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Bleib bei uns, Beate Berte Bratt Beate verläßt zum ersten Mal das Elternhaus und folgt ihrem Freund Axel nach Oslo. Doch das erhoffte Glück zu zweit stellt sich nicht ein. Alles kommt anders, als sie es sich erträumt hat. Aber Beate läßt sich nicht unterkriegen. Sie nimmt eine Stelle in einem mutterlosen Arzthaushalt an und wird dort dringend gebraucht. Und endlich bekommt sie die Liebe und Geborgenheit, nach der sie sich schon lange gesehnt hat.

Bleib bei uns Beate

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Bleib bei uns, Beate

Berte Bratt

Beate verläßt zum ersten Mal das Elternhaus und folgt ihrem Freund Axel nach Oslo. Doch das erhoffte Glück zu zweit stellt sich nicht ein. Alles kommt anders, als sie es sich erträumt hat. Aber Beate läßt sich nicht unterkriegen. Sie nimmt eine Stelle in einem mutterlosen Arzthaushalt an und wird dort dringend gebraucht. Und endlich bekommt sie die Liebe und Geborgenheit, nach der sie sich schon lange gesehnt hat.

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Übersetzung: Thyra Dohrenburg Schutzumschlag und Illustration: Nikolaus Moras Bestellnummer 7652 1976 Franz Schneider Verlag GmbH & Co. KG München – Wien ISBN 3 505 07.652 X

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Bei uns zu Hause

Meine Eltern sind völlig unmodern.

Mein Vater hat nie von einem Auto auch nur geträumt und meine Mutter nie von einem teuren Pelzmantel. Die technische Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat auch keinerlei unerfüllbare Wünsche in ihnen erweckt. Sie haben nie daran gedacht, einmal eine Reise mit dem Flugzeug zu machen oder einen Fernsehapparat oder eine Küchenmaschine zu besitzen. Wenn sie wirklich einmal verreisten, ist es ihnen in ihrer kühnsten Phantasie nicht eingefallen, erster Klasse zu fahren.

Nach meiner Meinung könnten meine Eltern das beste Beispiel für die Redensart abgeben: „Sich mit dem begnügen, was man erhalten, und sonst den Herrgott lassen walten.“

Und sie können den lieben Gott wirklich walten lassen, denn sie haben ihm viel zu verdanken.

Ich will wahrlich nicht behaupten, daß der Haushalt so war, wie wenn Mutti ihn machte. Aber ich hatte doch eine gewisse Übung, und es ging einigermaßen.

Mein Vater, der ein ausgesprochenes Organisationstalent besaß, ergriff gleich nach Muttis Abreise beim Abendessen das Wort: „So,

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Kinder, nun müssen wir für die Zeit, wo Mutti weg ist, einen Plan machen. Beate ist die Hausfrau, und ihr habt ihr zu gehorchen – du brauchst gar nicht zu grinsen, Olav; wenn ich gehorchen sage, dann meine ich gehorchen! Ihr müßt alle mithelfen, jeder auf seine Weise. Wenn ihr die Arbeit untereinander richtig verteilt, wird es für den einzelnen nicht zuviel. Und dann wollen wir es durchführen, daß Beate jeden zweiten Sonntag ganz frei ist und jeden Abend nach zwanzig Uhr. Ihr könnt heilfroh sein, daß ihr eine erwachsene Schwester habt, die den ganzen Haushalt übernimmt. Ihr müßt nun alle miteinander das Eure dazu beitragen, daß Beate nicht hinterher auch noch zur Erholung weg muß. Wir müssen jetzt zusammenhalten und uns gegenseitig beistehen – einverstanden?“

Natürlich waren sie einverstanden. Alle die sommersprossigen Jungensgesichter und die rotwangigen Mädchengesichter waren Vati und mir zugewandt, offen und verständnisvoll, und sieben Köpfe nickten.

In solchen Augenblicken liebe ich meine Familie. In der Zeit, die nun kam, geriet diese Liebe hin und wieder ein bißchen ins Wanken. Es waren keineswegs nur Zärtlichkeiten, die quer über das schmutzige Geschirr in der Küche hinwegflogen, und es waren nicht nur Liebkosungen, die ich unter den Geschwistern austeilte. Aber im großen und ganzen ging es doch recht gut.

Von Mutti kam Post. Sie erzählte, sie schlafe wie ein Stein und esse gut und mache lange, gesundheitsfördernde Spaziergänge, und sie nehme jede Woche zu und fühle sich wie ein neuer Mensch…

Bis dahin also war mein Leben geregelt und ereignislos verlaufen. Ich hatte mit fünf ehemaligen Schulfreundinnen ein Handarbeitskränzchen, ich ging wohl auch manchmal in eins der beiden Kinos von Tjeldsund, und ab und zu lud eine Freundin mich zum Geburtstag ein, zu Torte und Kaffee und selbstgebrautem Likör.

Ich war nie aus Tjeldsund herausgekommen – abgesehen natürlich von Ferienreisen.

Und außer ein paar kleinen Schwärmereien in der Schulzeit hatte auch die Liebe noch nicht in meinem Dasein Einzug gehalten.

Aber eines Tages tat sie es. Es war bei meiner Kränzchenfreundin Giske. Und es geschah in dem Augenblick, als ihr Bruder ins Zimmer trat. Axel war mir noch erinnerlich als ein lang aufgeschossener, magerer Bengel aus der Mittelschule. Später entschwand er meinem Gesichtskreis. Und eines Tages erzählte Giske, Axel habe sein Examen an der Höheren Handelsschule in

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Oslo gemacht und sei nach USA gegangen. Plötzlich war er wieder zu Hause und stand dort in der Tür, groß

und schlank und braungebrannt und hübsch, so hübsch, daß mein Herz koppheister schoß und ich nach Luft ringen mußte.

Es fügte sich, daß Axel mich nach Hause brachte. Und es fügte sich, daß er mich unter den Arkaden in der Storgate küßte, gerade vor dem Geschäft von P. Hansen & Sohn, Fettwaren.

In der folgenden Zeit äußerten sich meine Brüder höchst mißtrauisch und Vati höchst anerkennend darüber, daß ich allabendlich einen Spaziergang machte. Vati nahm an, ich tue es um der Gesundheit willen, Jan und Nico hatten andere Vermutungen, die der Wahrheit erheblich näherkamen.

In Tjeldsund und Umgegend war Frühling; Axel hatte ein Motorrad, und zum Wald mit dem Liebespfad und weißen Anemonen und Sonnenuntergang und Bänken mit eingeschnittenen Herzen und Anfangsbuchstaben war es nicht weit. Für mich hatte das Leben plötzlich einen Sinn und einen Glanz erhalten.

Ich träumte von einer Zweizimmerwohnung mit Bad und einem Schlafzimmer aus mattpolierter Ulme und Wohnzimmersesseln mit verschiedenfarbenen Bezügen.

Axel flüsterte mir am Frühlingsabend zu, ich sei das Süßeste, was es auf der Welt gebe, und der kleine Leberfleck auf meiner Wange sei nur dazu angetan, meine Süße noch hervorzuheben. Und dann hätte ich ein Löckchen – sagte er – , das sich immer in mein Ohr hineinringele, und das rege ihn geradezu auf. Und weiterhin behauptete er, meine Zähne wären eine großartige Kinoreklame für Dentoclair oder Clairodont, und wo in aller Welt ich nur das niedliche kleine Kinn herhabe?

War es zu verwundern, wenn ich nach diesem allen felsenfest davon überzeugt war, daß Axel der Einzige, Wahre und Große und Richtige für mich sei?

So lagen die Dinge, als Mutti an einem strahlenden Junitag frisch und gesund mit roten Wangen und glücklich nach Hause kam.

„Aber nun!“ sagte Mutti zwei Tage später. „Nun ist Beate an der Reihe, einmal wegzukommen!“

„Wieso wegzukommen, Mutti?“ fragte ich bang. Sie hatte doch wohl nicht die Absicht, mich von Tjeldsund fortzuschicken – ausgerechnet jetzt?

„Nun, ich meine – es kommt ganz auf dich an“, sagte Mutti. „Wir haben dich furchtbar vernachlässigt, Beate. Immer hast du hier zu

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Hause einspringen müssen. Du hast bis heute keine anständige Ausbildung bekommen. Es ist ganz unverantwortlich, daß Vati und ich…“

„Nun hör aber auf, Mutti!“ antwortete ich. „Auf alle Fälle habe ich eine ausgezeichnete Ausbildung im Haushalt bekommen! Und ich habe nicht die geringste Lust, auf eine Schule zu gehen oder so, ich bin jetzt zweiundzwanzig…“

„Ja, aber…“, sagte Mutti. „Und außerdem“, fuhr ich schnell fort, „außerdem kann Vati

mich jetzt nicht auch noch ausbilden lassen, ausgerechnet jetzt, wo Jan nach Trondheim auf die Hochschule kommt und Nico durchaus Tierarzt werden will…“

Da hatte ich an eine wunde Stelle gerührt. Mutti biß sich auf die Lippe.

„Aber du mußt mal in die Welt hinaus, Beate!“ sagte Mutti. „Du kannst nicht immer und ewig hier zu Hause herumhocken!“

„Ich hab es hier gut“, sagte ich. „Ja, Gott sei Dank, daß du dieser Meinung bist“, sagte Mutti.

„Aber wir wollen nun doch mal ein bißchen überlegen und sehen, ob uns nicht ein guter Gedanke kommt. Du mußt dir ein bißchen Wind um die Nase wehen lassen, Beatchen.“

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Wind um die Nase Der Sommer war in Tjeldsund eingezogen. Und das Haus war mit einem Male leer geworden.

Jan und Nico machten eine Radfahrt mit selbstverdientem Geld. Edith und Olav waren bei der Großmutter, Jens und Rolf mit den Pfadfindern auf großer Fahrt.

Mutti weigerte sich entschieden, wegzureisen – war sie nicht eben erst drei Monate von zu Hause fort gewesen? Und Vati wollte die Ruhe im Haus ausnutzen und eine Artikelreihe für die Pädagogische Zeitschrift fertigmachen. Und Heidi wollte dort sein, wo Mutti war.

Ich aber wollte da sein, wo Axel war. „Es ist so gemütlich, dich in aller Ruhe hier zu Hause zu haben“, sagte Mutti eines Vormittags, als wir ganz ausnahmsweise einmal auf der Veranda saßen und Tee tranken. „Aber ich denke immerzu an deine Zukunft, Beate. Du mußt doch Lust verspüren, ein bißchen rauszukommen, um…“

„Uhu-u-uh-u-uh“, gellte es da aus dem Garten herauf. Und nun kam Heidi die Stufen heraufgeklettert, mit einer Schramme im Gesicht, aus der Blut sickerte.

Mutti sah mit einem Blick, daß es nur eine Kratzwunde war. Also Borwasser, ein Heftpflaster und ein Stückchen Schokolade, fertig war die Laube. Aber immerhin waren wir unterbrochen worden, und darüber war ich froh. Denn es wurde für mich immer schwieriger, überzeugende Gründe anzuführen, weshalb ich durchaus nicht aus Tjeldsund fortwollte.

Am selben Abend saßen Axel und ich auf der blankgewetzten Bank am Liebespfad, und mein Herz pochte unruhiger als sonst. Denn ich hatte ihn vier Tage nicht gesehen, vier Abende hindurch hatten Sehnsucht und Ungewißheit meine junge Seele gequält.

Jetzt saß er aber neben mir, braungebrannt und hübsch und unwiderstehlich, und ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und war glücklich.

Aber mein Glück sank jäh zusammen und wurde ein Trümmerhaufen. Denn Axel sagte im nüchternsten Ton der Welt: „Du kannst mir gratulieren, Beate. Ich habe die beste Stellung bekommen, die man sich wünschen kann. Bei Langeböe & Co. Maschinen en gros, in Oslo. Soll schon nächste Woche antreten! Hab

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ich nicht ein unverschämtes Glück?“ „Du – du gehst von hier weg?“ flüsterte ich. „Na klar! Hattest du etwa gedacht, ich bleibe den Rest meines

Lebens in Tjeldsund? Und dann so eine Stellung, Mädchen! Und in der Firma!“

Axel redete lebhaft und begeistert von Maschinen und moderner Bürotechnik, von Gehältern und Aufstiegsmöglichkeiten, und ein Zimmer hatte er sogar auch schon. Das hatte Langeböe ihm auch besorgt.

Ich hatte einen Kloß im Hals, und der wurde von Minute zu Minute dicker.

Und ich war nur von einem einzigen Wunsch beseelt: daß die Firma Langeböe & Co. morgen gründlich bankrott machen möge!

Als ich abends im Bett lag und versuchte, meine Gedanken ein wenig zu ordnen, da sah die Sache für mich etwa folgendermaßen aus: Natürlich mußte Axel eine so glänzende Stellung annehmen. Das ist klar. Aber wenn er jetzt so gut verdient, dann könnte er sich ebensogut verloben! Warum hat er nicht mit einer einzigen Silbe erwähnt, daß… hier kam ein quälender Gedankenstrich, ich mußte ein paarmal schlucken, und dann fuhr ich fort, ich hatte nämlich einen rettenden Strohhalm entdeckt, an den ich mich klammern konnte: Ein moderner junger Mann verlobt sich nicht, bevor er nicht weiß, daß er auch heiraten kann. Und Axel muß doch erstmals etwas Geld verdienen. Einen Haushalt zu gründen, kostet viel Geld. Hat er erst mal einige Tausend auf die hohe Kante gelegt, dann wird er schon ankommen – dann kann es sein, daß – ja, dann schreibt er an mich und bittet mich um – und sagt, daß…

Ich malte mir bis in alle Einzelheiten aus, was er sagen und worum er bitten würde, und diese Einzelheiten waren so schön und so beruhigend, daß ich darüber einschlummerte.

Dann kam der letzte Abend vor Axels Abreise. Wir saßen auf unserer Bank, Axel küßte mich und sagte flüsternd zu mir, Oslo sei schließlich nicht so weit weg, und zu Weihnachten komme er bestimmt nach Hause. Und natürlich wolle er an mich schreiben. „Aber fleißig bin ich nicht im Briefeschreiben, Beate, darauf mußt du gefaßt sein…“ Und ich antwortete, ich sei auf alles gefaßt, wenn er nur ab und zu ein Lebenszeichen von sich geben würde. Und er werde mich nie vergessen, und wir hätten doch eine riesig nette Zeit zusammen verlebt.

Die Sonne ging unter, und es wurde dunkel. Axel flüsterte mir

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köstliche kleine Worte ins Ohr und küßte mich wieder. Und ich kletterte zum letzten Male auf den Rücksitz des Motorrades und ließ mich nach Hause fahren.

Am nächsten Tage war er dann weg. Das Dasein war leer geworden.

Morgens und mittags fing ich immer den Briefträger ab, und als der heißersehnte Brief endlich kam, schloß ich mich in unser „Töchterzimmer“ ein und las, daß Axel es in der neuen Stellung gut habe, aber man müsse doch in der ersten Zeit sehr viel lernen, und abends fühle er sich in der fremden Stadt recht einsam. „Wenn du hier wärest, Beate, dann könnten wir abends aus der Stadt hinaustöffen, und du könntest hinter mir sitzen, mit den Händen auf meinen Schultern und singen ,Wir beide zwei beim Lampenschimmer…’" Ich mußte lachen. Es war eine uralte Operettenmelodie, die sich aus irgendeinem Grund in meinem Hirn festgesetzt und die ich immer gesummt hatte, wenn ich guter Stimmung war.

Am selben Abend noch schrieb ich einen sechs Seiten langen Brief an Axel. Ich fing an, Osloer Zeitungen zu kaufen, um zu erfahren, was in Axels unmittelbarer Nähe vor sich ging.

Dann dauerte es lange, bis ich wieder etwas hörte. Endlich, endlich kam eine Ansichtskarte mit einem Monument darauf. „Liebe Beate, vielen Dank für Deinen Brief. Mir geht’s gut. War gestern im Schwimmbad am Fjord und sprang vom obersten Brett herunter, was mir enormen Beifall eintrug. Hab viel zu tun, daher nur dieser kleine Gruß, damit Du siehst, daß ich Dich nicht vergesse. Gruß Axel.“

An diesem Abend sagte ich mir hundertmal, daß Axel kein fleißiger Briefschreiber sei, und daß Mannsbilder furchtbar schwerfällig seien, wenn sie große Gefühle ausdrücken möchten.

Dann schlief ich ein, die Wange gegen das Monument auf der Karte gedrückt, und am nächsten Morgen hatte das Kopfkissen blaue Flecke von Axels Kugelschreiber.

„Du, Muttchen“, sagte ich. „Ja, mein Herz?“ „Guck mal!“ Ich reichte ihr meine Osloer Zeitung. „Zuverlässiges, gebildetes junges Mädchen gesucht als

Hauswirtschaftsleiterin in frauenlosem Haushalt. Einfamilienhaus.

Muß kinderlieb sein. Hübsches Zimmer, guter Lohn. Für grobe

Arbeit Hilfe vorhanden. Gesuch mit Zeugnissen und Bild an Dr. med.

Gerhard Rywig…“ usw. Mutti sah mich an.

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„Nanu? Hast du die Absicht, eine Stellung anzunehmen?“ „Ja, weißt du, Mutti“ – ich räusperte mich –, „du hast so ort

davon gesprochen, daß ich ein wenig rausmüßte – ein bißchen von Hause weg – und da fiel mir ein, daß Stellen im Haushalt glänzend bezahlt werden – und dies da hört sich eigentlich gut an – bei einem Arzt – und ein frauenloser Haushalt, man ist also selbständig…“

„Aber liebes Kind, das hatte ich mir doch nicht vorgestellt, daß du weiter im hauswirtschaftlichen Beruf bleiben solltest…“

„Aber das ist doch wenigstens etwas, was ich kann, Muttchen! Und dann kann ich Geld zurücklegen und mir überlegen, was ich später – machen möchte.“

Mutti mußte sich durch meine vernünftigen Beweggründe geschlagen geben. Und ich bin überzeugt, sie hat noch am selben Abend mit Vati gesprochen. Denn mit Einverständnis und Billigung meiner Eltern schrieb ich am nächsten Tag an Dr. Gerhard Rywig und bewarb mich um die Stellung bei ihm als Hauswirtschaftsleiterin.

Die Antwort kam postwendend. Der Arzt sei interessiert, wenn er auch finde, ich sei reichlich jung. Ob ich gewillt sei, eine Probezeit durchzumachen? Einfamilienhaus mit sieben Zimmern, Mädchenzimmer und Bad. Eine junge Hausangestellte sei vorhanden. Vier Kinder – Junge dreizehn, zwei kleinere Mädchen und ein Junge von fünf. Der Arzt sei Witwer.

Ob ich am zweiundzwanzigsten August antreten könne? Ich schrieb zurück, daß ich das könne. Ich fand auf Vaters Bücherregal einen Stadtplan von Oslo. Wenn Dr. Rywigs Haus auch nicht gerade Wand an Wand mit

Axels möbliertem Zimmer stand, so lagen beide immerhin in derselben Stadtgegend. Axel wohnte innerhalb des Weichbildes der Stadt, Rywigs etwas weiter draußen.

Ich fand, mein Dasein sah plötzlich etwas freundlicher aus.

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Meine neue Familie

Es war Abend und schon dämmerig, als der Zug in Oslo einlief.

Ich hatte Herzklopfen, als ich Handkoffer, Reisetasche und Netz und Mantel zusammenraffte und mich vergewisserte, ob der Gepäckschein für den großen Koffer, den ich aufgegeben hatte, im Außenfach der Handtasche griffbereit lag.

Der Zug hielt mit einem Zischen, und ich schritt unter zahllosen Menschen den langen Bahnsteig hinunter, während ich mich ständig nach einem Mann umsah, der die vereinbarte Osloer Zeitung in der linken Hand hielt. Ich meinerseits sollte meine rote Handtasche in der Rechten tragen.

Ich schaute mir die Augen aus. Nein, kein Herr, der mit einer Zeitung in der linken Hand wartete.

Aber da erspähte ich jene Zeitung in einer linken Hand. Doch die Hand gehörte nicht zu einem Herrn und Vater von vier Kindern. Sie gehörte zu einem Jungen von dreizehn, vierzehn Jahren.

Die Augen des Jungen musterten jeden einzelnen Reisenden. An meiner roten Handtasche blieben sie haften. Dann wanderten sie zu meinem Gesicht, und sein Blick begegnete dem meinen.

Er kam näher, ein wenig zaudernd. „Entschuldigen Sie, sind Sie vielleicht Fräulein Hettring?“

„Ja – aber du kannst doch unmöglich Dr. Rywig sein?“ Auf dem ernsthaften Gesicht des Knaben zeigte sich der

schwache Schimmer eines Lächelns. „Nein, ich bin sein Sohn. Bernt Rywig. Ich soll von meinem

Vater grüßen und sagen, es täte ihm leid, daß er Sie nicht abholen kann, aber er mußte ganz plötzlich zu einer Operation. Wir sollen mit der Taxe in die Klinik fahren, und wenn mein Vater dort fertig ist, fahren wir mit ihm nach Hause. Ich nehme Ihren Koffer.“

Eine kräftige Knabenfaust bemächtigte sich meines Koffers. „Aber einen Koffer habe ich aufgegeben, Bernt.“

„Dann geben Sie mir den Gepäckschein, ich hole ihn. Wollen Sie bitte hier auf dieser Bank so lange warten?“

Bernt war so ruhig, so sachlich. Nicht übermäßig freundlich, ohne das leiseste Lächeln. Sehr höflich und sehr nüchtern.

Ich setzte mich auf die Bank und sah ihm nach. Was für ein hübscher kleiner Kerl. Aber er hatte etwas an sich, was mich

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beklommen machte. Ich glaube, es waren seine Augen. Sie sahen klug aus, aber ganz freudlos.

Mich überkam ein herzliches Gefühl für den Jungen, und dabei kannte ich ihn noch keine fünf Minuten.

Dann saßen wir in der Taxe und fuhren durch unbekannte Straßen.

„Ich habe nicht gewußt, daß dein Vater Arzt in einem Krankenhaus ist“, sagte ich.

„Das ist er auch nicht“, erwiderte Bernt. „Er ist Chirurg und hat eine eigene Praxis, neben der St.-Lukas-Klinik. Und seine Operationspatienten legt er immer in die St.-Lukas-Klinik.“

„Aha, so ist das!“ sagte ich. Dann schwiegen wir. Ich hätte gern etwas Freundliches gesagt,

wäre gern mit Bernt näher in Kontakt gekommen, aber was sollte ich sagen? Er fragte nichts, erkundigte sich nicht, wie die Reise gewesen, nicht, ob ich schon früher mal in Oslo gewesen sei. Nun gut, dann mußte ich es mal versuchen.

„Habt ihr jetzt keine Wirtschafterin, Bernt? Oder vielmehr, habt ihr bisher keine gehabt?“

„Nicht gerade eine Wirtschafterin. Tante Julie ist bei uns gewesen. Sie ist eine Tante von meinem Vater, und sie hat für uns gesorgt, seit meine Mutter tot ist.“

Wie freudlos klang doch seine Stimme! „Tante Julie fährt morgen weg. Sie muß fort, zur Kur, sie hat

Rheuma.“ Trocken, sachlich, ohne eigene Stellungnahme. Der Wagen hielt. „Wir sind da. Wollen Sie einen Augenblick im

Auto warten, ich lauf rein und erkundige mich, ob mein Vater fertig ist.“

Bernt stieg aus, kam aber sofort wieder zurück. „Papa ist gleich so weit. Wollen Sie bitte mit reinkommen?“

Und an den Fahrer gewandt: „Wieviel macht es, bitte?“ Gleichmütig, sachlich, beängstigend erwachsen. Bernt war

genauso alt wie mein Brüder Jens. Jens mit den verschrammten Knien, den dreckigen Fäusten und Sommersprossen und mit dem großen Mundwerk, unser quirliger, lebendiger Jens.

Wir setzten uns in ein weißes Wartezimmer mit Stahlmöbeln, hinter einer Glaswand saß ein sachlich aussehendes junges Mädchen in weißem Kittel an einem Klappenschrank mit vielen Knöpfen.

Herrgott, wie war das alles kalt und nüchtern!

