbieren sich manchmal“ (Stufenkoordination).

„Also, ich glaube, einige fühlen sich schon im Vorkurs überfordert. Deshalb hat man da eine hohe Dropout-Rate. In der Regel so die, die das dann mal so bis ins vierte Semester geschafft haben, es sei denn sie gehen mit Fachhochschul-reife, aber da beraten wir auch immer noch mal, inwieweit das jetzt wirklich sinnvoll ist. Danach stabilisiert sich das dann. So der Schritt in die Hauptphase ist noch mal ein Punkt, weil da noch mal Grund- und Leistungskurse und auch nochmal so dieser Gedanke, oh, ab jetzt zählt wirklich alles für den Numerus Clausus, nochmal so ein erhöhter Stressmoment. Aber die es, sage ich mal, bis

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 168

zum vierten Semester geschafft haben, die schaffen es dann in der Regel auch bis zum Schluss.“ (Stufenkoordination)

Nach Einschätzung der Lehrkräfte kann das hohe Maß an Abbruch in den ersten Schulhalbjahren zumindest teilweise durch die Veränderung der Schülerklientel erklärt werden. Begründet durch die rückläufigen Anmeldezahlen würden mittlerweile auch Schülerinnen und Schüler auf-genommen, die in früheren Zeiten nicht aufgenommen oder zunächst auf eine Warteliste gesetzt worden wären und die dann in der Zwischen-zeit eventuell bereits eine andere Option ergriffen hätten. Nun würde der Besuch eines Abendgymnasiums oder eines Kollegs u. U. aufgrund ei-nes Mangels an Alternativen angewählt, zudem offenbart sich in der Perspektive der Lehrkräfte eine große Heterogenität der Schülerinnen und Schüler, in deren Folge insbesondere leistungsschwächere Perso-nen den Schulbesuch frühzeitig abbrechen:

„Und zu erkennen ist, dass wir mittlerweile, aus meiner Sicht, eine wesentlich höhere Abbrecherquote, Dropout-Quote gerade in den ersten Semestern ha-ben. Weil da der Spagat riesig groß ist zwischen denen, die wissen, was sie wollen, die lernen wollen, die auch gute Vorkenntnisse haben und denen, die wenig Vorkenntnisse haben, aber auch wenig Motivation“ (Klassenlehrkraft). „Die Studierendenschaft wandelt sich auch. Wird nicht leichter, also, sodass, glaube ich, die Dropout-Problematik noch mal eine größere Problematik ist bei der heutigen Studierendenschaft im Vergleich zu der Studierendenschaft vor zehn Jahren.“ (Stufenkoordination)

Insbesondere im Falle eines frühen Abbruchs sind die Schülerinnen und Schüler für Personen in beratenden Funktionen schwer greifbar, so dass Informationsdefizite die Situation der z. T. als leistungsschwach einge-schätzten Schülerklientel u. U. zusätzlich erschweren. Darüber hinaus wird auch berichtet, dass einige Schülerinnen und Schüler kurzfristig die Schule verlassen, sobald sie einen Ausbildungsplatz oder eine neue Ar-beitsstelle gefunden haben. In diesen Fällen stellt der Schulabbruch in der Regel kein Misserfolgserlebnis dar, sondern beruht auf neuen Opti-onen und veränderten Strategien der Abbrecherinnen und Abbrecher:

„…es gibt dann auch welche, die was Besseres finden. Also, die hierhinkom-men, weil sie denken, ich habe gerade nichts, dann mache ich mein Abitur nach, aber sich parallel auch auf andere Stelle bewerben und dann auf einmal kriegen sie die Superstelle und dann sind die weg“. (Jahrgangsstufenkoordina-tion)

Im Zusammenhang mit dem Zeitpunkt der Beendigung des Schulbe-suchs offenbaren sich ebenfalls Definitionsprobleme, denn es erscheint teilweise unklar, inwieweit Studierende, die zuvor das Abitur angestrebt

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 169

hatten, jedoch das Kolleg oder das Abendgymnasium mit der Fachhoch-schulreife verlassen, als Abbrechende einzuordnen sind:

„Wenn sie einmal das dritte Semester geschafft haben sozusagen, also nicht ins dritte geschafft, sondern auch das dritte noch sozusagen überlebt haben, d. h. kurz vor dem Fachabi, vor dem Abitur stehen, sind es weniger auf jeden Fall. Also es gehen viele natürlich mit Fachabitur, weil sie das Abitur nicht schaffen.“ (Stufenkoordination) „Und im Bereich der Oberstufe gibt es ja zwei Abschlüsse. Die Möglichkeit mit der Fachhochschulreife abzugehen, also mit dem schulischen Teil und dem Abitur. Und da halbieren sich noch mal die Zahlen. Also die Hälfte geht unge-fähr mit Fachhochschulreife, die andere Hälfte macht Abitur.“ (Vormittagskoor-dination)

Die Schulvertreter berichten in den Interviews darüber, dass die betref-fenden Schülerinnen und Schüler „einfach“ von der Schule wegbleiben und für sie daher oft der Prozess, der dieser Entscheidung vorausgeht, sowie die Entscheidung selbst verborgen bleiben und sie darin häufig in keiner Weise involviert sind. Diese Wahrnehmung deckt sich mit den entsprechenden Aussagen der Schulabbrecher, die ihre Entscheidung als eine von der Schule – und häufig auch weiteren außerschulischen Kommunikationspartnern – unabhängige eigene Entscheidung darstel-len (vgl. Kapitel 6.3).

„Aber die meisten bleiben dann einfach weg, ohne dass sie sich hier verab-schieden oder ein Gespräch führen, warum sie gehen. Also wir haben genau das Problem, dass wir nicht wissen, warum viele Studierende wegbleiben. Sie bleiben weg und dann sind sie für uns weg, aber wir haben vorher nicht ge-wusst, warum sie wegbleiben“. (Lehrkraft Coachingprojekt)

Für schulische Akteure wird häufig erst nach mehrmaliger Abwesenheit von Schülerinnen und Schülern deutlich, dass es sich vermutlich um ei-nen Abbruch handelt. Dies schildert beispielsweise ein Verbindungsleh-rer, dem im Rahmen seines Unterrichts das Fortbleiben eines Schülers erst zeitversetzt auffällt und der infolgedessen bei den Mitschülerinnen und Mitschülern Erkundigungen über den Verbleib einholt. In dieser Er-fahrung ist es den Schulvertretern nicht möglich, Gründe für den Ab-bruch zu erfahren:

„Das ist ja das Problem, das ist ein grundsätzliches Problem. Wir haben eine re-lativ hohe Abbrecherquote, eine relativ hohe. Nur haben wir eigentlich nur schwer die Möglichkeit zu erfahren, warum jemand abgebrochen hat. Weil wenn er abgebrochen hat, ist er plötzlich nicht mehr da. Der fällt mir selbst, ein, zwei Stunden in der Woche, da fällt der mir noch nicht auf. Nächste Woche fra-ge ich mal: ‚Was ist denn mit dem Herrn Schmidt, den habe ich letzte Woche gar nicht gesehen?‘ ‚Ja weiß ich auch nicht.‘ So. Also erst – der muss eine rela-tiv lange Zeit schon fehlen, damit wir ihn wahrnehmen.“ (Verbindungslehrkraft)

BILDUNGSVERLÄUFE AN ABENDGYMNASIEN UND KOLLEGS | 170

Die Schulvertreter berichten in den Interviews davon, dass sie trotz die-ser Intransparenz der Schülerentscheidung versuchen, mit potenziellen Abbrecherinnen und Abbrechern Kontakt aufzunehmen und auf diese Weise Einfluss auf den Entscheidungsprozess des Betroffenen zu neh-men. So wird beispielsweise versucht, die Schülerinnen und Schüler, die nicht mehr zum Unterricht erscheinen, telefonisch durch „individuelle Ansprache“ zu erreichen. Diese Bemühungen um Kontaktaufnahme nach Abbruch sind jedoch in vielen Fällen nicht erfolgreich, so auch im folgenden Fall eines Lehrers, der Mitglied im schulischen Lehrerrat ist:

„Ja, wir haben eigentlich nur die Möglichkeit, erstmal anzuschreiben, zu telefo-nieren. Eine Studierende ist jetzt z. B. bei mir dabei, sozusagen wegzudriften aus dem betreuten Wohnheim. Ich habe da ein paar Mal angerufen, aber ir-gendwann kommt da auch kein Kontakt mehr, wenn von denen nichts zurück-kommt, kann ich nicht permanent anrufen, das geht nicht. Eigentlich individuelle Ansprache.“ (Lehrkraft)

Diese Erfahrungen der erfolglosen Kontaktaufnahme teilt auch ein Schulleiter, der berichtet, dass die Schülerinnen und Schüler „einfach weg sind“ und so auch keine Bescheinigung über den Schulbesuch er-halten können. Die „Abbrecher“ haben lediglich in Ausnahmefällen noch Kontakt zur Schule, beispielsweise um Organisatorisches wie die Rück-gabe der Schulbücher zu regeln:

„Ja, also wir schreiben sie an, wir telefonieren, wir nutzen die sozialen Medien. Wir sprechen sie an, und entweder es gibt eine Rückmeldung oder es gibt kei-ne. Manchmal wollen die Studierenden das auch nicht mehr, weil die das für sich abgeschlossen haben und dann werden sie exmatrikuliert. Ja, und dann muss ich wieder lächeln, weil die Schulaufsicht dann manchmal sich wundert, dass die kein Abschlusszeugnis bekommen haben. Weil die einfach weg sind. Die wollen auch nicht mehr zur Schule. Die kommen dann höchstens noch mal und geben ihre Bücher ab, fühlen sich schlecht, weil sie was angefangen haben und nicht zu Ende gebracht. Und ja gut, wenn ich sie sehe, wünsche ich ihnen alles Gute, und manchmal kommen sie auch wieder, aber das sind die Aus-nahmen.“ (Schulleitung)

Der Schule wird von den Abbrecherinnen und Abbrechern durch die au-tonome Entscheidung vor vollendete Tatsachen gestellt und die Schul-vertreter berichten darüber, dass es regelmäßig vorkommt, dass sie kei-nerlei Signale haben sehen können, die auf einen möglichen Abbruch hindeuten. In diesen Fällen erweisen sich nach Einschätzung der Be-fragten insbesondere außerschulische Anlässe als Auslöser für die Ent-scheidung der Betroffenen:

„Als Klassenlehrer versuche ich nachzuhaken, auch die Mitschülerinnen und Mitschüler anzuregen, nochmal Kontakt aufzunehmen, damit die Person nicht abdriftet. Immer wieder gibt es den Fall, dass wir es nicht merken, also keine Signale vorher erkennen und dann ist es sozusagen eine einsame Entschei-

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dung, die unterschiedlich begründet wird dann und sagen wir mal ich muss jetzt mehr arbeiten oder ich muss mich mehr um die Familie kümmern oder, oder, oder. Das ist dann natürlich irgendwie zu respektieren bei Erwachsenen.“ (För-derkoordination)

Eine weitere Schwierigkeit bei der Einschätzung und Bewertung von Abbruchsituationen ergibt sich dadurch, dass es den Lehrkräften nicht immer gelingt, einen Abbruch und damit das Beenden der Schullaufbahn von einer Unterbrechung oder einer Beurlaubung zu unterscheiden. Die-se Problematik verdeutlicht der folgende Interviewausschnitt mit einem Beratungslehrer:

„Ansonsten würde ich sagen, das mit dem Abbrechen ist häufig auch etwas, was sich eher einschleicht durch Nicht-mehr-Erscheinen einfach. […] Es gibt auch Leute, hatte ich jetzt unlängst auch, naja gut, dann werden junge Men-schen auf einmal unerwartet Vater, bzw. Mutter: „Und jetzt haben wir so viel zu klären, ich kriege das jetzt gar nicht mehr geregelt!“ Gut, das ist aber eine Un-terbrechung, das ist kein Abbruch, das ist also wirklich: „Ich muss jetzt die nächsten Monate 1000 Sachen sortieren, wir wissen überhaupt nicht, wie es weitergeht und wie alles läuft“ und, und, und. Also sehr junge Menschen, sage ich jetzt mal, die dann aber trotzdem sagen: „Wir wollen das jetzt hinkriegen und da brauche ich jetzt einfach ein paar Monate, wo ich das anders regele und dann steige ich mit Schule wieder ein“. Also das ist dann eher die Unterbre-chung, das ist auch relativ häufig, dass dann eben wegen solcher persönlichen Ereignisse, manche Leute sagen: „Okay. Jetzt erstmal nicht“. Und dann ist es oftmals schade, wenn die Leute nicht wiederkommen, das ist auch schon mal so.“ (Beratungslehrkraft)

Schulen versuchen, ihren Schülerinnen und Schülern, die sich in dies-bezügliche Beratungen begeben, die Rückkehr in den Bildungsgang fak-tisch und auch gedanklich dadurch nahezulegen, dass sie statt zu einem Abbruch zu einer Beurlaubung raten. Mit der Möglichkeit „Beurlaubung“ ist intendiert, den Schülerinnen und Schülern das Gefühl zu vermitteln, jederzeit in den Bildungsgang zurückkehren zu können, sobald die au-ßerschulische Lebenssituation sich verbessert hat:

„Wir beraten aber immer eigentlich, dass wir sagen: ‚Kein Abbruch, sondern Beurlaubung.‘ Denn die Beurlaubung setzt ein Signal: ,Ich kann jederzeit hier, wenn sich meine Lebenssituation verändert hat, wieder einsteigen.‘ Es sei denn, die Verhältnisse sind dermaßen zerrüttet, dass es auch einmal therapeu-tisch sinnvoll sein kann – Also von der Lebensweisheit her – Zu sagen: ,Nein, ich schaffe mir Ruhe, indem ich sage, dieser Weg – Abitur, Studium von vier bis acht Jahren – der da noch kommt, das ist einfach eine Perspektive, die mein Leben dermaßen belastet‘, dass es für die einzelne Person hilfreicher sein kann, zu sagen: ,Nein, ich schließe das endgültig für mein Leben ab. Und gehe in meinen Beruf zurück. Oder mache andere Dinge. Ich probiere jetzt doch mal, Ausbildungsplatz zu finden.‘“ (Schulseelsorge)

An diesem Schulstandort agiert nicht nur die Schulseelsorge in die Rich-tung „Beurlaubung statt Schulabbruch“, auch die Schulleitung nutzt

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Schülergespräche, um diese Strategie zu verfolgen. An diesem Standort scheint es stärker als an anderen schulkulturell verankert zu sein, dass Schülerinnen und Schüler, die sich mit Abbruchgedanken beschäftigen, zuvor ein Gespräch mit Schulvertretern suchen. Deutlich wird an der fol-genden Interviewäußerung, dass viele Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit einer Beurlaubung für einen definierten Zeitraum nicht ken-nen, diese aber gerne als Option annehmen:

„Ansonsten gibt es grundsätzlich die Regelung, dass man sich nicht einfach abmeldet, sondern dass immer noch ein Gespräch geführt wird mit der Schullei-tung, also in der Regel mit mir oder mit [Anonymisierung], aber meistens bin ich dann derjenige, der das Gespräch führt, um einfach im Gespräch nochmal her-auszubekommen auch, was das Motiv ist, was der Hintergrund ist, ob das nun eine wohl überlegte Entscheidung ist, ob es nicht Alternativen gibt. Und in der Regel ist es so, dass nach diesem Gespräch eine Abmeldung nicht mehr er-folgt. Und das geht mir nicht da drum, möglichst viele Studierende hier zu be-halten oder die auf jeden Fall hier an die Schule zu ketten, sondern meistens hat das damit zu tun, dass man in einer schwierigen Lebenssituation sich befin-det und nicht mehr den Kopf frei hat, eine […] abwägende und klug überlegte Entscheidung zu treffen, häufig auch aufgrund von mangelnder Information, dass man z. B. sich beurlauben lassen kann auch für ein Semester, ist für viele gar nicht im Bewusstsein z. B.. Und häufig reicht dann dieses Angebot.“ (Schul-leitung) Im Rahmen der Interviews wurden die Schulvertreter auch danach be-fragt, ob es abbruchrelevante Zeitpunkte während der Schullaufbahn gibt, die mit erhöhten Beratungsbedarfen einhergehen. Beratungs- und abbruchsensible Punkte liegen demnach erstens in der Eingangsphase, in der die Schülerinnen und Schüler sich im schulischen Umfeld orientie-ren, zweitens nach Ferienzeiten, da die Lernenden sich hier erneut um-stellen und motivieren müssen und drittens in Situationen, die mit schul-laufbahnrelevanten Leistungsbewertungen einhergehen:

„Dann gibt es eigentlich immer Herausforderungen, wenn es dann um die Noten geht, wenn es um die Bewertung geht. Das war immer in der Mitte des Halbjah-res, zum Quartal, weil da natürlich eine definitivere Bewertung wahrgenommen wird. Das kann zu einer Herausforderung werden, sagen wir es mal so, für die Studierenden, weil es gibt ja immer auch mal solche Charaktere, die sich viel-leicht etwas überschätzen oder unterschätzen, wenn sie sich unterschätzen, sind sie positiv überrascht, wenn sie sich überschätzen, kann das schon mal etwas unangenehmer sich anfühlen. Diese Situationen, wo es um Notenverga-be, so wie Zeugnisse geht, die sind natürlich schon auch immer sehr sensible Punkte. So würde ich das jetzt sagen.“ (Beratungslehrkraft) „Ja. Je nach dem wann man anfängt. Die Sommerferien, wenn die nach einem halben Jahr kommen, ist nicht so gut, ist eine große Pause (lacht). Muss man sich wieder neu motivieren wieder anzufangen nachdem man sechs Wochen raus ist. Aber wenn man erst mal so ein Jahr bestanden hat und sieht das funk-tioniert dann ist auch erst einmal so eine Motivation da. Die meisten gehen dann ja auch ins Kurssystem wissen jetzt wird es ernst, ich brauch das jetzt al-les was da ist.“ (Studienberatungskraft)

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Schulabbruch: wahrgenommene Gründe Als Grund für einen Abbruch im Zweiten Bildungsweg nimmt die über-wiegende Mehrzahl der befragten Lehrkräfte gesundheitliche Einschrän-kungen wahr. Insbesondere psychische Erkrankungen werden von einer Vielzahl der Befragungspersonen in den vertiefenden Gesprächen be-nannt. Dabei wird jedoch deutlich, dass eine Trennung zwischen psychi-schen Krankheiten und Motivations-, Disziplin- oder Leistungsproblemen mitunter schwierig erscheint. Psychische Vorerkrankungen und soziale Schwierigkeiten seien „ein sehr fließendes Übergangsfeld“ (Stufenkoor-dination).

„Ja, also neben diesen Anforderungen, glaube ich, dass manche generell eine Antriebslosigkeit irgendwie haben. Also, ich habe oft das Gefühl, ohne das so genau zu wissen, dass so vielleicht solche Sachen wie Depressionen auch oft dahinterstecken oder irgendwelche anderen psychischen Erkrankungen, die überhaupt dazu führen, dass die sich schwertun, sich aufzuraffen und so einen geregelten Alltag irgendwie nachzugehen. Egal, ob das jetzt morgens aufstehen ist oder ob man nachmittags zur Schule geht, aber überhaupt so einen konstan-ten Alltag zu haben, das fällt manchen schwer. Also, manche kommen in den Nachmittagsunterricht, der um 14:00 Uhr beginnt, um 14:30 Uhr rein und sagen, dass sie verschlafen haben. Also, das ist ganz häufig so was“ (Klassenlehr-kraft).

Erfordern die psychischen Erkrankungen der Lernenden ambulante The-rapien oder Klinikaufenthalte, wird darüber hinaus einmal mehr das De-finitionsproblem in Bezug auf einen Schulabbruch evident, denn nach Auskunft der Interviewpartner werde in der Regel zunächst zu einer Un-terbrechung des Schulbesuchs geraten. Wie bereits an vorheriger Stelle dargelegt wurde, ist bei der Interpretation der Ergebnisse jedoch zu be-achten, dass eine Vielzahl der Befragungspersonen neben der Unter-richtstätigkeit auch beratende oder koordinierende Aufgaben ausübt, die zu einer spezifischen Sichtweise der Interviewpartner auf das Phäno-men des Schulabbruchs führen könnten. Es kann somit nicht ausge-schlossen werden, dass diese Beratungsanlässe zu einer Verzerrung hinsichtlich der Einschätzung des Ausmaßes bestimmter Gründe für den Schulabbruch führen. Dies deutet sich auch in den nachfolgenden Aus-zügen aus zwei Interviews mit Lehrerinnen an, die ebenfalls eine koordi-nierende bzw. beratende Funktion innehaben:

„Also vom Gefühl her, würde ich dazu tendieren, zu sagen: Die Meisten bre-chen ab, weil sie psychische Probleme haben. Damit kann ich aber auch voll-kommen falsch liegen, weil zu mir kommen natürlich nicht diejenigen, die Leis-tungsprobleme haben, sondern diejenigen mit den psychischen Problemen.“ (Beratungslehrkraft)

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„Also gerade eben als Stufenkoordinatorin kriegt man ja sehr viel mit in Gesprä-chen, was die Probleme der Studierenden angeht, und ich habe […] 50, 70 Prozent mit psychischen Problemen, würde ich sagen, also 20 Prozent, die es definitiv zugeben, die auch in Behandlung sind, und 30 Prozent, die es zwi-schen den Sätzen zugeben, und bestimmt noch mal 20 Prozent, deshalb 50 bis 70, wo ich denke, es hat schon einen Grund, weshalb die nicht im Ersten Bil-dungsweg […] weitergekommen sind. Das heißt, wir haben viele auch Abbre-cher so aus den Klassen elf, zwölf, die schon mal eine Gymnasialerfahrung ha-ben und die das eben im Ersten Bildungsweg nicht geschafft haben.“ (Stufen-koordination)

Das unmittelbar vorangehende Zitat verweist auch auf gebrochene Bil-dungsbiographien und Misserfolgserlebnisse, die bei Abbrecherinnen und Abbrechern verstärkt wahrgenommen werden und Schulängste be-günstigen könnten. In der Schülerbefragung (vgl. Kapitel 4.3) sowie in den Interviews mit den Schulabbrechern (vgl. Kapitel 6.3) zeigt sich ebenfalls ein hoher Anteil von Personen, die nach eigenen Angaben Schulformwechsel oder Klassenwiederholungen im Ersten Bildungsweg erlebt hatten.