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Da ging eine Tür. „Willkommen, Fräulein Hettring. Es hat mir furchtbar leid getan, daß ich Sie im Stich lassen mußte. Ich hoffe, mein Sohn hat sich Ihrer gut angenommen.“

„Es hätte nicht besser sein können“, sagte ich und versuchte zu lächeln. „Bernt könnte meinen eigenen ruppigen Brüdern Unterricht in Höflichkeit und Umsicht erteilen!“

„Sieh mal einer an, hast du gehört, was dir für ein Zeugnis ausgestellt worden ist, Bernt? – So, nun wollen wir aber schnell nach Hause fahren. Sie sind sicher müde von der Reise, Fräulein Hettring? Wie war die Fahrt? Bernt, hier ist der Autoschlüssel, stell das Gepäck hinein, ich sage nur noch Bescheid…“

Dr. Rywig wirkte abgehetzt und fahrig. Er lächelte und war liebenswürdig und zuvorkommend, aber die Augen – die Augen waren glanzlos wie die seines Sohnes. Und er war mager und sah überanstrengt aus.

Dann fuhren wir in dem sommerlichen Abend aus der Stadt hinaus. Ich saß neben dem Arzt, der mich lebhaft und mit gezwungener Liebenswürdigkeit unterhielt. Bernt saß hinten. Er sprach kein Wort.

Wir hielten vor einer roten Backsteinvilla. Die Haustür wurde aufgerissen, und eine helle Mädchenstimme

rief: „Da sind sie!“ Eine dunkelgekleidete, hagere Gestalt erschien, und eine Stimme sagte: „Pscht, nicht so wild, wie oft soll ich euch das sagen…“, und dann traten wir in einen Vorplatz mit schmiedeeisernen Wandleuchtern und einer alten Truhe unter einem antiken Spiegel. Im Hintergrund Mädchengekicher und eine schwarzgekleidete Tante Julie.

„Schläft Hansemann schon? Nun, ich lauf schnell rauf und sage ihm gute Nacht…“Damit war Dr. Rywig in wenigen Sätzen oben und verschwunden.

Mein Blick fiel auf Bernt. Seine dunklen Augen folgten dem Vater. Lag nicht so etwas wie Sehnsucht in ihnen?

Tante Julie reichte mir die Hand. „Willkommen, Fräulein Hettring. Ja, es ist heute abend gerade ziemlich unruhig bei uns. Mein Neffe wurde ganz plötzlich abberufen, und ich bin mitten beim Packen – ich muß Sie bitten, für heute nacht drinnen bei den Mädels vorliebzunehmen, ab morgen bekommen Sie mein Zimmer. Bernt, trag die Koffer nach oben, ihr beiden, kommt her und sagt Fräulein Hettring ordentlich guten Tag, wie es sich gehört…“

Ich stand da und klapperte mit den Augenlidern. Vor mir hatte

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ich zwei Mädels von ungefähr elf Jahren, und ich meinte, ich sähe doppelt.

Gesicht, Haarfarbe, Augenfarbe, Größe, Ausdruck – alles war genau gleich. Du liebe Güte! Wie sollte ich die beiden je auseinanderhalten?

„Guten Tag, ihr beiden – ja, ihr braucht mir nicht zu erzählen, daß ihr Zwillinge seid, das sieht man – sagt mir doch mal, wie ihr heißt?“

„Senta“, sagte die eine. „Sonja“, sagte die andere. „Und wir sind in verschiedenen Jahren

geboren!“ Die Augen der Zwillinge sprühten von unterdrücktem Schalk.

„In verschiedenen Jahren?“ sagte ich ungläubig. Entweder flunkerte das kleine Ding oder…

„Dann seid ihr in der Neujahrsnacht geboren!“ sagte ich. „Die eine kurz vor zwölf und die andere kurz nach zwölf. Denn Zwillinge seid ihr!“

Die Zwillinge guckten mich beifällig an. „Du kannst aber gut raten! Das hat bis jetzt noch keiner so fix

rausgekriegt.“ „Das hab ich nicht geraten“, sagte ich. „Es war die einzig

mögliche Erklärung. Ich sage es übrigens gleich jetzt: Ich werde euch niemals unterscheiden lernen!“

„Das macht nichts, das kann nämlich kein Mensch. Du schläfst heute nacht in unserem Zimmer. Komm mit rauf, wir zeigen dir’s!“

„Senta!“ sagte Tante Julie. „Niemand hat dir erlaubt, zu Fräulein Hettring ,Du’ zu sagen…“

„Das war ich gar nicht“, ließ sich der zweite Zwilling vernehmen. „Das war Sonja!“

„Aber ich erlaube es euch beiden“, sagte ich. „Es ist viel netter, wenn ihr ,Du’ zu mir sagt. Ich heiße Beate. Und ich möchte gern sehen, wo ich heute nacht schlafen soll.“

Die Zwillinge zogen mit mir in den oberen Stock hinauf und führten mich in ein helles, geräumiges Kinderzimmer. An der einen Wand war ein Feldbett aufgestellt mit blendend weißem Bettzeug.

„Da sollst du heute nacht schlafen! Dürfen wir dir auspacken helfen?“

„Nein, halt. Ich brauche vorläufig nichts weiter als Nachtzeug und Toilettensachen. Morgen ziehe ich ja wieder um. Wo kann ich meinen Bademantel hinhängen? Sonn… Sen…“, ich unterbrach

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mich selbst und lachte. „Ich glaube, ich werfe euch zusammen und nenne euch Sen ja, bis ich den Unterschied zwischen euch heraushabe.“

„Den kriegst du nie heraus! Papa irrt sich sogar manchmal. Nur Bernt, der ist ganz sicher.“

„Und in der Schule?“ „Da muß Senta eine blaue Schleife umbinden und ich eine rote.“

Ich schaute die, die eben gesprochen hatte, genau an. Das also war Sonja. Ich musterte sie von oben bis unten in der Hoffnung, einen kleinen Leberfleck oder eine Narbe zu finden. Nein, nicht das geringste. Dann prüfte ich Senta. Ebenso aussichtslos.

Ich seufzte. „Ich hoffe, ihr betragt euch wenigstens musterhaft, sonst kann es passieren, daß die eine zwei Gardinenpredigten bekommt und die andere gar keine!“

Die Zwillinge wollten sich ausschütten vor Lachen. „Ach was, das wäre gar nicht mal so schlimm. Einmal, als wir

klein waren, da kriegte Sonja zweimal Haue, und ich gar kein Mal! Aber es war auch das erste und letztemal, daß Papa uns gehauen hat. – Bist du furchtbar streng, Beate?“

„Ach nein, das glaube ich nicht. Ja, ich kann mächtig wütend werden, es ist besser, ihr wißt das gleich von vornherein. Meine Geschwister haben es hin und wieder zu fühlen bekommen, das muß ich gestehen!“

„Stimmt es, daß du sieben Geschwister hast?“ „Aber gewiß stimmt das.“ Beide Mädchen plumpsten auf den

Bettrand hinunter. „Erzähl doch mal ein bißchen davon. Wie alt sind sie? Sind es

Jungen oder Mädchen? Sind Zwillinge dabei? Wie heißen sie?“ „Wißt ihr was, Kinder – später erzähle ich euch alles mögliche,

aber jetzt haben wir keine Zeit. Würdet ihr mir mal zeigen, wo das Badezimmer ist? Und dann müssen wir hinuntergehen. Bedenkt, ich muß so schnell wie möglich in den Haushalt eingeweiht werden.“

„Du, Beate, Tante Julie hat gesagt, wir müßten dir gehorchen und Respekt vor dir haben. Ist das wahr? Müssen wir das?“

Ich blickte in die beiden offenen, hellen Gesichter. Und ich hatte die beiden Mädels schon in mein Herz geschlossen.

„Gehorchen – ja, das stimmt. Das müßt ihr schon versuchen. Mit dem Respekt ist es nicht so gefährlich. Ich möchte lieber, daß wir so richtig gute Freunde würden!“

Da hing mir plötzlich an jedem Arm ein Zwilling. „Das ist ganz

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groß, Beate! Aber, du, das sind wir doch schon? Ich meine, gute Freunde. Nicht wahr?“

Ich schaute die Mädels wieder an. Ich dachte an den abgehetzten Doktor, die bejammernswerte,

schwarzgekleidete Tante Julie, an den schweigsamen und ernsthaften Bernt.

Hier waren zwei quirlend lebendige, frische, natürliche Menschenkinder. Zwei fröhliche und schelmische Mädchen, zwei himmlisch normale Kinder. Wie meine eigenen Geschwister.

Ich preßte den Arm der Mädels kurz an mich. „Natürlich sind wir gute Freunde, das ist doch klar. So, nun

müssen wir aber rasch hinunter!“

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Die Probleme melden sich

Am nächsten Morgen war ich zeitig auf den Beinen. Und dabei hatte ich nachts nicht sonderlich gut geschlafen. All die neuen Eindrücke und der Gedanke an diesen Pflichtenkreis, den ich übernommen, hatten mich wach gehalten.

Und der Gedanke an Axel! Was würde er wohl sagen, wenn ich völlig unerwartet auftauchte und ihn überraschte? Oh, wie freute ich mich jetzt schon darauf, mit ihm in Oslo auszugehen.

Beim Abendessen waren die Kinder schweigsam gewesen. Schweigsam und überaus wohlerzogen. Nie in meinem Leben hatte ich Kinder mit so anständigen Tischmanieren gesehen und einem so höflichen Betragen. Nach dem Essen waren sie ins Bett geschickt worden; der Doktor zog sich in sein Arbeitszimmer zurück; Tante Julie und ich blieben allein.

„Meinen Sie nicht, daß Sie reichlich jung für diesen Posten sind?“ fragte Tante Julie und sah mich forschend an.

„Das ist schon möglich“, antwortete ich. „Aber das gibt sich ja mit der Zeit.“

„Ich könnte mir denken, daß es für Sie schwierig sein wird, sich bei den Kindern Respekt zu verschaffen“, fuhr Tante Julie fort. Mir fiel mein Gespräch mit den Zwillingen kurz zuvor ein.

„Damit hat es keine Not“, sagte ich. „Ich möchte viel lieber das Vertrauen der Kinder besitzen als ihren Respekt.“

Tante Julie sah mich ganz entsetzt an und blieb mir die Antwort schuldig. Dann wechselte sie das Thema.

„Maren müssen Sie auf die Finger sehen. Gewiß, sie ist ein gutes und verläßliches Mädchen, aber sie ist jung und muß ständig kontrolliert werden!“

Ich fühlte jetzt, die Stacheln kamen allmählich bei mir heraus, wie bei einem gereizten Igel.

„Ich glaube, ich eigne mich nicht dazu, meine Mitmenschen zu kontrollieren“, sagte ich und versuchte, sehr ruhig und maßvoll zu sprechen. „Nach meiner eigenen Erfahrung arbeitet man am besten, wenn man sich selbständig fühlt – und zu einem guten und verläßlichen Menschen kann man ja auch Vertrauen haben!“

„Sie haben sehr ausgeprägte Ansichten“, sagte Tante Julie, und ihre Stimme war genauso warm und süß wie eine tiefgekühlte

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Zitrone. „Ja, zum Glück“, sagte ich. „Wenn ich die nicht hätte, würde ich

nie den Mut gehabt haben, eine so verantwortungsvolle Stellung wie diese zu übernehmen.“

„Sie sind sich also darüber klar, daß sie verantwortungsvoll ist?“ „Ja, allerdings! Für einen überanstrengten Mann und vier

mutterlose Kinder Harmonie zu schaffen und Behagen und Lebensfreude…“ – ich legte besonderen Nachdruck auf das Wort „Freude“ – „und das Haus so zu verwalten, daß es im besten Sinn ein Heim wird – das halte ich für die verantwortungsvollste Aufgabe, die eine Frau überhaupt haben kann!“

„Nun ja, wollen wir hoffen, daß es gut geht“, meinte Tante Julie und stand auf. „Sie entschuldigen mich, ich muß Kaffee für meinen Neffen machen.“

„Es ist vielleicht das beste, ich lerne die Gewohnheiten des Hauses so schnell wie möglich kennen“, sagte ich. „Trinkt der Herr Doktor nach dem Abendessen immer Kaffee?“

„Immer“, sagte Tante Julie. Sie schritt zur Tür, und ich folgte hinterdrein wie ein wißbegieriges Hündchen.

Kurz darauf meinte Tante Julie, ich sei sicherlich müde von der Reise, was auch der Wahrheit ziemlich entsprach; wir wünschten einander gute Nacht, mit großer Höflichkeit und aus unserer Erleichterung, daß unsere Wege sich am nächsten Tag scheiden würden, keinen Hehl machend.

Ich schlief unruhig, träumte eine Menge dummes Zeug und wachte früh auf. Die Zwillinge schliefen noch süß, und ich schlich mich auf den Zehenspitzen ins Badezimmer. Die Uhr schlug gerade sieben, als ich meinen Einzug in der Küche hielt, während ich sozusagen meine seelischen Daumen drückte.

Hier fand ich Maren schon an ihrem Platz. „Guten Morgen, Maren! Ja, da bin ich nun, und ich werde Sie um

und dumm fragen. Ich muß ja lernen, wie Sie es hier im Hause mit allem halten.“

Maren sah mich erstaunt an und schwieg. Ihr Blick war nicht unfreundlich, er war fragend und abwägend. Ich fing gleich an: „Wann muß das erste Frühstück fertig sein? Und was kriegt jeder zum Frühstück?“

Maren erklärte mir den ganzen Apparat mit Vollkornbrot und Honig und Milch und Schiffszwieback. Der Doktor trank starken Kaffee. Ja, und Bernt und die Zwillinge mußten Lebertran

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einnehmen. Hansemann bekam „Vitasol“, er mochte keinen Lebertran.

Mir kamen in bezug auf Sr. Hoheit Hansemann allmählich böse Ahnungen. Und es sollte sich herausstellen, daß sie berechtigt waren.

Der Doktor kam zuerst nach unten. Er stürzte seinen Kaffee herunter, aß eine Buttersemmel, sagte hastig „Guten Morgen“ und „haben Sie gut geschlafen“, überflog den politischen Leitartikel der Morgenzeitung und empfahl sich.

Dann kam Bernt. Er sagte höflich guten Morgen, nahm unaufgefordert seinen Lebertran, aß in aller Gemächlichkeit und bedankte sich, als Maren ihm sein Schulbrot brachte.

Dann ging Bernt ebenfalls. Darauf kamen die Zwillinge angetobt. „Morgen, Beate! Denk

bloß, wir haben nicht gehört, wie du aufgestanden bist! Himmel, wie spät ist es? Beeil dich, Senta, wir müssen in zehn Minuten weg!“

Sie plapperten und aßen und sahen auf die Uhr und erinnerten mich lebhaft an meine eigenen Geschwister am Frühstückstisch, so daß ich mich ganz heimatlich fühlte.

Und nun ging die Tür auf und Tante Julie erschien zusammen mit Sr. Hoheit Hansemann.

Ach du liebe Zeit, wie sah der hinreißend aus! Auf dem Kopf ein Schwall von blanken, blonden Locken. Ein

schmales Gesichtchen mit riesigen blauen Guckaugen. Die Brauen fein gezeichnet und die Augen von schwarzen, nach oben gebogenen Wimpern umkränzt.

Er sah aus wie ein kleiner Engel Gottes. „Guten Morgen, Fräulein Hettring. So, Hansemann, jetzt sag deiner neuen Dadda hübsch guten Tag.“

Meine Igelstacheln sträubten sich bereits von neuem. Soso, ich sollte also eine Dadda für das Engelskind sein? Da hatte ich wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden!

„Guten Tag, Hansemann“, sagte ich. „Ich heiße Beate, und ich soll den Haushalt führen, wenn deine Tante fortgeht.“

Hansemann sah mich forschend an. „Ziehst du mich immer an?“ „Ich dich anziehen? Tust du das denn nicht allein, du bist doch

groß genug?“ „Du mußt mich anziehen!“ „Nun, das werden wir sehen. Vielleicht kann ich es dir

beibringen, es allein zu tun?“

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„Mag ich aber nicht.“ „Ach, das ist dann allerdings Pech“, sagte ich. „So, Hansemann, nun bist du aber ganz lieb und ißt dein

Frühstück“, schaltete Tante Julie sich jetzt ein. „Senta, Sonja, habt ihr alle eure Sachen? Hansemann, Mund auf, jetzt kriegst du Vitasol, ei, ist das fein. Senta, Sonja, habt ihr euren Lebertran genommen? Ihr seid viel zu spät dran, ihr müßt euch beeilen! Sei jetzt ein liebes Bübchen und iß dein Brot, Hansemann. Ach, Maren, bringen Sie doch mal ein bißchen Erdbeermarmelade für Hansemann! – Sonja, leg die Serviette ordentlich zusammen! – Senta, vergiß nicht dein Schulbrot.“

Sie hatte die Zwillinge offenbar wieder verwechselt, aber keine von beiden achtete darauf. Und ich saß dabei und überlegte, welche Aufgaben hier im Hause ich zuerst angreifen müsse: den Unterschied zwischen den Zwillingen zu lernen – oder Herrn Hansemann ein Mindestmaß an Betragen beizubringen.

Die Zwillinge sausten ab in die Schule, und Julie zog sich den Mantel an und brachte Hansemann in den Kindergarten.

Es wurde ein fürchterlicher Tag. Tante Julie kam zurück und begann, ihre Weisungen zu erteilen.

Es ging pausenlos. Sie sagte mir alles, was ich wissen mußte, und doppelt so viel, was ich nicht zu wissen brauchte. Wo man das beste Gemüse kaufe und wie der Doktor seine weißen Kittel gebügelt haben wolle, was der Doktor am liebsten zu Mittag esse, und wie der Kaffee aufgebrüht werden müsse, wo sie Unterwäsche für die Kinder kaufe und wie sie Pfannkuchen backe. Dann hielt sie einen Augenblick inne, um Atem zu holen, und sagte: „Auf Bernt müssen Sie Ihr Augenmerk besonders richten. Er ist ein schwieriger Junge.“

„So?“ sagte ich. „Ich finde, er macht einen besonders klugen Eindruck, und er scheint höflich und pünktlich zu sein.“

„Er ist ausgesprochen mundfaul, und er hat nicht einen einzigen Freund. Er hockt immer oben in seinem Zimmer und murkst mit irgend etwas herum. Man muß ihn richtiggehend in die frische Luft hinausjagen. Er kann stundenlang über seine Sammlungen sitzen.“

„Wie famos, daß ein dreizehnjähriger Junge so ganz in einer Sache aufgehen kann!“ sagte ich. „Was ist es denn für eine Sammlung? Briefmarken?“

„Nein, Briefmarken sind es nicht – ich weiß offengestanden gar nicht, womit er sich so beschäftigt. Er sitzt bloß immer oben ganz für sich allein.“

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Himmel, dachte ich. Du hast diese Kinder fünf Jahre lang versorgt und weißt bis heute nicht, wofür sich der Junge interessiert? Was hat es für einen Zweck, daß du Unterwäsche für sie besorgst und gute Pfannkuchen bäckst und den kleinen Teufelsbengel im Engelskleide mit Erdbeermarmelade fütterst, wenn du nicht die leiseste Ahnung davon hast, was in den kleinen Köpfen und Herzen vor sich geht? Und ist es dir noch nie in den Sinn gekommen, daß Kinder etwas haben, was man Seele nennt?-

„Die beiden Brüder sind sehr verschieden“, fuhr Tante Julie fort. „Das habe ich gemerkt“, sagte ich trocken. „Der arme kleine Hansemann, er hat seine Mutter nie gekannt.

Sie starb, als er geboren wurde. Es ist für ein Kind nicht gut, wenn es mutterlos aufwächst.“

Endlich sagte Tante Julie etwas, worin ich ihr ganz und gar beipflichten mußte. Wenn einer eine liebevolle, feste und konsequente Mutter brauchte, so war es Hansemann.

„Hansemann braucht so viel Liebe“, sagte Tante Julie. „Er ist ein richtiges kleines Schmeichelkätzchen, und für meinen Neffen ist er wirklich der Sonnenstrahl hier im Hause.“

„Ich sollte meinen, Herr Doktor könnte hier im Hause vier Sonnenstrahlen haben“, sagte ich. Und es gab noch allerlei, was ich nur zu gern gesagt hätte, aber weshalb sollte ich? Hier galt es nicht zu reden, sondern zu tun. Eins wußte ich: wenn einer hier im Hause Liebe brauchte, so war es Bernt. Verstanden denn diese Menschen nicht das kleinste bißchen von der Seele eines dreizehnjährigen Jungen?

„Bernt hat keinen einzigen Freund“, hatte Tante Julie gesagt. O doch, liebe Tante Julie! Bernt hat jetzt einen Freund. Bernt hat mich!

Wir aßen zu Mittag, als die Kinder aus der Schule gekommen waren und das Engelskind aus dem Kindergarten zurück war.

Am Eßtisch wiederholte sich das Theater von heute morgen. Hansemann wurde gebeten und angefleht, er möge essen. Hansemann ließ sich gnädigst mit ein paar besonders guten Happen füttern, Hansemann ließ sich dazu herab, seinen Nachtisch zu essen, nachdem er in dem gebratenen Fisch nur herumgestochert hatte. Ich versuchte, ein Tischgespräch in Gang zu bringen.

„Nun bin ich aber mal gespannt, was ihr zu meiner Kocherei sagt“, begann ich, an die drei Großen gewandt. „Ach richtig, ich muß doch erfahren, was ihr am liebsten eßt. Was sind denn so eure Lieblingsgerichte?“

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„Die Kinder essen, was ihnen vorgesetzt wird!“ sagte Tante Julie streng und reichte Maren Hansemanns Teller mit dem Fisch, der nicht gegessen worden war.

„Natürlich“, pflichtete ich ihr bei. „Aber wenn ich euch nun eines Tages eine besondere Freude machen möchte, was soll ich dann für euch kochen? Was mögen sie am liebsten, Fräulein Rywig?“

„Das weiß ich wahrhaftig nicht“, sagte Tante Julie. „Sie haben immer schmackhaftes Essen bekommen.“

„Das glaube ich ohne weiteres“, sagte ich und schaute verstohlen auf die Uhr. Gott sei Dank, nur noch fünf Stunden, dann mußte Tante Julie fahren. Fünf Stunden würde ich es wohl noch aushalten, ohne zu platzen. „Also Kinder, heraus mit der Sprache. Was magst du am liebsten, Sonja – Senja – Senta – Sonta?“ Die Zwillinge lachten hellauf.

„Apfelcharlotte“, sagte Sonja (oder vielleicht war es Senta). „Apfel im Schlafrock“, sagte Senta (wenn es nicht Sonja war). „Und du, Bernt?“ Bernt sah mich voll an, und seine Augen waren anders als

gestern. Ich las ein Entgegenkommen in ihnen und – ja, auch so etwas wie ein fragendes Verlangen sprach aus dem Blick.

„Frikadellen“, sagte Bernt.

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Frikadellen und Kindererziehung

„Du, Bernt“, sagte ich. Wir saßen allein am Frühstückstisch. Der Doktor war eben gegangen, die Zwillinge waren noch nicht zum Vorschein gekommen, und Herr Hansemann hatte sich ausgedungen, von Maren angezogen zu werden. Irgendwelches Bedauern über Tante Julies Abreise hatte er nicht geäußert – die anderen übrigens auch nicht, ich selbst am allerwenigsten.

„Sag mir mal, Bernt, wann, meinst du, paßt es wohl am besten, wenn ich mal ein bißchen mit deinem Vater spreche? Du kannst dir denken, ich habe allerlei zu fragen und Auskünfte zu erbitten, aber ich sehe ja, wie furchtbar viel dein Vater zu tun hat, und ich möchte ihn so ungern stören.“ Bernt überlegte.

„Ich weiß nicht recht – vielleicht nach dem Abendbrot“, sagte er zögernd. „Jedenfalls nicht morgens.“

„Nein, das ist mir völlig klar!“ lachte ich. „Einen vielbeschäftigten Mann morgens beim Kaffe und bei der Morgenzeitung zu stören, das ist eine Todsünde. So ist es wohl in allen Familien.“

„Wirklich?“ fragte Bernt erstaunt. „Ich dachte, das wäre nur hier so.“

„Oh, ganz und gar nicht! Mein Vater ist zwar nicht Arzt, sondern Lehrer, aber seine Frühstücksstunde war uns doch immer heilig. – Nun, ich will dich nicht aufhalten, Bernt, du mußt wohl jetzt weg. Hast du dein Frühstücksbrot? Maren weiß wohl am besten, was du auf deinen Schnitten draufhaben möchtest!“

„Sie weiß jedenfalls, was ich nach Tante Julies Anordnung mögen soll“, sagte Bernt ruhig.

„Aber jetzt ist Tante Julie fort, nun habe ich hier die Verantwortung“, sagte ich. „Du darfst mir gern sagen, was du magst. Das heißt, es muß in Grenzen bleiben.“

„Ich esse für mein Leben gern Räucherhering und Mettwurst und Kräuterkäse“, sagte Bernt. Er stand auf und wollte gehen.

„In welche Klasse gehst du eigentlich, Bernt?“ „In die Untersekunda.“ Bernt legte das Frühstückspaket in die

Schulmappe. „In die Untersekunda? Nanu, bist du schon so weit? Hast du etwa

eine Klasse übersprungen?“

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„Ja“, erwiderte Bernt ruhig. Dann sagte er höflich „Auf Wiedersehen“ und ging.

Die Zwillinge wurden auf den Weg besorgt, das Engelskind hatte die Freundlichkeit, eine große Scheibe Weißbrot mit Marmelade zu verspeisen und ließ sich erstaunlicherweise von mir in den Kindergarten bringen. Dann hatten Maren und ich ein paar gute und friedliche Stunden. Ich ließ sie mit ihrer Arbeit ganz in Ruhe, fragte sie nur hin und wieder, wie und wo und wann – und Maren antwortete ruhig und verständig. Ihre Miene hatte sich sichtlich aufgehellt, nachdem Tante Julie abgefahren war.

Dann kam das Mittagessen mit den vier Kindern. Ich hatte Frikadellen gemacht. Das kann ich aus dem ff. Hat man fünf Brüder, dann kann man, wenn schon nichts anderes, doch Frikadellen braten!

„Ich mag keine Frikadellen“, verkündete Hansemann. „Das ist aber schade“, sagte ich. „Ich will nicht essen!“ „Na gut“, antwortete ich und gab die Platte mit den Frikadellen

an Bernt weiter. „Nach Ihnen“, sagte Bernt ruhig. Ich tat mir welche auf. Von

Hansemann nahm ich nicht die geringste Notiz. „Ich mag kein Essen“, verkündete Hansemann wieder. Ich gab

keine Antwort, fragte aber statt dessen die Zwillinge, wie es in der Schule gewesen sei. Ich fing an zu essen, und die Zwillinge blickten mit großen Augen auf Hansemanns leeren Teller.

„Aber Hansemann muß doch…“ „Hansemann hat gesagt, er will nicht essen“, sagte ich und

konnte selber hören, daß meine Stimme den richtigen, festen Klang hatte.

„Aber der arme Hanse…“ „Haltet doch den Mund, ihr Schafsköpfe“, pfiff Bernt die

Schwestern an. Ich fing seinen Blick ein. Er verstand mich. Die Zwillinge blickten auch zu mir hin und dann auf den Bruder, und dann ging ihnen ein Licht auf. Sie fingen an zu erzählen, von der Rechenlehrerin, die dies und das gesagt hatte – und von einer Klassenkameradin, die ein neues Fahrrad bekommen hatte – , und die Frikadellen verschwanden, und Hansemann saß ratlos vor seinem leeren Teller.

„Noch eine Kartoffel, Senta?“ fragte ich, und das Glück war mir hold, es war tatsächlich Senta, der ich die Schüssel reichte.

Da erhob mein Tischnachbar seine Stimme, und es klang recht

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jämmerlich: „Ich will auch eine Kartoffel haben!“ „Bitte“, sagte ich und legte eine Kartoffel auf Hansemanns

Teller. „Aber ich will kein Fleisch!“ Niemand antwortete. Hansemann polkte an seiner Kartoffel.

Dann waren wir gesättigt, und Maren brachte die rote Grütze herein. Da meldete Hansemann seine Ansprüche an. Ich merkte, wie

über Marens Gesicht ein befriedigtes Lächeln huschte, als ich Hansemann freundlich, aber kurz eröffnete, er bekomme rote Grütze, sobald er seine Kartoffel aufgegessen habe.

Die wurde nicht gegessen. Hansemann brüllte. Ich ließ ihn brüllen. Hansemann lief in die Küche und wollte sich Keks holen. Maren sagte ihm, sie habe keinen Keks. Hansemann brüllte noch mehr, und ich dankte meinem Schöpfer, daß wir in einem Einzelhaus wohnten und nicht in einem Miethaus. Die Zwillinge verschwanden, um sich mit ihren Freundinnen zu treffen, Bernt zog sich in sein Zimmer zurück, und der brüllende Hansemann wurde zum Mittagsschlaf in sein Gitterbett gepackt, das im Schlafzimmer seines Vaters stand. Er quietschte, er tobte, und er stieß um sich. O Gott, wenn nur der Doktor nicht früher als sonst nach Hause kam. Dieser Kampf mußte zwischen Hansemann und mir allein ausgetragen werden.

Ich klopfte an die Tür zu Bernts Zimmer. „Herein!“ antwortete eine erstaunte Stimme. Es schien für Bernt

etwas Neues zu sein, daß jemand bei ihm anklopfte. „Entschuldige, wenn ich dich störe, Bernt“, sagte ich. „Ich wollte

nur sagen, wenn diese Schreierei dich bei deinen Schulaufgaben zu sehr stört, dann kannst du dich auch in mein Zimmer rübersetzen. Da hört man deinen temperamentvollen Bruder nicht so laut.“

„Es stört mich nicht“, sagte Bernt. „Ich habe noch nicht angefangen zu arbeiten. Er schreit bestimmt bis zum Abend, und dann ißt er wie ein Scheunendrescher.“

„Glaubst du, daß es so schnell geht?“ „Sicher. Der Bengel muß doch wahnsinnigen Hunger haben.“ In

Bernts Augen blitzte ein Schalk. „Da hatten Sie wirklich eine großartige Idee“, sagte er. Ich blieb

einen Augenblick vor Bernt stehen, der sich erhoben hatte, als ich ins Zimmer trat. (Wenn meine eigenen Brüder nur halb so wohlerzogen wären!)

„Du, Bernt, möchtest du nicht auch ,du’ zu mir sagen? Die

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Zwillinge tun es doch, und das finde ich so nett. Und ich bin doch selber noch so jung!“

Eine leichte Röte stieg in Bernts Wangen. „Ja gern. Wenn Sie es lieber mögen – wenn du es lieber magst!“

„Unbedingt. Nun will ich dich nicht weiter aufhalten.“ Ich wandte mich zur Tür. Da hörte ich eine Stimme hinter mir sagen: „Es ist ganz prima, daß du zu uns gekommen bist, Beate!“

Zu meiner großen Erleichterung wurde aus der Klinik angeläutet, der Herr Doktor habe eine Operation und komme erst abends nach Hause.

So konnte ich denn Hansemann ruhig toben und brüllen und beleidigt sein lassen.

Bernt war auf meiner Seite, Maren auch – und die Zwillinge ließen sich nicht blicken.

Sollten diese beiden Herumtreiber nicht schon längst zu Hause sein und ihre Schulaufgaben machen?

Ich erkundigte mich bei Maren. „Fräulein Rywig hat immer verlangt, sie sollten spätestens um

sechs zu Hause sein“, sagte Maren. „Und wenn sie ihre Schularbeiten vorher gemacht hatten, durften sie bis halb acht wegbleiben.“

Soso, aha, die kleinen Schurkinnen wollten also meine Gutmütigkeit ausnützen und machen, zu was sie Lust hatten! Aber da hatten sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Um sieben Uhr holte ich Hansemann zum Abendessen. Er aß fünf Schnitten Schwarzbrot und trank zwei Glas Milch. Ich ließ es mir in keiner Weise anmerken, daß mich das höchst erstaunte.

Die Zwillinge kamen zur Tür herein, als ich gerade dabei war, Hansemann zu waschen und ins Bett zu bringen.

„Meine jungen Fräuleins“, sagte ich, als ich nach unten kam und sie vor dem Radioapparat hockend fand. „Hier wird jetzt nicht Radio gehört, hier werden Schularbeiten gemacht. Und ihr habt pünktlich um sechs Uhr zu Hause zu sein. Marsch, hinauf und an die Arbeit. Wir waren uns einig geworden, daß wir Freunde sein wollten, und dabei bleibt es natürlich auch, es sei denn, ihr mißbraucht meinen guten Willen. Also hopp, nach oben.“ Die Mädels sahen mich erschrocken an. „Aber Beate…“

Ich war indessen nicht umsonst die Tochter eines Pädagogen und hatte sieben Geschwister. Ich wußte nur zu gut, das schlimmste auf der Welt waren lange Strafpredigten und endlose Begründungen.

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„Hopp, rauf, habe ich gesagt!“ Und sie verschwanden. Ich aber, ich war dumpf vor Müdigkeit. Der furchtbare

Nachmittag mit dem schreienden Jungen hatte Nerven gekostet. Ich ließ mich in einen Sessel fallen. Einen Augenblick hatte ich

die größte Lust, alles seinen guten, schiefen Gang gehen zu lassen und einfach nur zu schlafen.

Da hörte ich Schritte auf der Treppe. Bernt kam herunter. „Na Bernt? Fertig mit den Schularbeiten?“

„Ja, lange. Ich dachte, wir essen bald Abendbrot.“ „Wollen wir nicht auf deinen Vater warten, oder was meinst du?“ „Doch, gern. Ich habe noch keinen Hunger. Aber die Zwillinge?“

Plötzlich kam mir ein Gedanke. Jetzt wollte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – nein, drei – nein, vier Fliegen!

„Die Zwillinge bekommen ihr Essen aufs Zimmer. Sie haben sich um die Schulaufgaben drücken wollen, und nun will ich sie nicht unterbrechen, indem ich sie zum Essen herunterrufe.“

Maren kam gerade herein, um den Tisch zu decken, und ich bat sie, den Zwillingen Butterbrot und Milch nach oben zu bringen. Bernt sah mich an. „Du kannst anscheinend auch streng sein.“ Ich lachte.

„Nur gut, daß du ,auch’ sagst, Bernt. Ja, was soll ich machen, wenn diese Gören den ganzen Nachmittag draußen herumstrolchen und meinen, sie könnten mir auf der Nase herumtanzen? Jetzt müßte ich dich natürlich auch auszanken, weil du überhaupt noch nicht an der frischen Luft gewesen bist, aber ich habe heute nicht mehr die Kraft zu zanken.“

„Da hab ich ja Glück gehabt“, sagte Bernt. Dann hörten wir draußen den Wagen, und der Doktor kam nach Hause. Gleich darauf saßen wir beim Essen, der Doktor, Bernt und ich. Der Doktor fragte zuerst nach Hansemann und erfuhr, daß er schon schlafe, und hinterher mußte ich ihm sagen, aus welchem Grunde die Zwillinge nicht mit uns äßen.

„Ja, sehen Sie nur zu, daß Sie sich bei den Ruppsäcken in Respekt setzen“, sagte der Doktor. Ich gab ihm ungefähr die gleiche Antwort wie Tante Julie:

„Respekt ist nicht unbedingt nach meinem Geschmack, Herr Doktor. Ich möchte lieber, daß die Kinder Vertrauen zu mir haben. Aber ein bißchen Disziplin ist nun mal nötig, darüber bin ich mir klar.“

„Jaja“, lächelte der Doktor. „Nennen Sie es Disziplin, wenn sich

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das für Sie schöner anhört. Nun Bernt, was hast du heute gemacht? Bist du schon draußen gewesen?“

„Nein, ich habe allerlei aufgeräumt.“ „Deine Pflanzen?“ Pflanzen, dachte ich. Ist es die Botanik, für die der Junge sich so

interessiert? „Ja, das auch. Und dann habe ich einen Aufsatz geschrieben.“ „Nun ja, das ist alles ganz gut und schön, Bernt, aber du mußt

auch an die Luft. Sehen Sie, Fräulein Hettring, wie verzwickt das ist: Bernt muß ins Freie gejagt, und die Zwillinge müssen mit aller Macht hereingeholt werden.“

Der Arzt lächelte müde, ich lachte, und dann aßen wir, ohne noch mehr zu sprechen. Dabei hatte ich mir gedacht, Vater und Sohn würden die Gelegenheit zu einer gemütlichen Unterhaltung wahrnehmen, da die drei Störenfriede nun fort waren!

Nichts von gemütlicher Unterhaltung, ach nein. Beide saßen stumm da, beide in ihre eigenen Gedanken vertieft, und so schwieg ich natürlich ebenfalls.

Mit einem Male befiel mich eine solche Sehnsucht nach zu Hause, daß ich hätte heulen können.

Ich sehnte mich nach dem Geplapper und der Unruhe, nach der Behaglichkeit und Wärme und dem Vertrauen und der Liebe.

Die Liebe… Ich ging in mein Zimmer hinauf und fing einen Brief an die

Eltern an. Aber nach einer halben Seite hörte ich auf. Ich war zu müde. Mit einem Male hatte ich zu nichts weiter Lust, als neben Axel

auf einer Bank zu sitzen, den Kopf an seine Schulter gelehnt, und seinen Arm um mich zu fühlen und Axels Stimme zu hören: „Kleine Beate…“

Und ich sehnte mich danach, die Augen zu schließen und Axels Atem an meinem Gesicht zu spüren.

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Die große Überraschung

„Sagen Sie, Maren“, sagte ich, „wie hat Fräulein Rywig es eigentlich gehalten, wenn sie etwas in der Stadt zu besorgen hatte? Nahm sie sich einen bestimmten Tag nachmittags frei, oder…“

„Nein, sie machte es so, wie es gerade paßte“, antwortete Maren. „Mittwochs war sie immer zu Hause, das ist mein freier Tag.“

„Hm.“ Ich überlegte. Ob ich meinen freien Nachmittag mit dem Doktor

besprechen oder es so machen sollte wie Tante Julie und in die Stadt gehen, wenn ich in die Stadt mußte?

Es war nur so schwierig, mit dem Doktor irgend etwas zu besprechen. Er war so wenig zu Hause, war immer müde und saß abends immer und arbeitete. Der arme Mann, wie wenig hatte er im Grunde von seinen Kindern und seiner Häuslichkeit!

Aber plötzlich geschah etwas, das mich veranlaßte, den Doktor zu fragen.

Einer der Zwillinge kam mit einem Brief in der Hand angerast. „Brief für dich, Beate! Aus Tjeldsund umadressiert. Er kommt hier aus Oslo! Kennst du denn jemanden in Oslo?“

„Das geht dich nichts an, Sonja“, sagte Bernt. „Man guckt sich nicht anderer Leute Briefe an.“

„Ich hab doch nur nach dem Poststempel gesehen.“ „Der Poststempel geht dich auch nichts an.“ Sonja händigte mir den Brief aus, trippelte wieder hinaus, drehte

sich in der Tür um und streckte Bernt hinter seinem Rücken die Zunge heraus.

Mir flog das Herz in den Hals hinauf. Es war Axels Schrift. Ich zog mich schleunigst in mein Zimmer zurück und öffnete den Brief mit zitternden Fingern.

Er war auf einem Firmenbriefbogen geschrieben, mit Langeböe & Co. in gestochenen Buchstaben in der linken Ecke.

„Liebste Beate! Tausend Dank für den Brief. Du siehst, ich habe nicht

übertrieben, als ich Dich darauf vorbereitete, daß ich ein schlechter Briefschreiber sei. Aber denke ja nicht, daß ich Dich deswegen vergessen hätte. Es war immer so nett, wenn Du hinten auf dem

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Motorrad saßest und Dein ewiges ,Wir beide zwei beim Lampenschimmer…’ sangst.

Übrigens – kannst Du mir nicht mal verraten, was das für ein Lied ist? Es summt mir so oft in den Ohren, und ich hätte eigentlich Lust, mir eine Platte davon anzuschaffen. Aber ich kann ja nicht gut in einen Laden gehen und sagen, ich möchte was haben ,mit Lampenschimmer und wir beide zwei’, und singen kann ich nicht, wie Du weißt. Kannst Du mir nicht gelegentlich Titel und Komponisten verraten?

Ich fühle mich übrigens hier in Oslo riesig wohl, die Arbeit ist interessant. Habe auch nette Leute kennengelernt. Die Tage rasen mit Siebenmeilenstiefeln dahin. Laß es Dir gut gehen, Beatchen, grüß die kleine Locke, Du weißt, die sich immer in Dein Ohr hineinringelte. Du darfst dem Friseur nie erlauben, sie abzuschneiden. Du, und dann vergiß nicht, mir gelegentlich zu schreiben, wie dieser Titel mit dem Lampenschimmer lautet! Tausend Grüße

Dein Axel.“ Ich schwebte wie auf rosa Wolken. Axel hatte also Sehnsucht nach mir, so sehr, daß er sich die Platte

kaufen wollte! Er war hier in der Stadt allein und erinnerte sich an die dumme kleine Melodie, die ich immer ganz in Gedanken vor mich hingesummt hatte!

Oh, Axel… Aber nun stand eins fest, ich mußte die Frage mit meiner Freizeit

so bald wie möglich zur Sprache bringen. Und ich wollte sonntags frei haben, ich wollte schöne, ganze lange Tage mit Axel verleben! Und ich wollte wissen, ob ich abends ausgehen dürfte.

„Du bist sicher nicht ganz beieinander, Beate“, sagte Senta (ich glaube, es war Senta) späterhin am Nachmittag. „Du hast jetzt eine Stunde lang diese Melodie vor dich hingesungen und gesummt und gebrummt. Was ist das denn für ein Kohl mit ,wir beide zwei’ und ,beim Lampenschimmer’?“

„Ach…“, sagte ich, „es ist ein Lied aus einer alten Operette. Aus der ,Gräfin Maritza’, Kálmán heißt der Komponist.“

Senta zeigte kein nennenswertes Interesse für die „Gräfin Maritza“. Aber als ich kurz darauf allein in der Küche war, sang ich wieder:

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„Ich möchte träumen von dir, mein Putschikam, Ich möchte träumen von dir, mein Mutschikam, Wir beide zwei beim Lampenschimmer Ganz allein im Zimmer, Ich und du beim ersten Rendezvous! Ich möchte träumen, daß du im Arm mir liegst, Ich möchte träumen, daß du dich an mich schmiegst, Das war das höchste Glück auf Erden…“ Die sonderbarsten Lieder können einen manchmal in den

siebenten Himmel versetzen. Ich war heute jedenfalls im sechsten. Abends nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte den

Doktor. Er sah mich geradezu erstaunt an. „Bestimmte freie Tage? Ja,

natürlich, wenn Sie es am liebsten so haben wollen – sonntags – ja, selbstredend, wechseln Sie am besten mit Maren ab.“ Jetzt lächelte der Arzt plötzlich und richtete den Blick voll auf mich, und ich bekam beinahe einen Schock. Du lieber Himmel, was für wunderschöne Augen hatte der Mann. Groß und dunkelgrau, genau wie Bernt. „Ich vergesse ganz, daß Sie noch so jung sind, sehen Sie. Natürlich müssen Sie auch die Möglichkeit haben, Ihr eigenes Leben zu führen. Das ist dann also abgemacht.“

Wieder mußte ich ihm in die Augen sehen. Jetzt hatte er so lustige kleine Fältchen in den Augenwinkeln, und seine Mundwinkel bogen sich ein ganz klein wenig aufwärts. Es war ein wahrer Jammer, daß dieser Mann sich so kaputt machte in seinem Beruf und immer abgehetzt und überanstrengt war.

Ich lächelte und sagte zu ihm: „Für Sie und die Kinder müßte es doch eigentlich eine Wohltat sein, mich jeden zweiten Sonntag los zu sein. Der Sonntag ist doch der einzige Tag, wo Sie Gelegenheit haben, mit Ihren reizenden Kindern zusammen zu sein.“

Der Doktor sah mich aufmerksam an. Dann sagte er nachdenklich: „So, meinen Sie? Daß meine Kinder reizend sind? Aber liebes Fräulein Hettring, nehmen Sie doch bitte Platz.“

Ich setzte mich hin. „Prächtige Kinder sind es. Doch, und bildhübsch. Die Zwillinge

können sehr lieb sein. Und Hansemann…“ „Ja, der ist bildhübsch, das sehe ich selber.“

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„Ja, der Ärmste, das ist er.“ „Der Ärmste? Weshalb sagen Sie ,der Ärmste’?“ „Weil der liebe Gott in seiner Unerforschlichkeit ihm etwas in

die Wiege mitgegeben hat, was meiner Meinung nach für einen Jungen geradezu ein Verderb ist. Blonde Locken, blaue Augen und nach oben gebogene Augenwimpern. Armer Hansemann, er sieht so entzückend aus, daß man ihn am liebsten nie anders haben möchte; man versucht krampfhaft, ihn so lange wie möglich in dem Kleinkinderstadium zu halten, und vergißt, daß er in das Alter kommt, wo er normalerweise Fußball spielen und mit Nasenbluten und Schrammen nach Hause kommen müßte und mit Kennermiene von Automarken und Pferdestärken reden müßte!“

Der Doktor sah mich entgeistert, aber nicht unfreundlich an. „Das ist ja allerhand“, sagte er. „Sie meinen…“ Dann ging zum Glück das Telefon auf des Doktors Schreibtisch, und ich war heilfroh. Ich hatte ja eigentlich die Absicht gehabt, noch zu warten, bis ich die kitzlige Frage mal anschneiden könnte.

Aber ich konnte nun ausgehen, wann ich wollte. Und schon morgen wollte ich Axel besuchen. Ach, wie ich mich freute! Morgen – morgen sollte Axel eine Überraschung erleben! Ich warf einen schnellen Blick in den Spiegel. Die kleine Locke ringelte sich noch immer eigensinnig in mein Ohr hinein.

Morgen würde ich an Axels Tür klingeln – und ich würde die Grammophonplatte mitbringen – und Axel und ich würden… „Wir beide zwei beim Lampenschimmer Ganz allein im Zimmer…“

Abends konnte ich fast nicht einschlafen vor lauter Seligkeit. Am nächsten Morgen fragte der Doktor, ob ich vielleicht meinen Lohn für die neun Tage im August schon haben wolle – ich war ja am zweiundzwanzigsten angetreten.

Das kam mir sehr gelegen. Auch das war etwas Neues und ausgesprochen Angenehmes. Ich hatte doch noch nie in meinem Leben selber Geld verdient! Ich hatte von meinem Vater Taschengeld bekommen, mit einer Sonderzulage in der Zeit, als ich das Haus allein führte, aber reichlich war es nie. Am nächsten Vormittag fuhr ich in die Stadt und besorgte die Grammophonplatte und behielt noch so viel Geld übrig, daß ich mir im Ausverkauf einen sehr schicken kleinen Hut erstehen konnte. „Ich glaube, du bist verliebt, Beate“, sagte Senta (oder Sonja) beim Mittagessen.

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„Was sagst du da?“ Zu meinem unbeschreiblichen Ärger fühlte ich, wie mir die Röte in die Wangen stieg. „Ja, du hast nämlich Hansemann eben zweimal vom Nachtisch aufgetan, und dabei hat er seinen Fischpudding noch nicht gegessen.“ Gibt es wohl etwas Schlimmeres als die beiden scharfen Augen eines elfjährigen Mädels? Höchstens die vier scharfen Augen von zwei elfjährigen Mädels. „Dann muß Tante Julie verliebt gewesen sein, so lange wir sie gekannt haben“, sagte Bernt gleichmütig. „Würdest du so nett sein und mir den Zucker reichen, Beate?“ Oslo bei Abend, Oslo mit Lichtreklamen und erleuchteten Schaufenstern, mit Autos und klingelnden Straßenbahnen. Ich kam mir richtig vor wie die „Unschuld vom Lande“, wie ich da am Rinnstein stand, auf die andere Straßenseite hinüberspähte und auf eine Pause im Verkehr wartete, um hinüberzuschlüpfen Es dauerte lange. Endlich aber wagte ich es und atmete erleichtert auf, als ich drüben war. Jetzt war es nur die nächste Straße links hinunter – und dann rechts drüben – dort mußte es sein. Und so war es.