Neben psychischen Erkrankungen werden in den Interviews somit häufig auch schulische Probleme/Leistungsprobleme als Auslöser für ei-nen Schulabbruch benannt:

„Manche scheitern natürlich auch einfach, weil sie nicht das Soll erfüllen, sozu-sagen. Dann liegt es einfach an Fähigkeiten, die nicht vorhanden sind. Und dann fallen die möglicherweise auch einfach durchs Abitur, oder durch Ab-schlussprüfung, wie auch immer, haben ihre Höchstverweildauer auf der Schule hier, weil sie eben schon zweimal verschiedene Semester wiederholt haben. Und auch das haben wir natürlich zu verzeichnen, ne, die eben auch hier leider Gottes nicht zum Ergebnis kommen, weil die Voraussetzungen einfach nicht gegeben sind, rein leistungsmäßig.“ (Beratungslehrkraft) „Also Leistungsdefizite. Also ich will mich da jetzt nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber ich kann mir auch vorstellen, dass nicht jeder kognitiv in der Lage ist dazu, diese Anforderungen der Abschlüsse trotz Fleiß und Lernens eben zu meistern. Das heißt, es kann eben auch an diesem, ja, Leistungsunvermögen liegen, dem man dann auch klar in die Augen gucken muss. Also das auf jeden Fall.“ (Verbindungslehrkraft)

Dabei werden beobachtete Leistungsdefizite mitunter durch hohe Fehl-zeiten verstärkt, eine Lehrkraft berichtet, „dass es einen Rückkopp-lungskreislauf gibt zwischen Anforderungen sind zu hoch und ich bin nicht regelmäßig im Unterricht“ (Stufenkoordination). Die hohen Anforde-rungen und schlechte Zensuren fungierten in diesem Zusammenhang als „Motivationskiller“:

„Also, ich glaube, vielleicht ein Verzweifeln ein bisschen an den Anforderungen der Schule. Also, die kommen hierher, freuen sich vielleicht über diese zweite Chance, die sie ja haben und sind am Anfang auch meistens recht motiviert, merken dann aber, dass sich da keine Erfolge einstellen. Also, z. B. glaube ich,

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dass schlechte Noten recht früh dazu führen, dass Leute irgendwie resignieren und dann in so Muster zurückfallen, die sie vielleicht früher schon in ihrem Schulbesuch hatten. Also, so ein Aufgeben und im Gegensatz zu vielleicht früheren Jahren ist das ja hier so, es gibt keine Schulpflicht mehr, es passiert halt nichts, wenn die weg sind. Dann fragt vielleicht der Lehrer noch mal und dann kommen irgendwann diese Mahnbriefe, aber für die ist das dann einfach eine Möglichkeit, wegzubleiben und das machen sie dann wahrscheinlich ein-fach.“ (Klassenlehrkraft)

Das Gefühl der Überforderung führt nach Einschätzung der Lehrkräfte bei vielen Schülerinnen und Schülern bereits kurz nach Eintritt in das Abendgymnasium oder Kolleg zu einem Schulabbruch. Den Lernenden falle es schwer, die Motivation über einen längeren Zeitraum aufrecht-zuerhalten, hinzukomme u. U. eine geringe Frustrationstoleranz und ein geringes Durchhaltevermögen.

„Also, ich glaube, einige fühlen sich schon im Vorkurs überfordert. Deshalb hat man da eine hohe Dropout-Rate.“ (Stufenkoordination) „Aber die Lehrer verlangen immer schwierigere Sachen von mir. Es ist fürchter-lich anstrengend. Und eigentlich habe ich doch jetzt auch Kopfschmerzen. Jetzt bleibe ich heute Morgen mal im Bett liegen. Das hat ja richtig Spaß gemacht im Bett liegen zu bleiben. Gut, jetzt sind wir schon bei Abbrecher-Problematik. Aber das ist die Hauptherausforderung. Wenn ich im Unterricht erlebe oder nach einer Klausur erlebe, dass ich, obwohl ich mich angestrengt habe, trotz-dem nicht so gute Leistungen gebracht habe, wie ich es mir gewünscht hätte und deswegen frustriert bin und dann irgendeine Art von körperlichem Gebre-chen gerade im Moment mal erlebe. Dann ist die Versuchung riesengroß zu Hause zu bleiben und zu sagen, ich kann jetzt gerade nicht und mich daran auch noch zu gewöhnen. Das erlebe ich als die Hauptherausforderung für die Studierenden damit fertig zu werden.“ (Stufenkoordination)

Der vorangegangene Interviewausschnitt legt den Schluss nahe, dass Erkrankungen nicht chronischer Art („gerade im Moment mal“) bisweilen vorgeschoben werden, um frustrierende Erlebnisse zu verarbeiten oder weitere derartige Erfahrungen zu vermeiden. Schulabbruch stellt vor diesem Hintergrund für die Schülerinnen und Schüler eine Möglichkeit dar, Misserfolgserfahrungen zuvorzukommen und ein erneutes Schei-tern im Bildungssystem zu umgehen. An dieser Stelle wird von einem In-terviewpartner auch erwähnt, dass die Einzelschule in diesem Kontext eine größere Unterstützung bieten könnte:

„Also wir haben, wenn es um die Dropout-Quote geht, haben wir ganz, ganz viele Abbrecher, die im ersten Semester die Segel streichen. Einfach, weil die ersten Misserfolgserfahrungen kommen, und nicht jeder so ohne Weiteres da-mit umgehen möchte, kann, wie auch immer. Und wir, glaube ich, aber auch an der Schule nicht zwingend so die Beratungs- und Unterstützungsleistung bieten können, wie wir gerne würden.“ (Vertrauenslehrkraft)

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Letztlich sei jedoch gleichfalls anzuerkennen, dass die Passung zwi-schen den Anforderungen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schü-ler auf der einen Seite und dem Lernangebot auf der anderen Seite nicht immer gegeben sei, manchmal müsse man einsehen: „diese Art des Lernens ist für diesen Menschen nicht die richtige“ (Jahrgangsstufenko-ordination).

Der Abbruch des Schulbesuchs wird von den interviewten Schulver-tretern z. T. mit Leistungsproblemen in Verbindung gebracht. Diese schulischen Leistungsprobleme werden aber von den schulischen Funk-tionsträgern in aller Regel auf außerschulische Problemlagen zurückge-führt und die Schülerinnen und Schüler werden als Personen in schwie-rigen sozialen Lebenslagen wahrgenommen. Dadurch, dass die außer-schulischen schwierigen Lebenslagen als maßgeblich verantwortlich für die fehlende schulische Leistung und die daraus resultierenden Abbrü-che gesehen werden, schätzen Schulen ihren Handlungsspielraum bei der Verhinderung von Schulabbrüchen als eingeschränkt ein, so z. B. ein Schulleitungsmitglied in der folgenden Äußerung:

„Also wir haben natürlich, wie alle Schulen des zweiten Bildungswegs das Prob-lem mit den Abbrüchen. Für die meisten Gründe können wir nichts, weil die meisten Gründe außerhalb der Schule tatsächlich liegen, in Familie, Freunde, Arbeitsumwelt, Finanzen, alles Mögliche. Aber da – wir versuchen den Schülern rechtzeitig sozusagen auf die Schliche zu kommen, wenn wir merken, dass da was nicht passiert. Die Klassenlehrer sprechen mit ihnen und versuchen her-auszubekommen, wo da die Schwierigkeiten liegen und was wir tun können, versuchen wir dann halt auch, um da irgendwie Unterstützung zu leisten.“ (Standort 2; Schulleitung, 213–219)

Diese Einschätzung, dass die eigentlichen Gründe für den Abbruch des Schulbesuchs nicht im aktuellen Schulbesuch liegen, sondern bereits „im Vorfeld so viel schiefgelaufen oder schwierig gewesen“ (s. u.) ist, wird von vielen Interviewpartnern geteilt. Die Schulseite investiert viel Engagement darauf, die Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, wenngleich ihre Möglichkeiten dabei als begrenzt eingeschätzt werden:

„Also ich weiß nicht wirklich, wie hoch unser Einfluss da dann noch ist. Also un-ser Bestreben ist es schon, möglichst alle, die sich hier angemeldet haben auch wirklich durch die Schule zu bringen und auch, dass sie wirklich hier die Schule mit einem Abschluss verlassen können, aber bei einigen, da merke ich, da ist im Vorfeld so viel schiefgelaufen oder so schwierig gewesen, dass sie es hier auch nicht wirklich schaffen, sage ich mal ganz einfach, morgens pünktlich da zu sein, die Stunden auszuhalten, auch den Lehrer auszuhalten, wenn er mir nicht gefällt. Wir können immer nur versuchen, mit ihnen darüber zu reden, Strategien zu entwickeln oder „Wie kriege ich das hin, den inneren Schweine-hund zu überwinden, doch in den Physikunterricht zu gehen, obwohl es mir nicht liegt? Aber, wenn ich dort schwänze, habe ich eben die Fehlstunden und die Gefahr ist auch wieder groß“. Es ist schon schwierig. Wir versuchen, schon im Vorfeld zu gucken: „Wie kriegen wir das hin, dass du nicht gehen musst, o-

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der dass du jetzt nicht abbrichst?“ Aber wir können es nicht wirklich verhindern.“ (Stufenkoordination)

Beratungssituationen, in denen Schülerinnen und Schüler den Gedan-ken an einen Schulabbruch äußern, stellen für die Schulseite eine Her-ausforderung dar. Die folgende Beratungslehrerin äußert eine Einschät-zung, bei der sie im Falle von schulischem Leistungsversagen, das gra-vierend ist, die Abbruchüberlegung unterstützt, während sie hingegen bei Schülerinnen und Schülern mit psychischen Problemen diese zum Überdenken des Abbruchs anregen möchte, um die zeitstrukturierenden Vorteile der Schule für diese Gruppe zu erhalten:

„Wenn mir das so direkt geäußert wird, dann muss man natürlich abwägen, wo steht der-diejenige, ist es sinnvoll oder nicht also in dem Beratungsgespräch. Wenn das aufgrund irgendwelcher psychischer Vorbelastungen ist, ist es in der Regel immer sinnvoll, die machen weiter, wenn man das so pauschal mal fas-sen kann, würde ich das eher sagen, was heißt jetzt Depressionen oder sonst was. Ich habe eine Tagesstruktur hier, ich muss hier jeden Tag aufschlagen, ich habe etwas zu tun und ich habe auch irgendwie, wenn auch einen sehr diffu-ses, aber ich habe irgendein Ziel, zumindest diesen Abschluss hinzubekommen und damit bin ich nicht so im luftleeren Raum. Von daher würde ich jetzt mal so sagen, wenn man das in Schubladen packen sollen könnte, würde ich sagen klar, weil immer eher dazu raten: „Mach weiter!“ Es gibt aber auch Situationen, wo man sagen muss, wo entweder das Leistungsvermögen vielleicht tatsächlich zu schwach ist, das muss man auch einfach sehen, aufgrund sprachlicher oder intellektueller Leistungsfähigkeit, wie auch immer. Das sind aber komischer Weise meistens nicht die Leute, die abbrechen. Es ist auch so meine Erfah-rung, es ist ganz interessant“. (Beratungslehrkraft)

Auch falsche Selbsteinschätzungen der Schülerinnen und Schüler, un-realistische Erwartungen sowie eine weitgehende Abstinenz von Ziel-vorstellungen können nach Ansicht einiger Befragungspersonen einen Schulabbruch begünstigen. Unklare Zielvorstellungen werden in diesem Kontext von den befragten Lehrkräften als nicht motivationsförderlich angesehen, sodass ein Schulabgang ohne Abschluss u. U. schneller er-folge.

„Ja, also klar, wir reden jetzt über Dropout, aber ich gehöre jetzt nicht zur Frak-tion, die sagt, Abi ist das einzig Wahre. Und man muss jetzt alles Menschen-mögliche tun, damit dieser Mensch sein Abitur schafft an unserer Schule. Das ist natürlich auch immer so eine Quoten- und Zahlenfrage, die sicherlich wichtig ist. Aber wenn man sich dann mal anguckt, was die Person – ja, also ich frage eigentlich immer recht konkret, also aus Erfahrung, die Leute, die ein konkretes Ziel haben, z. B. die Krankenschwester, dann noch eine andere, die hatte das Ziel, Pharmazie zu studieren und hatte sich auch schon informiert, hat das schon mal an der Uni hospitiert und so weiter. Die, ja, die, die ein konkretes Ziel haben, was sie dann mit diesem Abschluss machen wollen, die, habe ich das Gefühl, haben eine geringere Abbruchchance. Also die bleiben motivierter. Weil ich halt finde, die Motivation kann nicht darin liegen, sein Abi oder den FH-Abschluss zu haben. Das ist nämlich das Problem. Das Ziel muss ja dahinter-liegen. Und wenn es das nicht gibt, ist ja klar, dass dann auch ständig hinter-

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fragt wird, wofür brauche ich das Abi oder diesen FH-Abschluss?“ (Verbin-dungslehrkraft) „Ich denke eben, es gibt eben einmal so eine gewisse Planlosigkeit, mit der sich Studierende irgendwie überhaupt hierher begeben. Also ich glaube, die eigene Zielorientierung ist auch ein ganz wichtiger Faktor für das Gelingen. Das heißt, wenn ich nicht weiß, warum ich hier anfange, dann schmeiße ich auch schon mal eher die Flinte ins Korn so. Das würde ich mal als einen Faktor nehmen.“ (Beratungslehrkraft)

„Also insbesondere diese etwas komplizierter erscheinenden jungen Menschen, die mit psychischen Problemen hier vorrangig auch auffällig sind. Das ist ein Teilbereich, der deutlich zugenommen hat. Was auch zugenommen hat, ist das über tatsächlich ein, zwei Semester hinweg, es bei manchen Studierenden, das ist ungefähr ein Drittel, nicht gelingt eine Zielführung hinzubekommen. Also eine Selbstbestimmung: „Was will ich?“ und das früher, also die kamen auch ohne die Vorstellung zu uns, aber es war deutlich spürbar, dass sie einschwenken und viel schneller eingeschwenkt sind auf ein für sie auch erfolgreiches Lernen. Und wir haben z. T. sehr intelligente junge Menschen, ohne einen Abschluss oder mit schlechtem Abschlüssen, bei denen wir auf jeden Fall sagen können, wenn denn das alles auch tatsächlich bei ihnen selbst ankommt, dann wären sie auch in der Lage ganz weit in den Schulabschlüssen zu kommen, aber die scheitern an sich selbst.“ (Lehrkraft Coachingprojekt)

Die folgende Äußerung einer Lehrperson, die in der Studienberatung tä-tig ist, unterstützt diese Sichtweise eines verbreiteten Mangels an Selbstdisziplin in einem Teil der Schülerschaft.

„Sagen wir einmal ohne Selbstorganisation funktioniert das nicht. Man kann das typischerweise sehen, also Mütter sind gut organisiert, die kriegen das hier auch in aller Regel sofort eingebunden in ihr System. Bewerber, die – sagen wir einmal – irgendwann einmal aus der Schule raus sind und nicht so richtig wuss-ten, was sie machen sollten und so ein bisschen gejobbt haben, das merkt man dann auch, dass die in der Anwesenheit eben sehr unregelmäßig sind und dann auch in den Leistungen, in der Konsequenz unregelmäßiger werden. Und dann auch in der Regel dann ein größeres Problem haben das durchzuziehen. Ich würde tatsächlich sagen, eine gewisse Reife, die jetzt nichts mit Alter zu tun hat, sondern mit Erfahrungen die man im Leben gemacht hat, hilft einfach ein bisschen weiter dieses Ganze zu gestalten. […] Und diejenigen, die, sagen wir, einmal diese Form von Selbstorganisation, Disziplin ist ja so ein Begriff der bei jungen Menschen etwas verpönt ist, also in meiner Generation war das damals durchaus noch ein bisschen häufiger verwendet, ist dann doch schon hilfreich dabei.“ (Lehrkraft Studienberatung)

Auf der anderen Seite wird insbesondere das Vorhandensein intrinsi-scher Motivation als günstige Voraussetzung beschrieben, den ange-strebten Schulabschluss im Kolleg oder am Abendgymnasium zu errei-chen:

„Also ich denke ein wichtiger Faktor ist immer die intrinsische Motivation, wie für alles im Leben. Wenn die schon mal da ist, dann ist gut. Auch meine Erfahrung, also Leute, die von sich aus hierher kommen und sagen: „Ich möchte meinen Abschluss!“, die sind auch in der Regel stabiler. Bis zum Ende das durchzuhal-ten und auch eine gewisse Selbstständigkeit zu praktizieren. Ja, es ist eine ge-

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wisse Selbstständigkeit natürlich auch erforderlich, sofern das in der Schule überhaupt erforderlich ist. Also so eine gewisse Eigenverantwortlichkeit, denke ich, ist auch mit Sicherheit nicht verkehrt. […] Wobei ich aber jetzt nicht, das ist mir noch wichtig, sagen würde, wer diese Bedingungen nicht mitbringt, der kann hier keinen Schulabschluss schaffen. Ich würde das nicht als ausschließende Kriterien nehmen, sondern ich denke, es ist einfach leichter, wenn ich das ha-be.“ (Beratungslehrkraft)

Darüber hinaus werden auch finanzielle Schwierigkeiten, Verpflichtun-gen oder Erwägungen von den befragten Lehrkräften als Auslöser für einen Schulabbruch benannt. Ein Teil der Schülerinnen und Schüler sei verschuldet und müsse u. U. zunächst versuchen, möglichst hohe Ein-künfte zu erzielen. Finanzielle Probleme treten dabei nach Einschätzung der Interviewpartner häufig auch dann auf, wenn sich die Lebensum-stände verändern und beispielsweise Beziehungen zerbrechen. Der Zwang zur parallelen Erwerbsarbeit, dem sich viele Schülerinnen und Schüler ausgesetzt sehen, kann somit Zeitfenster für den Schulbesuch und das Lernen verringern und in der Folge – ggf. bereits bestehende – Leistungsschwächen verstärken. Da die Förderung nach dem Bundes-ausbildungsförderungsgesetz möglicherweise nicht ausreichend ist, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, verursacht der Schulbesuch auch Opportunitätskosten, weil in dieser Zeit die Möglichkeit zur Erwerbsar-beit entfällt. Die befragten Lehrkräfte berichten ebenfalls, dass es den Schülerinnen und Schülern teilweise schwerfalle, finanzielle Einschrän-kungen hinzunehmen bzw. ihre finanziellen und sozialen Ansprüche in Einklang zu bringen:

„Das andere ist wirklich diese Vereinbarkeit von finanziellen und sozialen An-sprüchen, die an einen gestellt werden oder die man an sich selber stellt. Und dann ist das hier nicht so viel mit dem BAföG und dann mit dem nebenher ar-beiten und dann wird es auch schulisch möglicherweise eng.“ (Jahrgangsstu-fenkoordination) „Oder aber, dass sie einen Lebenswandel gewohnt sind, haben ein Auto, haben eine eigene Wohnung und, ja, trinken abends dann noch mal ein Bier, rauchen vielleicht auch noch und kaufen Zigaretten. Dann ist das BAföG ganz schnell weg. Und d. h. einige arbeiten halt parallel. Oder viele arbeiten parallel, aber ei-nige zu viel. Müssen zu viel arbeiten. Das ist auch ein Grund des Abbrechens.“ (Klassenlehrkraft)

Weitere Gründe für einen Schulabbruch werden in familiären Problemla-gen und einem Wandel von Lebenssituationen gesehen. So komme es beispielsweise vor, dass Schüler und insbesondere Schülerinnen durch eine Scheidung alleinerziehend seien und somit Präsenzzeiten an der Schule zu einer Herausforderung werden. Elternschaft und Schwierig-keiten, die Betreuung der Kinder zu organisieren, seien vor allem beim Abendgymnasium am Vormittag Anlässe für die Unterbrechung oder

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den Abbruch des Schulbesuchs. Darüber hinaus scheint – insbesondere bei Schülerinnen und Schülern im Zweiten Bildungsweg – die Unterstüt-zung durch das familiäre Umfeld nicht immer gegeben zu sein; dies illus-triert der folgende Auszug aus dem Interviewtranskript:

„Bei meinen Studierenden ganz klar auch dieses entweder macht der Ehe-mann, wenn es den noch gibt, Druck. Habe ich häufiger schon gehabt, dass der am Anfang gesagt hat: ‘Ist doch toll!’ Aber dann ganz viele Beziehungen gehen hier auch im Laufe der Zeit in die Brüche. Gibt es keine statistischen Untersu-chungen zu, aber das spielt bestimmt eine Rolle. Ich frage mich, vielleicht war das auch überhaupt der Grund, warum sie sich hier angemeldet haben. So, ers-ter Schritt in die Befreiung, aber das ist häufig auch belastend. Ich hatte auch schon mehrere Studierende, die abgebrochen dann haben, die haben gesagt, ich kann das nicht weitermachen, entweder meine Ehe oder die Schule, wenn ich das hier weitermache, ist meine Ehe dahin. Das läuft häufig auch subtil, dass dann irgendwie so subtile Vorwürfe kommen, du vernachlässigst die Kin-der und so was und die Frauen dann so in Gewissenskonflikte kommen. Also, die brauchen unbedingt auch ein soziales Umfeld, die das fördern. Oder ich ha-be eine Studierende, der ging es ganz top, die hat das ihrer Familie noch gar nicht gesagt, obwohl die top ist, aber weil die Angst hat vor der Reaktion der Familie. Die geht heimlich zur Schule. Also, man braucht ein Umfeld, die das stützen und die das auch gut finden. Oder ansonsten geben sie es halt häufig auf, weil sie sonst auch nicht wissen, wie sie sich sonst irgendwie ernähren soll-ten. Manche ziehen das wirklich durch, die trennen sich dann. Und stürzen dann häufig auch sozial ab, aber beißen sich dann durch, weil sie sagen: ,Das ist jetzt mein Ding, das ist das Erste, was ich für mich mache und das gebe ich jetzt nicht auf!’ Gibt es auch ein paar. Ja, also das ist so ein Punkt.“ (Stufenko-ordination)

Der Gesprächsausschnitt verweist ebenfalls auf finanzielle Abhängigkei-ten, die Ängste vor einem sozialen Abstieg schüren können. Berichtet wird in den Interviews auch von Gewalterfahrungen in den Familien, die eine psychische Belastung darstellen und den Schulbesuch erschweren können. Zwei Befragungspersonen berichten zudem von Fällen, in de-nen anzutretende Gefängnisstrafen zu einem Abbruch oder zumindest einer Unterbrechung der Teilnahme geführt hätten.