Mein Herz klopfte wie rasend, als ich die Treppe hinaufstieg, die Grammophonplatte unter den Arm geklemmt. Oh, was würde Axel bloß sagen – was würde er sagen – oh, vie ich mich freute, von seinen Armen bald umschlungen zu sein…

Hier war es. Auf einer Visitenkarte stand sein Name und „Zweimal läuten“.

Ich mußte ein wenig warten und schlucken und mir auf die Lippe beißen, ehe ich die Hand hob und zweimal auf den Klingelknopf drückte.

Zunächst rührte sich nichts. Mir sank der Mut. Vielleicht war er nicht zu Hause?

Doch. Drinnen bewegte sich jetzt etwas. Eine Tür ging. Ein Lichtstrahl drinnen im Flur, hinter der Milchglasscheibe der Wohnungstür sah man jemanden sich bewegen.

Und nun die Stimme – liebe Zeit, wie ich mich nach dieser Stimme gesehnt hatte!

„Nein, wo, ich erwarte niemanden. Da will sicher bloß einer Schnürsenkel verkaufen.“ Dann wurde die Tür geöffnet.

Ich wollte gerade guten Tag sagen – aber plötzlich versagte mir die Stimme.

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Ich blieb im Halbdunkel auf der Treppe stehen mit der Platte unter dem Arm und dem feinen neuen Hut auf dem Kopf, und ich sah Axel nur an und merkte, wie meine Lippen zuckten. „Nein – wie ist das möglich – bist du es, Beate!“

Ich nickte. „Wie kommt es denn, daß du plötzlich hier aufkreuzt?“

Ich setzte ein paarmal an, endlich gehorchte mir die Stimme: „Ich habe hier in Oslo eine Stellung. Ich bekam gestern deinen Brief. Bitte – hier ist die Platte!“

„Die Platte?“ Er sah mich verständnislos an. „Ja, du fragtest doch nach dem Lied von dem Lampenschimmer

und wir beide zwei – und hier ist sie, bitte sehr…“ Axel nahm das Paket entgegen, stand unschlüssig da und zupfte

am Einwickelpapier. „Das ist doch aber – ja, tausend Dank, das ist aber viel zuviel – es

– es ist aber eine Überraschung, dich hier zu sehen, Beate – schade, daß ich keine Ahnung davon hatte, daß du kommen würdest – ich – eh – ich bin nämlich leider gerade besetzt – ich habe einen Geschäftsbesuch, weißt du…“

Das sah ich. Dicht hinter Axel hing der zitronengelbe Orlonmantel seines Geschäftsbesuchs, mit einer giftiggrünen Spinne auf dem Aufschlag. Und Axel war von einem Duft umhüllt – einem Duft von einem fremdartigen, seltsamen, würzigen Parfüm.

„Jaja, daran ist ja nichts zu ändern…“ Oh, wie war ich tüchtig, meine Stimme zitterte tatsächlich nicht mal.

„Es tut mir wirklich leid, daß du dir den Weg gemacht hast – hättest du bloß vorher angeläutet!“

„Ja, das war natürlich dumm. Nun, wir sehen uns vielleicht ein andermal – irgendwann…“, fügte ich hinzu. „Natürlich, das ist doch klar. Ich läute dich an.“

In seinem Tonfall lag etwas Abschließendes. Ich verstand, daß es nicht gut möglich war, den Geschäftsbesuch noch länger warten zu lassen. „Schön. Tu das. Du findest mich bei Dr. Gerhard Rywig, privat.“

„Fein. Ja, vielen Dank für die Platte, Beate, und entschuldige bitte, aber…“

Ich entschuldigte. Und die Tür schloß sich hinter mir. Auf bleischweren Beinen ging ich die Treppe hinunter. Ich sah

nichts mehr von den Lichtern und dem fröhlichen Leben und Treiben der Großstadt. Ich sah nur, daß es Abend war und alle Menschen

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irgendwie zusammengehörten, jemanden hatten, den sie liebten oder auf den sie böse waren, oder an dem sie Anteil nahmen oder in den sie verliebt waren. Nur ich hatte niemanden.

Geschäftsbesuch. Mit hellgelbem Orlonmantel und würzigem Parfüm.

Aber – mit einem Male blieb ich mitten auf dem Bürgersteig stehen.

Wer sagte denn, daß der Orionmantel Axels Gast gehörte? Vielleicht gehörte er seiner Wirtin?

Und das Parfüm – Axel hatte doch immer einen feinen, leisen Duft von Rasierwasser an sich. Vielleicht war er nur zu einer neuen Marke übergegangen?

Er hatte außerdem gesagt, er wolle anläuten. Vielleicht tat er es morgen. Vielleicht schon heute abend, wenn der Geschäftsbesuch endlich gegangen war.

Mit einem Male hatte ich es wahnsinnig eilig und stürzte nach Hause, so schnell ich konnte.

„Bist du schon wieder da, Beate? Prima, daß du kommst! Du, Beate hör doch mal – einer will Musik im Radio hören und einer will einen Vortrag haben, da muß doch abgestimmt werden, nicht wahr?“

Es waren die Zwillinge, die beide gleichzeitig auf mich einredeten. „Soso, ihr wollt also Musik hören und Bernt einen Vortrag.“

Ich hatte den Mantel noch nicht ausgezogen, da mußte ich schon versuchen, ein salomonisches Urteil unter den dreien zu fällen.

Im Wohnzimmer saß Bernt am Radio und schaltete eben von einem englischen Jazzorchester auf einen norwegischen Vortrag um.

Ich guckte über seine Schulter in die Radiozeitung. „Unsere Gebirgspflanzen“, hieß der Vortrag.

„Nun stehen also zwei gegen einen?“ fragte ich. „Aber wenn ich den Vortrag auch gern hören möchte, dann stehen zwei gegen zwei!“

„Dann müssen wir losen“, sagte Senta (oder Sonja). „Nein, halt mal“, rief ich. „Ihr beiden Irrwische könnt nach oben in mein Zimmer gehen und dort die Jazzmusik hören. Wozu habe ich denn ein Zimmer mit Radio? Aber nicht so laut, daß Hansemann nicht wach wird!“

Die Zwillinge stürzten los, und Bernt warf mir einen forschenden Blick zu. Es war, als wollte er etwas sagen, besann sich aber.

Nun saß er vornübergeneigt und hörte gespannt zu. Ich versuchte ebenfalls, zu folgen. Offengestanden war mein Interesse für

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Gebirgspflanzen nicht übermäßig groß, aber ich wollte gern ergründen, was Bernt so sehr erfüllte.

Es war schwer, die Gedanken zusammenzuhalten. Die ganze Zeit hörte ich eine Stimme in meinem Ohr: „Ich habe einen Geschäftsbesuch…“

Und die ganze Zeit sah ich einen hellgelben Mantelaufschlag vor mir mit einer großen, grünen Spinne…

Die Stimme im Radio war wahrhaftig nichts weiter als eine Begleitmusik zu meinen trübseligen Gedanken. Ich hatte einen Kloß im Hals sitzen, und ich war ganz furchtbar enttäuscht.

Aber wenn auch – wenn auch – es konnte doch sein, daß Axel die Wahrheit gesagt hatte. Es konnte doch sein, daß es seine Wirtin war, die für gelbe Mäntel mit grünen Spinnen schwärmte…

Weshalb hatte Axel denn nach „unserer“ Melodie gefragt, wenn ich ihm gleichgültig geworden wäre? Warum hatte er das Löckchen am Ohr erwähnt?

Morgen läutete er sicher an. Dann würde sich alles aufklären. Und Sonntag würden wir ganz bestimmt zusammen ausfahren. Der Kloß im Hals wurde kleiner. Ich konnte wieder gleichmäßig atmen.

Der Vortrag war jetzt zu Ende, und im selben Augenblick ging die Tür zum Arbeitszimmer auf. Der Doktor kam heraus.

„Sind Sie schon wieder da, Fräulein Hettring? Das ist aber nett. Ich wollte fragen, ob Sie wohl noch eine Tasse Kaffee zaubern würden? Maren hat mit den Bohnen so gegeizt!“

„Aber natürlich.“ Ich stand auf, blieb dann aber stehen und sagte zu dem Doktor: „Entschuldigen Sie, Herr Doktor, wenn ich frage: würden Sie es einem Patienten gestatten, jeden Abend zwei bis drei Tassen starken Kaffee zu trinken?“

Der Arzt sah mich an; er hatte genau solche Augen wie Bernt. Groß und grau und dunkel. Und es saß ein kleines Lächeln darin.

„Sieh mal einer an. Da haben wir’s. Sie sind aber auch eine fürchterlich wachsame kleine Dadda. Sie finden also, ich sollte nicht noch mehr Kaffee trinken? Was haben Sie denn sonst zu bieten?“

„Obst zum Beispiel. Wir haben so schöne Äpfel. Und anregende Unterhaltung von Bernt und mir.“

„Na schön. Also her mit den Äpfeln, wenn Sie so streng sind. Was hast du im Radio gehört, Bernt? Etwas Interessantes?“

Ich hörte nicht mehr, was Bernt antwortete, denn ich ging hinaus, um die Apfel und Obstmesser und Teller zu holen. Als ich wieder hereinkam, saßen Vater und Sohn stumm da, der eine mit der Nase in

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einer Zeitung, der andere mit dem Radioprogramm. Aber dann fragte der Doktor, wie ich mich in Oslo

zurechtgefunden hätte, und Bernt biß mit den kräftigen Zähnen in einen Apfel und legte die Radiozeitung aus der Hand. Ich wollte furchtbar gern versuchen, ihn aufzutauen; sein ernsthaftes Gesicht und seine andauernde Schweigsamkeit begannen mir allmählich auf die Nerven zu gehen.

Aber da war ein anderer, der plötzlich Leben in die Bude bringen sollte. Kleine, tapsende Schritte auf der Treppe, die Tür ging auf, und herein kam Hansemann in seinem gestreiften Pyjama und mit seinem unbeschreiblichen Bären im Arm. Er hatte rote Backen und war ganz warm und mollig vom Schlaf, und er blinzelte durch die viel zu schwarzen und viel zu schönen und viel zu sehr nach oben gebogenen Augenwimpern. Zum Anbeißen süß sah er aus.

„Aber Hansemann“, rief der Vater. „Weshalb liegst du nicht in deinem Bettchen und schläfst?“

„Kann nicht schlafen, die Musik ist so laut“, sagte Hansemann. Er knautschte und war wie betäubt. Nun trippelte er zu seinem Vater hinüber, der ihn auf sein Knie nahm. Ich fuhr wie ein geölter Blitz nach oben zu den Zwillingen, drehte das Radio ab und jagte sie in ihr Zimmer hinüber. Unerhört, diese Rangen – hatte ich nicht gesagt, sie sollten das Radio ganz leise stellen?

Als ich wieder nach unten kam, war der Doktor dabei, einen Apfel zu schälen, er zerschnitt ihn in kleine Scheiben, die er Hansemann in den Mund steckte. Hansemann kuschelte sich tief in Vaters Achselhöhle hinein.

„Bist du Vaters lieber Junge, was?“ sagte der Doktor und strich Hansemann über die Locken. „Und wenn du deinen Apfel gegessen hast, dann gehst du wieder brav in dein Bett, nicht wahr?“

„Ich will aber auf deinem Rücken hoppareiter machen“, sagte Hansemann.

„Jaja, du sollst hoppareiter machen – hier sieh, das ist das letzte Stückchen, Mund auf, so, ja…“

Meine Augen gingen zu Bernt hinüber. Dessen Augen hingen an dem Vater und dem Bruder, und sie waren fast schwarz.

Der Doktor lachte mir zu. Er sah beinahe glücklich aus. „Haben Sie schon mal so einen kleinen Räuber gesehen, Fräulein Hettring? Nun, haben Sie den beiden Quirlen da oben eins auf den Kasten gegeben? Wenn die nur halb so leise wären wie mein Erstgeborener!“

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Da stand Bernt auf und ging langsam zur Tür. Dort wandte er sich um und schaute den Vater an, und als er sprach, klang seine Stimme ganz erwachsen, so traurig erwachsen: „Das Erstgeburtsrecht verkaufe ich gern, und ich verlange nicht mal ein Linsengericht dafür. -Gute Nacht!“

Die Tür schloß sich geräuschlos hinter Bernt.

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Die grüne Spinne Ab und zu ist es ein wahrer Segen, wenn man viel zu tun hat. Meine Tage waren reichlich ausgefüllt. Das war gut so.

Denn dadurch war ich abends so müde, daß ich trotz allem schlief. Oder richtiger, trotz der einen einzigen Tatsache: daß Axel nichts von sich hören ließ.

Lieber Himmel, wie ich auf dies Telefongespräch wartete! Und wenn das Telefon klingelte, war ich wie ein Blitz dran und nahm es ab.

Aber nie fragte jemand nach Beate Hettring. Hatte Axel meine Adresse vergessen, weil es an dem Abend in

der Wohnungstür so schnell ging? Nun, dann hätte er doch nur nach Tjeldsund zu schreiben

brauchen. Wenn er mich wirklich ausfindig machen wollte, dann gäbe es immer Mittel und Wege.

Ach, der Kloß im Hals kam unversehens wieder, und ich war so grenzenlos unerfahren, ich hatte ja noch nie zuvor eine wirklich große Liebe erlebt.

Mein freier Sonntag kam heran, und ich ahnte nicht, was ich den ganzen langen Tag anfangen sollte.

Freitag nachmittag war ich in der Stadt. Ich mußte unbedingt zum Friseur. An dem Tag, als ich zu Axel ging, hatte ich einen großen, sehr anständigen Frisiersalon gesehen.

Ich läutete also dort an und machte eine Zeit aus. „Fräulein Hettring? Ja, bitte, Sie können gleich drankommen.

Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen…“ Ein zuvorkommendes Mädchen hängte meinen Mantel hübsch

auf einen Bügel und trug ihn zum Kleiderständer. Plötzlich setzte mein Herzschlag aus. Mein schmuckloser blauer Mantel von Geschwister Nielsen, Damenkonfektion, Tjeldsund, wurde neben einen hellgelben Orionmantel mit einer großen, grünen Spinne auf dem Aufschlag gehängt.

Halb wirr im Kopf hörte ich, wie jemand meinen Namen sagte, und ich stand auf und ging hinter einer weißgekleideten Gestalt her in ein rosa Kabinett. Als ich über dem rosa Becken hing, mit einem rosa Waschlappen vor den Augen, da merkte ich, daß dieser Waschlappen mir sehr gelegen kam…

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Als ich mich aber wieder aufrichten durfte, da waren meine Augen trocken, und daß ich ein bißchen rot im Gesicht war, konnte ja auch von dem heißen Wasser und der vornübergeneigten Haltung kommen.

Das Haar wurde bearbeitet und frisiert, ich saß schweigend da und antwortete nur, wenn ich gefragt wurde, wo ich den Scheitel haben wolle und ob das Haar so frisiert werden oder vielleicht lieber einen kleinen Schwung nach links haben solle.

Mit einem Male hörte ich ein leises Trällern. Aus dem Nebenkabinett, das von dem meinen nur durch einen geblümten Vorhang getrennt war, ertönte das leise Brummen einer Trockenhaube und durch dies Brummen hindurch das Singen.

Und wieder stockte mein Herzschlag. „Ich möchte träumen von dir, mein Putschikam, Ich möchte träumen von dir, mein Mutschikam…“ Die Augen meiner Friseuse und die meinen trafen sich im

Spiegel. Sie lächelte. „Ja, es kommt so oft vor, daß die Damen, sobald sie unter der

Haube sitzen, vergessen, daß wir anderen hören können, wenn sie selber auch nichts hören“, sagte sie. „Die Kundinnen sitzen oft so da und singen leise vor sich hin. So, bitte – ich hole schnell was zum Lesen für Sie…“

Die Illustrierten blieben auf meinem Schoß liegen, und die Trockenhaube dröhnte gegen meinen Schädel.

Aber ich sang nicht. Das also war der Grund, weshalb Axel die Melodie haben wollte.

Die grüne Spinne sollte betört und weichgemacht werden mit der einschmeichelnden Stimme, die von Putschikam und Mutschikam sang.

Das war der Grund! Nun mal ganz vernünftig, Beate, sagte ich zu mir selber. Sieh den

Dingen ins Auge. Der Zufall war dir behilflich, Klarheit zu gewinnen. Also, das ist es: Axel ist mit dir fertig. Du warst ein hübsches kleines Sommererlebnis. Nichts weiter. Sei ehrlich gegen dich selber, Beate. Hat Axel dir jemals gesagt, daß er dich liebe? Nein! Hat er jemals etwas versprochen im Hinblick auf die Zukunft? Nein! Weißt du eigentlich, was in Axel steckt, hinter dem gut geschnittenen Gesicht und der einschmeichelnden Stimme? Nein!

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Sah er auch nur im allergeringsten erfreut aus, als du kamst und ihm die Grammophonplatte schenktest? Nein, ganz und gar nicht! Er sah betreten aus, peinlich berührt! Er ließ dich auf der Treppe stehen. Er sagte, er wolle dich anläuten, aber fragte er denn nach der Telefonnummer, fragte er, wo du zu erreichen seist? Nein, das sagtest du ihm unaufgefordert. Siehst du ein, daß du dich lächerlich machst, wenn du versuchst, ihm wieder zu begegnen? Merkst du, was für eine himmelschreiende Gemeinheit es war, dir zu schreiben und nach dieser Melodie zu fragen? – Nein halt! War es wirklich so gemein? Von seinem Standpunkt aus betrachtet? Er war mit mir fertig, vielleicht kam er gar nicht auf den Gedanken, daß ich noch immer – ach, was für ein Unsinn, Beate. Es war bestenfalls gedankenlos. Aber was er von der kleinen Locke im Ohr schrieb – das war gemein!

Gut. Er kann nichts dafür, daß er sich in eine andere verliebt hat. Und zwischen ihm und mir ist nicht so viel gewesen – nach seinen Begriffen jedenfalls –, daß er zu einer wirklichen Auseinandersetzung verpflichtet wäre.

Also Schluß! Kein Gefackel, Beate! Punkt und Schluß! Da saß ich nun allein unter fremden Menschen, hatte keine

einzige Seele, mit der ich reden, nicht einen, den ich um Rat fragen konnte, nicht eine Schulter, an der ich mich ausweinen konnte, wenn ich dessen bedurfte.

Nun gut. Dann mußte ich eben ohne auskommen. Mein Leben war doch wahrhaftig nicht unausgefüllt. Ich hatte

genug Aufgaben. Es war ein Segen, daß ich mich meinen Pflichten in der Familie Rywig gründlich widmen konnte, ohne von einer unglücklichen Liebe abgelenkt zu sein.

Oh, wie vernünftig waren die Überlegungen, die ich hier unter dem brummenden Trockenapparat anstellte. Hatte ich vielleicht ein bißchen von Vatis kühler Vernunft und unbestechlicher Logik geerbt?

Zwar war ich unerfahren. Aber blöde war ich nun doch nicht. So wollte ich mich denn aus ganzer Kraft dafür einsetzen, dem

Doktor und seinen Kindern Behaglichkeit und Harmonie zu schaffen. Sollte das nicht eine Aufgabe sein, groß genug für eine Frau von dreiundzwanzig Jahren?

Niemals, niemals würde ich Bernts erwachsene, entsagungsvolle Stimme vergessen als er leise sagte: „Das Erstgeburtsrecht verkaufe ich gern…“

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Der Doktor war stumm geworden, seine Augen waren an der geschlossenen Tür hängengeblieben, als Bernt gegangen war.

Und stumm hatte er Hansemann auf den Rücken genommen und nach oben getragen. Hinterher hatte er sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen.

Ich hatte Dr. Rywig gern. Sein Lächeln, wenn es sich ausnahmsweise einmal zeigte, hatte Wärme, und seine Augen sahen klug aus. Ich hatte die vergnügten Zwillinge mit der Quirligkeit und der Schalkheit gern. Ich hatte Hansemann eigentlich auch ganz gern – es war ja nicht seine Schuld, daß er so unbeschreiblich verzogen war. Bis jetzt hatte ich den Jungen immerhin dazu gebracht, daß er aß, oh, ich würde ihn sicherlich zurechtstutzen können. Den kleinen Hansemann…

Ich hatte Bernt gern. Ich war ihm zugetan, und er tat mir in der Seele leid. Der einsame, intelligente, ernste Junge.

Ja. Was hatte Hansemanns Verzogenheit schon zu besagen? Was hatte das Getobe der Zwillinge zu besagen? Ich wollte in allererster Linie dafür sorgen, daß Bernt geholfen würde. Bernt sollte fühlen, daß er in mir einen Freund hatte. Ich mußte ihn so weit auftauen, daß der Vater auch endlich merkte, was er an seinem ältesten Sohn besaß. Daß da eine kleine Mannsperson stand, gewissermaßen mit ausgestreckten Händen, und darauf wartete, seines Vaters Kamerad zu werden.

Die Friseuse kam und nahm die Trockenhaube weg und legte die Frisur. Aus dem Kabinett nebenan ließ sich eine Stimme vernehmen:

„Dann schreibe ich Sie für den nächsten Freitag um dieselbe Zeit auf, Fräulein Langeböe. Ist es recht?“

Da fuhr ein Stich quer durch meinen Vernunftpanzer. Ganz tief drinnen tat es weh. Vielleicht hatte ich trotz allem bis zu diesem Augenblick geglaubt, alles sei am Ende doch nur Zufall…

Aber auch Zufälle haben ihre Grenzen. Grüne Spinne auf gelbem Mantel – die konnten andere vielleicht auch haben. Die alte Melodie aus der Jugendzeit meiner Eltern – die war wirklich ziemlich bekannt. Aber gelber Mantel und grüne Spinne und Putschikam-melodie und dazu noch der Name Langeböe – der Name von Axels Chef – nein, das war ein bißchen zuviel auf einmal, als daß es hätte ein Zufall sein können. „Ist es so recht, Fräulein Hettring?“

„Ja, danke, sehr schön. Aber – ach schauen Sie, würden Sie so nett sein – diese Locke kitzelt mich immer im Ohr – schneiden Sie die doch bitte noch ab!“

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Eine blanke Schere kam und schnitt die Locke ab und alles, was mich noch mit Axel verband.

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Samstagschäker

Ausnahmsweise war der Doktor einmal so früh nach Hause gekommen, daß wir zusammen essen konnten. Ich empfand einen gewissen Triumph, als ich sah, wie erstaunt er nach dem jüngsten Sproß des Hauses blickte. Denn Hansemann aß ohne Widerspruch eine ganz hübsche Portion Fisch mit Kartoffeln, er war sanftmütig und vergnügt und benahm sich wie jedes andere Kind.

Bei Tisch wurde kein Wort über dieses Wunder geäußert. Der Doktor fragte Bernt und die Zwillinge, wie es in der Schule gehe, die Zwillinge erzählten bereitwillig und mit vielem Gekicher, Bernt antwortete einsilbig, aber nicht unfreundlich.

„Möchten Sie den Kaffee gleich haben, Herr Doktor?“ fragte ich, als wir fertig gegessen hatten.

„Ja bitte, und diesmal lasse ich mich nicht mit Äpfeln abspeisen“, lächelte der Doktor. „Ich bleibe heute nachmittag zu Hause, wenn mein Schicksal und die Klinik und die Patienten es wollen. Ich habe eine widerwärtige Arbeit vor mir.“

„Eine widerwärtige Arbeit?“ „Ja, ich muß die Quartalsabrechnung machen. Das muß auch

sein.“ „Ich dachte, das macht die Sprechstundenhilfe?“ sagte ich. „Das tut sie auch sonst. Aber sie ist krank geworden, das arme

Ding. Sie hat die Grippe, und ich habe mir eine junge Hilfsschwester aus der Klinik ausgeliehen, aber die hat keine Ahnung von so einer Abrechnung. Ja, also, Kaffee bitte, und so bald wie möglich, Fräulein Hettring, das wäre großartig!“

Als ich mit dem Kaffee ins Arbeitszimmer zurückkam, sah mir der Doktor lächelnd entgegen.

„Sagen Sie bloß, was für ein Wunder haben Sie an meinem Jüngsten vollbracht? Der Bengel ißt ja plötzlich!“ Ich lachte. Sollte ich beichten?