Schulabbrüche erfolgen nach Einschätzung der Lehrkräfte auch auf-grund von beruflichen Umorientierungen und neuen beruflichen Optio-nen der Schülerinnen und Schüler. Die Schule werde u. U. ohne Ab-schluss verlassen, da eine Ausbildungsstelle oder eine (andere) Arbeit gefunden wurde.

„Oder bei wirklich schwachen Leuten, das die dann irgendwann was Anderes suchen. Also, jetzt letzte Woche hat sich eine abgemeldet, die hat gesagt, ich mache jetzt eine Ausbildung als Krankenschwester. Und dann muss man auch sagen, das ist wahrscheinlich auch besser so.“ (Stufenkoordination) „Also die Abbrecher, die auch tatsächlich nicht wiederkommen, haben dann teilweise aber auch Ausbildungsstellen bekommen. Das ist ja auch mal was Positives. Die brechen ja nicht immer nur ab, weil es ganz schlimm ist.“ (Bera-tungslehrkraft)

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Der Besuch eines Abendgymnasiums oder Kollegs kann vor diesem Hintergrund auch eine Option darstellen, Wartezeiten – zumeist auf ei-nen Ausbildungsplatz – zu überbrücken und Förderung nach dem Bun-desausbildungsförderungsgesetz zu erhalten. Die Schule werde somit „einfach genutzt, um einfach ein paar Monate finanziell über die Runden zu kommen“ (Vertrauenslehrkraft).

Die Situation, dass ein Schulbesuch vorzeitig ohne Abschluss beendet wird, wird von der Schulseite auch als eine legitime Entscheidung Er-wachsener gedeutet. Die schulischen Experten gehen davon aus, dass Absprachen mit außerschulischen Bezugspersonen stattgefunden ha-ben und die Entscheidung zum Abbruch grundsätzlich zu respektieren ist. Die Mehrfachbelastung, die für die Schülerinnen und Schüler mit dem Schulbesuch einhergeht, wird als beachtlich eingeschätzt und ins-besondere die parallele Berufstätigkeit als herausfordernd wahrgenom-men. Der Vertreter einer Studienberatung beschreibt dies so:

„Grundsätzlich würde ich niemanden in seinem Entscheidungsprozess infrage stellen wollen, so nach dem Motto bleibt aber, etc. finde ich falsch. Es hat vor-her in der Regel immer Gespräche gegeben, die das Für und Wider ausgelotet haben. Das muss jetzt nicht mit mir gewesen sein das kann auch mit anderen in der Klasse, mit den Lehrenden etc. gewesen sein oder auch natürlich wahr-scheinlich im privaten Kreis. Also das ist erst einmal zu respektieren. […] Aber man muss schlichtweg einfach auch wahrnehmen, dass die Berufswelt kompli-zierter geworden ist. […] Alle sagen, ich muss auch darauf achten, ich darf mei-nen Job nicht verlieren. […] Wir sehen ja auch, was die arbeiten, die Bewerber und die Bewerberinnen, zu welchen Bedingungen, und auch schon härter ge-worden. Und da stecken häufig die Gründe. Und da kann man auch nicht so ohne weiteres gegen an argumentieren und irgendwie zu sagen, okay versucht das trotzdem mal durchzusetzen. Denn das ist ja auch für viele erst einmal grundsätzlich der Lebensunterhalt.“ (Lehrkraft Studienberatung)

Neben dem „legitimen“ Abbruch aus beruflichen Gründen, gibt es von Seiten der Schulen auch legitime Abbrüche aus außerschulischen Gründen wie beispielsweise Krankheit eines nahen Angehörigen, so dass der Abbruch des Schulbesuchs nicht als „Fehler“ gewertet wird:

„Nicht jeder Abbruch muss auch ein Fehler sein – aus meiner Sicht. Sondern es kann wirklich sein, dass ein Abbruch in einer gewissen Situation – Alleinstehen-de Mutter mit drei Kindern, Eltern liegen im Sterben. Das sind jetzt keine Fanta-siefälle, das stimmt wirklich, mit Schulden und mit einer Drogenvergangenheit. Kann es der richtige Punkt sein, dass man sagt: ‚Okay, im Moment scheint das Leben einfach gar nicht genug Kraft zu haben, dass dieser Weg hier fortgesetzt werden kann.‘ Und dann kann es gut sein, abzubrechen.“ (Schulseelsorge)

Auch wenn im Kontext der Interviewstudie von den Lehrkräften wahrge-nommene Gründe für einen Schulabbruch herausgearbeitet werden

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konnten, erscheint jedoch die trennscharfe Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Bedingungsfaktoren schwierig. Nach Ansicht einiger Befragungspersonen besteht bei vielen Schülerinnen und Schülern ein Zusammenwirken unterschiedlicher Problemlagen, die sich bedingen und verstärken, wie der folgende Gesprächsausschnitt illustriert:

„Ja und vielleicht eben aber auch, also es ist halt schon Abi. Also es sind auch viele einfach kognitiv überfordert, […] das auch. Gut, wobei man wieder fragen kann, was ist die Ursache dafür. Ist es, weil sie keine Zeit haben, weil sie kein Geld haben, und da sie ja keine Zeit haben, weil sie psychische Probleme ha-ben, vielleicht, weil sie kein Geld haben, weil sie keine Zeit haben dann wieder, also das bedingt sich ja alles.“ (Stufenkoordination)

Unterschiedliche Anforderungen und Problemlagen können letztlich da-zu führen, dass den Schülerinnen und Schülern „die ganze Situation, schulisch, außerschulisch, über den Kopf zu wachsen scheint“ (Vertrau-enslehrkraft).

Nehmen die befragten Lehrkräfte die Gefahr eines bevorstehenden Schulabbruchs wahr, suchen nach eigenen Angaben fast alle das per-sönliche Gespräch mit der jeweiligen Person. Die Befragten möchten damit zeigen, „Hallo, wir haben da was gemerkt, du bist uns wichtig“ (Stufenkoordination). Indem signalisiert wird, die Schülerinnen und Schüler sowie ihre Probleme ernst zu nehmen, soll die Bindung an die Schule gesteigert und Dropout verhindert werden. Bleiben die Schüle-rinnen und Schüler vom Unterricht fern, erfolgt dabei teilweise auch der Versuch einer telefonischen Kontaktaufnahme, der in der Regel zu-nächst einem offiziellen Mahnverfahren vorgezogen wird. Insbesondere Klassenlehrkräfte berichten jedoch von einer Handlungsunsicherheit, wenn Kollegiaten in ihren Augen plötzlich und ohne erkennbare Anzei-chen in der Schule fehlen:

„Ich habe da jetzt z. B. in meiner Klasse so einen, der die ganze Zeit da war und jetzt seit zwei Wochen gar nicht mehr kommt. Und unsere erste Mahnstufe beinhaltet z. B. dass der sich jetzt bei mir melden muss. Das hat er nicht getan. Da weiß ich nicht, was ich dann tun soll in so einer Situation. Der ist einfach weg und man keinen Kontakt mehr zu ihm, meldet sich nicht und das ist schwierig irgendwie. Da kann man dann gar keine Maßnahme ergreifen gegen dieses Ausscheiden, weil der einfach weg ist.“ (Klassenlehrkraft)

Doch auch wenn der Kontakt zu den von Abbruch bedrohten Schülerin-nen und Schülern hergestellt werden kann, können Fehlzeiten oder eine Beendigung des Schulbesuchs häufig nicht verhindert werden. Dabei wird deutlich, dass die Freiwilligkeit des Schulbesuchs die wahrgenom-menen Einflussmöglichkeiten der Lehrkräfte beschränkt, man müsse sich „immer nochmal als Arbeitgeber sehen in Anführungszeichen“ (Be-

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ratungslehrkraft) und ein Fernbleiben oder die von den Schülerinnen und Schülern genannten Gründe für das Fehlen akzeptieren, auch wenn man „natürlich häufiger den Verdacht [habe], da könnte noch mehr da-hinterstecken“ (ebd.). Auch eine weitere Lehrerin führt an: „Ich verlange keine Rechenschaft. Das steht mir nicht zu“ (Jahrgangsstufenkoordinati-on).

Weitere Schritte, die im Falle eines – von den Lehrkräften wahr-genommenen – drohenden Schulabbruchs benannt werden, bestehen in der Weitervermittlung bzw. Kontaktaufnahme zu Kolleginnen und Kolle-gen in beratenden Funktionen oder zu externen Partnern. An einem Standort wird darüber hinaus die Möglichkeit eines Lerncoachings be-nannt, deutlich wird dabei allerdings, dass es in Teilen des Kollegiums an Akzeptanz zu mangeln scheint und bisher erst zwei Kollegen ent-sprechend fortgebildet wurden: „[…] wir möchten das gerne umsetzen, müssen das aber auf breite Füße stellen im Kollegium, dass das akzep-tiert wird“ (Jahrgangsstufenkoordination).

Darüber hinaus sind einige Lehrkräfte nach eigenen Angaben darum bemüht, den Schülerinnen und Schülern Alternativen – auch außerhalb des Zweiten Bildungswegs – aufzuzeigen und zu erreichende Ziele „run-terzubrechen“. Häufig werde im Falle von auftretenden Problemen im außerschulischen oder schulischen Bereich den Schülerinnen und Schü-lern zunächst eine Unterbrechung des Schulbesuchs oder eine Wieder-holung nahegelegt, u. U. werde jedoch auch zum Abbruch geraten, wenn ein erfolgreiches Erreichen des Abschlusses sehr unwahrschein-lich sei und der Schulbesuch als frustrierend und belastend wahrge-nommen wird.

Die befragten Lehrkräfte wurden auch nach Möglichkeiten gefragt, wie ihrer Meinung nach Schulabbruch entgegengewirkt werden könnte. Wird die Begründung für den Schulabbruch in psychischen – oder auch physischen – Gründen gesehen, wird der Abbruch von den Befragungs-personen zumeist als nicht beinflussbar angesehen. Zudem scheinen die Schulen bisher wenig Erfolg in Bezug auf die Verringerung der Ab-bruchquoten verzeichnen zu können, da die individuelle Komponente ei-nes Schulabbruchs betont wird und es an geeigneten Konzepten zu feh-len scheint:

„Wir haben auch festgestellt in Gesprächen mit älteren Kollegen, dass das [ho-he Abbrecherquoten,] eigentlich ein Thema ist, das seit 20, 25, 30 Jahren im-mer wieder kommt, und dass man eigentlich nie so die Patentlösung findet, die gibt es nicht. Und das ist eben eigentlich das Spannende daran, aber auch gleichzeitig das Schwierige, weil es immer individuelle Gründe sind. Wenn wir jetzt sagen können, es gibt jetzt eine Gruppe, bei denen ist das so, und hätten einen konkreten zentralen Grund, könnte man dagegen angehen und könnte die Probleme beheben, aber das klappt halt einfach nicht.“ (Jahrgangsstufen-koordination)

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Einige Interviewpartner berichten von einer Überarbeitung des Bera-tungskonzepts bzw. der Ausweitung des Beratungsangebots an der Ein-zelschule als Reaktion auf ein hohes Maß an Schulabbrechern. Wie die Befragungspersonen anmerken, beinhaltet dies insbesondere ein ver-stärktes Angebot im Bereich der Lebensberatung, „die Beratung in allen Lebenslagen, die boomt“ (Jahrgangsstufenkoordination). Indem den Lernenden auch Aufmerksamkeit in Bezug auf ihre außerschulischen Problemlagen geschenkt wird, erhoffen sich die Befragungspersonen ei-ne stärkere Bindung an die jeweilige Einzelschule:

„Also, die Kollegin (anonymisiert), die hat glaube ich zehn, zwölf Beratungsge-spräche die Woche, was wirklich dazu führt, die Studierenden dann auch zu binden, indem man eben ihre Probleme erkennt, ernst nimmt und eben die Stu-dierenden dadurch annimmt und die sich dadurch auch angenommen fühlen und sich das dann zweimal überlegen, ob sie dann bleiben oder gehen. Also, das ist eben diese direkte Reaktion auf diese Dropout-Geschichte.“ (Jahr-gangsstufenkoordination)

Mehrere Aussagen betreffen Lösungsvorschläge, die auf eine größere „Willkommenskultur“ (Stufenkoordination) – ganz besonders in den ers-ten Schulhalbjahren – und eine stärkere Bindung der Schülerinnen und Schüler an ihre Schule zielen. In diesem Zusammenhang werden auch Arbeitsgruppen und außerunterrichtliche Angebote als Möglichkeit an-gesehen, die Bindung an und die Identifikation mit der Einrichtung zu vergrößern. Einige Interviewpartner sprechen sich für eine engere Be-gleitung der Schülerinnen und Schüler zu Beginn des Eintritts in das Abendgymnasium oder das Kolleg aus. Insbesondere in der Eingangs-phase könnten die Beratung und Betreuung intensiviert werden, bei-spielsweise über Coaching-Programme, die zu klareren Zielvorstellun-gen der Lernenden führen könnten:

„Und perspektivisch wäre es natürlich optimal, wenn man das noch ausweiten könnte, weil ich glaube, dass das eben etwas ist, was vielen Studierenden im Laufe der Schulzeit durchgeht, also das, wo sie eigentlich hinwollen. Weil, es sind ja nur, würde ich jetzt mal einschätzen, relativ wenige, die hierherkommen und sagen: „Ich will Medizin studieren“ oder: „Ich will weiß-ich-nicht-was ma-chen.“ Sondern da ist ja immer noch eine gewisse Planlosigkeit erst mal in den meisten Köpfen und die für sich zu sortieren und dann auch kleine Ziele für sich klarzukriegen und so weiter, würde, glaube ich, auch schon eine irrsinnige Stüt-ze sein, um auch diese Abbrüche zu reduzieren.“ (Beratungslehrkraft) Zudem könne eine frühzeitige Information über die schulischen Anforde-rungen dazu beitragen, falsche Erwartungen der Einsteiger zu korrigie-ren und realistischere Perspektiven zu entwickeln. Die Schülerinnen und Schüler könnten hierdurch ebenfalls zu einer Reflexion über ihre eige-nen Problemlagen angestoßen werden; die in diesem Zusammenhang ebenfalls erhoffte zeitige Suche nach Lösungsmöglichkeiten für Heraus-

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forderungen im schulischen und außerschulischen Bereich wird im fol-genden Auszug aus einem Transkript expliziert:

„Der Punkt, den ich am ehesten zumindest noch in Diskussionen unterstütze, auch wenn ich mich dafür nicht aktiv engagiere, ist potentielle Bewerber mög-lichst deutlich darüber zu informieren, was sie erwartet. Da haben wir letztens auch eine Initiative gestartet […]. Ich glaube, die veranstalten eine Doppelstun-de im Vorkurs, wo dann ein Film gezeigt wird, die Probleme, die später auf die Leute zukommen werden, wenn plötzlich das Geld knapp wird, das versucht zu veranschaulichen. Und versucht also Illusion und Selbstbezug rechtzeitig aus dem Weg zu räumen, bevor die Leute erst Jahre hier vergeudet haben. Das ist ein Ansatz, der glaube ich gelegentlich Studierenden sehr deutlich helfen kann. Entweder, weil sie sich dann gar nicht hier anmelden oder schnell abmelden oder weil sie sich rechtzeitig mit den Problemen auseinandersetzen und Lösun-gen finden.“ (Stufenkoordination)

Darüber hinaus könnte nach Angabe der Befragten auch die Einstufun-gen von Schülerinnen und Schüler geprüft und das Angebot an Vorkur-sen vergrößert werden, um zu einer größeren Passung zwischen Leis-tungsniveau und Leistungsanspruch zu gelangen und Misserfolgserleb-nisse zu verringern bzw. zu vermeiden. In diesem Kontext wird die Durchlässigkeit zwischen Bildungsgängen ebenfalls als Möglichkeit ge-sehen, einem Abbruch entgegenzuwirken, dessen Gefahr sich im Zuge von sich verändernden persönlichen Lebensumständen vergrößert:

„Was ich ganz, ganz wichtig finde ist die Durchlässigkeit der Systeme. Dass in dem Moment wo sich eben Lebenssituationen verändern, man nicht die Schul-laufbahn aufgeben muss, sondern dann z. B. sagen kann, okay ich bin jetzt Familienmann, Familienfrau, und ich schaffe das so nicht mehr, aber ich kann mir vorstellen, ich geh jetzt zum Abitur-Online. Oder jemand, der im Abendgym-nasium am Vormittag war, aber merkt, nein, ich kann eigentlich doch mit mehr Fächern, und meine Zeit erlaubt es auch, kann zum Kolleg gehen. Also das ist schon finde ich ein Riesenvorteil, den man dadurch hat.“ (Koordination Ein-gangsphase)

Hinweise auf pädagogische Praxis und Schulentwicklung Auch wenn im Rahmen der Interviewstudie der Schulabbruch im Fokus stand, lassen Aussagen der Gesprächspartner auf die pädagogische Praxis der Befragungspersonen sowie auf die Schul- und Unterrichts-entwicklung in den entsprechenden Einzelschulen schließen. Ebenso eröffnet sich eine Vergleichsperspektive, indem die Transkripte Hinweise auf Unterscheidungsmerkmale zwischen allgemeinbilden Schulen und Abendgymnasien und Kollegs aus der Sicht der Lehrkräfte liefern.

Das Schul- und Klassenklima wird gemeinhin von den Befragungs-personen sehr positiv wahrgenommen. Die Freiwilligkeit des Schulbe-suchs unterscheidet den Zweiten Bildungsweg grundsätzlich vom durch Schulpflicht geprägten Ersten Bildungsweg. Durch die erwachsene, vor-

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wiegend volljährige Schülerklientel an Abendgymnasien und Kollegs werden auch die Rollenverständnisse und Rollenkonstellationen beein-flusst. Bedingt durch den Wegfall der Elternarbeit sei der Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern „wesentlich näher, bestimmt teilweise auch etwas intensiver“ (Beratungslehrkraft) als im Ersten Bildungsweg. Bei der Auswertung der Interviews wird an vielen Stellen die große Einsatz-bereitschaft und Unterstützung der Schülerinnen und Schüler durch die Lehrkräfte benannt. Die schulischen Akteure seien sehr an jedem ein-zelnen Schüler und jeder einzelnen Schülerin interessiert und würden „um jede Seele kämpfen“ (Stufenkoordination).

„Sie [die Lehrkräfte an der Schule] sind insgesamt mit wenigen Ausnahmen auch eher engagierter, wenn es darum geht, schwache Studierende zu fördern. Das gibt es natürlich im Ersten Bildungsweg auch sehr häufig, aber nicht so einheitlich wie hier. Das heißt noch lange nicht, dass wir uns in der Hinsicht immer alle einig wären. Aber es ist gerade ein Feld mit Potenzial für viele Kon-flikte, was denn Förderung im Einzelnen heißt, aber die grundsätzliche Bereit-schaft ist hier stärker ausgeprägt als ich sie vom Ersten Bildungsweg flächen-deckend kenne.“ (Stufenkoordination)

Wie bereits dargestellt wurde, ist das Schüler-Lehrer-Verhältnis dabei auch durch Rollenkonflikte – Intrarollenkonflikte und Interrollenkonflikte, die durch die Doppelfunktionen der Lehrkräfte entstehen – sowie eine Antinomie von Nähe und Distanz gekennzeichnet.

„Ja, es ist natürlich auch so, ich kann das auch verstehen, es ist eine andere Perspektive, die ich in diesen Beratungskontexten habe, als die, die ich bei ei-ner unterrichtenden Funktion habe. Und das muss man für sich trennen kön-nen.“ (Beratungslehrkraft)

Das Ermöglichen des Nachholens von Bildung und Bildungsabschlüssen und das damit verbundene Eröffnen von Chancen stellen für die über-wiegende Mehrheit der Interviewpartner zentrale Motive für eine Tätig-keit an Abendgymnasien oder Kollegs dar; der Zweite Bildungsweg sei dadurch gekennzeichnet, dass er „Offenheit signalisiert bis ins hohe Al-ter“ (Verbindungslehrkraft).

Die Arbeit im Ersten Bildungsweg wird in einigen Interviews als reg-lementierter oder regelorientierter beschrieben als die Arbeit im Zweiten Bildungsweg. Die besondere Schülerklientel erfordere dabei das Aus-nutzen von Handlungsspielräumen:

„[…] viele kommen ja doch direkt vom Referendariat, ohne irgendwie vielleicht mal in eine andere Richtung geguckt zu haben, was eben unsere Studierenden haben. Und da merkt man, dass die manchmal noch so eine Weile brauchen, um mit ja doch mit der anderen Klientel, sprich, mit der anderen Schülerschaft umzugehen und auch vielleicht manchmal einiges nicht so […] naja, streng ist vielleicht das falsche Wort, aber nicht so, ja, einfach anders zu sehen, nennen

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wir es mal so, einfach anders zu sehen, als wenn man mit […] Erwachsenen, als mit jungen Schülern umgeht, gerade weil das ist ja eine ganz andere Klien-tel, und die Problematiken sind halt extrem anders. […] Und […] da muss man schon mal vielleicht ein Auge zudrücken, […] kann eben auch nicht […] immer alles rein nach Gesetz ablaufen lassen. Und das […] ist das Gute, es gibt einige Kollegen hier, ich bin allerdings manchmal auch so, dass ich trotzdem eigentlich schon vielleicht gesetzeskonformer bin als manche anderen hier, mich das auch stört, aber auf der anderen Seite auch sehe, wenn ich wirklich mit den Studierenden spreche, man kann sie nicht immer so behandeln wie Schüler, definitiv nicht.“ (Stufenkoordination)

Der Interviewausschnitt impliziert, dass an Abendgymnasien und Kollegs Regeln eine geringere Bedeutung für die pädagogische Arbeit zuge-sprochen wird als für die Arbeit im Ersten Bildungsweg. Darüber hinaus erscheint es gängige Praxis zu sein, dass neue Lehrkräfte sich an den bestehenden Praktiken orientieren und einsozialisiert werden; eine Hin-terfragung der Zweckmäßigkeit bzw. Zielführung der Geringschätzung formaler Regeln findet somit nicht statt. Deutlich wird zudem auch, dass die wahrgenommenen Handlungsspielräume ebenfalls zu Unsicherheit im Kollegium führen können, wie eine Lehrkraft anführt, fehle es „häufig an Klarheit bezüglich der eigenen Handlungsfähigkeit“ (Beratungslehr-kraft).

Im Großteil der Lehrkräfteinterviews wird auf Kernlehrpläne und die Einführung des Zentralabiturs verwiesen, die gemeinhin kritisch gesehen werden. Nach Einschätzung einer Lehrkraft kann bedingt durch das Zentralabitur eine in der schulpädagogischen Literatur ebenfalls be-schriebene Engführung der Unterrichtthemen (narrowing the curriculum) beobachtet werden:

„Seitdem es das Zentralabitur gibt, fehlt mir ein ganz wesentlicher Bestandteil. Nämlich, dass Studierende an der Auswahl von Unterrichtsthemen beteiligt werden können. Das ist sehr stark zurückgegangen. Ist natürlich auch nur in manchen Fächern möglich gewesen. Aber z. B. im Fach Deutsch, finde ich, ist das schon eine gewisse Verarmung, die eingetreten ist.“ (Koordination Ein-gangsphase)

„Die Frage vielleicht noch, das frage ich mich häufig so, inwieweit diese neuen Curricula wirklich so förderlich dafür sind, dass die Leute auch hierbleiben und das erfolgreich schaffen. Da habe ich so meine Zweifel und da ist man auch selber in so einer Jonglierrolle, dass man natürlich die auch von ihrem Stand so begleiten will und muss, aber andererseits auch weiß, wo man sie hinkriegen soll, das finde ich zunehmend schwierig, diesen Jonglierakt hinzukriegen. Und da werden wir im Zweiten Bildungsweg ja absolut mit diesem Ersten Bildungs-weg gleichgesetzt, obwohl wir da eine vollkommen andere Klientel haben. Also, ich habe z. B. Englisch, wenn ich da in der Einführungsphase jemanden habe, der irgendwie noch nie Englisch hatte oder mal vor 15 Jahren in der Hauptschu-le und ich soll den in einem Jahr soweit hinkriegen, dass der dann Englisch-grundkurs machen kann, das ist nahezu unmöglich und soll auch schon in der Einführungsphase irgendwelche große Texte über wilde Themen schreiben, das ist kaum zu machen. Und das ist für viele natürlich auch dann, ja, das trägt dann auch dazu bei, dass es viele dann auch aufgeben.“ (Stufenkoordination)

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Der vorangegangene Interviewausschnitt verweist auf die Wahrneh-mung von Intrarollenkonflikten, die sich in einem „Jonglierakt“ zwischen einem adaptiven, dem Lernstand angepassten Unterricht und der Errei-chung von Bildungsstandards manifestieren. Wie die Lehrkraft im fol-genden Gesprächsausschnitt konstatiert, erfordere die besondere Schü-lerklientel an Abendgymnasien und Kollegs zudem eine andere pädago-gische Praxis als im Ersten Bildungsweg üblich:

„Also wir sind eine Schule. Oder der Zweite Bildungsweg ist ja einfach auch der Bildungsweg, der Bildungsweg der zweiten Chance, und dementsprechend zeichnen sich unsere Studierenden dadurch aus, dass sie in der Regel gebro-chene Bildungsbiographien haben und dadurch natürlich auch ggf. mit Schul-ängsten hierherkommen. Mit schlechten Erfahrungen, im Allgemeinen, im Hin-blick auf ihre bisherigen Schulerfahrungen. Und ich glaube, das ist das, was unsere Schule sehr besonders macht. Und ich glaube, daraus resultiert eine Notwendigkeit, dass wir Lehrer im Zweiten Bildungsweg auch auf eine bestimm-te Art und Weise damit umgehen müssen und dementsprechend auch, glaube ich, einige Dinge ein bisschen anders beurteilen, als das vielleicht die Kollegen aus den weiterführenden Schulen, aus einem ganz normalen gutbürgerlichen Gymnasium oder so machen würden.“ (Vertrauenslehrkraft) Vor dem Hintergrund sinkender Anmeldezahlen und einem hohen Maße an Dropout erfahren die Abendgymnasien und Kollegs einen Verände-rungs- und Innovationsdruck. Ein Lehrer verweist in diesem Zusammen-hang auf eine u. U. anzustrebende größere Öffnung der Schulen des zweiten Bildungsweges für weitere Personengruppen; WBKs könnten seiner Einschätzung nach so stärker zu Orten lebenslangen Lernens werden, die nicht mehr ausschließlich auf die Vergabe von schulischen Abschlüssen und Zugangsberechtigungen zielten. In Bezug auf die Schul- und Unterrichtsentwicklung offenbart die Interviewstudie wenige Anhaltspunkte dafür, wie einer veränderten Schülerklientel und hohen Dropout-Quoten begegnet wird. Nach Angabe der Befragungspersonen konzentrieren sich die Bemühungen überwiegend auf einen Ausbau des Beratungsangebotes an der Schule, wobei insbesondere eine stärkere Unterstützung durch Sozialarbeiter oder Sozialpädagogen angestrebt wird. Gefragt nach Wünschen für die Entwicklung der Organisation zeigt sich ein Fokus auf die Sicherung des Standorts und die Aufrechterhal-tung des Fächerangebots. An einem Schulstandort wird von einer not-wendigen umfassenderen Neuausrichtung berichtet:

„Wir versuchen uns ja momentan recht stark neu aufzustellen. Das liegt sicher-lich daran, dass wir eine neue Spitze haben. Aber eben auch, dass es ja auch an der Zeit ist. Wie ich finde. Es ist recht überfällig und ich glaube, diese Schul-systeme verändern und entwickeln sich doch irgendwie, also sind irgendwie der Zeit hinterher. Habe ich das Gefühl. Und das meinte ich auch in Bezug auf die Didaktik. Und dass jetzt was gemacht wird, was getan, was passiert, dass sich z. B. Schulen des Zweiten Bildungswegs viel stärker ein Profil geben müssten also, und das ja auch können. Das ist ja auch gar nicht so eine ausgefuchste

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Idee. Also das könnte man ja auch irgendwie schon vorher draufkommen.“ (Verbindungslehrkraft)

Der Gesprächsausschnitt verweist auf die „Trägheit“ von Systemen und die Notwendigkeit einer Schulprofilierung. Deutlich wird dabei auch die besondere Bedeutung, die der Schulleitung in Bezug auf Schulentwick-lungsprozesse zukommt („Das liegt sicherlich daran, dass wir eine neue Spitze haben“).

In den Interviews deutet sich an, dass Kenntnisse für die Gestaltung eines lernförderlichen Unterrichts mit erwachsenen Lernern und einer heterogenen Schülerschaft fehlen könnten. Dies illustriert der folgende Ausschnitt aus dem Gespräch mit einer jungen Lehrkraft:

„Was aber ein Problem ist oder was ich so ein bisschen defizitär wahrnehme, ist eben das didaktische Know-how. Weil ich dachte ja auch, als ich hier hinkam ‚oh Gott, jetzt muss ich mich vollkommen umstellen‘. Also ich war ganz nervös, aufgeregt, wie ich jetzt meinen Unterricht gestalten sollte. Denn ich hatte ja jetzt keine Erfahrung mit Erwachsenenbildung und wurde dann, was heißt ernüch-tert. Also einerseits erleichtert, es ist das Gleiche in Grün, mit erwachsenen Menschen, aber das hat auch jetzt nach so einer Zeit zu einer großen Ernüchte-rung für mich beigetragen, weil es ist eben nicht das Gleiche in Grün. Aber alle Lehrkräfte, die hier sind, oder fast alle, ich sage mal bestimmt achtundneunzig Prozent, mal so ins Blaue gesprochen, haben ja das Regelsystem durchlaufen. Haben, genau wie ich wahrscheinlich, an der Uni nicht vom WBK gehört und ir-gendwie habe ich das Gefühl, es gibt keine gute Didaktik. Und das sehe ich manchmal doch als Problem an. Und dann gibt es ganz viele, die da – also ich reflektiere das ja auch. Also ich versuche auch Dinge anzupassen. Ja, aber da bin ich auch noch nicht so richtig weitergekommen. Und das nehme ich auch wahr im Kollegium, dass das irgendwie problematisch ist fürs Unterrichten an dieser Schulform.“ (Verbindungslehrkraft)

Der Interviewausschnitt offenbart somit auch Implikationen für eine auf den Zweiten Bildungsweg zielende Lehrerbildung, in der bereits in stär-kerem Maße Kenntnisse für das Unterrichten der spezifischen Schüler-klientel vermittelt werden könnten. Wie der weitere Verlauf des Inter-views verdeutlicht, herrscht eine große Unwissenheit in Bezug auf die Arbeit an Abendschulen und Weiterbildungskollegs:

„Ich war ja vorher im Referendariat an einem Gymnasium und kenne den Zwei-ten Bildungsweg auch selber nicht. Er ist mir auch während des Studiums … obwohl, das hat nichts mit der Frage zu tun. Aber vielleicht kommen wir da noch drauf. Ich finde das einfach nur so interessant. Ich bin jetzt ja Lehrerin seit drei Jahren an der Schule und während des kompletten Studiums zur Sek II-Lehrkraft habe ich Null mal von einem Weiterbildungskolleg gehört. Das erste Mal wirklich ist mir diese Schulform untergekommen während des Referendari-ats. Als ich hörte, dass eben auch ein paar Mitreferendare nicht an einer Ge-samtschule untergekommen sind und an einem Gymnasium, sondern auch an einem Weiterbildungskolleg, woraus sich dann zum ersten Mal die Frage für mich ergab „Mensch, was ist das?“ Also so ist es ja irgendwie auch.“ (Verbin-dungslehrkraft)

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Folgend werden die Ergebnisse der Interviewstudie mit Abbrecherinnen und Abbrechern dieser Einschätzung durch die Lehrkräfte gegenüber-gestellt.

6.3 Schulabbruch aus der Perspektive der Abbrecherinnen und Abbrecher

Im Folgenden werden die Ergebnisse der Interviewstudie mit Schülerin-nen und Schülern, die ein Abendgymnasium oder ein Kolleg ohne einen Abschluss vorzeitig verlassen haben, vorgestellt. Bei den Interviews handelt es sich um leitfadengestützte Interviews.

Im Rahmen der Durchführung dieser Teilstudie stellte sich, durchaus erwartungsgemäß, die Gewinnung von Interviewpartnern als große Her-ausforderung dar. Es wurde ein Maßnahmenset umgesetzt, in dem die Schulen entsprechende Personen vor Ort angesprochen und aufgefor-dert haben, sich mit dem Forschungsteam in Verbindung zu setzen. Zu-gleich erhielten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Incentive für die Teilnahme und es wurden ihnen, wenn dies gewünscht wurde, die Möglichkeit offeriert, das Interview – aufgrund der größeren Anonymi-tät – telefonisch durchzuführen.

Das Sample (vgl. Tabelle 4) der interviewten Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher lässt sich wie folgt beschreiben: Das Alter der Inter-viewten liegt zwischen 19 und 45 Jahren und es sind 11 Frauen und 5 Männer befragt worden. Es handelt sich um ehemalige Schülerinnen oder Schüler unterschiedlicher Schulstandorte. Der Bildungsgang „Kol-leg“, der unter den Schulen im Untersuchungssample überrepräsentiert ist, stellt auch hier den hauptsächlich besuchten Bildungsgang dar.

Die befragten Schülerinnen und Schüler haben lediglich in Ausnah-mefällen vor der Beendigung der Schullaufbahn an einem Kolleg oder einem Abendgymnasium länger als zwei Schulhalbjahre die Schule be-sucht. Es wurden insgesamt 16 Personen interviewt, 12 der Interviews sind in die Auswertung eingeflossen. Vier Interviews sind in die Auswer-tung nicht eingeflossen, weil sich im Laufe der Interviewdurchführung herausgestellt hat, dass die Personen keinen Schulabbruch erlebt ha-ben. Sie haben z. B. bereits vor Aufnahme des Schulbesuchs ihre An-meldung zurückgezogen oder den Schulbesuch lediglich unterbrochen (Beurlaubung).

Die Interviews wurden vollständig wörtlich transkribiert und mit MAXQDA ausgewertet. Die Auswertung erfolgte angelehnt an die quali-tative Inhaltsanalyse nach Mayring im Sinne der Vorgehensweise einer inhaltlichen Strukturierung (Mayring 2008, S. 82 ff.).

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Bildungs- und Lebenswege der Abbrecherinnen und Abbrecher vor Wiederaufnahme des Schulbesuchs an einem Abendgymnasium oder Kolleg Die befragten Schülerinnen und Schüler haben sich vor der Wiederauf-nahme ihrer Schullaufbahn an einem Abendgymnasium oder einem Kol-leg in unterschiedliche Lebens- bzw. Bildungssituationen befunden. Die-ser Umstand ist kein Alleinstellungsmerkmal dieser Gruppe, sondern im Gegenteil typisch für die Schülerschaft an Abendgymnasien und Kollegs insgesamt.

Ein Teil der Befragten hat sich direkt aus oder in unmittelbarer zeitli-cher Folge einer schulischen oder beruflichen Ausbildung auf den Bil-dungsweg an einem Kolleg oder einem Abendgymnasium begeben, an-dere waren zuvor regulär berufstätig oder haben ihre Berufstätigkeit we-gen Elternschaft unterbrochen. Nicht gradlinige Bildungsbiografien sind charakteristisch für das Sample.

Sabrina z. B. hat ihren Hauptschulabschluss im Ersten Bildungsweg erworben, den Realschulabschluss anschließend an einer Weiterbil-dungsakademie. Ohne eine Ausbildung anzuschließen, hat sie daran anschließend unterschiedliche (ungelernte) Erwerbstätigkeiten ausge-übt, die sie mit „alles was man ohne Ausbildung machen kann“ um-schreibt. Gemeint sind hier also Tätigkeiten, die ein geringes Qualifikati-onsniveau voraussetzen. Der Besuch des Kollegs hat sich also an eine unqualifizierte Erwerbstätigkeit angeschlossen:

„Ich bin in [Anonymisierung Ort] groß geworden und habe dort die Schule ge-macht. Erst Grundschule, dann erstmal den Hauptschulabschluss, also auf der Gesamtschule, den Hauptschulabschluss abgeschlossen und danach bin ich auf eine Weiterbildungsakademie auch gegangen, um meinen mittleren Schul-abschluss abzuschließen und danach war ich eigentlich nur arbeiten, also, weil ich hatte nebenbei eine Band in [Anonymisierung Ort] und das war so unser Traum und die wollten uns darauf konzentrieren und habe immer gearbeitet, um mein Brot so dazuzuverdienen. Ich habe alles gemacht, war Kellnerin, ich war mal beim Call-Center, alles was man machen kann ohne Ausbildung. Und Ver-käuferin, also all sowas.“ (Sabrina)

Anhand der Bildungsbiografie von Vanessa, welche im Ersten Bildungs-weg zwar an einem beruflichen Gymnasium bereits das Fachabitur er-worben hat, aber später ihren Schulbesuch an einem Kolleg, an dem sie das Vollabitur erwerben wollte, abgebrochen hat, kann man ergänzend exemplarisch darstellen, wie wenig gradlinig viele Bildungsbiografien der späteren Abbrecher an Kollegs und Abendgymnasien verlaufen sind: Vanessas Bildungsweg ist durch Umzüge über Stadtgrenzen hinweg, damit verbundene Schulwechsel, biografische Lücken sowie Schulbesu-

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che, an deren Ende nicht der gewünschte Abschluss steht, gekenn-zeichnet:

„Meinem Schulbesuch voran gegangen ist ein Jahr Berufstätigkeit als Integrati-onshelferin in der Einzelbetreuung im Schulunterricht in einer Förderschule, hier in [Anonymisierung Ort]. Davor habe ich ein Jahr lang nichts gemacht und da-vor habe ich ein Jahr lang ein freiwilliges ökologisches Jahr gemacht und davor habe ich die Schule mit dem Fachabitur, mit dem allgemeinen Fachabitur, ab-geschlossen. Und davor waren nur Schulbesuche, da war ich ja auch noch jung. […] Ich war fünfte, sechste, siebte, achte Klasse in [Anonymisierung Ort], in der Nähe von [Anonymisierung Ort] bin der Gemeinde [Anonymisierung Ort] auf der Gesamtschule. Bin dann nach der sechsten Klasse auch auf einen gymnasialen Zweig gekommen. Dann sind wir umgezogen und ich war die neunte und die zehnte Klasse in [Anonymisierung Ort] auf dem [Anonymisie-rung Kolleg] und dann wollte ich die Schule wechseln und dann war ich die elfte und die zwölfte Klasse auf dem beruflichen Gymnasium eines Berufskollegs, des [Anonymisierung Berufskolleg]. […] Ja, also ich habe den schulischen Teil des Fachabiturs gemacht. Ich habe die Dreizehn nicht mehr gemacht, also ich habe schon mal die Schule abgebrochen nach der zwölften Klasse, und da hat-te ich den schulischen Teil und mein freiwilliges Jahr wurde mir als Jahresprak-tikum anerkannt. Und jetzt habe ich ein allgemeines Fachabitur.“ (Vanessa)

Gründe für die Aufnahme des Schulbesuchs an einem Kolleg oder einem Abendgymnasium Bei den Gründen, welche die Interviewpartner für die Wiederaufnahme des Schulbesuchs an einem Kolleg oder einem Abendgymnasium ange-ben, zeigt sich durchgehend eine eher instrumentelle Orientierung: Die späteren Abbrecherinnen und Abbrecher wollen ihre beruflichen Chan-cen verbessern und verfügen daher häufig über eine extrinsische Moti-vation ihre bisherige, zumeist nicht gradlinige Schullaufbahn fortzuset-zen und zu einer höheren Qualifikation zu gelangen. Als beispielhaft für dieses Muster kann die folgende Aussage von Christian verstanden werden, der sich bei seinem vorhergehenden Bemühen um einen Aus-bildungsplatz im Vergleich zu Abiturienten, die sich um dieselben Aus-bildungsstellen wie er beworben haben, „ein bisschen ausgeblendet“ fühlte. Entgegen dieser erlebten Konkurrenz hat Christian während sei-nes Schulbesuchs am Abendgymnasium schließlich doch einen Ausbil-dungsplatz in seinem Wunschberuf erhalten und setzt folglich den Schulbesuch nicht fort:

„Naja, man wurde immer so bei der Ausbildungssuche ein bisschen ausgeblen-det, weil die meist immer nur Abiturienten haben wollen und deswegen habe ich nachher entschieden. So und jetzt habe ich meine Ausbildung zum Kranken-pfleger bekommen und dann habe ich somit eigentlich mein Ziel erreicht, sage ich mal.“ (Christian)

Eine Ausnahme stellt im Gegensatz dazu Markus dar, der „Just for Fun“ erneut zur Schule gegangen ist, nachdem er zuvor einer beruflich quali-fizierten Tätigkeit in einem Ingenieurbüro nachgegangen ist. Dieser im

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Sample nur wenig repräsentierte Typus entspricht wegen einer erfolg-reich abgeschlossenen Berufsausbildung und einer mehrjährigen Be-rufstätigkeit der klassischen Schülerklientel des Zweiten Bildungswegs:

„Ich habe ganz normal gearbeitet. Bin Fachinformatiker für Systemintegration. Habe zu der Zeit in einem Ingenieurbüro gearbeitet und wollte das einfach so „Just for fun“ gucken, ob ich das hinkriege oder nicht.“ (Markus)

Schulische Erfahrungen der Abbrecher am Kolleg bzw. am Abendgymnasium Auch wenn es auf den ersten Blick überraschen mag, so berichten die Abbrecherinnen und Abbrecher von positiv geprägten Erfahrungen, die sie in den von ihnen besuchten Kollegs oder Abendgymnasien gemacht haben: So hat die Schule „Spaß“ gemacht und folglich kann Jennifer, ehemalige Kollegschülerin, nur „Positives“ berichten:

„Also Erfahrungen hatte ich mit den Lehrern also total, also die Lehrer sind total lieb und nett. Also ich hatte sehr viel Spaß auf der Schule, ganz ehrlich. Also ich kann nur Positives über die Schule sagen“ (Jennifer).