„Gegessen hat er wohl immer, nur kein Mittagbrot. Er hat Keks und Schokolade und alles mögliche durcheinander gegessen und immer außerhalb der Mahlzeiten.“

„Gnade mir Gott!“ rief der Doktor. „Dabei binde ich sämtlichen Müttern auf die Seele, daß die Kinder außerhalb der Mahlzeiten nichts essen sollen. Ich bin wirklich ein glänzendes Vorbild mit

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meiner eigenen Brut!“ „Der übrige Teil der Brut ist mustergültig“, sagte ich. „Und

Hansemann – na ja, ich war allerdings von Anfang an unerbittlich, und er bekam nicht einen Happen außerhalb der Mahlzeiten. Ich habe mich mit Maren zusammengetan, und Bernt und die Zwillinge durchschauten die Absicht und standen auf meiner Seite, und dann ging es.“

„Und Hansemann?“ „Er hat an dem ersten Nachmittag drei Stunden geschrien. Am

nächsten Tag aß er etwas besser, am dritten aß er fast normal, und jetzt geht es prächtig. Der kleine Kerl hat einen gesunden Appetit, er fand es eben nur unterhaltend, daß er auf diese Weise Mittelpunkt war und viel Aufhebens von ihm gemacht wurde.“

Der Doktor schwieg eine Weile, dann sah er mich wieder an. „Man merkt, daß Sie die Tochter eines Pädagogen sind“, sagte er und lächelte fein. Er wollte wohl noch mehr sagen, besann sich aber und schob die Kaffeetasse zurück.

„So, nun muß ich wohl an diese widerwärtige Arbeit gehen…“ Ich nahm die Tasse, blieb aber stehen.

„Darf ich mir eine Frage erlauben, Herr Doktor?“ „Ja, gewiß.“ „Diese Abrechnungen – ist das nicht etwas, was jedes halbwegs

begabte junge Mädchen tun kann, wenn man es ihr erst erklärt hat?“ „Na ja – sagen wir, ein bißchen mehr als halbwegs begabt.“ Er

lachte. „Sie haben doch nicht etwa die Absicht, sich anzubieten?“ „Nein“, erwiderte ich. „Aber, Herr Doktor…“, und jetzt purzelten

die Worte übereinander, denn was ich dem Doktor begreiflich machen wollte, das lag mir ungemein am Herzen. Ich wollte so gern, so furchtbar gern, daß er Ja sagen solle – „Herr Doktor, weshalb fordern Sie Bernt nicht auf, Ihnen zu helfen? Der Junge ist viel, viel intelligenter als ein achtzehnjähriges junges Mädchen. Er ist so gründlich und zuverlässig, wie ein Mensch es sich überhaupt wünschen kann – und Sie können ihm doch genausogut Schweigepflicht auferlegen wie jeder beliebigen Sprechstundenhilfe. Und außerdem…“

Zu meinem Schrecken kippte meine Stimme über. Ich konnte nicht weitersprechen. Mein Kinn zitterte, und ich mußte mir so fest auf die Unterlippe beißen, daß es weh tat.

Der Arzt machte ein ernstes Gesicht. Er schwieg. Da wußte ich, daß er den gleichen Gedanken hatte wie ich. Bernts stille, traurige

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Stimme fiel ihm ein, als er kürzlich sagte: „Das Erstgeburtsrecht verkaufe ich gern, und ich verlange nicht einmal ein Linsengericht dafür.“

Ich stand mit der leeren Kaffeetasse in der Hand da, und ich zwang mich, ganz ruhig zu bleiben.

„Sagen Sie mal“, jetzt sprach der Arzt ganz leise, „da Sie doch offenbar ein Herz und eine Seele mit meinen Kindern sind – haben Sie den Eindruck, daß Bernt auf Hansemann eifersüchtig ist?“

„Nein, Herr Doktor!“ sagte ich, und nun klang meine Stimme mit einem Male ganz sicher. „Nein, eifersüchtig ist er nicht. Er gönnt dem Kleinen bestimmt all die Zärtlichkeiten, die Sie ihm geben. Er sehnt sich aber sehr nach etwas Verständnis und Interesse – er sehnt sich danach – ja, er sehnt sich danach, der Kamerad seines Vaters zu sein! Herrgott, ein Junge von dreizehn Jahren bedarf so unendlich vieler Liebe. Und er hat vor allen Dingen einen Vater nötig. Ein kluger Junge hat ihn nötiger als irgendein anderer, weil er ganz einfach in seiner Entwicklung weiter ist als seine Altersgenossen. Nein, Herr Doktor, er ist nicht eifersüchtig. Bernt hat einen viel zu redlichen und großzügigen Charakter, um so niedrig und kleinlich zu empfinden.“

Irrte ich mich? Schimmerte eine kleine Perle hinter der Brille des Doktors?

Ich weiß es nicht. Denn er nahm die Brille ab und putzte sie. Dann räusperte er sich.

„Redlich und großzügig, sagten Sie? Das klingt – hm – überraschend. Ich habe seit fünf Jahren nichts anderes zu hören bekommen, als daß er schwierig wäre und muffig – und daß man unmöglich Kontakt mit ihm bekommen könne…“

„Aber dann versuchen Sie es doch mal!“ rief ich aus. „Bernt ist so klug, daß er es leicht durchschaut, wenn man sich nur dazu zwingt, ein Gespräch mit ihm zu führen. Es hat wenig Sinn, sich mit ihm freundlich über die Schule zu unterhalten und ihn auszufragen, was er so macht. Dann verschließt er sich und denkt: ,danke, ich komme ohne Mitleid aus’. Bitten Sie ihn statt dessen lieber um etwas – bitten Sie ihn um seinen Beistand – lassen Sie ihn etwas leisten!!“

Jetzt erhob sich der Doktor. Und zu meinem grenzenlosen Staunen strich er mir übers Haar.

„Kluge, kluge Beate“, sagte er. Und seine Stimme war ganz anders als sonst.

Ich nahm die Kaffeetasse und ging leise hinaus.

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Eine Weile später saß ich mit den Zwillingen und Bernt im Wohnzimmer. Hansemann hielt Mittagschlaf, die Zwillinge erzählten mir eine haarsträubende Geschichte aus der Schule, und Bernt saß in einer Ecke für sich mit einem Kreuzworträtsel.

Mit einem Male tat sich die Tür auf, und der Doktor kam herein. „Schon fertig, Papa?“ fragten die Zwillinge aus einem Munde. „Ach, ihr Optimisten!“ lachte der Vater. „Nein, ich bin noch lange nicht fertig. Du, Bernt, hast du da was Besonderes vor?“ Bernt blickte auf, erstaunt. „Nein, gar nichts…“

„Könntest du mir nicht ein bißchen zur Hand gehen?“ Bernt stand auf, die Augen fest auf den Vater gerichtet; der ganze Junge strahlte. „Und ob! Was soll ich denn…“

„Vor allen Dingen mußt du eisernes Schweigen geloben“, lächelte der Vater. „Du weißt, was das auf sich hat?“

„Ich bin immerhin der Sohn eines Arztes“, sagte Bernt. „Also weiß ich auch, was es mit der Schweigepflicht auf sich hat.“

„Großartig. Dann komm, mein Junge – ich sitze bis übermorgen, wenn ich das alles allein machen soll, weißt du.“

Die Tür schloß sich hinter Vater und Sohn. Wie groß Bernt schon war, und wie ähnlich dem Vater.

Wir hörten gedämpftes Sprechen aus dem Nebenzimmer. Dann wurde es still.

Kurz darauf erschien Hansemann auf der Bildfläche und verlangte unterhalten zu werden. Ich setzte ihn also mit Buntstiften und einem Zeichenblock an einen niedrigen Tisch und sagte ihm, er solle einen hübschen kleinen Hund für mich zeichnen. Hansemann ging mit Ernst und Eifer an seine Aufgabe.

„Hört mal, Mädels“, sagte ich darauf zu den Zwillingen. „Ihr müßt mir mal ein bißchen helfen. Heute ist Samstag, und wir wollen es uns heute abend so richtig gemütlich machen, wenn Papa und Bernt mit ihrer Arbeit fertig sind. Wollen wir was extra Gutes zu Abend essen und hinterher was Süßes?“

Die Zwillinge waren Feuer und Flamme. So verzogen wir drei Frauenzimmer uns in die Küche.

„Was wollen wir denn mal machen?“ fragte ich. „Worauf habt ihr Lust?“

Die Zwillinge sahen sich ratlos an. Dann lachten sie, und die eine (ich glaube, es war Sen ta), sagte:

„Ulkig, daß du uns fragst, Beate. Tante Julie hat uns nie gefragt.“ „Aber sie hat euch sicher was Gutes gekocht.“

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„Ja-a…“, sagte Sen ta gedehnt. „Hmmnja – zu Geburtstagen und so – aber nicht plötzlich so aus heiterem Himmel. Doch das finde ich gerade lustig.“

„Also, was wollt ihr haben? Ich habe etwas Sahne im Haus und…“

„Eis“, schlug Sonja vor. „Ach, Beate, bitte, bitte tu’s. Vanilleeis oder Mokkaeis. Kannst du das?“

„Ach doch, das werde ich wohl können“, sagte ich. Eis hatte ich zu Hause hin und wieder mal gemacht, und hier hatte ich obendrein einen großen, blitzend modernen Kühlschrank zur Verfügung – wahrhaftig, es war eine gute Idee.

„Dann mußt du aber die Sahne schlagen, Sonja…“ „Meinst du die, die du anredest, oder die, die du ansiehst?“

grinsten die Mädchen. „Uff, habe ich mich wieder geirrt? Sonja soll also die Sahne

schlagen. Binde dir die Schürze um, sonst kriegst du Sahnespritzer auf deinen Rock. Und du, Senta, hilfst mir mit dem Abendbrot, ich dachte, wir essen Schinken und Rohkostsalat.“

„Hmmmmm!“ „Kannst du die Mohrrüben schaben? Unterdes schneide ich

Sellerie und Äpfel klein…“ Senta schabte Mohrrüben, ernst und hingegeben, und ahnte nichts

von meinem hinterhältigen Plan. Hat man Mohrrüben geschabt, dann bekommt man die Hände drei Tage lang nicht wieder ganz sauber, drei Tage würde ich also die Zwillinge ganz sicher unterscheiden können. Wenn die drei Tage um waren, würde mir wohl etwas Neues einfallen.

„Das macht mächtigen Spaß, Beate“, meinte Sonja. „Tante Julie ist nie auf so was gekommen.“

„Ach was, überhaupt Tante Julie“, meinte Senta. „So darfst du nicht reden, Senta“, sagte ich. „Du darfst bitte nicht

vergessen, daß deine Tante Julie eine ältere Dame ist, und als sie elf Jahre alt war, da war alles anders. Es ist für einen älteren Menschen gar nicht so leicht, sich in die Kinder von heute hineinzuversetzen, will ich dir mal sagen! Und Tante Julie ist einzigartig gegen euch gewesen. Ich vergesse es nie, wie ich herkam und wie gepflegt das Haus war, alles aufgeräumt und blankgeputzt – alle eure Kleider blitzten, frisch gebügelt und sauber und ohne Flecken – ich weiß ganz gut, wieviel Arbeit in so was steckt – jetzt, wo ich das Vergnügen habe, mich damit zu befassen. Ihr haltet sicher, was

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Flecken in Kleidern anbetrifft, den Weltrekord.“ „Fang jetzt nicht an zu schimpfen, Beate, wo es gerade so

gemütlich ist.“ „Ich habe gar nicht die Absicht zu schimpfen, du Strick. Aber,

höre mal, wenn du weiter die Mohrrüben in den Mund steckst, dann haben wir für den Salat nicht genug. Sag mir übrigens mal – das habe ich völlig zu fragen vergessen: Wann habt ihr hier im Hause eigentlich Geburtstag? Ja, ihr beiden – das weiß ich – aber Papa und Bernt und Hansemann?“

„Bernt kommt zuerst, der hat am vierzehnten November – und dann kommen wir beide, und Papa hat am vierten Februar und Hansemann am dreißigsten Mai.“

Als die Sahne steif war, wurde das Eis fertiggemacht und in den Kühlschrank gestellt. Mit einem wundersamen Instinkt erschien Hansemann in der Küche, gerade als der Sahneschläger abgewaschen werden sollte. Hansemann durfte ihn ablecken und tat es mit Genuß und Hingabe.

„Ich hab jetzt ‘n Hund für dich gezeichnet, Beate“, sagte er stolz und reichte mir sein Werk. Ich schaute es mir begeistert an und sagte anerkennend: „Ich danke dir sehr, Hansemann, der ist aber fein. Den hänge ich mir an die Wand in meinem Zimmer.“

„Ich zeichne auch gern noch ‘ne Katze für dich“, sagte Hansemann großzügig.

Ich war natürlich höchst entzückt bei der Aussicht, auch eine Katze zu bekommen. Hansemann wischte sich die Sahnefinger an seiner Hose ab und stapfte wieder hinüber, um seine künstlerische Tätigkeit von neuem aufzunehmen.

Ich blieb einen Augenblick stehen und dachte an die ganze Familie. Da stand der eine blonde Zwilling und band sich die Schürze ab. Der andere holte gerade die Butterdose aus dem Kühlschrank. Hansemann war fröhlich, sanftmütig und vergnügt, und im Arbeitszimmer drinnen saßen Vater und Sohn und arbeiteten in Frieden und Eintracht. Das Haus atmete Harmonie, frohe Zufriedenheit.

Mit einem Male wußte ich – und ich war nicht etwa stolz, ich wurde deswegen nicht übermütig – mich erfüllte nur so etwas wie ein demütig-dankbares Glücksgefühl –, diese fröhliche Harmonie war mein Werk! Ich hatte es wirklich in der Hand, diesen fünf Menschen ein Glück zu bringen – und ich war tatsächlich drauf und dran, es zu schaffen.

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Meine Gedanken gingen zu Mutti und Vati – meine goldigen, klugen, guten Eltern, die mich für diese Aufgabe erzogen hatten. Und ich dachte an meine Geschwister… ohne die Erfahrungen mit ihnen wäre ich den Kindern hier im Hause gegenüber hilflos gewesen.

Ich konnte es nicht lassen – ich mußte einen Augenblick meine Arme um die Schultern der Zwillinge legen und sie ganz fest an mich drücken.

Zwei fröhliche, helle Gesichter unter goldblonden Schöpfen waren mir zugewandt, und ein glückliches Lächeln begegnete mir. „Das hat Tante Julie auch nie gemacht“, sagte Sonja. „Ich – ich mußte euch bloß eben mal ein bißchen drücken – denn ich hab es so gut bei euch“, sagte ich. „ Wir haben es gut“, erwiderte Sen ta. „Es ist einfach primstens, daß du zu uns gekommen bist, Beate.“

Da hörte ich diese Worte nun zum zweiten Male. Wie sie mir das Herz wärmten…

Ich klopfte beim Doktor an und ging zögernd hinein. Vater und Sohn saßen am Schreibtisch einander gegenüber, beide

über Kartothekkarten und Krankenscheine gebeugt. Der Vater reichte dem Sohn gerade quer über den Tisch hinüber eine Karte.

„Achte auf die Beratung am achten August, Bernt.“ „Ja, ganz recht, ich sehe schon, Papa. A, das bedeutet ,Außerhalb

der Sprechstunde’.“ Der Arzt lächelte mir zu. „Na, Bea… na, Fräulein Hettring?“ „Verzeihung, daß ich einen Augenblick störe, ich wollte nur mal

fragen, wann Sie zu Abend essen möchten, Herr Doktor?“ „Ja, was meinen Sie, Fräulein Hettring?“ „Ich fände es schön, wenn wir etwas früher essen könnten, falls

es Ihnen paßt, damit Hansemann noch mit uns essen kann.“ „Ach ja, das wäre großartig. Halb acht vielleicht? Dann stecken

Sie den Schlingel gleich hinterher ins Bett. Wir schaffen bis dahin sicher noch diesen Packen, Bernt, meinst du nicht?“

„Doch, leicht. Aber Papa – sieh mal hier, das kann doch nicht stimmen… hier steht ein Krankenbesuch am sechsundzwanzigsten August, aber da steht nur ein Kreuz dabei und kein S – und der sechsundzwanzigste August war ein Sonntag…“

„Fein, daß du so gut aufpaßt“, lachte der Doktor. „Schreib noch ein S dazu, und vor allen Dingen, setz es mit auf den Krankenschein, ich will mir dies Sonderhonorar doch nicht entgehen lassen. Und

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hier, Bernt, diese Karte ist vollgeschrieben, da mußt du bitte eine neue ausstellen. Kannst du das? Du siehst, wie man es macht, mit Namen und Beruf und…“

„Jaja, ich sehe schon.“ Bernt nahm eine neue Karte zur Hand und fing an, sie in seiner allerbesten Schönschrift auszufüllen.

„Ich glaube, ich stelle dich fest an als Kartothekschreiber“, schmunzelte der Doktor. „Was du sonst noch besser kannst als dein alter Vater, das weiß ich nicht, aber daß du schöner schreibst als ich, das steht auf alle Fälle fest.“

Bernt blickte flüchtig auf, lächelte und fuhr dann in der Arbeit fort.

Ich mußte wieder weg. Aber, ach, wie war mir leicht ums Herz, als ich die Tür hinter mir schloß.

„Nein, das muß ich aber sagen – wie haben Sie das fein gemacht“, rief der Doktor aus, als er an den Eßtisch trat. Wir hatten das beste Geschirr gedeckt, der Schinken leuchtete rot und saftig auf einer wunderhübschen alten Zinnplatte, und der Salat war einladend in einer gelben Fayenceschüssel angerichtet.

„Es ist ja Samstag heute“, sagte ich zur Erklärung. „Ja, und bei Beate zu Hause haben sie’s samstags immer

besonders gemütlich gemacht“, schwabbelten die Zwillinge durcheinander. „Und nach dem Abendbrot immer was Schönes, und das kriegen wir heute auch. Wir wissen, was es ist, wir haben nämlich dabei geholfen, aber es ist noch streng geheim. Und wir haben Beate versprochen, daß wir hinterher mit abwaschen, dann geht es fix, und wir können noch schön lange am Kamin sitzen.“

Der Doktor betrachtete seine vergnügten Töchter, und seine Augen hinter der Brille lachten.

„Sieh mal einer an! Ihr fangt an, geradezu häuslich zu werden. Wo ist Maren übrigens?“

„Ich habe sie gehen lassen, heute ist ein Fest in der Jungbauerngruppe, und da dachte ich…“

„Ja, natürlich, gewiß. Ja, lassen Sie die Zwillinge nur tüchtig mit zugreifen – wie ist es, Mädels, ihr vergeßt doch nicht, daß ihr mittwochs immer helfen müßt?“

Auf den beiden Gesichtern malte sich deutlich schlechtes Gewissen, und beide waren eifrig mit dem Zerschneiden ihres Schinkens beschäftigt.

„Aha“, sagte der Doktor. „Dachte ich es mir nicht? Da habt ihr euch natürlich gedrückt. Fräulein Hettring, die beiden Rangen dort

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sollen Ihnen abwechselnd an Marens freien Tagen helfen. Das habe ich angeordnet, und ich glaube, das ist in den letzten beiden Jahren bei Tante Julie auch durchgeführt worden. Stimmt es, Mädels?“

„Ja-a…“ „Nun also. Ihr seid mir ein schönes Gelichter. Das habt ihr also

Fräulein Beate nicht gesagt? Ich will aber jetzt nicht schelten. Reich mir das Brot, Bernt – ich hätte gern noch mehr Salat, Fräulein Beate, der ist ganz hervorragend.“

In das Wesen des Arztes war ein neuer Zug getreten – er wirkte munterer und gesprächiger, und das machte ihn jünger, obwohl er mit einer gewissen väterlichen Autorität auftrat. So paradox es klingt, aber es war so.

„Ich hab einen Hund gezeichnet“, berichtete Hansemann. „Und Beate kriegt ihn für ihr Zimmer, um ihn an die Wand zu hängen. Kann ich noch ein Brot haben, Beate?“

„Ich werd es dir zurechtmachen, Beate kommt ja selber gar nicht zum Essen“, sagte der Doktor. „Oder – vielleicht kannst du es selber, Hansemann?“

„Das kann ich doch“, meinte Hansemann. Worauf er die Hälfte der Butter in der Dose auf eine Scheibe

Röstbrot klatschte und von da auf Teller, Tischtuch und Finger verschmierte. Es war gar nicht zu beschreiben, wie süß er aussah in seinem Eifer, allein etwas tun zu dürfen. Wie war doch an diesem Jungen gesündigt worden in all diesen Jahren, daß er wie ein Baby behandelt wurde und nicht die geringste Selbständigkeit und Jungenhaftigkeit hatte entwickeln dürfen.

Ich begegnete dem Blick des Arztes. Ich wußte, was er dachte. Hätte Tante Julie hier gesessen, dann hätte sie eingegriffen, weil Fettflecken auf das Tischtuch und Hansemanns Sachen kamen. Sie hätte ihm Brot und Teller fortgenommen und ihm alles zurechtgemacht, und Hansemann hätte untätig dabeigesessen und sich irgendeinen Unfug ausgedacht, um sich geltend zu machen.

Dr. Rywig lächelte mir zu. Ich wußte, was dies Lächeln sagen wollte. Es wollte Dankbarkeit ausdrücken und – Anerkennung.

Die Zwillinge räumten ab, und ich brachte Hansemann ins Bett. Nach wenigen Minuten schlief er süß und fest mit seinem Bären im Arm. Auf Teddys Plüschleib war kein einziges Härlein mehr zu sehen, fünfmal dreihundertfünfundsechzig Nächte in Hansemanns Bett und in seinen liebevollen Armen hatten sein Fell völlig verschlissen.

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Er sah ungefähr so aus wie Heidis Plüschkatze und Rolfs Kaninchen – er wirkte ganz heimatlich auf mich, und ich fühlte eine große Zärtlichkeit für Hansemann, als ich mich niederbeugte und die Decke besser um ihn und den Bären zurechtstopfte.

Bernt hatte dem Vater vorgeschlagen, sie sollten mit der Abrechnung morgen fortfahren. Als sie zu uns hereinkamen, waren die Zwillinge und ich mitten in einem Ratespiel.

Die Kinder „dachten an einen Gegenstand“, und ich mußte allmählich herausfinden, was es war. Mit Hilfe ungezählter Fragen hin und her, ob es im Tierreich sei, im Pflanzenreich, Mineralreich, ob der Gegenstand noch immer existiere, ob er hier im Hause sei und so weiter, kriegte ich endlich heraus, daß es der kupferne Samowar im Eßzimmer war.

„Jetzt sind wir mit Raten dran“, sagte Senta. „Nein“, rief Sonja. „Jetzt muß Papa mal. Raus mit dir, Papa, wir

suchen ordentlich was Schwieriges für dich.“ „Ach ja, an Schwierigkeiten bin ich bei euch beiden gewöhnt“,

lachte der Doktor und erhob sich. „Wir nehmen Hansemanns Bären“, meinte Sonja. „Nein, ich weiß was – den Schinken, den Papa heute abend

gegessen hat.“ „Viel zu leicht“, meinte Bernt. „Wir denken an die Birne in

seiner Mikroskopierlampe in seinem Sprechzimmer.“ Der Doktor kam herein, und jetzt folgte ein lustiges Fragespiel –

es war schwierig, richtig zu antworten, und es gab ein Kreuzfeuer zwischen Vater und Sohn. Ich schaute die beiden Gesichter an, einander so ähnlich, beide mit wachen, klugen Augen, beide gefesselt und gespannt.

„Ich räche mich jetzt aber“, lachte der Doktor, nachdem er sich mit viel Mühe bis zu der lächerlichen Lampe durchgearbeitet hatte. „Raus mit dir, Bernt – oder warte, du kannst hierbleiben. Ich denke an etwas Bestimmtes – und ihr dürft Bernt raten helfen, wenn ihr wollt – und wenn ihr könnt.“

Wir halfen nicht. Es machte viel zuviel Spaß, die beiden scharfen Hirne zu verfolgen. Bernt fragte methodisch, es dauerte nicht lange, da wußte er, das Gedachte lag außerhalb des Erdballs, und dann hatte er eins-zwei-drei die „Kanäle auf dem Mars“ heraus.