Der günstige Gesamteindruck lässt sich exemplarisch auch an der fol-genden Aussage von Vanessa darstellen, die insbesondere ihre schuli-schen Vorerfahrungen im Ersten Bildungsweg als Referenzpunkt heran-zieht. Ihr positiver Eindruck bezieht sich auf die Schulatmosphäre insge-samt, wird von ihr aber in ihren Schilderungen vornehmlich auf das spe-zifische Schüler-Lehrer-Verhältnis im Kolleg zurückgeführt, das sie mit dem Gefühl beschreibt, als erwachsener Lerner „ernst genommen zu werden“:

„Sehr, sehr gut. Ich bin sehr beeindruckt von der Schule. Also das ist die einzi-ge Schule, auf der ich war, wo ich sagen kann, das ist eine gute Schule. Ich bin auch von dem Berufskolleg und von dem Gymnasium, hier dem [Anonymisie-rung Gymnasium], total abgeschreckt worden. Voll gut. Also schwarze Schafe gibt es überall, irgendwie so ein doofer Lehrer, oder ein Lehrer, der mal einen doofen Kommentar macht, das gib es immer. Aber es ist voll schön einfach, dass die Lehrer schon so auf einen zugehen und sagen: „Das ist Erwachse-nenbildung, wir machen jetzt hier keinen Kindergarten mehr und wenn man Kaugummi kauen will, dann kaut man Kaugummi und man setzt auch seinen Hut nicht ab, wenn man das nicht will“, und so. Ja, dieses Schüler-Lehrer-Verhältnis fand ich total gut. Und dass sie sich auch viel mehr als Dienstleister gesehen haben. Lehrer haben sich viel weniger angegriffen gefühlt, wenn sie irgendwie was nicht wussten, haben dann gesagt: „Oh hey, das weiß ich nicht, bin ja auch nur ein Mensch, das gucke ich nach“. Und wenn man die um Infor-mationen gebeten hat, dann haben die meisten einem auch wirklich Informatio-nen beschafft zu einem gezielten Thema. Ja, dieses ernst genommen werden fand ich gut. Und auch den Stoff. Also ich habe mir Mathe und Biologie als Leis-tungskurse gewählt und das liegt mir beides total, also irgendwelche Graphen bestimmen macht mir totale Freude und Ökologie ist auch mein Lieblingsthema in Biologie. Der Unterricht war schön.“ (Vanessa)

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Der positive Gesamteindruck schlägt sich auch in der Wahrnehmung des Klassenverbands nieder. Der Klassenverband und die damit ver-bundene Wertschätzung sowie der Zusammenhalt unter den Mitschülern scheint in den Wahrnehmungen der Abbrecherinnen und Abbrecher sehr gut funktioniert zu haben. Andererseits berichten einige Inter-viewpartner auch von einer wahrgenommenen Autonomieeinschränkung durch die soziale Eingebundenheit, die mit einer Form von „sozialer Kontrolle“ in Verbindung gebracht wird, wie Christian schildert:

„Naja, also ich muss für mich sagen, mich hat es immer gestört, also sehr, sehr doll gestört, dass sich einige Leute einfach um andere Menschen mehr küm-mern als um sich selbst. Das hat mich immer sehr gestört. Also angenommen, man war mal eine Woche nicht da oder sowas oder mal einen Tag nicht da oder wie auch immer: „Ach bist Du auch wieder da? Wo warst Du denn schon wie-der?“ Und dann denke ich mir so: „Macht doch euren Kram! Wird schon gute Gründe haben, dass ich nicht da war“. (Christian)

Die Beschreibungen der Interviewpartnerinnen und -partner zum schuli-schen Alltag konzentrieren sich auf Schilderungen sozialer Beziehungen zu Mitschülern bzw. Lehrkräften, während die Ebene des Unterrichts eher selten zum Gegenstand von Schilderungen gemacht wird.

Die Interviewten thematisieren ihre Lehrpersonen an den Kollegs und Abendgymnasien überwiegend als Beziehungspersonen, konzentrieren sich also auf die soziale Ebene, wohingegen von ihren fachlichen Kom-petenzen im Unterricht, also der zentralen Lehreraufgabe, kaum berich-tet wird. So auch in den folgenden Äußerungen von Katharina, welche die Lehrkräfte „toll“ und „klasse“ fand, insbesondere eine Lehrerin, die Pädagogik unterrichtet hat. Diese hat sie offenbar geduzt, da ihr im In-terview nur noch der Vorname der Lehrerin bekannt ist:

„Also ich muss sagen, die Lehrer waren toll. Wirklich, die Lehrer fand ich klasse. […] Pädagogik war super, also die Frau fand ich richtig cool. Das war die [Ano-nymisierung Name], nur mit Nachnamen weiß ich nicht mehr wie die heißt“ (Ka-tharina).

„Ja. Mir fällt /also ich könnte jetzt nicht sagen, wo etwas total negativ wäre. Ich fand auch den Physiklehrer total sympathisch. Der war so ein Kleiner, ganz Sü-ßer. Den fand ich richtig lustig. Ja, aber ne, ist alles positiv“ (Katharina).

Das Duzen zwischen Schülern und Lehrkräften wird auch von weiteren Personen geschildert und in der Regel als positiv wahrgenommen. Le-diglich in Ausnahmefällen wird das gute Verhältnis auf den geringen Al-tersabstand zu den Lehrkräften zurückgeführt, wie es bei Markus der Fall ist:

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„Da ich ja eher so in dem Alter der Lehrer war, fand ich das irgendwie toll. Wa-ren größtenteils sehr, sehr gut. Einen tollen Umgang mit den Schülern. Ja.“ (Markus)

Neben dem Duzen offenbart sich auch in weiteren Schilderungen der In-terviewpartnerinnen und -partner ein enges persönliches Verhältnis zu ihren Lehrkräften. Als Beispiel hierfür kann die Schilderung von Nadine gelten, die berichtet, dass ihre Lehrkraft fast „zu heulen“ angefangen hat, als diese von ihrem bevorstehenden Abbruch des Schulbesuchs er-fahren hat. Das Gefühl, die Lehrkraft hierbei persönlich enttäuscht zu haben, umschreibt sie mit dem Ausdruck „ein Schlag ins Gesicht für ihn“:

„Ja am 31.08. habe ich mit meinem Lehrer gesprochen und der hat fast ange-fangen zu heulen. […] Nein, das war mein Vorkurslehrer und mit dem hatten wir immer ein gutes Verhältnis und der hatte jetzt das erste Semester seit den Sommerferien darum gekämpft, dass der uns im Deutschunterricht bekommt. Und das war jetzt natürlich ein Schlag ins Gesicht für ihn.“ (Nadine)

Für Christian ist das als positiv wahrgenommene Verhältnis zu den Lehrkräften im Abendgymnasium auch auf ihr ausgeprägtes Verständnis für die Schülerinnen und Schüler zurückzuführen, welches sich bei-spielsweise konkret in Nachsichtigkeit zeigt, wenn Schülerinnen und Schüler ihre Aufgaben nicht fristgerecht erledigt haben. Das Verhältnis zu den Lehrkräften im Abendgymnasium wird von Christian als „wirklich echt auf Augenhöhe“ beschrieben:

„Kann man nicht anders sagen. Also es ist wirklich sehr, sehr gut. Also sie räu-men einem auch viele Chancen ein, wenn man doch mal irgendwie, aus wel-chen Gründen auch immer, arbeitstechnischen Gründen oder privaten Grün-den, dann doch mal irgendwie was nicht geschafft hat. „Hier okay gut. Bis dann und dann. Mach das aber fertig!“ […] Also die sind da nicht so wie an der Real-schule: „Da steht der Hammer, entweder es ist da oder du kriegst eine Sechs!“ So ist es da nicht, definitiv nicht. Oder null Punkte heißt es am Abendgymnasi-um. Das ist wirklich echt auf Augenhöhe würde ich sagen.“ (Christian)

Das gute Verhältnis zu den Lehrkräften zeigt sich für Vanessa auch da-ran, dass im Unterricht „partnerschaftliche“ Gespräche geführt werden konnten. Der Begriff „partnerschaftlich“ weist auf ein Schüler-Lehrer-Verhältnis hin, das als durch Nähe und Gleichrangigkeit gekennzeichnet empfunden wird:

„Teilweise sogar in Erdkunde Gespräche gehabt in der Klasse, wo dann immer wieder Leute was gesagt haben und dann hat sich so ein Zweiergespräch mit der Lehrerin entwickelt und das war irgendwie gut, das war so partnerschaft-lich.“ (Vanessa)

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Für Alexander ist das starke Eingehen auf den einzelnen Schüler bzw. die Schülerin und die Achtung seiner bzw. ihrer individuellen Persönlich-keit Teil seiner Wahrnehmung der Lehrkräfte des Kollegs, das er be-sucht hat. Die Lernenden werden, so die Erfahrung von Alexander, nicht nur in ihrer Schülerrolle, sondern umfassend als erwachsene Persön-lichkeit beachtet:

„Ja, top da kann ich mich gar nicht beschweren, also selten so gute Verhältnis-se zu Lehrern gehabt, also zu [Anonymisierung Name], Klassenlehrer wie auch die stellvertretende Klassenlehrerin, [Anonymisierung Name], die Englischlehre-rin, der Spanischlehrer, also super top. Ja, selten solche Lehrer gehabt, die wirklich auf die Schüler eingehen, auf die Probleme eingehen, sich auch mal hinsetzen mit denen und so weiter und so fort und das nicht so als Nummer se-hen und sagen: „Okay, ich bringe denen jetzt den Stoff bei und das war es!“ Wirklich sehr gut.“ (Alexander)

Obwohl wenige Aussagen zum eigentlichen Unterrichtsgeschehen getä-tigt werden, zeigt sich, dass der Unterricht – auch durch das als positiv wahrgenommene Schüler-Lehrer-Verhältnis – als „entspannt“ einge-schätzt wird. Nadine schildert dies im folgenden Textabschnitt, weist aber zugleich darauf hin, dass durch diese Vorgehensweise ggf. Inhalte außerhalb des Unterrichts nachgearbeitet werden müssen:

„Ja es kommt jetzt auch drauf an, welcher Lehrer das war. Aber sonst war ei-gentlich … die sind halt auf alle Schüler eingegangen und also nicht alle Lehrer aber einige. Ja es war eigentlich entspannt muss ich … also es war entspannt eigentlich die Atmosphäre, auch der Unterricht. Aber das was die im Unterricht nicht machen, weil es so entspannt ist, ist ja dann natürlich für nach dem Unter-richt, ne.“ (Nadine)

Gründe für den Abbruch der Bildungslaufbahn im Kolleg bzw. im Abendgymnasium Die Gründe für den Abbruch des wieder aufgenommenen Schulbesuchs scheinen vielfältig zu sein und nicht immer eindeutig von den Interview-partnerinnen und -partnern benennbar. Es werden sowohl außerschu-lische als auch schulbezogene Begründungszusammenhänge geschil-dert, wobei an vielen Stellen schulische Leistungsprobleme benannt werden, z. B. durch Verständnisprobleme in der Folge eines zu hohen schulischen Arbeitstempos. Die Interviewten berichten in der Folge von (z. T. mehrmaligen) Klassenwiederholungen und insgesamt von Motiva-tionsproblemen. So schildert Sandra:

„Das lief einfach nicht. Also ich habe das erste Semester wiederholt und da schien dann drauf hinauszulaufen, dass ich das zweite Semester jetzt auch nochmal wiederholen müsste, wenn das so weitergegangen wäre, und da hat mir einfach die Motivation dazu gefehlt da einfach weiterzumachen und da habe ich gesagt „Nein, da schaue ich mich lieber anders um“ (Sandra).

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„Also, von den Inhalten her war es an sich interessant, ja, aber, also wie gesagt, es war wirklich zu schnell und das ist wieder so durchgerauscht, dass man kei-ne Zeit hat so für sich zu lernen und das war nicht so gut. Und deswegen bin ich auch sehr weit, sehr schnell abgerutscht und“ (Sandra)

Weitere Beispiele für Leistungsprobleme finden sich u. a. bei Nadine, die für das selbstständige und eigenverantwortliche Wiederholen des Stof-fes nach der Schule nach eigener Einschätzung „nicht gemacht ist“ und daher einen weiteren Schulbesuch als „Zeitverschwendung“ einschätzt. Die erforderliche Selbstdisziplin, die durch die schulische Anforderung notwendig wird, ist von dieser Interviewpartnerin nicht aufgebracht wor-den:

„Ja und zwar das Lernen nach der Schule – dafür bin ich einfach nicht gemacht. Ich habe gedacht, ich schaffe das, aber es ist einfach nicht meins, ich gehe lie-ber zehn bis zwölf Stunden arbeiten, komme aber dann nach Hause und bin fertig. Dann habe ich frei. Ich komme nach Hause, ich kann mich aufs Sofa le-gen oder, ne. Und das war einfach … da ist mir auch egal, wenn ich nur bis zwei Uhr Schule habe, aber ich muss danach noch so viel machen. Ich war nachher so gereizt auch. War schon […] Ja jetzt im Nachhinein halt, weil ich glaube ich nicht studiert hätte und dann hätte … dann wäre das doch mehr Zweitverschwendung, wenn ich das jetzt zu Ende gemacht hätte. Weil ich muss einfach Geld verdienen.“ (Nadine)

Das Wiederholen von Schul(halb)jahren wird von den befragten Abbre-cherinnen und Abbrechern als demotivierend erlebt, so auch von Chris-tian:

„Naja, ich habe mich da beworben, also eingeschrieben da zum Abendgymna-sium. Die erste Klasse habe ich dann nachher auch fertig gehabt, dass ich das einmal wiederholen musste, hat mich schon ein bisschen mitgenommen, muss ich sagen.“ (Christian)

Neben Leistungsproblemen und deren Folgen wird in vielen Schilderun-gen deutlich, dass die Aufgabe der eigenständigen Lebensfinanzierung während der Zeit im Kolleg bzw. Abendgymnasium für die Interviewten eine Herausforderung darstellt. Sabrina beispielsweise schildert, dass sie sich durch BAföG-Leistungen allein nicht finanzieren kann. Ein zu-sätzlicher Job, der dieses Problem zu lösen hilft, wird aber gegenüber den schulischen Ansprüchen als Belastung erlebt und als Grund für den späteren Abbruch ins Feld geführt:

„Ja. Ich habe es versucht, das BAföG hat nicht ganz gereicht für mich, weil die Wohnungen hier sind alle auch sehr teuer. Hat nicht ganz gereicht, ich musste ein bisschen arbeiten. Hatte ein bisschen Rückstand gehabt und hatte ange-fangen zu arbeiten, aber dann auch wieder aufgehört, weil ich gemerkt habe, die Schule hat drunter gelitten, und als ich dann aufgehört habe, habe ich mich dann auch abgemeldet, also von der Schule. War schon zu spät, ich hätte viel-

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leicht nicht anfangen dürfen zu arbeiten währenddessen, weil das war noch ein-fach zusätzlich noch eine Belastung.“ (Sabrina)

Katharina hingegen schildert als Begründung für den Abbruch neben fi-nanziellen Problemen vor allem die Tatsache, dass es ihr nicht gelungen ist, eine Lernpartnerin oder einen Lernpartner innerhalb der Schule zu finden:

„Also ich muss schon sagen, ich bin ja eher so ein Typ, ich brauche wirklich ei-ne Freundin, die ein bisschen mit mir lernt. Also das ist schon echt ausschlag-giebig, aber das Geld hat natürlich auch was mit zu tun. Ich könnte mir natürlich auch einen Mini-Job suchen und einen Mini-Job und BAföG haben, da hat man ja auch ungefähr eintausend Euro dann mit. Aber ich brauche da irgendwie so eine Motivation. Ich sehe das an meinem Freund. Er hat so seinen besten Kol-legen in der Uni. Die sitzen da manchmal und lernen zusammen und das ist to-tal schön sowas und wenn der dann aus der Uni kommt und mir dann Mathe erklären muss, das ist dann echt blöd.“ (Katharina)

Einige der Interviewpartner führen Gründe für ihren Schulabbruch an, die auf singuläre, z. T. schicksalhafte außerschulische Ereignisse wie ungeplante Schwangerschaften, Krankheiten oder Unfälle des Partners zurückführen sind.

Andere geraten durch die Herausforderungen des Schulalltags in Konflikt mit ihren (umfänglichen) Freizeitaktivitäten bzw. außerschuli-schen Verpflichtungen, der sie viel Zeit nach der Schule einräumen. So wie Sabrina, die in einer Band musiziert, oder Christian, der sich bei der Feuerwehr engagiert:

„Ich habe zuerst am Abendgymnasium angefangen und dann nebenbei gear-beitet und das war sehr, sehr anstrengend und es war auch sehr hart. Wir hat-ten nicht so viel Pensum wie im Kolleg, aber man ist völlig am Ende nach dem ganzen Tag und da ich noch so viele Freizeitaktivitäten habe und habe jetzt hier auch eine Band und mache auch selber viel, ja, eigenständige Projekte und sowas. Und war das nichts für mich, deswegen dachte ich, ich gehe ans Kolleg. Ja und am Kolleg hat man die Förderung vom BAföG und da dachte ich, das wäre ein bisschen freier, das war so mein Werdegang.“ (Sabrina) „Naja, also manchmal, teilweise hatte ich Dienste bei der Feuerwehr, ich bin da ja der stellvertretende Zugführer und das hätte ich ja dann auch alles komplett … Ich bin da ja auch gewählt und bekomme da auch mein Geld da so ein biss-chen für. Das hätte ich natürlich dann aufgeben müssen. Also wie gesagt, also ab und zu musste ich dann zu den Ausführungsdiensten. Einsätze sind hier in [Anonymisierung Ort] natürlich auch ein bisschen mehr als in der ländlichen Gegend. Und ja also manchmal war es natürlich auch die fehlende Motivation. Da waren war man dann den ganzen Tag über arbeiten, acht Stunden, dann kommt man nach Hause und will eigentlich nur schlafen und hat schon auf dem Rückweg zu tun gehabt, dass man hier heil ankommt und dann abends in die Schule dachte man sich auch: ‚Jetzt gehe ich dahin, dann klappen einem die Augen. Dann kriege ich da sowieso nichts mit. Ach dann lege ich mich auf die Couch!‘ Und weg.“ (Christian).

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Insgesamt werden die Gründe für den Abbruch selten auf schulischer Seite gesucht, sondern die Betroffenen nehmen sich selbst dafür in die Verantwortung. „Druck“ durch das Kolleg oder das Abendgymnasium entsteht im Fall von Sabrina lediglich indirekt durch die Tatsache der „zweiten“ bzw. „letzten“ Chance:

„Ich kann mir nur vorstellen, dass viel an mir lag, die Schule war super, habe ich das Gefühl. Ich glaube, für mich war es einfach viel zu viel Druck, also auch von wegen „Es ist deine letzte Chance“. Und man hat ja mindestens noch eine zwei-te Chance, das ist das Coole, aber für mich war, ich glaube, ein bisschen zu viel Druck einfach. Als ob man danach nichts mehr wert wäre, weißt du. Wenn du es jetzt hier nicht schaffst, dann schaffst du es nirgendwo anders. Ich glaube dann habe ich dichtgemacht einfach.“ (Sabrina)

Der Entscheidung für den Abbruch wird von den Interviewpartnern als selbst getroffene, autonome Entscheidung geschildert. Häufig erfolgt kein Austausch, keine Rücksprache mit der Schule, der Abbruch wird als „Abmeldung“ von der Schule euphorisiert:

„So nach den ersten Klausuren. Da war also der Stress von den ersten Klausu-ren wieder ist abgefallen und dann kam das halt so, dass ich überlegt habe. Ir-gendwie. Aber ich hab da mit keinem geredet. Ich hab da … ich musste das mit mir selber ausmachen. Es war zwar noch mehr Belastung, aber dann hätte mir der eine noch dazwischen geredet und der andere sagt: ‚Mach besser so!‘ und der andere: ‚Mach besser so!‘. Also so ich muss so vor fünf Monaten oder so … vier, fünf Monaten hat das angefangen.“ (Nadine) „Nee, gar nicht. Ich hab. Nee, also wirklich, ich habe mit denen gar nicht dar-über gesprochen, die wussten das auch gar nicht, dass ich mich abmelde. Das war glaub ich eine Blitzreaktion von denen, keine Ahnung. Also von mir eine Blitzreaktion und ja.“ (Katharina)

Beratung im Prozess des Schulabbruchs Kollegs und Abendgymnasien bieten ihren Schülerinnen und Schülern zumeist ein umfangreiches Beratungsangebot (vgl. Kapitel 3.1.1.). Die Interviews zeigen deutlich, dass diese Beratungsangebote den Abgän-gern ohne Abschluss überwiegend bekannt sind und von diesen bei Be-darf auch in Anspruch genommen wurden. Genauso tauschen sich die Interviewpartnerinnen und -partner auch mit Personen im privaten Um-feld über ihre Situation aus. Exemplarisch kann dies an Sabrina gezeigt werden. Sabrina wurde vor ihrem Abbruch von Mitbewohnern ihrer WG angesprochen, ohne auf dieses Gesprächsangebot einzugehen, da sie sich in einer „Selbstfindungsphase“ sah. Auch das Beratungsangebot seitens der Schule („Sozialpädagoge“) hat sie nicht angenommen. Sie sieht ihre Bedürfnisse nicht im Einklang mit der Schule:

„Also ich wollte nicht darüber reden. Ich habe Mitbewohner, zwei, und die ha-ben mich auch mal gefragt: „Ja, was ist jetzt eigentlich und so?“, ich war total

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empfindlich und zickig und meinte dann so: „Ich will einfach nicht drüber reden!“ Ich weiß nicht, ob das mehr so eine Selbstfindungsphase ist oder sowas. Aber nein, ich wollte mit niemandem reden. Ich habe ja auch mit dem Sozialpädago-gen mal geredet über meine Fehlzeiten, Unmotiviertheit und ich glaube aber, der kann nicht viel machen. Irgendwas ist nicht stimmig mit meinen Bedürfnis-sen und die, die die Schule erfüllt“ (Sabrina).

Lebenssituation nach dem Schulabbruch und Zukunftspläne Die Schulabbrecher der Interviewstudie äußern sich auch zu ihrer beruf-lichen Lebenssituation zum Zeitpunkt des Interviews bzw. zu ihren wei-teren beruflichen Plänen. Einige sind in ihr ursprüngliches Berufsfeld zu-rückgekehrt. Viele Abbrecher allerdings verfügen nur über diffuse, un-differenzierte Pläne und befinden sich weiterhin in unsicheren Lebens-phasen: Teilweise wird eine berufliche Ausbildung angestrebt, wobei z. T. noch kein Ausbildungsplatz gefunden wurde. Zum anderen Teil gibt es auch Überlegungen, ein Studium aufzunehmen. Einige Abbrecher stellen eher kurzfristige Überlegungen an, wie an dem Beispiel von Ale-xander deutlich werden kann. Er möchte einerseits „Geld ansparen“, überlegt sich dabei „selbstständig“ zu machen, hat aber keine „Pläne“ über die Ausrichtung. Ihm geht es primär um das Geldverdienen. Seine Zukunftspläne sind unkonkret und offen:

„Erstmal Geld ansparen. […] Eventuell auch mal selbstständig machen. Aber jetzt konkrete Pläne, in welche Richtung das gehen soll, habe ich jetzt noch keine. Wie gesagt, primär erstmal Geld verdienen.“ (Alexander)

Ein weiteres Beispiel für eher kurzfristige Überlegungen ist Vanessa. Diese Kurzfristigkeit zeigt sich bei ihr hinsichtlich der Entscheidung für den Schulabbruch („ein Wochenende“), während ihre Zukunftspläne wie bei Alexander offen sind, berufliche bzw. auf Erwerbsarbeit bezogene Perspektiven werden von ihr nicht genannt:

„Ich hatte mir ein Wochenende Zeit genommen, um mich noch mal zu orientie-ren für mich und in meinem Leben und ob das jetzt wirklich das Richtige ist, weil die Schule langsam so zäh wurde. […] Und dann dachte ich so über den Sinn nach und dass ich halt doch eigentlich keinen Bock habe, zu studieren. […] Und dann war ich mir unsicher und dann habe ich einen Brief bekommen, dass ich kein BAföG kriege. […] Also fahre ich Anfang März weg, Europatour. Südeuro-pa.“ (Vanessa)

6.4 Zusammenfassung Wenn Erwachsene einen mehrjährigen Schulbesuch an einem Abend-gymnasium oder Kolleg aufnehmen, dann ist das (zentrale) Ziel in aller Regel der Erwerb eines Schulabschlusses: der Fachhochschulreife oder der Allgemeinen Hochschulreife. Traditionell erreicht jedoch nur ein Teil

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der Schülerinnen und Schüler, die einen gymnasialen Bildungsgang be-ginnen, letztlich dieses Ziel. Für Abendgymnasien und Kollegs stellt dies sowohl für die pädagogische Arbeit als auch mit Blick auf die legitimato-rische Absicherung (z. B. der institutionellen Eigenständigkeit) eine Her-ausforderung dar.

Unter Schulabbruch wird innerhalb dieser Studie der Abgang von der Schule vor dem Erreichen des angestrebten, nächsthöheren Schulab-schlusses verstanden. Dies ist mit Blick auf den gymnasialen Bildungs-gang an Abendgymnasien bzw. Kollegs besonders zu betonen, da Schülerinnen und Schüler mit dem Übergang in das letzte Jahr der Qua-lifikationsstufe den Anspruch auf die Fachhochschulreife erwerben, dann aber ein Teil von ihnen die Schullaufbahn während des letzten Schuljah-res vorzeitig beendet. Damit haben sie formal bereits einen Abschluss an einem Abendgymnasium bzw. Kolleg erworben, gehen aber von der Schule noch vor dem angestrebten Schulabschluss „Allgemeine Hoch-schulreife“ von der Schule ab – und brechen somit aus analytischer Sicht den Schulabbruch ab.

Das Phänomen des vorzeitigen Abbruchs institutioneller Bildungspro-zesse wird parallel in verschiedenen Teildisziplinen der Erziehungs-wissenschaft erforscht. Dass die Forschungszugänge der Teildisziplinen sich z. T. in Begriffen bzw. Erklärungsansätzen unterscheiden, liegt nicht zuletzt daran, dass die Spezifika eines jeweiligen Bildungsbereichs eine wichtige Rolle spielen. Hinsichtlich des hybriden institutionellen Charak-ters von Abendgymnasien und Kollegs scheinen das Lebensalter der Lernenden sowie die Freiwilligkeit der Teilnahme am Bildungsprozess somit besondere Relevanz zu haben. So kennen die Einrichtungen zum einen das Phänomen, dass der Schulbesuch trotz erfolgreicher Zulas-sung von einigen Bewerberinnen und Bewerbern gar nicht erst angetre-ten wird. Zum anderen entscheidet sich in den ersten ca. vier bis sechs Wochen des beginnenden Bildungsgangs eine vergleichsweise hohe Anzahl der Schülerinnen und Schüler dafür, die Schule nicht weiter zu besuchen. Der Abgang ohne den nächstmöglichen Schulabschluss er-streckt sich dann allerdings auch über den weiteren Zeitraum des Bil-dungsgangs. Diese Erscheinungsform(en) des Schulabbruchs an Abendgymnasien und Kollegs verweisen auf Parallelen zum Studienab-bruch im Bereich der Hochschule bzw. zum Dropout im Bereich der Er-wachsenen-/Weiterbildung und legen eine Beachtung der entsprechen-den konzeptionellen Angebote nahe. Zugleich fordert gerade der hybride Charakter der Einrichtungen dazu auf, für die Analyse ebenfalls deren „schulische Seite“ im Blick zu halten.

Aus einem organisationalen Blickwinkel ist der Abbruch der Schul-laufbahn oft ein Problem und erhält ggf. die Konnotation des „Schei-

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terns“. Demgegenüber stellt die Beendigung der Schullaufbahn aus indi-vidueller Sicht oft einen Übergang zu etwas Anderem bzw. Neuem dar. Insofern interessiert beim Phänomen des Schulabbruchs nicht zuletzt auch die biografische Ausdeutung seitens der Beteiligten, insbesondere der Abbrecherinnen und Abbrecher.

Die vorliegende Studie beschäftigte sich daher sowohl mit der Quanti-fizierung des Umfangs des Schulabbruchs als auch mit der Frage, für welche Gruppen von Schülerinnen und Schülern das Risiko besonders hoch ausfällt. Zudem wurde der Frage nachgegangen, wie sich das Phänomen aus der Perspektive der schulischen Akteure gestaltet und wie betroffene Schulabbrecherinnen und -abbrecher ihre Erfahrung be-schreiben und bewerten.

Rekonstruiert man das Ausmaß des Schulabbruchs an Kollegs und Abendgymnasien aus den schulstatistischen Daten der Schulen, so zeigt es sich als ein verbreitetes Phänomen hohen Ausmaßes insbe-sondere in den ersten beiden Schulhalbjahren: Die durchschnittliche Abbruchquote von im ersten Schulhalbjahr 28,6 Prozent sinkt auf 16,3 Prozent im zweiten und 8,8 Prozent im dritten Schulhalbjahr. Hier-bei unterscheiden sich die Einzelschulen im Ausmaß des Schulabbruchs in einem erheblichen Maße.

Die Analysen der individuellen Schullaufbahndaten vom Beginn des Bildungsgangs bis zum Erwerb des ersten möglichen Schulabschlusses (Fachhochschulreife) zeigen, dass weder das Geschlecht der Befragten, noch deren elterlicher Bildungshintergrund oder ggf. die Verantwortung für eigene Kinder mit signifikanten Unterschieden beim Schulabbruch einhergehen. Demgegenüber kommt der Schulabbruch etwas häufiger in der Gruppe der Schülerinnen und Schüler vor, die Deutsch nicht als ihre Muttersprache angeben, als in der Gruppe mit deutscher Mutter-sprache (28,8 % gegenüber 21,8 %).

Das Risiko des Schulabbruchs fällt allerdings für die Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen bildungsbezogenen Voraussetzungen unterschiedlich hoch aus: Schülerinnen und Schüler ohne eine abge-schlossene (schulische oder duale) Berufsausbildung brechen ver-gleichsweise häufiger als solche mit abgeschlossener Berufsausbildung ihren Schulbesuch vorzeitig ab (31,9 % gegenüber 18,3 %). Der Bil-dungsbereich, in welchem der Mittlere Schulabschluss erworben wurde, geht ebenfalls mit einem differenten Ausmaß des Schulabbruchs einher: Ist diese Zulassungsvoraussetzung schon im allgemeinbildenden Ersten Bildungsweg erworben worden, ist die Abbruchquote am niedrigsten (19,8 %). Sie steigt bei einem Abschluss im berufsbildenden System (29,3 %) und ist noch einmal höher, falls der Abschluss im Weiterbil-dungssystem erworben wurde (34,1 %). Für letzteren Bereich gilt, dass

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die Teilgruppe der Absolventinnen und Absolventen von Abendrealschu-len am häufigsten abbrechen (39,3 %).

Ein (drohender) Abbruch des Schulbesuchs ist demnach ein All-tagsphänomen in Kollegs und Abendgymnasien. Im Zusammenspiel zwischen erwachsenen Schülerinnen und Schülern mit voller Verantwor-tung für die eigene Lebensgestaltung und schulischen Ansprüchen über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg kommt es nicht selten zu Situationen, in denen der Schulbesuch durch die Schülerinnen und Schüler infrage gestellt wird. Schulen sind sich der Herausforderung bewusst, vor der die Schülerinnen und Schüler stehen: Sie sind selbst-verantwortlich für Ihr Leben – den Lebensunterhalt verdienen, Verant-wortung für eigene Kinder oder kranke Eltern zu haben – und lernen in einer Institution, die eine Zeitaufwendung verlangt, die mit den übrigen Lebensaufgaben in Konflikt geraten kann.

Für die Lehrkräfte handelt es sich allerdings häufig um ein schlei-chendes Phänomen, denn Schülerinnen und Schüler bleiben zumeist erst nach längeren Fehlzeiten dem Schulbesuch dauerhaft fern, ohne sich formal abzumelden. Das tatsächliche Ausmaß des Abbruchs wird an den Schulen nicht nachgehalten, die interviewten Lehrkräfte verfügen diesbezüglich nur über alltagsbezogene begründete Einschätzungen des Ausmaßes. Aus der Perspektive vieler Lehrkräfte hat das Ausmaß des Schulabbruchs im Zeitverlauf zugenommen, was mit der veränder-ten, heterogeneren Klientel in Zusammenhang gebracht wird. Es würden zunehmend solche Schülerinnen und Schüler aufgenommen, die den Schulbesuch aus Mangel an Alternativen aufnehmen.

Abendgymnasien und Kollegs sind Institutionen, die sich um die Pas-sung zwischen den Lernvoraussetzungen der Schülerschaft und ihren institutionellen Ansprüchen in besonderer Weise bemühen. Dies gilt auch mit Blick auf die Zielstellung, Schulabbruch zu vermeiden.

In den Interviews wird deutlich, dass die Schulvertreter im Falle eines drohenden Abbruchs häufig bestrebt sind, den persönlichen Kontakt zu dem jeweiligen Schüler bzw. der jeweiligen Schülerin herzustellen und Alternativen (z. B. in der Form einer zeitbefristeten Beurlaubung) aufzu-zeigen und entsprechende Unterstützungen anzubieten. Die Schulen bieten ein reichhaltiges Unterstützungsangebot für die Lernenden an, das weit in das allgemeine Leben der Schülerinnen und Schüler hinein-ragt. In den Beratungen versuchen die Schulen, den Schülerinnen und Schülern die Rückkehroption in die Schule offenzuhalten und statt eines (endgültigen) Abbruchs eine (zeitbefristete) Beurlaubung zu erreichen.

Die heterogenere Klientel zeigt sich in der Wahrnehmung vieler Lehr-kräfte auch an einer Zunahme an Schülerinnen und Schülern mit psy-

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chischen Erkrankungen. Diese Schülergruppe gilt mit Blick auf den Ab-bruch des Schulbesuchs daher als Risikogruppe.

Die Interviews mit den Abbrecherinnen und Abbrechern legen zwar nahe, dass insbesondere Leistungsprobleme zum Schulabbruch führen, jedoch kann auch hier nicht ausgeschlossen werden, dass v. a. psy-chisch Erkrankte nicht zu einer Teilnahme an der Interviewstudie bereit gewesen sind. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass die Übernahme von beratenden oder koordinierenden Funktionen bei den interviewten Fachlehrkräften zu einer spezifischen und mitunter verzer-renden Sichtweise auf die Schülerschaft und den Schulabbruch führen könnte. Des Weiteren sind Einflussfaktoren zumeist nicht trennscharf voneinander zu unterscheiden; Variablen wirken multifaktoriell zusam-men und können sich gegenseitig bedingen und verstärken.

Die Schilderungen der Schülerinnen und Schüler, die ihren Schulbe-such an Kollegs oder Abendgymnasien vorzeitig beendet haben, offen-baren Lernende mit vielfältigen Bildungs- und Lebenswegen, die bis zum Eintritt in die Einrichtungen des Zweiten Bildungswegs überwiegend nicht gradlinig verlaufen sind.

Gemeinsam ist ihnen, dass eher extrinsische Motive für die Entschei-dung, ein Kolleg oder ein Abendgymnasium zu besuchen, dominieren. Dies ist allerdings kein Alleinstellungsmerkmal von solchen Personen, die diesen Bildungsweg nicht erfolgreich durchlaufen, da auch erfolgrei-che Verläufe im Zweiten Bildungsweg aus extrinsischen Motivations-quellen gespeist werden.

Die Beschreibungen, die die Abbrecherinnen und Abbrecher über ihre schulischen Erfahrungen im Kolleg oder im Abendgymnasium abgeben, geben keinen Anlass zu der Vermutung, dass sich die ehemaligen Schü-lerinnen und Schüler an ihren Institutionen nicht wohlgefühlt hätten: Die Beziehungen zu den Lehrkräften wie zu den Mitschülerinnen und Mit-schülern werden positiv geschildert und auf der sozialen Ebene von den Interviewpartnern betont. Die positive Wahrnehmung der Schüler-Lehrer-Beziehung wird von den Abbrecherinnen und Abbrechern darauf zurückgeführt, dass sie sich als erwachsene Lerner und auch als Per-sönlichkeiten jenseits der Schülerrolle angenommen fühlen.

Die von den Schulabbrecherinnen und -abbrechern genannten Grün-de für die Beendigung der Schullaufbahn ohne weiteren Abschluss sind vielfältig: So sind es schulische Leistungsprobleme, welche die ehemali-gen Schülerinnen und Schüler dazu veranlasst haben, ihre ursprüngli-chen Intentionen zu verändern. Anders als im Ersten Bildungsweg wer-den diese ausschließlich auf eigenes Leistungsversagen zurückgeführt, während die Lehrkräfte in ihrer pädagogischen Unterrichtsqualität hier nicht adressiert werden. So drückt sich einerseits die Selbstverantwort-

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lichkeit erwachsener Personen für den eigenen Bildungserfolg aus, zu-dem haben die Lernenden ihre Lehrkräfte so positiv erlebt, dass diese keinen Anlass geboten haben, hier Ursachen für den Abbruch zu sehen. Über Leistungsprobleme hinaus sind es aktuell veränderte Lebenssitua-tionen, die zum Schulabbruch veranlassen, seien es Krankheiten von Partnern, Eltern oder Kindern oder auch die Zusage eines präferierten Ausbildungsplatzes.

Die Abbrecherinnen und Abbrecher zeigen sich in den Interviews als Personen, welche die vielfältigen Unterstützungs- und Beratungsange-bote, welche die Schulen offerieren, kennen oder auch in Anspruch ge-nommen haben. Zudem befinden sich viele der Interviewten während der Interviewsituation in beruflichen Situationen, die nach wie vor von Unsicherheit geprägt sind und auch die genannten Zukunftsoptionen er-scheinen überwiegend unkonkret.

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7. Zusammenfassung der Befunde An der vorliegenden Untersuchung „Bildungsverläufe an Abendgymna-sien und Kollegs“, die zwischen 2014 bis 2017 realisiert wurde, beteilig-ten sich insgesamt 21 Schulen aus insgesamt fünf Bundesländern: Nordrhein-Westfalen (16 Schulen), Mecklenburg-Vorpommern (zwei Schulen), Schleswig-Holstein, Brandenburg und Hamburg (jeweils eine Schule). Im Untersuchungsfokus standen ausschließlich die gymnasia-len Bildungsgänge an diesen Schulen.

Das aus theoretischen Überlegungen abgeleitete Untersuchungsmo-dell der Studie (vgl. Abbildung 1) ermöglichte eine Betrachtung der un-terschiedlichen Phasen der Bildungsverläufe und berücksichtigt dabei differenzielle Kontexte: von der Entscheidung für die Wiederaufnahme des Schulbesuchs (u. a. unter Berücksichtigung der bisherigen schuli-schen und beruflichen Erfahrungen und individuellen Kontexte), über den Verlauf des Schulbesuchs (u. a. vor dem Hintergrund der Beweg-gründe bei der Anmeldung, der individuellen Wahrnehmung der organi-sational vorgefundenen Angebote und/oder der individuellen Kontexte) bis zum vorzeitigen Beenden der Schullaufbahn ohne angestrebten Schulabschluss (u. a. im Kontext der schulischen Erfahrung im bisheri-gen Bildungsweg, der Motive zu Beginn der Bildungslaufbahn im Zwei-ten Bildungsweg, der Nutzung der schulischen Angebote und/oder der jeweiligen privaten/beruflichen Lebensbedingungen).

Für die Datenerhebung und -auswertung wurden sowohl quantitative als auch qualitative Verfahren genutzt. Die Datenerhebung fand zwi-schen Oktober 2014 und Februar 2017 statt. Die insgesamt sieben Er-hebungsbausteine bezogen sich jeweils schwerpunktmäßig (jedoch nicht immer ausschließlich) auf eine der Fragestellungen und hatten entsprechend jeweils unterschiedliche thematische Schwerpunkte:

Während die organisationalen und professionellen Rahmenbedin-gungen durch (1) eine Dokumentenanalyse der professionellen und or-ganisationalen Angebote der Einzelschulen, (2) mittels leitfadengestütz-ter Interviews mit Lehrkräften sowie durch (3) eine Fragebogenerhebung der Lehrkräfte erfasst wurden, dienten zur Erhebung der Bildungsverläu-fe der Schülerinnen und Schüler (1) eine (wiederholte) Fragebogener-hebung bei den Schülerinnen und Schülern sowie (2) eine Befragung der Lehrkräfte. Das Thema Schulabgang ohne Abschluss schließlich wurde durch leitfadengestützte Interviews mit (1) Schulabbrecherinnen und -abbrechern sowie mit (2) Lehrkräften erfasst.

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Abendgymnasien und Kollegs stellen ein weitgehendes For-schungsdesiderat dar, was sich u. a. auf ihren hybriden Charakter zurückführen lässt.

Die wenigen bisherigen Publikationen zu Abendgymnasien und Kollegs zeigen, dass diese Bildungsbereiche ein Forschungsdesiderat markie-ren. Dieser Umstand ist der Tatsache geschuldet, dass Abendgymnasi-en und Kollegs auf der Grenze der Teildisziplinen der Schulforschung und der Erwachsenen-/Weiterbildungsforschung liegen und daher in diesen Forschungstraditionen nur selten fokussiert werden.

Abendgymnasien und Kollegs stellen eine quantitativ kleine Grup-pe von Institutionen im Konzert von zum Abitur führenden, allge-meinbildenden Schulangeboten der Sekundarstufe II dar und ihre Anzahl und ihr relativer Schüleranteil sind langjährig stabil.

Die Anzahl der Abendgymnasien und Kollegs in Deutschland ist in den vergangenen 20 Jahren als weitgehend stabil zu bezeichnen. Deutsch-landweit gab es im Schuljahr 2016/17 104 Abendgymnasien sowie 67 Kollegs. Zusammen besuchen gut 29.000 Schülerinnen und Schüler diese Bildungsgänge, was einem Anteil von nur 2,9 Prozent an der Ge-samtschülerschaft der allgemeinbildenden Sekundarstufe II entspricht. Die 4.783 Absolventinnen und Absolventen von Abendgymnasien und Kollegs des Abgangsjahres 2016 machen 1,6 Prozent aller Abgänge mit Hochschulreife sowie 13,5 Prozent aller Abgänge mit Fachhochschulrei-fe des allgemeinbildenden Schulsystems aus.

Abendgymnasien und Kollegs haben sich zu einem nachgelager-ten Parallelsystem des Ersten Bildungswegs entwickelt.

Abendgymnasien und Kollegs haben sich im Laufe ihrer Entwicklung funktional verändert: Statt der Ermöglichung eines Zugangs zur Univer-sität in den 1980er-Jahren sind sie in der Gegenwart zunehmend als ein nachgelagertes Parallelsystem zum Ersten Allgemeinen Bildungsweg zu beschreiben. Dabei hat im historischen Prozess die institutionelle Eigen-ständigkeit dieser Einrichtungen zugenommen. Der üblicherweise ver-wendete Begriff des Zweiten Bildungswegs ist daher in der Gegenwart als institutionelle Beschreibung zu verstehen. Was die Vergabe von Chancen angeht, so ist eher der Begriff der Staffelung eine zutreffende Beschreibung.

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Der hybride Charakter der Abendgymnasien und Kollegs zeigt sich in schul- wie erwachsenenbildungstypischen organisationalen Merkmalen.

Abendgymnasien und Kollegs verfügen über einen hybriden Charakter, es handelt sich um Einrichtungen der schulischen Erwachsenenbildung. Typisch für schulische Institutionen sind Abendgymnasien und Kollegs Einrichtungen, die Teile des Berechtigungssystems sind und damit auch eine Selektionsfunktion erfüllen. Die Dauer des Bildungsgangs ent-spricht derjenigen in der Gymnasialen Oberstufe des Ersten Bildungs-wegs. Lerninhalte und Prüfungsverfahren sind standardisiert. Zugleich aber zeigen sie typische Merkmale von Institutionen der Erwachsenen-bildung: Ihre Klientel sind erwachsene, mindestens volljährige Men-schen, deren Lebensmodi vielfältig sein können und häufig durch Ver-antwortung für andere Menschen gekennzeichnet sind. Die Teilnahme an den Angeboten ist freiwillig, weshalb auch vorzeitige Beendigungen dieser Teilnahme häufig vorkommen. Darüber hinaus finden sich Misch-formen differenter Bildungsbereiche an diesen Schulen, wie z. B. die Re-levanz beruflicher Tätigkeit, die zeitliche Strukturierung der Schuljahre in Semesterlogik oder die eher aus dem Hochschulsystem bekannte Ein-richtung von Vorkursen.