Der Doktor stand auf und packte mit beiden Händen Bernt bei den Schultern. „Alle Achtung, Bernt. Du hast nur zehnmal zu fragen brauchen – ich bin sehr stolz auf dich!“ Bernt wurde langsam rot.

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„Ach, ich hatte nur gleich zu Anfang Glück. Aber jetzt möchte ich für mein Leben gern wissen, was du noch für uns hast, Beate – du hast uns was Schönes nach dem Abendbrot versprochen.“

„Einverstanden. Aber erst raten. Tierreich plus Pflanzenreich, konkret.“

Bernt und sein Vater brauchten eine halbe Minute, dann hatten sie „Sahneeis“ geraten, und gleich darauf saßen wir alle fünf beieinander und schleckten.

„Wieso sagtest du eigentlich Pflanzenreich, Beate?“ fragte einer der Zwillinge. „Da sind doch bloß Eier drin und Sahne und…“

„Na, und wozu gehört der Zucker – und der Kaffee, du Schaf?“ sagte Bernt. „Dachtest du vielleicht, die Kaffeebohnen kommen von den Ziegen?“

„Nein, aber von den Kaninchen“, erwiderte Sonja schlagfertig. Der Doktor schwieg. Seine Augen gingen vom einen zum anderen. Am häufigsten ruhte sein Blick auf Bernt.

Ich will nicht behaupten, daß Bernt gesprächig gewesen wäre. Aber seine hartnäckige Schweigsamkeit war gebrochen.

Die Zwillinge gähnten heimlich. Es war spät geworden. Viel später, als die Kinder sonst ins Bett zu kommen pflegten.

„So“, sagte Dr. Rywig schließlich. „Das war aber ein wirklich gemütlicher Abend, ich glaube, jetzt muß unser Kleeblatt ins Bett. Senta und Sonja, ihr könnt ja kaum noch aus den Augen gucken – und Bernt, du und ich, wir haben morgen einen Riesenberg Krankenscheine wegzuarbeiten.“

Die Kinder standen auf und reichten uns die Hand zur guten Nacht. Bernt erhielt von seinem Vater einen Schlag auf die Schulter. „Gute Nacht, Bernt, und schönen Dank für die Hilfe!“

„Nichts zu danken, Papa.“ Dann verschwanden sie, und der Doktor und ich waren allein. „Können Sie noch ein halbes Stündchen aushalten, Beate?“

„Aber gewiß – soll ich etwas…“ Dr. Rywig ging hinaus und kam mit einer Flasche Sherry und

zwei Gläsern zurück. Er lachte vor sich hin. Seine Augen hinter der Brille funkelten

vergnügt. Er schenkte ein. „Ich muß mit Ihnen anstoßen, Beate. Wohlsein – und herzlichen

Dank für den gemütlichsten Abend, den ich seit Jahr und Tag erlebt habe.“

Ich fühlte, daß ich rot wurde. „Mir gebührt der Dank nicht.

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Sondern lediglich Ihren Kindern.“ „Oh, Sie sind aber eine kleine Heuchlerin. Ich weiß ganz genau,

wem der Dank gebührt, sowohl für diesen Abend als auch – für vieles andere außerdem.“ Dann leerten wir die Gläser.

Der Doktor half mir, die gebrauchten Teller zusammenzustellen und hinauszutragen und das Zimmer wieder in Ordnung zu bringen. Als wir uns gute Nacht wünschten, drückte er mir fest und lange die Hand.

Es war nur ein gewöhnlicher, normaler Samstagabend. Nichts weiter. Und dennoch, ich hatte ein sicheres und zufrieden glückliches Gefühl, als ich in meinem Bett lag. Irgend etwas hatte sich gelöst, es war eine neue, frohe Atmosphäre in dies Haus eingezogen.

Plötzlich fiel mir etwas ein, und der Gedanke war so verblüffend, daß ich da im Dunkeln hellwach wurde.

Ich hatte tatsächlich den ganzen Abend nicht eine Sekunde an Axel gedacht!

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Drei Triumphe

Es war ein Mittwoch, und Maren hatte frei. Senta war an der Reihe, Geschirr abzutrocknen und den Abendbrottisch zu decken.

Sonja und Senta waren zwei durch und durch normale Elfjährige. Normal auch in der Hinsicht, daß Abwaschen ihnen ein Greuel war.

Die eine verschwand nach dem Essen auf Nimmerwiedersehen. Ich stand in der Küche und stellte das abgegessene Geschirr zusammen und wartete, ob meine kleine Gehilfin irgendwann erscheinen würde. Da hörte ich ein Rascheln im Flur und schaute hinaus. Tatsächlich. Da stand der zweite Zwilling und zog sich den Mantel an.

„Halt, mein Fräulein. Du hilfst jetzt mal ganz schnell in der Küche.“

„Ich?“ sagte eine harmlos erstaunte Stimme. „Heute ist doch Senta dran.“

Ich hatte sofort ein komisches Gefühl. Natürlich konnte ich nicht erkennen, ob ich Senta oder Sonja vor mir hatte, und auf dem halbdunklen Vorplatz schon gar nicht. Aber in der Stimme, dieser allzu harmlosen Stimme, lag etwas, was mir verriet, daß hier irgend etwas nicht stimmte.

„Eben, Senta ist dran, und es hat gar keinen Zweck, daß du so tust, als seiest du Sonja. Den Mantel ausgezogen und die Küchenschürze umgebunden, und zwar ‘n bißchen hoppla.“

Kleinlaut und beschämt kam Senta in die Küche geschlichen. „Du, Beate – seit wann hast du eigentlich gelernt, uns

auseinander zu halten? In den letzten Tagen hast du dich nicht ein einziges Mal geirrt.“

Gesegnet seien die Mohrrübenfinger, dachte ich. Aber leider, jetzt waren sie wieder sauber, und das vorhin – das war lediglich Instinkt.

„Das möchtest du wohl wissen, was? Aber höre mal, Senta, es war nicht anständig von dir, daß du versuchtest, mir ein Schnippchen zu schlagen. Ich dachte, du wärest eine gute Kameradin?“ Senta wurde puterrot.

„Ja – aber, weißt du – es ist sozusagen zur Gewohnheit geworden – ich meine, wir haben so lange unseren Spaß daran gehabt, Leute hinters Licht zu führen, daß…“

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„Ja, ich verstehe sehr gut, daß das Spaß macht. Aber, nicht wahr, Senta, es ist ein Unterschied, ob man Leute hinters Licht führt, weil es Spaß macht, oder ob man sich auf diese dumme Art und Weise einen Vorteil verschaffen will? Du wolltest mir doch jetzt entwischen und damit erreichen, daß ich die ganze Abwäsche allein machen sollte, nicht wahr?“

„Da hab ich gar nicht drüber nachgedacht, Beate. Auf Ehre, so war es nicht gemeint.“

„Nun gut, dann reden wir nicht mehr davon. Nein, für die Gläser nimm bitte das blaukarierte Tuch. So ja. Du wirst sehen, wie fix es geht, wenn wir zu zweit sind. Weißt du, dies erinnert mich fast an zu Hause, wenn Edith mir das Geschirr abtrocknete. Erst versuchte sie zu entwischen, aber wenn wir erst mal im Gange waren, dann hatten wir es furchtbar gemütlich.“

„Wie alt ist Edith, Beate?“ „Sie ist jetzt siebzehn.“ „Und hilft sie nun deiner Mutter?“ „Ja, fürs erste. Sie ist mit der Schule fertig, und im nächsten Jahr

will sie Säuglingspflege lernen.“ Senta schwieg ein Weilchen. Dann fragte sie, zögernd, tastend:

„Wie ist deine Mutter, Beate?“ „Wie meine Mutter ist?“ Ich lachte. „Mit der Frage bist du bei

mir nicht am rechten Platz. Ich habe meine Mutter so lieb, daß ich sie bestimmt nicht unparteiisch beurteilen kann.“

„Du mußt doch sagen können, wie sie ist?“ „Sie ist wahnsinnig gut, das auf jeden Fall. Und dann ist sie

fleißig und tüchtig – ja, sie kann allerdings auch stinkewütend werden…“

„Aha, das hast du dann wohl von ihr geerbt“, sagte Senta freimütig.

„Das hab ich wohl, du Jungfer Naseweis. Aber dann wird sie auch gleich wieder gut, und das werde ich auch. Und dann denkt sie immer zuerst an uns Kinder und zuletzt an sich selbst – und du kannst dir ja wohl ausrechnen, wenn sie an acht Kinder zu denken und für sie zu sorgen hat, dann bleibt für sie selber nicht mehr allzuviel übrig.“

Senta schwieg wieder eine Weile. Dann meinte sie: „Du, deine Mutter möchte ich gern mal kennenlernen.“

Da wagte ich mich mit einer Frage vor, die ich bisher nicht hatte stellen mögen: „Erinnerst du dich noch an deine Mutter, Senta?“

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„Nicht besonders gut. Ich war erst sechs, als sie starb. Ich erinnere mich noch, daß Sonja zu mir ins Bett gekrabbelt kam, und daß wir beide weinten. Ich weiß nur, daß meine Mutter sehr hübsch aussah.“

Ich nickte. „Ja, das weiß ich. Ich habe ja das wunderschöne Bild bei euch an

der Wand gesehen.“ Dann schwiegen wir wieder eine Weile, und ich dachte an das

schöne Gesicht auf dem Bild. Schön, aber kalt. Aus dem Blick leuchtete keine Weichheit, keine Güte.

Aber natürlich – man kann nach einer Fotografie nicht urteilen. Schließlich waren wir fertig und der letzte Teller weggeräumt.

„So, nun danke ich dir tausendmal, Senta. Jetzt kannst du gehen, aber denk dran: Du mußt vor sechs wieder da sein.“

„Kann ich dir nicht noch helfen, Beate? Es – es ist so gemütlich, mit dir zusammen zu arbeiten.“

Liebe kleine Senta – wie mir das wohltat! „Findest du? Ja, du weißt, ich habe für mein Leben gern

Menschen um mich.“ „Was mußt du denn jetzt machen?“ „Ich wollte eigentlich Silber putzen. Das Eßsilber ist blank, aber

die Schalen auf der Anrichte und der Aschbecher bei deinem Vater drinnen…“

Senta holte bereitwillig die Dinge herbei, und dann machte sie sich mit Eifer über Putzpomade und Lappen her.

Wieder zwei Tage lang Spuren an den Fingern, dachte ich. Aber am selben Abend machte ich eine sonderbare Entdeckung. Beide Zwillinge waren mit ihren Rechenheften zu mir ins

Wohnzimmer gekommen. Sie hatten eine furchtbar knifflige Aufgabe auf, und nun sollte ich helfen.

Ich kann nicht behaupten, daß ich ein mathematisches Genie bin. Aber an eine Rechenaufgabe für Elfjährige wagte ich mich noch.

So versuchte ich zu erklären; die Kinder stellten Fragen, und ich versuchte, so zu antworten, daß sie es verstehen konnten.

„Nein, Sonja – da darfst du nicht teilen, denk mal nach…. das begriff Senta dann sofort – Senta, zeig Sonja doch deine Aufstellung. Übrigens, Sonja, putz dir deine Nase, du schniefst ja wie ein kleines Ferkel.“

Sonja putzte sich die Nase und sah mich prüfend an. „Ich glaube, wir müssen uns damit abfinden, Beate – du irrst dich

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nie mehr bei uns.“ Ich kniff die Augen zusammen. Tatsächlich – ich hatte nicht

nachzusehen brauchen, wer Putzpomadefinger hatte. Ich hatte die Namen ganz richtig gebraucht. Ich wußte, welche ich vor mir hatte. Woher ich das wußte, das kann ich nicht sagen – ich wußte es einfach. Ich sah die beiden völlig gleichen Gesichter an, und ich war nicht eine Sekunde im Zweifel, wer Senta war und wer Sonja. Da mußte ich lachen.

„Soll ich euch mal was sagen“, rief ich, „dies ist der zweitgrößte Triumph, den ich hier im Haus erlebe.“ Die beiden lachten auch.

„Und was war der größte?“ „Daß Hansemann sich selber an- und auszieht.“ „Stell dir bloß vor“, sagte Sonja. „Wenn Tante Julie hier plötzlich

auftauchte, die würde einen Schlaganfall kriegen. Sie würde es für Tierquälerei halten, daß du Hansemann hast hungern lassen und obendrein auch noch verlangst, daß dies hinreißende Baby sich allein anziehen soll.“

„Du bist genauso frech wie deine Schwester, Sonja“, sagte ich. Es war mir beim besten Willen nicht möglich, in Tante Julies Namen ärgerlich zu werden. „Einmal mußte doch dies hinreißende Baby ein richtiger Junge werden, und das geschah nun zufällig in der letzten Zeit.“

Die Zwillinge sahen mich an. Mit ihren blauen Augen, die vor Übermut blitzten und von gesunder Intelligenz funkelten.

„Weißt du, wie du mir jetzt vorkommst, Beate? Wie Tante Julie, wenn sie uns erzählte, daß der Storch die kleinen Kinder bringt. Deine Stimme klingt genauso wie bei allen Erwachsenen, wenn sie Kindern etwas weismachen wollen, woran sie selber nicht glauben.“ Ich mußte lachen.

„Wißt ihr, was meine Mutter zu meinen Brüdern sagte, als sie klein waren, zu Nico und Jan, wenn sie unartig waren? Ich hätte die größte Lust, den einen von euch zu nehmen und den anderen damit zu verhauen. Rauf mit euch an die Schularbeiten, ihr Rangen, sonst nehme ich einen und verhaue den anderen damit.“

„Versuch’s doch mal“, lachten die ausgelassenen Gören. Ich blieb sitzen und lachte vor mich hin. Wie hatte ich die beiden munteren, unbefangenen Kinder liebgewonnen.

Aber das, was ich gesagt hatte, entsprach nicht ganz der Wahrheit. Mein größter Triumph in diesem Hause war nicht Hansemann. Meinen größten Triumph hatte ich vor ein paar Tagen

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gehabt. Da hatte Bernt mir aus freien Stücken gezeigt, was ihn tagaus, tagein in Anspruch nahm.

Es war eine große Sammlung gepreßter Gebirgspflanzen. Es war das hübscheste Herbarium, das ich jemals gesehen hatte.

„Du mußt wissen“, hatte Bernt erklärt, „die Naturkundelehrer von fünf verschiedenen Oberschulen haben sich zusammengetan und veranstalten jeden Herbst einen Wettbewerb unter ihren Schülern. Man soll dazu das beste Herbarium von Pflanzen einer bestimmten Art einliefern – man kann die Pflanzen selber wählen. Im vorigen Jahr hatte ich nur Strandgewächse gesammelt, da war ich im Sommer an der See.“

„Hast du einen Preis bekommen?“ „Ja, den zweiten. Aber dies Jahr…“ „Dies Jahr bist du auf den ersten aus, wenn ich dich recht

verstehe?“ Bernt lächelte ein wenig. „Ja, weißt du, ich – ich hoffe natürlich, daß ich ihn kriege. Wir

waren diesen Sommer auf dem Fjäll, Tante Julie und Hansemann und die Zwillinge und ich. Papa war auf einem Kongreß in England. Da habe ich jeden Tag Pflanzen gesammelt und sie gepreßt – das heißt, ich mußte sie erst bestimmen, und dann schrieb ich nur Namen und Art auf einen kleinen Zettel, den ich mit jeder Pflanze zusammen ablegte. Als ich von den Ferien nach Hause kam, fing ich an, sie auf Bogen aufzukleben und draufzuschreiben – sieh mal, so wie dies hier…“

Ich durfte in dem Herbarium blättern, und mir fiel alles wieder ein, worüber ich selber in der Schule gebüffelt und geschwitzt hatte: die Pflanzen, die von der Schwester auf den Bruder vererbt wurden, und umgekehrt die Pflanzen, die wir uns von Schulkameraden ausborgten, um die jämmerlichen fünfzig Stück zusammenzubekommen, die man bei der Prüfung von uns verlangte.

Meine Bewunderung für Bernt wuchs. Etwas so Hübsches hatte ich noch nie gesehen. Mit der zierlichsten Schönschrift stand da der Name der Pflanze auf norwegisch und auf lateinisch und dann der Tag, an dem sie gefunden worden war.

„Aber Bernt“, sagte ich. „Mußt du nicht auch aufschreiben, wo du sie gefunden hast?“

Bernt lächelte vielsagend. „Das kommt noch. Auf der Seite daneben. So weit bin ich noch

nicht. Aber hier, guck mal.“

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Aus einem Briefumschlag nahm er einen Packen herrlicher Farbfotos heraus.

„Sieh mal. Ehe ich die Pflanzen abpflückte, habe ich eine Aufnahme von der Stelle gemacht, wo sie wachsen. Nun klebe ich jedesmal das Foto von der betreffenden Pflanze genau gegenüber auf, und unter das Foto kommt eine kurze Beschreibung von der Umwelt und der Stelle, wo sie wächst, und natürlich auch, wie hoch überm Meeresspiegel.“

Ich war sprachlos. „Aber Bernt“, sagte ich, nachdem ich mich wieder etwas gefaßt

hatte, „dafür mußt du doch ein Vermögen ausgegeben haben.“ Bernt lachte.

„Ja, Farbfotos sind teuer. Ich habe das ganze Jahr über dafür gespart. Und ich habe einen ziemlich guten Fotoapparat.“

„Hast du dir den auch selber zusammengespart?“ „Nein, den kriegte ich als Preis im vorigen Jahr. Es war der Preis

für meine Strandpflanzen, weißt du.“ „Und was kriegt man dieses Jahr? Ich meine, wenn man den

ersten Preis bekommt?“ In Bernts Augen trat ein fast sehnsüchtiger Ausdruck. „Ein kleines Mikroskop“, sagte er leise. „Nicht sehr groß und

nicht so fein, wie es die Ärzte haben, sondern kleiner, einfacher, für Pflanzen und Insekten und dergleichen gedacht.“

„Ja, das hast du doch auch verdient für so eine Sammlung, Bernt. Laß mal sehen – was ist denn das hier…“

„Das ist Gentiana. Oder Enzian. Hast du gewußt, daß in Norwegen wilder Enzian wächst?“

„Nein“, sagte ich, „mir hat nur immer vorgeschwebt, daß Enzian in die Alpen gehört.“

„Das tut er auch“, sagte Bernt. „Und wenn ich mal sehr viel Geld habe, dann fahre ich spornstreichs in die Alpen, das kann ich dir schriftlich geben. Aber dies Dingelchen hier habe ich oben bei uns in Rondane gefunden neben einer Gruppe von Zwergbirken.“

Bernt und ich saßen so lange über seinen Pflanzen, bis das Bullern eines Motors draußen auf der Straße ankündigte, daß Dr. Rywig nach Hause kam. Ich mußte nun Hals über Kopf nach unten stürzen, um für das Essen zu sorgen.

O doch, mein Weg im Rywigschen Haus war mit Triumphen ziemlich dicht gepflastert. Der Doktor sah heiterer aus, er gab sich in den kurzen Stunden, die er zu Hause war, mehr mit den Kindern ab.

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Hansemann aß, und Hansemann zog sich selber an und aus. Und ich konnte die Zwillinge auseinanderhalten.

Und ich hatte auch Bernts Vertrauen errungen. War dies alles nicht ein wunderbarer Lohn für meine Arbeit? An diesem Abend schrieb ich einen langen und glücklichen Brief

nach Hause. Ich schrieb und schrieb, und erst als ich mit einem „und grüßt alle Bekannten“ schloß, schweiften meine Gedanken kurz ab.

Alle Bekannten – das waren in erster Linie meine Freundinnen – zu denen auch Giske gehörte, und von Giske bis zu Axel war es nur ein Katzensprung.

Axel, ja. Weshalb lag ich abends nicht wach und heulte? Weshalb dachte

ich nicht Tag und Nacht an Axel und meine verratene Liebe? Warum war ich nicht voller Bitterkeit, wenn ich an den hellen Mantel dachte und die grüne Spinne und „Putschikam“?

Wie in aller Welt war es zugegangen, daß ich so schnell über etwas hinweggekommen war, was vor drei Monaten in meinen Augen die einzige wahre, große Liebe gewesen war?

Ich konnte mir darauf selber keine Antwort geben. Und ich hatte keine Lust, noch weiter über den Fall nachzugrübeln.

So schrieb ich denn „Tausend liebevolle Grüße – Beate“ und faltete den Brief zusammen.

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Aber da kam das Erdbeben

Ich hob den Kopf und horchte.

Es war kurz nach dem Mittagessen, ich machte gerade mein Zimmer, wozu ich am Vormittag nur selten kam.

Zornige Stimmen aus Bernts Zimmer. Hier schien ein Mittler – oder eine Mittlerin – am Platze zu sein.

Ich ging hinüber. Ich kam rechtzeitig genug, um zu sehen, wie Bernt – vielleicht

etwas grob – Hansemann vom Schreibtisch wegschob. „Du sollst das nicht anfassen, hab ich gesagt.“ „Ich will deine Bilder ansehen.“ „Jetzt nicht, außerdem verstehst du doch nichts davon.“ „Ich will aber Bilder ansehen.“ „Diese Bilder sind alle nichts für dich. Geh rüber und guck dir

deine Bilderbücher an.“ „Ich will aber deine Bilder ansehen.“ Jetzt stampfte Hansemann

mit dem Fuß auf, und seine Stimme klang genauso wie in den ersten Tagen meines Aufenthalts im Hause Rywig.

„Na aber, aber“, rief ich. „Könnt ihr euch denn nicht vertragen?“ Bernt blickte auf.

„Ich möchte bitte nur in Ruhe gelassen werden, weiter nichts.“ „Hör mal, Hansemann“, sagte ich. „Bernt hat so viel zu tun, und

da wollen wir ihn nicht stören. Wir gehen jetzt zu dir rüber und suchen uns ein Bilderbuch in deinem Schrank, was meinst du?“

„Warum kann ich denn nicht Bernts Bilder ansehen?“ „Das sind doch bloß Bilder mit Blumen drauf, Hansemann, und

du möchtest doch lieber immer Miezekatzen und Hunde und so was sehen. Komm.“

Ich zog Hansemann mit hinaus. Er war tief gekränkt und sperrte sich. Uff, es war unbequem, daß dies bezaubernde Kind mittags nicht mehr schlief. Immerfort wollte er unterhalten werden.

In der Tür drehte er sich um und streckte die Zunge weit heraus. Endlich hatte ich ihn mit einigen alten Illustrierten und einer stumpfen Schere einigermaßen versöhnt, und ich versprach ihm außerdem, daß wir die Bilder hinterher in ein Buch einkleben wollten.

Dann mußte ich unten meinen Pflichten nachgehen. Ich hatte

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Hansemann in mein Zimmer gesetzt, er schien auch ganz in sein Ausschneiden vertieft zu sein. Kurz darauf hörte ich Bernt auf dem Vorplatz rumoren.

„Willst du fortgehen, Bernt?“ „Ich will mir Fotoecken holen. Ich hab keine mehr.“ Der Doktor

läutete an und sagte, er käme erst zum Abendbrot nach Hause. Das war nichts Besonderes. Der arme Mann arbeitete sich noch zuschanden.

Ich mußte mir etwas Gutes für ihn ausdenken – ein warmes Gericht zum Abendessen. Ich hatte den Verdacht, daß es mit seinem Mittagessen in der Stadt nicht weit her war. Hatten wir nicht noch einen Schinkenrest liegen? Dann könnte ich doch eine Omelette mit Schinken machen – oder…

Da kam Bernt auch schon zurück und ging sofort nach oben. Plötzlich gellte ein Schrei durchs Haus – ein Schrei des Entsetzens, der Verzweiflung.

Ich ließ stehen und liegen, was ich in Händen hatte, und rannte nach oben. Als ich in Bernts Zimmer stürzte, ja, da hätte ich vor Gram laut herausheulen können.

Die sauberen Herbariumbogen lagen rund herum im Zimmer verstreut. Manche waren zerknittert, andere entzweigerissen. Reste von zerfetzten Farbfotos lagen überall auf Tisch und Fußboden herum. Bernts monatelange, sorgfältige Arbeit war im Laufe von fünf Minuten zerstört worden.

Die Wut stieg in mir hoch. Kaum konnte ich atmen. Nun mochte es biegen und brechen… jetzt sollte Hansemann Haue haben, richtiggehende, altmodische Haue!

Bernt saß in sich zusammengesunken auf seinem Stuhl vor dem Schreibtisch. Er stützte den Kopf in die Hände und gab keinen Laut von sich. Ich ging leise zu ihm hin und strich ihm übers Haar. „Lieber Bernt – ich bin ganz außer mir, es ist…“

„Beate – tu mir den Gefallen – geh…“ „Kann ich dir denn nicht wenigstens helfen, Bernt – es kann doch

vielleicht noch vieles gerettet werden…“ „Ach Beate – sei so gut – sei bitte so gut und geh…“ Seine Stimme klang heiser und tonlos. Ich ging zur Tür. „Rufe mich, wenn ich etwas für dich tun kann, Bernt…“ Er gab

keine Antwort. Und ich ging hinaus. Was hatte es für einen Zweck, wenn ich Hansemann strafte? Wenn ich ihn auch grün und gelb schlüge, so würde das Bernts Fotos und Blumen nicht wieder

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herbeischaffen. Natürlich war es abscheulich, was dieser Satansbengel gemacht

hatte. Aber wenn ich gerecht sein wollte, mußte ich zugeben, daß das Kind nicht die leiseste Ahnung von dem Schaden hatte, den es angerichtet hatte.

Hansemann war nicht mehr in meinem Zimmer. Ich fand ihn unten im Wohnzimmer. Er hatte Schutz gesucht bei den Zwillingen, die gerade nach Hause gekommen waren.

„Ihr dürft nicht mit Hansemann reden“, sagte ich ziemlich streng. „Er ist sehr unartig gewesen, und nun soll er allein in der Küche essen und dann ins Bett gehen. Und ihr beiden geht hinauf und macht Schularbeiten.“

„Was ist denn, Beate?“ fragte Sonja ängstlich. „Das können wir nachher besprechen. Ich bin sehr böse auf

Hansemann. Komm mit, Hansemann, du ißt jetzt und gehst gleich zu Bett, ich will dich heute nicht mehr hier unten sehen.“

„Ich will aber noch nicht ins Bett.“ „Du gehst ins Bett, und ich will kein Wort mehr von dir hören.“

Hansemann wurde unsanft beim Kragen genommen und in die Küche hinausgeschoben. Er bekam nichts als einen Teller heiße Milch mit Weißbrot vorgesetzt, und auf seine Proteste erhielt er keine Antwort. Nachdem er eine Viertelstunde dagesessen und mit dem Löffel in der Milch herumgerührt hatte, riß mir die Geduld.

„So, jetzt ist es Schluß. Du gehst eben ohne Essen ins Bett, und zwar auf der Stelle.“

Meine Stimme klang so böse und so bestimmt, daß selbst Hansemann erschrocken war. Er schlurfte ohne Widerrede hinaus.

Zehn Minuten lang war es still. Ich mußte mir die Augen mit dem Schürzenzipfel wischen. Mich beherrschte nur ein einziger Gedanke. Wie ich Bernt helfen, ihn trösten sollte, alles aufsammeln könnte, was noch an heilen Pflanzen und Bildern da war.

Aber Bernt hatte mich gebeten, zu gehen. Weiß im Gesicht, zu Stein erstarrt, krampfhaft beherrscht hatte er mich weggeschickt.

Armer Bernt – lieber, lieber Junge… Da tönte ein Kreischen durch das Haus, ein so durchdringendes

Kreischen, daß ich zusammenfuhr. Eine Tür knallte oben zu, schnelle, stolpernde Schritte – und da kam Hansemann im Schlafanzug die Treppe heruntergelaufen. Sein Gesicht war tränenüberströmt, im Arm hielt er einen unbestimmbaren, gelblich-grauen Gegenstand.

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Er weinte zum Erbarmen, schrie immer wieder auf vor Entsetzen, vor Verzweiflung. „Hansemann, was ist denn los?“

„Teddy – Teddy ist tot. Bernt hat Teddy totgemacht!“ Ich nahm den Jungen mit ins Wohnzimmer und schaute mir die

gelblich-grauen Reste des Bären an, den er im Arm hielt. Der Bär hatte keine Arme und Beine mehr, und der Rumpf war

von oben bis unten aufgeschlitzt, so daß die Holzwolle herausquoll. Hansemann saß auf dem Fußboden mit dem zerstörten Petz im

Arm. Er schluchzte so herzzerreißend, daß er mir trotz allem leid tat. Dies war tausendmal schlimmer als alle Prügel der Welt. Der Bär war für Hansemann viel mehr als ein Plüschpetz mit abgeschabten Haaren. Der Bär war ein Wesen, mit dem er redete und schlief. In Hansemanns kindlicher Phantasie war Teddy ein lebendiges Wesen, ein Freund.

Und dieser Bär war nun umgebracht worden, auf die grausamste Weise umgebracht.

„Oh, mein Teddy – mein Teddy – Teddy ist tot – Teddy ist tot - Bernt hat Teddy totgemacht…“

„Was ist hier los?“ Ich drehte mich um. Der Doktor stand in der Tür. Niemand hatte

ihn kommen hören. Hinter ihm sah ich die erschrockenen Mienen der Zwillinge. Dr. Rywig stellte seine große Tasche aus der Hand und schmiß den Hut in einen Sessel. Kein Wunder, daß er entsetzt war. Hansemann sah aus, daß er einen Stein zum Weinen bringen könnte, geschweige denn ein liebevolles Vaterherz. Hansemanns schwarze Augenwimpern waren naß von Tränen, seine Locken waren verfilzt, das Gesicht war rot und geschwollen, und mit den Armen preßte er den Bären an sich.

„So, mein Junge“, der Vater hob Hansemann hoch. „Was hat Bernt getan? Nein, ist das denn möglich – soso, Hansemann, nicht weinen, Teddy ist nicht tot, er ist nur krank, und du weißt, Papa ist Doktor, ich werde den Teddy operieren, und morgen ist er wieder gesund.“

Die Tränen versiegten allmählich. Hansemann schluckte ein paarmal auf, während er auf seines Vaters Arm saß.

„Kannst du ihn denn gesund machen, Papa?“ „Ganz gesund, Hansemann. Er wird nur eine kleine Narbe auf

dem Bauch behalten, so wie du, weißt du, dort, wo dein Blinddarm mal gesessen hat. Damals bist du doch auch aufgeschnitten worden, und du weißt doch noch, wie schnell du wieder gesund geworden

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bist. So, laß mir den Teddy hier, Beate und ich machen ihn wieder heil. Beate hilft Papa dabei – und die Zwillinge bringen dich jetzt rauf, und du wirst schön schlafen. Und wenn du wieder aufwachst, dann ist Teddy ganz gesund.“

Als die Zwillinge mit Hansemann abgezogen waren, wandte Dr. Rywig sich zu mir um. Und jetzt war seine Stimme nicht mehr zärtlich und tröstend.

„Fräulein Hettring. Stimmt’s, daß Bernt das gemacht hat?“ „Ja – ich – ja, es muß wohl so sein, aber…“ „So – dann wird Bernt es mit mir zu tun bekommen.“ Der Doktor

drehte sich auf dem Absatz um und ging aus dem Zimmer. Ich horchte. Nein – er ging nicht nach oben. Er ging in die Küche – dort hörte ich die Tür zum hinteren Flur gehen – was wollte er denn dort?

Mit einem Male stockte mein Herzschlag. Im Küchengang stand ein Rohrstock, mit dem wir Kissen und Polsterstühle zu klopfen pflegten.

Großer Gott – er wollte Bernt schlagen. Das durfte er nicht – unter keinen Umständen. Dieser Junge mit dem feinen Ehrgefühl – das würde das Ende von allem sein… Nie im Leben würde Bernt dem Vater eine solche Demütigung verzeihen – nein, nein – der Doktor durfte Bernt jetzt nicht gegenübertreten. Er mußte sich erst beruhigen – und vor allen Dingen, er mußte den Zusammenhang wissen.

Er kam zurück, ging zur Treppe – da riß ich die Tür auf. Ja, in der Tat: er hatte den Rohrstock in der Hand.

„Dr. Rywig – kommen Sie schnell – ein Auslandsgespräch für Sie…“

Er drehte sich um, sah mich ungläubig an. „Ein Auslandsgespräch?“

„Ja – Eilgespräch – vom Karolinska Institut in Stockholm…“ Wie ein Blitz war es mir durch den Kopf geschossen, daß ich gestern einen Brief an den Doktor angenommen hatte. Einen umfangreichen Brief mit schwedischer Marke und dem Aufdruck auf dem Umschlag „Karolinska Institut“.

Dr. Rywig drehte sich um und ging ins Arbeitszimmer, wo das Telefon stand. Ich hinterdrein.

„Was zum Kuckuck ist das für ein Unsinn? Der Hörer liegt ja drauf?“

Ich stellte mich mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür und war wild entschlossen – ehe ich den Weg freigäbe, müßte der Doktor

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den Rohrstock auf mir tanzen lassen. „Ja, der Hörer liegt drauf – und es ist kein Auslandsgespräch

angemeldet – aber Sie dürfen Bernt nicht schlagen. Begreifen Sie denn nicht, daß Sie im Begriff sind, den Jungen…“

Der Doktor wurde kreidebleich im Gesicht vor Zorn, und seine Hand krampfte sich fester um den Stock.

„Fräulein Hettring, Sie nehmen sich Dinge heraus, die…“ „Ich nehme es mir heraus, Ihrem Kind zu helfen, zum… zum

Donnerwetter! Sie sind so verblendet durch Ihren kleinen blondgelockten Bengel, daß Sie sich nicht einmal so viel Mühe machen, zu untersuchen, wie Bernt zu dieser Verzweiflungstat gekommen ist. Sie wollen jetzt einreißen, was ich so mühselig aufgebaut habe…“

„Nun werde ich Ihnen mal was sagen“, stieß der Doktor zwischen den Zähnen hervor. „Hier haben Sie sich nicht im geringsten einzumischen, schließlich bin ich der Vater des Jungen…“

Jetzt konnte ich nicht mehr an mich halten. Meine Tränen flossen ebenso unaufhaltsam wie vorher Hansemanns.

„Allerdings, Sie sind der Vater des Jungen, und Gott allein weiß, wen Sie im Augenblick mit dem Jungen meinen. Denken Sie daran, daß Sie der Vater beider Jungen sind. Und das will ich Ihnen sagen, wenn Sie Bernt heute verhauen, dann sind Sie morgen ohne Wirtschafterin. Müssen Sie jetzt in der Aufwallung des ersten Zorns alles zerstören, wofür ich gearbeitet und mich geplagt habe? Ich fand hier vier vernachlässigte und vermurkste Kinder vor – nein, die Zwillinge waren nicht vermurkst, die haben einander, und die haben sich gegenseitig einen Halt gegeben – aber Bernt war verschlossen und unglücklich, und Ihr kleiner Engelsjunge war so verzärtelt, daß es schon nicht mehr schön war. Nein, lassen Sie, jetzt kriegen Sie alles auf einmal zu hören. Ihre Kinder waren heil und sauber angezogen und hatten anständige Manieren, das war aber das einzige – haben Sie gehört? Das einzige – was Sie an Gutem aus ihrer Kinderstube mitbekommen haben. Niemand hat ihnen Liebe entgegengebracht, niemand hat sich mit ihnen abgegeben, Sie als Vater wissen ja kaum, womit sich Ihr ältester Sohn beschäftigt. Sie verziehen Hansemann und überlassen es hinterher anderen, ihn wieder zurechtzubiegen. Sie jagten Bernt in sich selbst zurück, so daß er sich ganz verkrampfte. Ich mußte Sie erst darauf aufmerksam machen, daß Bernt nur darauf wartete, Ihnen zu helfen, seinem Vater ein Kamerad zu sein. Sie sollen heute wissen, was Bernt am

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Nachmittag erlitten hat. Bernt hat in seinem Leben niemals einen guten und liebevollen Vater dringender gebraucht als gerade heute. Bernt hat viel, viel mehr Grund, verzweifelt zu sein, als Hansemann. Aber das interessiert Sie wohl kaum! Sie könnten es sich wohl nicht vorstellen, heute mal kameradschaftlich zu Ihrem Ältesten zu sein? Sie können sich wohl nicht denken, Ihrem Sohn in einem Augenblick beizustehen, wo er Ihres Beistandes so bitter bedarf? Es muß Schluß damit sein, daß Sie sich durch Hansemanns blonde Locken blind machen lassen. Sie dürfen nicht schlagen – ich lasse es nicht zu, daß Sie schlagen!“

Ich war vor Tränen meiner Stimme kaum mächtig, ich hatte geschluchzt und geschnauft und hatte, ohne es selber zu wissen, meinen Platz an der Tür verlassen. Ich stand dicht vor dem Doktor, ich hatte alles auf eine Karte gesetzt, hatte meine Meinung gesagt – und jetzt, nach meinen letzten Worten „ich lasse es nicht zu, daß Sie schlagen“ – jetzt schluchzte ich wild auf – und dann – dann zuckte ich zusammen, wie von einer Wespe gestochen. Denn hinter mir hörte ich eine Stimme, die ich am allerwenigsten von allen zu hören erwartet hätte: „Aber Gerhard, um alles in der Welt, was tust du denn da?“

Ich fuhr herum. Keiner von uns hatte die Tür aufgehen hören. Und ich sah in das Gesicht von – Tante Julie!

Ich weiß nicht mehr, wie ich aus der Tür kam. Ich weiß nur, Tante Julie hatte meine letzten Worte gehört, hatte den Doktor mit dem Rohrstock in der Hand und mich dicht vor ihm stehen sehen.

Draußen auf dem Vorplatz putzte ich mir die Nase und trocknete meine Tränen. Und dann rührte ich mich nicht vom Fleck. Keine Macht der Erde hätte mich im Augenblick davon überzeugen können, wie ungehörig und taktlos es war, daß ich dastand und horchte.

Denn ich horchte wirklich! Ich machte die Ohren so lang, wie ich nur konnte. Jetzt würde man mir wohl den Laufpaß geben.

Vielleicht würde es gänzlich überflüssig sein, daß ich kündigte. Die Götter mochten wissen, wie es zuging, daß Tante Julie plötzlich auftauchte, ich vermutete sie wohlgeborgen im Sanatorium für rheumatische Krankheiten. Aber nun kam sie ja gerade im rechten Augenblick, nun konnte der Doktor mich entbehren und mit einem Monatslohn in der Tasche nach Tjeldsund zurückschicken…

„Du bist völlig im Irrtum, Tante Julie“, hörte ich des Doktors Stimme jenseits der Tür.

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„Aber lieber Gerhard, ich finde dich mit dem Rohrstock in der Hand stehen und Fräulein Hettring vor dir, in Tränen aufgelöst – ich habe ja gleich gesagt, daß Fräulein Hettring zu jung für diese Stellung ist, Gerhard, und ich verstehe nur zu gut, daß sie dich irritieren muß, aber…“

„Unsinn“, schnitt des Doktors Stimme ihre Rede ab. „Fräulein Hettring irritiert mich überhaupt nicht, wohl aber dein Freund Hansemann…“

„Großer Gott!“ kreischte Tante Julie auf. „Du haust doch nicht etwa Hansemann?“

„Weder Hansemann noch irgend jemand anderen“, entgegnete der Doktor kurz angebunden. „Um diese Angelegenheit brauchst du dich gar nicht zu kümmern, liebe Tante. Es ist nur eine Kleinigkeit, die Fräulein Hettring und ich allein abmachen.“

„So. Hm. Merkwürdig. Zu meiner Zeit kamen derartige Kleinigkeiten’ nicht vor…“

Meine Ohren klappten geradezu hin und her, als ich das hörte, und ich nahm beim Horchen noch Mund und Augen zu Hilfe.

„Fräulein Hettring ist zu jung, Gerhard“, wiederholte Tante Julie. „Und was nimmt sie sich denn dir gegenüber heraus! Ich hörte einiges von dem, was sie sagte – sie sagte dir ja Sachen – , das ist doch ein Skandal, Gerhard! Ich verstehe völlig, daß du mit so einem jungen Ding Ärger hast…“

„Liebe Tante, du irrst dich ganz und gar, und diesen kleinen Zwischenfall wünsche ich allein zu regeln, ohne deinen Beistand.

Aber Fräulein Hettring ist kein junges Ding, sie ist ein erwachsenes und gutes und kluges Menschenkind…“ Hier mußte ich mich in den Arm kneifen.

„…die Kinder hängen an ihr, und sie versteht es wunderbar, Freude und Behagen in unserem Haus zu verbreiten. Was du einen Skandal nennst, das nenne ich mutig. Und für mich ist die Angelegenheit jetzt erledigt. Nun möchte ich gern wissen, wie es dir geht, Tante Julie, und weshalb du plötzlich nach Oslo kommst?“

Ich schlich auf Zehenspitzen über den Vorplatz und in die Küche hinüber. Hier wusch ich meine verweinten Augen und brachte mein Haar in Ordnung, schnaubte mir gründlich die Nase und legte die Küchenschürze ab. Kaum war ich fertig, da kam Maren auch schon, um das Abendbrot zu richten.

Ich ging hinaus, es war mir unmöglich, jetzt mit Maren zu reden. Einen Augenblick stand ich unschlüssig. Was sollte ich machen? Ins

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Wohnzimmer gehen und die Dinge auf mich zukommen lassen? Zu Hansemann hineingehen? Nachsehen, was die Zwillinge machten? Oder…

So entschloß ich mich denn zu dem „oder“. Diesmal klopfte ich nicht bei Bernt an. Ich ging geradenwegs

hinein, trat zu ihm an den Schreibtisch, wo er saß und vor sich in die Luft starrte. Ich nahm seine Hand fest in die meine. Da sah er hoch.

„Du hast geweint, Beate.“ „Ja, natürlich habe ich geweint. Ich bin leider ziemlich dicht am

Wasser gebaut.“ „Es war meine Schuld.“ „Ja. Und Hansemanns.“ „Ich hörte, wie Hansemann schrie.“ „Ja, das konntest du wohl nicht überhören.“ „Ich hatte nicht gedacht, daß er es sich so zu Herzen nehmen

würde, Beate.“ „Du dachtest in dem Augenblick wohl überhaupt nicht, mein

Junge.“ Da lächelte Bernt. Ein mattes kleines Lächeln, aber doch

immerhin ein Lächeln. „Du wirkst so komisch erwachsen, wenn du ,mein Junge’ sagst.“ „Hab ich das gesagt? Es kam mir wohl so ganz natürlich. Ich

werde es nicht wieder tun.“ „Das kannst du doch aber ruhig. Ich – ich finde es so nett.“ „Bernt, ich komme erstens einmal, um dir zu berichten, daß wir

Besuch bekommen haben – was allerdings im Augenblick nicht so wunderbar paßt…“

„Wen denn?“ „Eure Tante Julie.“ „ Was sagst du da? Tante Julie? Ja, die hat uns gerade noch

gefehlt. Wieso erscheint die denn plötzlich hier?“ „Das möchte ich auch gern wissen.“ Jetzt ging die Tür. Wir drehten uns beide um. Es war Dr. Rywig.

Er war ganz gefaßt, kam leise ins Zimmer. Seine Augen ruhten auf Bernt, dann blickten sie im Zimmer umher, auf den Schreibtisch, wo die zerfetzten Fotos und zerknitterten Herbariumbogen rundum verstreut lagen.

Er legte Bernt eine Hand auf die Schulter. „War das der Grund, Bernt?“ „Ja“, antwortete Bernt leise. Der Doktor ließ seine Augen über

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das Werk der Vernichtung schweifen. Seine schmalen, sehnigen Chirurgenhände suchten auf dem

Schreibtisch herum. Da tauchte unter all dem Zerrissenen ein unbeschädigter Bogen auf, mit Bild und Blüte und vorbildlicher Schönschrift. Er sah Bernt an.

„Das tut mir leid, mein Junge. Furchtbar leid tut mir das. Wir wollen hinterher in Ruhe miteinander reden. Hat Beate dir erzählt, daß wir Besuch bekommen haben?“

„Ja.“ „Du verstehst wohl, wir müssen alle unsere Wohlerzogenheit

aufbieten und Tante Julie beim Abendessen nett unterhalten. Sie ist auf der Durchreise, sie muß ihre Kur eine Weile unterbrechen und fährt zu Tante Mathilde. Sie fährt mit dem Abendzug weiter. Ich muß nach dem Essen noch in die Klinik, einen Kranken besuchen, dann nehme ich Tante Julie gleich mit an den Zug. Willst du mitkommen, Bernt? Wenn wir Tante Julie wohlbehalten auf dem Bahnhof abgeliefert haben, können wir auf dem Rückweg vielleicht mal von Mann zu Mann miteinander reden.“

„Ja“, sagte Bernt, und in seinen Augen schimmerte etwas wie Freude auf. „Das – das kannst du dir doch denken, daß ich gern mit will.“

Ich mußte im stillen lächeln. Niemals waren die Kinder so süß zu mir gewesen wie an diesem Abend. Und ich hatte eine teuflische kleine Freude daran, die Zwillinge sooft wie möglich bei ihren Namen zu nennen und zu zeigen, daß ich sie unterscheiden konnte.

„Beate“, sagte Sen ta, und ihre Stimme klang so brav, daß es einfach niederträchtig war, „darf ich heute abend im Bett bitte, bitte, noch etwas lesen? Eine halbe Stunde nur. Ich habe nämlich so ein wahnsinnig spannendes Buch.“

Diese Rübe! Bisher hat sie niemals um Erlaubnis gefragt, ob sie im Bett lesen dürfe, im Gegenteil, ich mußte immer aufpassen wie ein Schießhund, daß sie es nicht tat. Aber ich war gerührt, daß sie auf diese Weise ihren Respekt vor mir kundtat – auch wenn in ihrem Herzen nicht ein Quentchen davon vorhanden war.

„Wollen wir uns auf halbem Weg entgegenkommen und sagen, eine Viertelstunde?“ entgegnete ich. „Das heißt, wenn Papa es dir gestattet.“

Ich sah, wie Tante Julie die eine Augenbraue bewegte, und ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß Senta es auch sah.

Ich merkte, daß Sonja ebenfalls dasaß und darauf brannte, irgend

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etwas zu demonstrieren. Ich kam ihr freundlichst zu Hilfe. „Du brauchst das Fette von dem Schinken nicht zu essen, Sonja.

Ich weiß, es ist dir zuwider, und wir können ein bißchen Fett für das Vogelbrett gerade gut gebrauchen.“

„Oh, vielen Dank, das ist fein!“ sagte Sonja. Nein, man höre sich das bloß an, wie ihre Stimme von meiner unbedingten Autorität Zeugnis ablegte!

Tante Julie bewegte die andere Augenbraue. Da begegnete ich dem Blick des Doktors. Seine Augen hinter den

Brillengläsern funkelten von tausend kleinen Schelmen. Plötzlich hatte ich die größte Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken.

Als wir vom Abendbrottisch aufgestanden waren, kamen die Zwillinge zu mir und umschlangen mich ganz schnell einmal, um sich für das Essen zu bedanken. Auch das war etwas Neues. „Ihr Ruppsäcke“, flüsterte ich ihnen ins Ohr. Aber sie meinten es mit ihrer Umarmung ehrlich. Ich brachte den Kaffee. Bernt sprang auf und hielt mir die Tür auf, und er half mir auch, die Tassen herumzustellen.

„Was bekommen wir, wenn ihr Kaffee trinkt, Beate?“ fragte er, und seine Stimme klang froh und zutraulich.

„Aha, du willst auch was Gutes haben, du Schlingel? Lauf in den Keller und hol ein Glas Schattenmorellen herauf – aber von den kleinsten, bitte.“

„Vielleicht finde ich nur große?“ lachte Bernt. Ja, er lachte wirklich. Obwohl die Enttäuschung über seine vernichtete Wettbewerbsarbeit in ihm wühlen mußte, lachte er. Er lachte, um Tante Julie zu zeigen, wie gut wir es zusammen hatten. Seine ganze Loyalität mir gegenüber offenbarte sich in diesem Lachen.

„Du bist ein Schlingel, Bernt“, sagte ich und packte seinen Haarschopf. „So, hinunter mit dir und vergiß nicht, das Licht hinter dir auszumachen.“

Es herrschte kein Zweifel. Tante Julies Augenbrauen bewegten sich beide gleichzeitig.