Der hybride Charakter von Abendgymnasien und Kollegs zeigt sich auch in den typischen Organisationsstrukturen und Angebo-ten.

Abendgymnasien und Kollegs sind hybride Institutionen, denn sie verfü-gen über schulisch-inhaltlich strukturierte und auf die Berechtigungsver-gabe hin ausgerichtete Curricula in einer spezifischen, erwachsenenge-rechten zeitlichen und organisationalen Strukturierung.

Im Vergleich zu klassischen Gymnasien und Gesamtschulen bieten sie ein in aller Regel eingeschränkteres Fächerangebot an, haben zu-gleich ebenso reichhaltig Arbeitsgemeinschaften unterschiedlichster Art und Ausrichtung eingerichtet und verfügen häufig über einen Förderver-ein und pflegen Schulpartnerschaften. Neben diesen für Pflichtschulen typischen Angeboten offerieren diese Schulen auch pflichtschuluntypi-sche Angebote: So engagieren sich die Schulen bei der Frage der Zerti-fizierung insbesondere der Sprachkenntnisse ihrer Schülerklientel, eine Offerte, die eher in Richtung der Erwachsenenbildung reicht. Die Her-stellung der Passung zwischen Schülerschaft und schulischem Angebot spielt zudem an den Abendgymnasien und Kollegs eine besondere Rol-le. In aller Regel prüfen Abendgymnasien und Kollegs bei der Aufnahme

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neuer Schülerinnen und Schüler die Passung derselben zur Einrichtung und leiten daraus zukünftige Fördermaßnahmen während der Schullauf-bahn ab. Diese Instrumente dienen weniger der Selektion als vielmehr der Förderung. Viele Schulen führen vor der eigentlichen Anmeldung Aufnahmegespräche durch, die auch mit fachlichen Einstufungstests verbunden sein können. Letztere können z. B. darüber entscheiden, ob die Schule den Besuch von Vorkursen empfiehlt oder sogar verpflich-tend macht (für Schülerinnen und Schüler ohne Realschulabschluss). Das zentrale, rechtlich dafür vorgesehene Element der Passsungsher-stellung sind Vorkurse. Diese sind häufig bildungsgangspezifisch veran-kert und dauern zwischen einem halben und einem Schuljahr. Vorkurse nehmen wöchentlich zwischen ca. 12 bis 20 Stunden in Anspruch. Ein häufig vertretener fachlicher Schwerpunkt an Vorkursangeboten stellt Deutsch als Fremdsprache dar.

Typisch für Abendgymnasien und Kollegs ist zudem eine Vielfalt insti-tutionalisierter Beratungsangebote, die von schulbezogenen (z. B. schul-laufbahnbezogen) bis hin zu (schwerpunktmäßigen) Angeboten der Le-bensberatung reichen sowie die Berufsberatung adressieren. Abend-gymnasien und Kollegs sind in ihrem Nahraum breit vernetzte schuli-sche Akteure.

Lehrkräfte an Abendgymnasien und Kollegs sind mit ihrem Beruf sehr zufrieden, wünschen sich allerdings häufig eine stärkere An-erkennung ihrer Schulen und ihrer Tätigkeit durch die Bildungspoli-tik.

Für viele Lehrkräfte ergeben sich an Abendgymnasien und Kollegs Ar-beitszeiten, die sich durch Präsenzen im Vormittags- wie im Abendbe-reich breiter auf den Tag verteilen als in anderen gymnasialen Oberstu-fen. Die große Mehrheit der dort tätigen Lehrkräfte unterrichtet gerne im Zweiten Bildungsweg, insbesondere der Umgang mit erwachsenen Ler-nern wird wertgeschätzt. Die häufig als fehlend wahrgenommene Aner-kennung durch die Bildungspolitik ist hingegen für viele Lehrkräfte an diesen Schulen eine geteilte Erfahrung.

Die Lehrerrolle an Abendgymnasien und Kollegs kann durch die erwachsenen Lerner hinsichtlich ihrer Professionalität unter Druck geraten.

Stärker als Lehrkräfte im Ersten Bildungsweg beraten und unterstützen Lehrkräfte an Abendgymnasien und Kollegs ihre Schülerinnen und Schüler in außerschulischen Angelegenheiten, wie z. B. bei Fragen zur

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Sicherung des Lebensunterhalts. Typisch für diese Schulen ist es daher, dass die erwachsene Lebenssituation der Lerner das außerunterrichtli-che Angebot der Schulen prägt. Häufig arbeiten die Lehrkräfte dabei mit außerschulischen Akteuren zusammen. Diesen Beratungsschwerpunkt empfinden viele Lehrkräfte als Herausforderung für ihre Lehrerrolle und deren professionelle Grenzen.

Lehrkräfte an Abendgymnasien und Kollegs verfügen über eine ausgeprägte Subjektorientierung, was für die Arbeitsbündnisse zwischen Schüler- und Lehrerschaft eine große Rolle spielt.

Für die Lehrkräfte an Abendgymnasien und Kollegs sind die Motive „Herstellung von Chancengleichheit“, „Wissensvermittlung und Studier-fähigkeit“ sowie „Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung“ von ho-her Bedeutung für ihr berufliches Engagement. Hinsichtlich der pädago-gischen Konzepte überwiegt in der Lehrerschaft die Subjektorientierung gegenüber der Stofforientierung, das pädagogische Arbeitsbündnis er-scheint damit stärker auf die Person als auf die Sache hin ausgerichtet zu sein.

Die (erwachsene) Schülerschaft fühlt sich durch die subjektorien-tierten Arbeitsbündnisse gut angenommen und sozial gut inte-griert, wobei sich bildungsgangspezifische Unterschiede zuguns-ten der Schülerschaft an Abendgymnasien zeigen.

Schülerinnen und Schüler an Abendgymnasien bewerten die Schüler-Lehrer-Beziehung tendenziell positiver und identifizieren sich stärker mit ihrer Schule als die Schülerinnen und Schüler am Kolleg. Die positivsten Bewertungen äußern die Schülerinnen und Schüler im Bildungsgang Abitur-Online. Die persönliche Zuwendung der Lehrkräfte findet in den Schülereinschätzungen positiven Wiederhall.

Die Lehrkräfte an Abendgymnasien und Kollegs reagieren auf die spezifischen Lern- und Lebenserfahrungen ihrer Schülerklientel zugewandt emphatisch.

Die Lehrkräfte nehmen gemäß ihrer Selbstbeschreibung die spezifi-schen Herausforderungen der erwachsenen Lerner wahr und begegnen diesen verständnisvoll-empathisch. Gleichwohl stellt aus der Sicht der Lehrkräfte die wahrgenommene Zieldiffusität, mit der die Lernenden die Schullaufbahn einschlagen und realisieren, gekoppelt mit den häufig problematischen Erfahrungen im Ersten Bildungsweg, für das schulische

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Lernen im Zweiten Bildungsweg eine zentrale Herausforderung auch an die Lehrertätigkeit.

Von der Schülerschaft der Abendgymnasien und Kollegs hat be-reits beim Eintrittszeitpunkt mehr als der Hälfte den höchsten Schulabschluss der Eltern erreicht oder schon übertroffen. Ge-messen an anderen zum Abitur führenden Bildungsgängen sind Schülerinnen und Schüler mit nicht deutscher Verkehrssprache an Abendgymnasien und Kollegs überrepräsentiert.

Mit Blick auf den Eintrittszeitpunkt in den Zweiten Bildungsweg an Abendgymnasien oder Kollegs zeigt sich zunächst eine deutliche (zeitli-che) Nähe zum Ersten Bildungsweg, da die Schülerinnen und Schüler gymnasiale Bildungsgänge des Zweiten Bildungswegs überwiegend im Alter bis Mitte zwanzig unmittelbar nach dem Verlassen des Ersten Bil-dungswegs beginnen. Mehr als die Hälfte von ihnen hat zu diesem Ein-trittszeitpunkt bereits den höchsten Schulabschluss ihrer Eltern erreicht oder übertroffen. Es zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede, bei denen die Eltern der jungen Frauen eine vergleichsweise geringere Schulbildung aufweisen als die Eltern der jungen Männer. Schülerinnen und Schüler, in deren Lebenswelt die deutsche Sprache nicht (allein) die Verkehrssprache darstellt, sind mit einem Anteil von 27,8 Prozent an den Abendgymnasien und Kollegs gegenüber den Oberstufenschülerin-nen und -schülern des Ersten Bildungswegs (11,6 %) deutlich überre-präsentiert.

Bildungsgänge in Schulen des Zweiten Bildungswegs sind organi-satorisch im Kern entlang der Frage der Berufstätigkeit ihrer Schü-lerinnen und Schüler entworfen. Die enge Kopplung der Bildungs-gänge an die Berufstätigkeit der Schülerinnen und Schüler wird je-doch zunehmend infrage gestellt.

Nur etwa die Hälfte (55,2 %) der Befragten weist die Voraussetzung ei-ner abgeschlossenen betrieblichen oder schulischen Berufsausbildung auf, denn auch Familienarbeit wird als formale Voraussetzung zum Ein-tritt akzeptiert. Die aktuelle berufliche Situation der Schülerinnen und Schüler stimmt nur begrenzt mit den (unterstellten) bildungsgangbezo-genen Adressatenprofilen überein: Abendgymnasien zielen auf Perso-nen, die einer Vollzeittätigkeit nachgehen (wochentags bis ca. 17 Uhr). Allerdings geht mehr als ein Viertel (26,1 %) der befragten Schülerinnen und Schüler am klassischen Abendgymnasium keiner Berufstätigkeit nach. Demgegenüber beruhen Kollegs auf der Annahme, dass eine sol-

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che „klassische“ berufliche Tätigkeit während des dreijährigen Schulbe-suchs eingestellt wird, denn das schulische Angebot findet tagsüber statt. Gleichwohl geben hier ein Drittel (37,9 %) der Kollegschülerinnen und -schüler an, berufstätig zu sein. Der jüngste Bildungsgang „Abitur-Online“ entspringt dem Anspruch, eine zeitliche Flexibilität zu ermögli-chen, die auf immer weniger „klassische“ Arbeitszeiten reagiert, indem nur wenige Präsenzphasen an der Schule mit regelmäßigen Online-Arbeitsphasen gekoppelt werden. Die Befragten im Abendgymnasium „Abitur-Online“ entsprechen am ehesten dem Adressatenprofil des klas-sischen (Präsenz-)Abendgymnasiums, denn sie sind überwiegend (84,5 %) berufstätig.

Gymnasiale Vorerfahrungen sind in der Schülerschaft von Abend-gymnasien und Kollegs sehr selten, eine bedeutsame Gruppe der Schülerschaft hat bereits den (formal notwendigen) Realschulab-schluss in einer Schule des Zweiten Bildungswegs erworben.

Nur eine Minderheit der Schülerinnen und Schüler an Abendgymnasien und Kollegs (8,0 %) verfügt über klassisch gymnasiale Erfahrungen. Dies lässt die Aufstiegsorientierung der Schülerinnen und Schüler er-kennen. Stärker als Schülerinnen und Schüler des Ersten Bildungswegs weisen die Befragten gebrochene Laufbahnen in Form von Klassenwie-derholungen und Schulformwechseln auf. Zudem hat etwa ein Fünftel der Befragten bereits die Mittlere Reife – als Voraussetzung für den Zu-gang zum gymnasialen Bildungsgang am Abendgymnasium oder Kol-leg – im Zweiten Bildungsweg (Abendrealschule) erworben.

Die Gründe und Ziele, die mit der Erweiterung der angestrebten formalen Qualifikation und der Bildung über den Besuch eines Abendgymnasiums oder Kollegs verbunden werden, sind sehr un-terschiedlich und häufig unkonkret.

Betrachtet man die Motive und Ziele, die von den Befragten als aus-schlaggebend für die Wiederaufnahme des Schulbesuchs und den Er-werb eines zusätzlichen Schulabschlusses angegeben werden, domi-nieren Unzufriedenheitsmotive, die sich auf die materielle Situation ebenso beziehen wie auf den Wunsch nach einem Wechsel des Berufs(-feldes) oder auch auf das Anliegen, überhaupt einen Zugang zum Ar-beits- und vor allem Ausbildungsmarkt zu erhalten. Der Wunsch, eine eigenständige und erfüllende Lebensführung zu realisieren, gilt also nach wie vor als Antrieb. Dabei ist dieser Antrieb als eher unspezifisch zu beschreiben: Eine dezidierte Zielvorstellung, welcher Schulabschluss

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das unmittelbare Ziel des Schulbesuchs darstellt (der Erwerb der Fach-hochschulreife oder der Allgemeinen Hochschulreife), hat nur etwa die Hälfte der Befragten.

Über die Hälfte der Schülerinnen und Schüler strebt die Nutzung des zusätzlichen Schulabschlusses (FHR oder AHR) für ein Hochschulstudi-um an, wobei der Wunsch, ein Universitätsstudium aufnehmen zu wol-len, überwiegt. Etwa jeder zehnte Befragte hat mit Blick auf die spätere berufliche oder bildungsbezogene Verwertung eines zusätzlichen Schul-abschlusses kein klares Ziel. Die beruflichen Zielvorstellungen sind di-vers, dabei jedoch von akademischen Berufen geprägt. Entsprechend weisen die Studienfachwünsche und die Berufswünsche starke Paralle-len auf. Mit dem Schulbesuch werden über abschlussbezogene Anlie-gen hinaus auch weitere Hoffnungen verbunden. So wird im Durch-schnitt zumindest teilweise die Erwartung einer Persönlichkeitsentwick-lung gehegt und in einem etwas geringeren Maße auch der Wunsch nach einer Zäsur im Leben in den Bildungsprozess hineingetragen.

Ein knappes Viertel der Schülerinnen und Schüler besucht vor Aufnahme des eigentlichen Bildungsgangs einen Vorkurs, am klassischen Abendgymnasium ist diese Gruppe größer als in den anderen Bildungsgängen.

Anders als im gymnasialen Bildungsgang des Ersten Bildungsweges steht zu Beginn der Bildungslaufbahn im Zweiten Bildungsweg die Ein-stufungsfrage an: Formal können Schülerinnen und Schüler, die nicht über einen Realschulabschluss verfügen, diese Voraussetzung durch den erfolgreichen Besuch eines Vorkurses nachholen. Diese Option wird auch für solche Schülerinnen und Schüler angeboten, die zwar die for-malen Voraussetzungen erfüllen, deren Lernvoraussetzungen zur Teil-nahme am regulären Bildungsgang jedoch gestärkt werden sollen. Der Vorkurs übernimmt in diesen Fällen die Funktion eines unterrichtsvorbe-reitenden Förderkurses. Insgesamt 21,7 Prozent der Befragten nehmen dieses Angebot wahr. Insbesondere bei den Schülerinnen und Schülern des klassischen Abendgymnasiums wird dieses Angebot häufig genutzt (28,7 %).

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Etwas mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler gelangt glatt durch die ersten vier Semester der Schullaufbahn, ein knap-pes Viertel wiederholt während dieser Zeit ein Semester oder ein Schuljahr, gut 20 Prozent der Schülerschaft hat zu diesem Zeit-punkt entschieden, den Weg zum (Fach-) Abitur nicht weiter zu verfolgen und ist daher bereits ausgeschieden.

Lässt man – wie in der vorliegenden Studie geschehen – außer Acht, dass es eine Gruppe von Personen gibt, die ihre Entscheidung für den erneuten Schulbesuch in den ersten sechs bis acht Wochen wieder re-vidieren, führen etwas mehr als die Hälfte (52,9 %) der in dieser Studie analysierten Schullaufbahnen vom ersten bis zum vierten Schulhalbjahr ohne Unterbrechung zum Abschluss der Fachhochschulreife (11,9 %) bzw. zum Einstieg in das zweite Jahr der Qualifikationsstufe (41,0 %). Etwa ein Viertel der Schullaufbahnen (24,6 %) wird durch eine Wieder-holung (eines vollen Schuljahrs oder eines Schulhalbjahrs) verzögert, wobei diese Wiederholungen zu zwei Dritteln schon in der Einführungs-phase (Schulhalbjahr 1 und 2) stattfinden. Die Freiwilligkeit des Schul-besuchs im Zweiten Bildungsweg drückt sich auch darin aus, dass ein relevanter Anteil der Schülerinnen und Schüler (20,5 %) den Weg zur Fachhochschulreife bzw. zum Abitur in den ersten vier Schulhalbjahren vorzeitig formal abbricht oder den Schulbesuch ohne Exmatrikulation nicht fortführt.

Um diesen Anteil – der keine formale Quote darstellt, da er nicht am Ende der Bildungslaufbahn erhoben wurde – zu relationieren, lässt sich die Abbruchquote von Berufsausbildungen (2016: 25,8 %) sowie die Studienabbruchquote an Universitäten (28 % in 2012 für Bachelor-Studiengänge) als Vergleich nutzen (Heublein u. a. 2014; Zeit online 2018). Zu den Abbruchquoten dieser beiden Institutionen der Erwachse-nenbildung zeigen sich stärkere Parallelen als zu der Abbruchquote im Ersten Bildungsweg, die mit ungefähr 6 Prozent deutlich niedriger aus-fällt.

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Jahrgangs- oder Semesterwiederholungen erhöhen das Risiko be-trächtlich, den Bildungsweg am Abendgymnasium oder Kolleg oh-ne zusätzlichen Abschuss zu verlassen.

Die Schullaufbahn von Wiederholern weist ein erhöhtes Dropoutrisiko auf. Nur einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Lernenden gelingt es, die Schullaufbahn im Kolleg oder Abendgymnasium nach der Wie-derholung erfolgreich bis zum Ende des vierten Schulhalbjahrs fortzu-setzen. Die Studie ermöglicht es aufgrund ihrer zeitlichen Beschränkung nicht, einen reinen Längsschnitt über sechs Jahre zu realisieren.

Die selbstwahrgenommene Beanspruchung der Schülerinnen und Schüler durch ihre Doppelrolle als Schülerin bzw. Schüler wie als Erwachsene bzw. Erwachsener mit selbstverantwortlicher Lebens-führung führt nicht zu einer hohen Belastungsselbsteinschätzung.

Für erwachsene Lerner stellt der Schulbesuch eine besondere Heraus-forderung dar, da sie neben den schulischen Aufgaben in der Regel auch die Aufgaben einer eigenständigen Lebensführung (Finanzierung des Lebensunterhalts/Familie) bewältigen müssen. Daher wurden die äußeren Rahmenbedingungen der Befragten aus ihrer subjektiven Sicht analysiert. Unerwarteterweise fühlen sich die meisten Befragten nur we-nig beansprucht durch diese doppelte Aufgabenbewältigung, wobei das Beanspruchungserleben im Verlauf der Schulzeit moderat ansteigt. Von ihrem engeren sozialen Umfeld fühlen sich die Befragten mehrheitlich in positiver Weise unterstützt. Diese Unterstützung des Umfeldes lässt je-doch tendenziell im Verlauf des Schulbesuchs nach.

Für Schulen der Erwachsenenbildung ist das vorzeitige Verlassen des eingeschlagenen Bildungsgangs ohne Abschluss gleicherma-ßen Alltag wie ein legitimatorisches Problem.

Wenn Erwachsene einen mehrjährigen Schulbesuch an einem Abend-gymnasium oder Kolleg aufnehmen, dann ist das (zentrale) Ziel in aller Regel der Erwerb eines Schulabschlusses: der Fachhochschulreife oder der Allgemeinen Hochschulreife. Traditionell erreicht jedoch nur ein Teil der Schülerinnen und Schüler, die einen gymnasialen Bildungsgang be-ginnen, letztlich dieses Ziel. Für Abendgymnasien und Kollegs stellt dies sowohl für die pädagogische Arbeit als auch mit Blick auf die legitimato-rische Absicherung (z. B. der institutionellen Eigenständigkeit) eine Her-ausforderung dar.

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Das vorzeitige Verlassen des Bildungsgangs an Abendgymnasien und Kollegs ohne zusätzlichen Abschluss muss für die erwachse-nen Lerner anders als im Ersten Bildungsweg bewertet werden und erscheint aus individueller Lernerperspektive auch als Neube-ginn.

Das Phänomen des vorzeitigen Abbruchs institutioneller Bildungspro-zesse wird parallel in verschiedenen Teildisziplinen der Erziehungswis-senschaft erforscht. Dass die Forschungszugänge der Teildisziplinen sich z. T. in Begriffen bzw. Erklärungsansätzen unterscheiden, liegt nicht zuletzt daran, dass die Spezifika eines jeweiligen Bildungsbereichs eine wichtige Rolle spielen. Hinsichtlich des hybriden institutionellen Charak-ters von Abendgymnasien und Kollegs scheinen das Lebensalter der Lernenden sowie die Freiwilligkeit der Teilnahme am Bildungsprozess somit besondere Relevanz zu haben. So kennen die Einrichtungen zum einen das Phänomen, dass der Schulbesuch trotz erfolgreicher Zulas-sung von einigen Bewerberinnen und Bewerbern gar nicht erst angetre-ten wird. Zum anderen entscheidet sich in den ersten ca. vier bis sechs Wochen des beginnenden Bildungsgangs eine vergleichsweise hohe Anzahl der Schülerinnen und Schüler dafür, die Schule nicht weiter zu besuchen. Der Abgang ohne den nächstmöglichen Schulabschluss zieht sich dann allerdings auch über den weiteren Zeitraum des Bildungs-gangs. Diese Erscheinungsform(en) des Schulabbruchs an Abendgym-nasien und Kollegs verweisen auf Parallelen zum Studienabbruch im Bereich der Hochschule bzw. zum Dropout im Bereich der Erwachse-nen-/Weiterbildung – und legen eine Beachtung der entsprechenden konzeptionellen Angebote nahe. Zugleich fordert gerade der hybride Charakter der Einrichtungen dazu auf, für die Analyse ebenfalls deren „schulische Seite“ im Blick zu halten.

Aus einem organisationalen Blickwinkel ist der Abbruch der Schul-laufbahn oft ein Problem und erhält ggf. die Konnotation des „Schei-terns“. Demgegenüber stellt die Beendigung der Schullaufbahn aus indi-vidueller Sicht einen Übergang zu etwas Anderem bzw. Neuem dar. In-sofern interessiert beim Phänomen des Schulabbruchs nicht zuletzt auch die biografische Ausdeutung seitens der Beteiligten, insbesondere der Abbrecherinnen und Abbrecher. Ein (drohender) Abbruch des Schul-besuchs ist demnach ein Alltagsphänomen in Kollegs und Abendgym-nasien. Im Zusammenspiel zwischen erwachsenen Schülerinnen und Schülern mit voller Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung und schulischen Ansprüchen über einen Zeitraum von mehreren Jahren hin-weg kommt es nicht selten zu Situationen, in denen der Schulbesuch durch die Schülerinnen und Schüler infrage gestellt wird. Schulen sind

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sich der Herausforderung bewusst, vor der die Schülerinnen und Schü-ler stehen: Sie sind selbstverantwortlich für Ihr Leben – den Lebensun-terhalt verdienen, Verantwortung für eigene Kinder oder kranke Eltern zu haben – und lernen in einer Institution, die eine Zeitaufwendung ver-langt, die mit den übrigen Lebensaufgaben in Konflikt geraten kann.

Das vorzeitige Verlassen der Schule ohne Abschluss kommt unter Schülerinnen und Schülern ohne deutsche Muttersprache häufiger als bei solchen mit deutscher Muttersprache vor.

Rekonstruiert man das Ausmaß des Schulabbruchs an Kollegs und Abendgymnasien aus den schulstatistischen Daten der Schulen, so zeigt es sich als ein verbreitetes Phänomen insbesondere in den ersten beiden Schulhalbjahren: Die durchschnittliche Abbruchquote von im ers-ten Schulhalbjahr 28,6 Prozent sinkt auf 16,3 Prozent im zweiten und 8,8 Prozent im dritten Schulhalbjahr. Hierbei unterscheiden sich die Ein-zelschulen im Ausmaß des Schulabbruchs in einem erheblichen Maße.

Die Analysen der individuellen Schullaufbahndaten vom Beginn des Bildungsgangs bis zum Erwerb des ersten möglichen Schulabschlusses (Fachhochschulreife) zeigen, dass weder das Geschlecht der Befragten, noch deren elterlicher Bildungshintergrund oder ggf. die Verantwortung für eigene Kinder mit signifikanten Unterschieden beim Schulabbruch einhergehen. Demgegenüber kommt der Schulabbruch etwas häufiger in der Gruppe der Schülerinnen und Schüler vor, die Deutsch nicht als ihre Muttersprache angibt, als in der Gruppe mit deutscher Mutterspra-che (28,8 % gegenüber 21,8 %).

Schülerinnen und Schüler ohne abgeschlossene Berufsausbildung haben ein erhöhtes Risiko des Abbruchs, dies gilt ebenso für Schülerinnen und Schüler, die den Realschulabschuss bereits im Zweiten Bildungsweg erworben haben.

Das Risiko des Schulabbruchs fällt allerdings für die Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen bildungsbezogenen Voraussetzungen ver-schieden hoch aus: Schülerinnen und Schüler ohne eine abgeschlosse-ne (schulische oder duale) Berufsausbildung brechen vergleichsweise häufiger als solche mit abgeschlossener Berufsausbildung ihren Schul-besuch vorzeitig ab (31,9 % gegenüber 18,3 %). Der Bildungsbereich, in welchem der Mittlere Schulabschluss erworben wurde, geht ebenfalls mit einem differenten Ausmaß des Schulabbruchs einher: Ist diese Zu-lassungsvoraussetzung schon im allgemeinbildenden Ersten Bildungs-weg erworben worden, ist die Abbruchquote am niedrigsten (19,8 %).

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Sie steigt bei einem Abschluss im berufsbildenden System (29,3 %) und ist noch einmal höher, falls der Abschluss im Weiterbildungssystem er-worben wurde (34,1 %). Für letzteren Bereich gilt, dass die Teilgruppe der Absolventinnen und Absolventen von Abendrealschulen vergleichs-weise am häufigsten abbricht (39,3 %).

Aus Schulperspektive ist ein Schulabbruch ein schleichendes Phänomen, dessen Ausmaß an den Schulen nicht formal erfasst wird.

Für die Lehrkräfte handelt es sich um ein schleichendes Phänomen, weil die Schülerinnen und Schüler häufig erst nach längeren Fehlzeiten dem Schulbesuch dauerhaft fernbleiben, ohne sich formal abzumelden. Das tatsächliche Ausmaß des Abbruchs wird an den Schulen nicht nachge-halten, die interviewten Lehrkräfte verfügen diesbezüglich nur über all-tagsbezogene begründete Einschätzungen des Ausmaßes. Aus der Perspektive vieler Lehrkräfte hat das Ausmaß des Schulabbruchs im Zeitverlauf zugenommen, was mit der veränderten, heterogeneren Klien-tel in Zusammenhang gebracht wird. Es würden zunehmend solche Schülerinnen und Schüler aufgenommen, die den Schulbesuch aus Mangel an Alternativen aufnehmen.

Abendgymnasien und Kollegs sind Institutionen, die sich um die Passung zwischen den Lernvoraussetzungen der Schülerschaft und ihren institutionellen Ansprüchen in besonderer Weise bemü-hen. Dies gilt auch mit Blick auf die Zielstellung, Schulabbruch zu vermeiden.

In den Interviews wird deutlich, dass die Schulvertreter im Falle eines drohenden Abbruchs häufig bestrebt sind, den persönlichen Kontakt zu dem jeweiligen Schüler bzw. der jeweiligen Schülerin herzustellen und Alternativen (z. B. in der Form einer zeitbefristeten Beurlaubung) aufzu-zeigen und entsprechende Unterstützungen anzubieten. Die Schulen bieten ein reichhaltiges Unterstützungsangebot für die Lernenden an, das weit in das allgemeine Leben der Schülerinnen und Schüler hinein-ragt. In den Beratungen versuchen die Schulen, den Schülerinnen und Schülern die Rückkehroption in die Schule offenzuhalten und statt eines (endgültigen) Abbruchs eine (zeitbefristete) Beurlaubung zu erreichen.

Die heterogenere Klientel zeigt sich in der Wahrnehmung vieler Lehr-kräfte auch an einer Zunahme an Schülerinnen und Schülern mit psy-chischen Erkrankungen. Diese Schülergruppe gilt mit Blick auf den Ab-bruch des Schulbesuchs daher als Risikogruppe.

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Die Interviews mit den Abbrecherinnen und Abbrechern legen zwar nahe, dass insbesondere Leistungsprobleme zum Schulabbruch führen, jedoch kann auch hier nicht ausgeschlossen werden, dass insbesondere psychisch Erkrankte nicht zu einer Teilnahme an der Interviewstudie be-reit gewesen sind. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass die Übernahme von beratenden oder koordinierenden Funktionen bei den interviewten Fachlehrkräften zu einer spezifischen und mitunter verzer-renden Sichtweise auf die Schülerschaft und den Schulabbruch führen könnte. Des Weiteren sind Einflussfaktoren mitunter nicht trennscharf voneinander zu unterscheiden; Variablen wirken multifaktoriell zusam-men und können sich gegenseitig bedingen und verstärken.

Schulabbrecherinnen und -abbrecher von Abendgymnasien und Kollegs attestieren den Schulen, die sie verlassen haben, ein posi-tives Schulklima.

Die Beschreibungen, die die Abbrecherinnen und Abbrecher über ihre schulischen Erfahrungen im Kolleg oder im Abendgymnasium abgeben, geben keinen Anlass zu der Vermutung, dass sich die ehemaligen Schü-lerinnen und Schüler an ihren Institutionen nicht wohlgefühlt hätten: Die Beziehungen zu den Lehrkräften wie zu den Mitschülerinnen und Mit-schülern werden positiv geschildert und auf der sozialen Ebene von den Interviewpartnern positiv hervorgehoben. Die positive Wahrnehmung der Schüler-Lehrer-Beziehung wird von den Abbrecherinnen und Abbre-chern darauf zurückgeführt, dass sie sich als erwachsene Lerner und auch als Persönlichkeiten jenseits der Schülerrolle angenommen fühlen. Die Ursachen für den Schulabbruch finden sich also nicht auf der Ebene der Schulkultur bzw. des Schulklimas.

Schulabbrecherinnen und -abbrecher übernehmen Verantwortung für die Beendigung ihres Schulbesuchs selbst und führen die Ur-sachen nicht auf einen Mangel an Unterstützung seitens der Abendgymnasien und Kollegs zurück.

Häufig sind es schulische Leistungsprobleme, welche die ehemaligen Schülerinnen und Schüler dazu veranlasst haben, ihre ursprünglichen Intentionen, ein Abitur am Abendgymnasium oder einem Kolleg zu er-werben, zu verändern. Über Leistungsprobleme hinaus sind es aktuell veränderte Lebenssituationen, die zum Schulabbruch veranlassen, sei-en es Krankheiten von Partnern, Eltern oder Kindern oder auch die Zu-sage eines präferierten Ausbildungsplatzes. Die Abbrecherinnen und Abbrecher zeigen sich in den Interviews als Personen, welche die viel-

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fältigen Unterstützungs- und Beratungsangebote, welche die Schulen of-ferieren, kennen oder auch in Anspruch genommen, wenngleich dies ih-re Entscheidung eher nicht beeinflusst hat. Die Lehrkräfte des Zweiten Bildungswegs werden von den Abbrechern als durchgehend positiv und unterstützend geschildert, ihr eigenes Leistungsversagen wird an keiner Stelle mit schlechtem Unterricht in Verbindung gebracht.

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8. Ausblick und Forschungsdesiderata

Die vorgelegten Analysen verdeutlichen, dass die untersuchten Schulen des Zweiten Bildungsweges einer sehr breit gefächerten Schülerschaft Angebote zum nachträglichen Erwerb des (Fach-)Abiturs unterbreiten. Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Eingangsvoraussetzungen (z. B. ohne und mit Migrationshintergrund, differente schulische Erfah-rungen im Ersten Bildungsweg, ohne und mit abgeschlossener Berufs-ausbildung), Motivlagen zur Teilnahme am Zweiten Bildungsweg und mit unterschiedlichen (zeitlichen) Ressourcen (Berufstätigkeit in Voll- oder Teilzeit oder nicht berufstätig, Familie und Kinder, …) erhalten die Mög-lichkeit, hochschul-qualifizierende Bildungsabschlüsse zu erwerben. Die Schulen reagieren auf die vorgefundene Heterogenität mit (zeitlich) fle-xiblen Unterrichts-, sowie vielfältigen (insbesondere auch außerunter-richtlichen) Unterstützungs- und Beratungsangeboten, die darauf zielen, den Schülerinnen und Schülern die Nutzung der Angebote zu erleich-tern. Es ist das geteilte Ziel der Schulen, den Anteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, der den Schulbesuch ohne angestrebten Schulab-schluss abbricht, zu verringern. Vor diesem Hintergrund sollen nachfol-gend ausgewählte Ansatzpunkte angeführt werden, welche von den Schulen gestaltend aufgegriffen werden könnten:

Die Beschäftigung mit den Motivlagen und Zielstellungen der Schüle-rinnen und Schüler, welche zur Wiederaufnahme des Schulbesuchs im Zweiten Bildungsweg geführt haben, offenbart mehrheitlich eine gewisse Orientierungslosigkeit, welche als Ausgangspunkt für den angestrebten Bildungsweg, der als ressourcenintensiv eingestuft werden kann, durch-aus problematisch ist. Motivationstheoretisch muss davon ausgegangen werden, dass die Aktivierung der individuellen Lernressourcen durch ei-ne klare Zielstellung begünstigt wird, wohingegen unklare Zielstellungen bzw. Orientierungslosigkeit dies beeinträchtigen (Locke/Latham 2002). Daher erscheint es sinnvoll, einerseits solche Angebote auszubauen, welche den Schülerinnen und Schülern ihre eigenen Motive vergegen-wärtigen sowie dazu beitragen, auch die eigenen (lernrelevanten) Res-sourcen zu aktivieren. Dies könnte einen Beitrag dazu leisten, dass sich die Schülerinnen und Schüler über den eingeschlagenen Weg vergewis-sern und ihn insgesamt weniger in Konkurrenz zu anderen, parallellau-fenden Möglichkeiten im Sinne einer Option unter vielen infrage stellen. Insbesondere die Interviews mit den Abbrecherinnen und Abbrechern legen die Annahme nahe, dass durch ein (wenig zielgerichtetes) „Bil-dungsmoratorium“ (Zinneker 1991) die Einstiegsphase in berufliche und familiale Erwachsenenlaufbahnen verlängert werden soll. Dieser These

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trägt beispielsweise auch der Befund Rechnung, dass nur etwas mehr als die Hälfte (55 %) der Schülerinnen und Schüler bereits über eine ab-geschlossene Berufsausbildung (als Indikator für den erfolgten Eintritt in das Berufsleben) verfügt. Da diejenigen, welche über keine ab-geschlossene Berufsausbildung verfügen, ebenso wie Jugendliche, wel-che Deutsch nicht als heimische Verkehrssprache nutzen sowie (inter-ne) Wiederholer überproportional häufig vorzeitig den Schulbesuch im Zweiten Bildungsweg beenden, kann über gezielte Fördermaßnahmen für diese Zielgruppe(n) nachgedacht werden. Letztendlich können all solche Angebote, welche eine Fokussierung der eigenen Ressourcen auf ein selbst definiertes Ziel fördern, dazu beitragen, die individuellen Bildungsbiografien der Schülerinnen und Schüler zu stärken.

Dazu gehört unseres Erachtens jedoch auch eine Schärfung der schulischen Anforderungen, die bedient werden müssen, um die gesetz-ten Ziele erreichen zu können. Die Auswertungen (insbesondere der Abbrecherinterviews) legen die Vermutung nahe, dass viele Lehrkräfte in den Schulen einen Schwerpunkt auf die soziale Integration in der Schule und der Lerngruppe sowie auf ein konstruktives Unterrichtsklima legen. Die Daten zeigen zudem, dass diese Bestrebungen durchaus zielführend sind; die Schülerinnen und Schüler fühlen sich überwiegend (sehr) wohl und fühlen sich auch unterstützt. Gleichwohl berichten die Abbrecherinnen und Abbrecher implizit von Problemen im Umgang mit Leistungssituationen, die auch darauf zurückgeführt werden könnten, dass die schulischen Leistungsanforderungen von den Lernenden nicht verinnerlicht wurden. Vor diesem Hintergrund kann es sinnvoll erschei-nen, den – letztlich durch das Zentralabitur objektivierten – Leistungsan-spruch sowie Methoden, mit denen die Lernenden diesem Anspruch ei-genständig genügen können (z. B. selbstgesteuertes Lernen etc.) in un-terrichtlichen und unterrichtsergänzenden Angeboten zu schärfen. Die-ser Punkt, der sich auf die konkrete Ausgestaltung der unterrichtlichen Angebote insbesondere angesichts äußerst heterogener Lernausgangs-lagen bezieht, weist zugleich auf ein zentrales Forschungsdesiderat hin. Solche Forschungsdesiderate zur Thematik werden folgend vorgestellt. Vollständiger Längsschnitt über die gesamte Bildungslaufbahn: In der vorliegenden Studie konnte nur ein kumulativer bzw. ‚aufgesetz-ter‘ Längsschnitt realisiert werden, der durch die Kopplung von zwei Ko-horten an der Schnittstelle des vierten Semesters entsteht. Dies bringt mit Blick auf die Rekonstruktion vollständiger Bildungslaufbahnen Rest-riktionen mit sich, die nur durch eine Längsschnittstudie über die gesam-te Bildungslaufbahn im Zweiten Bildungsweg sowie ggfs. auch darüber hinaus ausgeschlossen werden können. Eine solche Längsschnittstudie könnte darüber hinaus auch auf solche Bildungslaufbahnen im Zweiten

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Bildungsweg ausgeweitet werden, die den Erwerb des Mittleren Schul-abschlusses zum (vorläufigen) Ziel haben. Auf diesem Weg könnte auch das Phänomen der zunehmenden Nähe des Zweiten Bildungsweges (als nachgelagertes Parallelsystem) zum Ersten analysiert werden. Da-bei sollte auch eine vertiefte Erforschung der Gründe für die Aufnahme eines Schulbesuchs verfolgt werden. In der vorliegenden Studie wurden die Motive der Teilnehmerinnen und Teilnehmer quantitativ mit Hilfe ei-nes standardisierten Fragebogens erfasst. Obwohl die Items in enger Zusammenarbeit mit schulischen Experten (Lehrkräften, Schulleitungen und Koordinatoren) entwickelt wurden, zeigt die Auswertung kein klares Bild für die Gründe, die zum erneuten Schulbesuch geführt haben. Es muss angenommen werden, dass es sich um ein deutlich komplexeres Gefüge aus individuellen Motiven und situationalen Faktoren handelt, das durch den Fragebogen allein nicht abgebildet werden kann. Statt-dessen könnte eine qualitative Studie, welche auf eine Rekonstruktion des je individuellen Motivgefüges abzielt, Aufschluss geben. Darüber hinaus erscheint auch ein kontrastives Vergleichsdesign der Motivlagen an Abendgymnasien/Kollegs im Vergleich zu Berufskollegs und vor Be-ginn einer Berufsausbildung vielversprechend, um die Entscheidungs-strukturen für die Höherqualifizierung im Zweiten Bildungsweg entfalten zu können.

Analyse der pädagogischen (unterrichtsnahen) Praxis: Die vorliegende Studie fokussierte auf solche Bildungsverläufe im Zwei-ten Bildungsweg, die zum (Fach-)Abitur führen. Dabei berücksichtigte sie organisationale Angebotsstrukturen als erklärende Rahmenvariab-len; pädagogische Prozesse wurden jedoch nicht erfasst. Unter der Maßgabe, dass die Schulen des Zweiten Bildungsweges einen Beitrag zum Abbau von Chancenungerechtigkeit leisten, indem sie einer breiten, heterogenen Schülerschaft zeitlich nachgelagert Zugang zu hochschul-qualifizierender Bildung ermöglichen, stellt die Analyse der pädagogi-schen (unterrichtlichen) Praxis ein auch für den Ersten Bildungsweg re-levantes Forschungsdesiderat dar. Neben der Beobachtung des klassi-schen Fachunterrichts – insbesondere auch im Kontrast zu vergleichba-ren Unterrichtsangeboten im Ersten Bildungsweg z. B. an Gymnasien, Gesamtschulen oder Berufskollegs – stellen auch die Vorkurse interes-sante, bislang nicht erforschte Lernangebote dar, die beispielsweise kontrastiv mit den „angleichenden“ Angeboten der Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe analysiert werden könnten. Dabei sollten auch Unterrichtsbeobachtungen angestrebt werden, um der Gefahr von ver-zerrten bzw. sozial erwünschten Antwortmustern zu begegnen. Hier soll-te auch untersucht werden, inwiefern Lehrkräfte im Zweiten Bildungsweg ihren Schülerinnen und Schülern Lernstrategien vermitteln; derartige

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Strategien wurden den Teilnehmenden in ihrer früheren Schulbiographie vielleicht noch nicht in hinreichendem Maße vermittelt bzw. können ins-besondere bei einem großen zeitlichen Abstand von der Teilnahme an Bildungsangeboten in Vergessenheit geraten sein.

Insgesamt stellen die vorgefundenen (unterrichts- und lernbezoge-nen) Förderangebote einen Analysegegenstand dar, der sowohl über-tragbare Erkenntnisse für den Ersten Bildungsweg als möglicherweise auch für hochschulische Förderangebote eröffnen könnte. Dies trifft ebenso auf die spezifischen – vorrangig im Kontext des Bildungsganges Abitur-Online angebotenen – modularisierten und zeitlich flexibilisierten, digitalisierten Online-Angebote zu.

Unter Gesichtspunkten der Professionalisierung von Lehrkräften und der Qualität unterrichtlicher Lernangebote spielen letztlich die pädagogi-schen Überzeugungen der Lehrkräfte im Zweiten Bildungsweg eine re-levante Rolle. Daher könnten in weiteren Studien die pädagogischen Überzeugungen und Praktiken von Lehrkräften im Zweiten Bildungsweg noch detaillierter – auch im Zusammenhang mit der realisierten Unter-richtspraxis – erfasst werden. Ein Fokus könnte dabei auf die Balance bei der Realisierung einerseits der sozialen (konstruktives Unterrichts-klima, Lehrer-Schüler-Beziehung) und andererseits der akademischen (Vermittlung schulischer, gymnasialer Anforderungen) Integration der Schülerinnen und Schüler gelegt werden.

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9. Literatur

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Autorinnen und Autoren Dr. Gabriele Bellenberg, Professorin für Schulforschung und Schulpä-dagogik an der Ruhr-Universität Bochum Dr. Grit im Brahm, Professorin für Unterrichtsentwicklung und Empiri-sche Bildungsforschung an der Ruhr-Universität Bochum Dr. Denise Demski, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ruhr-Universität Bochum Dr. Sascha Koch, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum Dr. Maja Weegen, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ruhr-Universität Bochum

Der Zweite Bildungsweg ermöglicht Erwachsenen das Nachholen eines allgemein-bildenden Schulabschlusses. Die Studie analysiert die Kollegs und Abendgymnasi-en als hybride, zwischen Erwachsenenbildung und Schule angesiedelte Einrichtun-gen, die Merkmale beider Bereiche aufweisen und miteinander verbinden. Sie ba-siert auf der Untersuchung von 21 gymnasialen Bildungsgängen des Zweiten Bil-dungswegs in fünf Bundesländern. Gefragt wurde nach Bildungsweg/-verlauf und -motivation der Schüler_innen. Der Zweite Bildungsweg zeichnet sich hinsichtlich der Zahl der Einrichtungen und ihrer Nutzer_innen durch Stabilität und hinsichtlich seiner inzwischen sehr heterogenen Schüler_innenschaft und seiner Funktion durch Veränderung aus. Zu beobachten ist eine Entwicklung zu einem nachgelagerten Pa-rallelsystem zum Ersten Bildungsweg.

ISSN 2509-2359