Sie erkundigte sich, wie es Hansemann gehe, und der Doktor antwortete: „O danke, ausgezeichnet, er wächst und entwickelt sich, er fängt an, ein richtiger Junge zu werden.“ Tante Julie bedauerte, daß sie ihn nicht zu sehen bekomme, und der liebe Neffe antwortete: „Ja, das ist schade, aber Hansemann schläft fest und tief. Da er jetzt mittags nicht mehr hingelegt wird, geht er freiwillig früh zu Bett, zieht sich allein aus und putzt sich die Zähne und ist eingeschlafen,

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ehe man noch bis zehn gezählt hat.“ Du Schurke, dachte ich. Du hast ja keine blasse Ahnung von

Hansemanns abendlichem Rhythmus. Aber er wollte wohl hinter seinen scheinheiligen Kindern nicht zurückstehen, der Heuchler!

Dann mußte Tante Julie aufbrechen. Bernt half ihr höflich in den Mantel und wünschte ihr gute Reise. Ich verabschiedete mich mit einem Händedruck von ihr, und beide Zwillinge standen dicht an mich gedrängt mit Besitzermiene und stolzem Lächeln.

„Ja, es hat mich gefreut zu sehen, daß es euch so gut geht“, sagte Tante Julie.

Da tat sie mir plötzlich ganz schrecklich leid. Die schmale, schwarzgekleidete Gestalt sah mit einem Male so einsam und armselig aus.

Und ich fühlte mich so reich, hier mitten zwischen den drei Prachtkindern und dem Mann, der ebenfalls so grundanständig zu mir war.

„Es ist bei solchen Kindern wirklich nicht schwer, sich wohlzufühlen, Fräulein Rywig“, sagte ich. „So wohlerzogene Kinder habe ich nie erlebt, und ich bin mir völlig darüber klar, daß das Ihr Werk ist. Sie haben sich die letzten fünf Jahre damit gemüht. Für mich war es eine Kleinigkeit, das hier zu übernehmen – sowohl die Kinder mit dem guten Benehmen als auch den tadellosen Haushalt.“

Da hellte sich Tante Julies Miene auf, sie strahlte über das ganze Gesicht. Ich war froh, daß ich das gesagt hatte. Ich konnte es mir leisten, denn ich war ja so reich! So unendlich reich!

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Frühlingssonne im November

Es wurde spät, bis der Doktor und Bernt wiederkamen.

Ich hatte die Zwillinge ins Bett verfrachtet, und nun saß ich vor dem Kamin im Wohnzimmer mit dem unglückseligen Bären auf dem Schoß. Ich hatte das Gefühl, daß ich mit meinen Nähkünsten hier weiterkommen würde als der Doktor mit seiner chirurgischen Geschicklichkeit. Ich mühte mich und stichelte und nähte den Schlitz auf dem Bauch zu und brachte Arme und Beine wieder an Ort und Stelle. Dann tauchte ich tief in Tante Julies hinterlassenen, musterhaft geordneten Lumpenbeutel hinein und suchte ein Stück leuchtend roten Stoff hervor. Aus diesem bastelte ich eine Jacke für Teddy, die die Narben auf seinem Rumpf verdecken sollte.

Hin und wieder warf ich einen Blick auf das Feuer im Kamin und stellte mit Freude und Befriedigung fest, daß die letzten Überreste des Rohrstockes allmählich verkohlten.

Endlich hörte ich den Wagen. Ich steckte den Bären schnell unter ein Sofakissen und nahm das Strickzeug zur Hand. Bernt sollte nicht sehen, was ich vorhatte.

Dann kamen sie. Vater und Sohn. Ruhig, gelassen, ausgeglichen. Und wieder fiel mir die

Ähnlichkeit zwischen ihnen auf. Die klaren, klugen, dunkelgrauen Augen. „Na, sind Sie noch immer auf, Beate?“

Ehe ich noch antworten konnte, lachte der Doktor kurz auf und machte plötzlich ein verlegenes Gesicht.

„Sie müssen entschuldigen, Fräulein Hettring. Es sind die Kinder, die mich anstecken, und dann vergesse ich mich und nenne Sie auch Beate.“

„Das macht doch nichts, Herr Doktor. Ich finde es nur nett. Die formelle Anrede können Sie sich aufheben für den Fall, wenn Besuch kommt.“

„Tante Julie zum Beispiel?“ „Ja, Tante Julie zum Beispiel.“ „Ich sollte grüßen. Und übrigens, vielen Dank, daß Sie so reizend

zu ihr waren. Es hat ihr ordentlich gutgetan.“ „Nun, ich meinte es ehrlich. Ihre Tante hat wirklich das Haus

vorbildlich instand gehalten und den Kindern gute Manieren beigebracht.“

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„Jaja. Das ist immerhin was. Weißt du, Bernt, es ist nahe elf Uhr. Möchtest du nicht schleunigst in die Falle gehen?“

„Jaja. Ich dachte nur – ob vielleicht noch ein paar Kirschen übrig sind, ich habe so wenig abgekriegt vorhin…“

„Nimm sie mit zu dir rauf, Bernt, sie stehen im Kühlschrank.“ „Hmmm, vielen Dank, Beate. Und gute Nacht. Und – und –

tausend Dank für – alles.“ „Gute Nacht, Bernt. Schlaf gut.“ „Na, gute Nacht, Papa. Du bist…“ Bernt stockte und wurde rot. „Was bin ich? Ein alter Griesgram?“ „Das auch. Aber ich wollte sagen: ein feiner Kerl.“ „Da muß ich wohl ,danke gleichfalls’ sagen, mein Junge. Schlaf

nun gut, trotz allem.“ Der Doktor und ich blieben allein. Ich holte den Bären unter dem

Kissen hervor und setzte meine „Operation“ fort. Der Doktor warf einen Blick auf meine Arbeit, ohne etwas zu sagen. Dann erhob er sich, und im nächsten Augenblick plumpste ein Paket in meinen Schoß.

„Bitte. Mögen Sie Schokolade?“ „Na, und ob! Tausend Dank, aber das ist doch viel zu…“ „Denkt nicht dran, es ist nicht viel zu… Ich habe sie im

Bahnhofskiosk gekauft, übrigens mit Bernts rückhaltlosem Einverständnis.“

„Das ist aber furchtbar lieb von Ihnen.“ „Ach, übrigens, was das ‚furchtbar lieb’ anbetrifft – ich habe so

ein dumpfes Gefühl, als hätten Sie Anspruch auf eine Antwort von mir.“

„Eine Antwort?“ „Ja, eine Antwort auf Ihren – hm – Ihren Monolog, den Tante

Julie unterbrach…“ Ich spürte, wie ich rot wurde. „Eher haben wohl Sie Anspruch darauf, daß ich mich

entschuldige – ich war ziemlich aus den Fugen…“ „Das war ich auch. Sind Sie sehr müde, Beate, oder sind Sie im

Stande, noch ein wenig zu sitzen?“ „Bis morgen früh, wenn Sie wünschen.“ „Sehen Sie, Sie sind ja, gelinde ausgedrückt, ziemlich stark in

diese Geschichte verwickelt, die meine Söhne heute angezettelt haben. So müssen Sie auch erfahren, daß Bernt und ich eine richtige, vernünftige Aussprache gehabt haben. Er sieht ein, daß eine Rache,

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wie er sie verübt hat, völlig sinnlos ist, und ich habe meinerseits zugegeben, daß ich seine Wut verstehe. Nein halt, unterbrechen Sie mich nicht, ich weiß nämlich, was Sie sagen möchten. Wäre es dazu gekommen, daß ich Bernt verhauen hätte, so wäre das genauso sinnlos gewesen. Das hätte den Petz auch nicht wieder heilgemacht. Und, Beate, das wollte ich Ihnen also sagen – ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar, daß Sie mir den Kopf gewaschen haben. Ich war wütend, das gebe ich zu – und gottlob haben Sie mich davor bewahrt, eine mordsmäßige Dummheit zu begehen.“

„Was soll ich nun darauf antworten, Herr Doktor!“ „Kein Sterbenswörtchen. Sie hatten heute nachmittag das Wort,

da verlangten Sie von mir, ich solle schweigen, und nun bitte ich Sie um das gleiche, nur höflicher, als Sie es taten.“

Der Doktor lächelte und blickte mir voll ins Gesicht. „Sie sind ein großartiges Mädel, Beate! Nun, also, zum Thema

zurück. Ich habe Bernt versprochen, ihm beim Ordnen seiner Bilder und Pflanzen zu helfen, und dann darf er sich neue Abzüge von den Farbfotos bestellen. Die Filme hat er ja zum Glück. Das ist eine unglaubliche Arbeit, die der Junge da geleistet hat, so viel konnte ich sehen. Und ich bin so froh, daß er ein so großes und glühendes Interesse hat für etwas wirklich Vernünftiges. Wir wollen nur hoffen, daß der kleine Missetäter nicht zu vielen Pflanzen den Garaus gemacht hat. So ein Rüpel…“

„Ja, was wollen Sie nun aber mit dem Rüpel machen?“ „Das werde ich Ihnen sagen. Ich werde ihm eröffnen, daß er das

Schaukelpferd, das er sich zu Weihnachten gewünscht hat, nicht bekommt. Für das Geld muß der Weihnachtsmann neue Farbfotos für Bernt kaufen.“

„Herr Doktor! Sie sind ja ein erstaunlich guter Pädagoge“, entfuhr es mir.

„Danke ergebenst. Es kommt nicht alle Tage vor, daß man von einer Lehrerstochter ein solches Kompliment bekommt.“

„Entschuldigen Sie, Herr Doktor – es – es rutschte mir nur so heraus…“

„Ich gewöhne mich allmählich daran, daß Ihnen hier und da mal etwas herausrutscht“, schmunzelte der Doktor. „Und nun kommen wir zu dem, worüber ich eigentlich mit Ihnen reden wollte, nämlich zu dem, was Ihnen heute nachmittag rausrutschte. Sie sagten, das einzige, was meine Kinder in ihrem Elternhaus mitbekommen hätten, seien heile, saubere Kleidung und gute Manieren. Das Schrecklichste

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daran ist, daß Sie beinahe recht haben. Und ich bin keineswegs blind, ich sehe sehr wohl, daß Sie den Kindern etwas Neues geschenkt haben. Die Zwillinge sind immer vergnügte Kinder gewesen, das kommt daher, daß sie zu zweit sind, und die kleben ja zusammen wie Pech und Schwefel. Aber das Vertrauen, das die Kinder Ihnen entgegenbringen, das ist etwas Neues. Daß Bernt offener geworden ist, heiterer, das sehe ich auch. Er ist aber von Natur aus verschlossen und schwer zugänglich, das wissen Sie. Vielleicht war das für mich eine Enttäuschung – ich hatte schon frühzeitig das Gefühl, er brauchte mich nicht. Und die Zwillinge mit all ihrem Gekicher und Getuschel und ihren Zicken – ja, die sind gottlob so normal, wie zwei elfjährige Mädchen nur sein können, aber für einen erschöpften und überanstrengten Vater ist es nicht leicht, Verbindung mit ihnen zu bekommen. Können Sie nicht verstehen, daß ich an Hansemann Trost und einen gewissen Ausgleich fand? Er brauchte mich, er kam angerannt, wenn ich nach Hause kam. Er krabbelte auf meine Knie, er plapperte vertrauensvoll mit mir. Hansemann schenkte mir die – die Wärme, die ich wohl sehr entbehrt habe, ohne es selber so recht zu wissen.“ Ich nickte, sagte aber nichts.

„Sehen Sie, allzuviel Sonne hatten wir nicht hier im Hause. Tante Julie ist ein prächtiger Mensch, und sie war mir eine einzigartige Hilfe, als sie nach dem Tod meiner Frau mir nichts dir nichts die Zügel ergriff. Aber ihr Wesen ist nicht eben sonnig zu nennen, darüber bin ich mir klar. Und viel Humor hat sie auch nicht. Sehen Sie, ich habe immer zuviel zu tun; ich bin immer müde, wenn ich nach Hause komme, oft habe ich ganz vertrackte Fälle in meiner Praxis, oft genug schwebe ich in riesiger Angst, daß ein Patient, den ich operiert habe, nicht durchkommen könnte – nun gut, ich kam also nach Hause, abgespannt und überarbeitet, und – gewiß, ich bekam immer pünktlich mein Essen, alles um mich herum war sauber und aufgeräumt – aber ich hatte nicht eine Menschenseele, mit der ich mich unterhalten konnte. Da war keiner, der mir ein harmloses Lächeln gönnte, keiner, der mir Wärme entgegenbrachte. Keiner – außer Hansemann. Sie haben so viel Talent, die Kinder zu verstehen, Beate. Würden Sie nicht im Namen der Gerechtigkeit mal versuchen, auch mich zu verstehen?“

Der Petz war fertig. Ich hatte ihn still beiseite gelegt, während der Doktor sprach. Jetzt fühlte ich zu meinem Schrecken, daß meine Lippen zuckten.

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„Doch, Herr Doktor“, sagte ich. „Ich verstehe Sie, und ich habe Sie längst verstanden, lange bevor Sie selber etwas sagten. Aber eines ist mir dennoch ganz unverständlich: Wenn Sie wirklich Wärme brauchten, einen Kameraden brauchten, weshalb versuchen Sie nicht, Bernt näherzukommen?“

Der Doktor runzelte die Stirn. Er warf den Zigarettenstummel in den Kamin und blieb vornübergeneigt sitzen und starrte in das Feuer.

„Ja, da kommen Sie auf etwas zu sprechen, was mir seit langem schon als eine große Torheit erschienen ist, Beate. Als meine Frau starb, war Bernt acht Jahre alt. Also noch zu klein, um mir ein wirklicher Gefährte zu sein. Und schon damals war er ein komischer kleiner Kauz, er war einsilbig und wurschtelte stets für sich – und ich hatte nicht die Zeit, immer nachzufragen, was er vorhatte. Ich gebe zu, ich hätte mich viel mehr um Bernt kümmern müssen.“

„Aber es ist noch nicht zu spät, Herr Doktor“, sagte ich. Da richtete er sich aus seiner vorgeneigten Haltung auf und lächelte mir zu.

„Nein, Beate, es ist nicht zu spät. Gott sei Lob und Dank. Und wem habe ich es zu verdanken, daß ich jetzt mit meinem ältesten Sohn gut stehe? Wer schlug mir vor, daß Bernt mir bei meiner Quartalsabrechnung helfen sollte? Wer hat mich daran gehindert, die kleinen Keime des Vertrauens und der Kameradschaft heute wieder zu zerstören? Kleine Beate, Sie sind vielleicht nichts weiter als ein ganz alltägliches und gesundes junges Mädchen – aber Sie sind ein heiteres junges Mädchen, und Sie sind zu Hause in einer Atmosphäre von Geborgenheit und Sonnenschein aufgewachsen – und den Sonnenschein haben Sie hier in dies Haus mitgebracht. Das mußte ich Ihnen sagen, und ich mußte es heute sagen, bevor dieser aufregende Tag zu Ende geht.“ Der Doktor stand auf. Er nahm den Bären in die Hand, sah ihn sich lächelnd an.

„Das schlimmste ist – nun bekomme ich sicherlich die Ehre, den Teddy gesund gemacht zu haben“, sagte er.

„Doktor Rywig – darf ich mir erlauben, etwas zu fragen…“ „Aber gewiß. Fragen Sie nur.“ „Weiß Bernt, daß – daß Sie ihn heute verhauen wollten?“ „Nein, Beate, das weiß er nicht. Ich dachte, das bleibt am besten

unter uns.“ „Ach, Gott sei Dank!“ sagte ich und atmete tief auf. Der Doktor

trat ans Fenster, stand lange da und starrte in die Novembernacht hinaus. Dann wandte er sich um.

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„O weh, es ist aber spät geworden. Ich bin wirklich ein reizender Arzt, Sie die halbe Nacht so in Atem zu halten. Jetzt müssen Sie aber flink ins Bett, morgen ist Samstag, und dann wird es sicher auch wieder spät. Denn Sie machen doch wieder einen Samstagsschäker für uns? Tun Sie das?“

Seine Stimme klang mit einem Male wie die eines Kindes. Und die Ähnlichkeit mit Bernt war auffallender denn je.

„Doch“, sagte ich. „Darauf – darauf können Sie Gift nehmen, das tue ich. Darf ich jetzt hier lüften, Herr Doktor? Ich will Sie nicht hinauswerfen, aber…“

„Warten Sie, ich helfe Ihnen.“ Er öffnete die Fenster. Die kalte Nachtluft strömte ins Zimmer.

Ich schauderte zusammen. „Uff, wie kalt ist die Novemberluft…“ Der Doktor ergriff meine Hand.

„Macht nichts, Beate. Mag es draußen ruhig kalt sein – was tut es, wenn hier drinnen die Frühlingssonne scheint?“

Mit einem Male neigte er sich über meine Hand und küßte sie. Im nächsten Augenblick war er zur Tür hinaus.

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So verschieden können Mütter sein

Wir saßen beim Frühstück, die ganze Familie. Es war mit der Zeit zur Gewohnheit geworden, daß die Zwillinge und sogar Hansemann sich früh genug einfanden, um mit dem Doktor und mit Bernt – und mit mir natürlich auch – gemeinsam zu frühstücken.

Es herrschte ein stillschweigendes Übereinkommen, daß wir unsere Post am Frühstückstisch öffnen durften. Der Doktor hatte sich schon in einen langen, maschinegeschriebenen Brief vertieft, und ich hatte eben einen Brief von meiner Mutter aufgemacht. Dann entfuhr mir ein „Ach!“

Fünf Köpfe schnellten hoch, fünf Augenpaare waren auf mich gerichtet.

„Ist’s was Schlimmes, Beate?“ Dieselbe Frage aus fünf Kehlen. „Aber nein – im Gegenteil – das heißt, Herr Doktor – sind

Polypen in der Nase etwas Schlimmes?“ Der Arzt lachte. „Nicht besonders, wenn sie herausgenommen werden. Es ist eine

Kleinigkeit. Sind Sie es, die Polypen hat, oder…“ „Nein, aber Heidi. Mein kleines Schwesterchen. Jetzt schreibt

meine Mutter, sie käme demnächst mit Heidi nach Oslo. Sie fragt, ob Sie wohl so nett wären, ihr einen guten Hals-, Nasen-, Ohrenarzt zu empfehlen. Unser Hausarzt meint, es sei das beste, wenn es von einem Spezialisten gemacht würde, und in Tjeldsund haben wir keinen…“

„Wie nett, daß Ihre Mutter kommt, Beate. Wir freuen uns alle sie kennenzulernen, nicht wahr, Kinder?“

„Phantastisch“, sagten die Zwillinge im Chor. „Famos“, sagte Bernt. „Bringt sie mir auch was mit?“ fragte Hansemann. „Natürlich, Beate, das mit dem Spezialisten regeln wir schon. Ich

habe einen Kollegen, Dr. Engelmann, mit dem bin ich befreundet, und er hat einen ausgezeichneten Ruf – er hat seine Operationspatienten auch auf St. Lukas. Den sehe ich heute, das werden wir schon deichseln.“

„Ach, das wäre furchtbar nett von Ihnen, Herr Doktor. Ja, und dann muß ich noch etwas fragen, ich weiß ja in Oslo nicht besonders gut Bescheid und habe niemanden anderen, den ich fragen kann – wissen Sie nicht ein ruhiges kleines Hotel oder Pensionat, wo…“

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„Hotel? Pensionat? Sind Sie nicht gescheit? Ich empfehle auf das allerwärmste Rywigs Hotel. Ob es ruhig ist, das ist noch die Frage, aber es hat eine vorzügliche Leiterin und erstklassige Bedienung…“

„Und einen erstklassigen Portier“, sagte Bernt und warf sich in die Brust.

„Und zwei ganz reizende Stubenmädchen“, lachten die Zwillinge.

„Da sehen Sie, Beate. Wenn wir dem Hansemann außerdem noch ein Piccolokäppchen auf den Kopf setzen, dann ist alles vorschriftsmäßig. Aber im Ernst, lassen Sie Ihrer Mutter Ihr Bett, Sie selbst schlafen auf dem Feldbett…“

„…und dann holen wir Sonjas Gitterbett vom Boden für Heidi“, rief Senta. „Hansemann hat ja meins geerbt, aber das von Sonja steht noch da.“

„Ich kann es gut runtertragen“, meinte Bernt. „Heidi kann mein Kaninchen borgen“, sagte Hansemann. Ich war

so gerührt, daß ich tatsächlich nicht wußte, was ich sagen sollte. Und das – das war die Familie, bei der ich noch keine drei Monate war! Das war der müde, nervöse Arzt, der muffige, eigenbrötlerische Bernt, der verzogene und quengelige Hansemann, die ewig kichernden und albernden Zwillinge. Nein, übrigens, den Zwillingen war nichts nachzusagen. Sie waren von allen am einfachsten zu behandeln gewesen, und daran hatte sich nichts geändert.

„Sie sind so lieb alle – tausend, tausend Dank – es ist nur viel zu viel – ich wollte noch fragen, ob ich einen ganzen Tag freinehmen darf, damit ich meiner Mutter ein bißchen von Oslo zeigen kann – und Heidi, die kommt ja in die Klinik, und dann…“

„Dort bleibt sie höchstens zwei Tage“, sagte Dr. Rywig. „Und wie ich Dr. Engelmann kenne, schickt er sie nicht schnurstracks vom Krankenbett nach Tjeldsund zurück. Er wird wohl eine Nachuntersuchung verlangen. Also, Beate, schreiben Sie Ihrer Mutter, daß wir uns sehr freuen, sie und die kleine Heidi hier zu sehen. Ich läute heute vormittag gleich an, sowie ich Dr. Engelmann gesprochen habe. Es wäre vielleicht gut, die Operation schnellstens zu machen, je eher, desto besser.“

„Ja, das wäre meiner Mutter sicher auch lieb, damit sie rechtzeitig wieder zu Hause sein kann, denn am ersten Dezember, da hat Rolf Geburtstag…“

Ich hielt plötzlich inne. Geburtstag, ach ja, richtig. „Na, was gibt’s denn?“

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„Bei Geburtstag fällt mir ein, wenn Mutti sozusagen postwendend kommt, dann platzt sie ja mitten in Bernts Geburtstag herein.“ Bernt kugelte sich vor Lachen. „Ist das ein Grund, so entsetzt zu sein?“

„Ja, ich weiß doch nicht, wie ihr hier im Hause eure Geburtstage feiert…“

„Nimm’s nicht tragisch, Beate. Geschenke auf dem Frühstückstisch und zum Mittagessen Nachtisch mit Sahne, bumms fertig. Deswegen bitte keine Aufregung!“

Bernt sagte es leichthin und munter. Und dennoch – dennoch – klang nicht durch die munteren Worte eine ganz, ganz kleine Bitterkeit hindurch?

Bernt, du guter Junge. Du sollst einen Geburtstag bekommen, an den du denken wirst, versprach ich mir selber.

„So“, sagte der Doktor. „Wer mit mir in die Stadt will, der muß sich eilen, ich fahre in fünf Minuten.“

Nun brach die ganze Gesellschaft auf einmal auf. „Sonja“, sagte ich. „Hast du deine wollene Hose an?“ Sonja war ein bißchen erkältet, und ich hatte verlangt, sie solle sich warm anziehen. Aber auch in bezug auf Wollhosen war Sonja ein normales Mädchen. Sie konnte sie nämlich nicht ausstehen. „Hab keine Zeit mehr“, sagte Sonja, und damit war sie aus der Tür und schlüpfte in den Wagen. So ein Mädel. Sie würde es mit mir zu tun kriegen, sobald sie nach Hause kam.

Aber ich konnte mich nicht unausgesetzt und den ganzen Vormittag über Sonja ärgern. Ich hatte mehr zu tun. Ich begann zu waschen und zu putzen; es sollte alles blitzen, wenn Mutti kam. Sie sollte sehen, daß ich ein Haus instand halten konnte. Oh, wie ich mich freute!

Da läutete der Doktor an. Es würde ausgezeichnet passen, wenn meine Mutter und Heidi am Freitag kämen. Operation Samstag; wenn alles normal verlaufe, könne Heidi Montag oder spätestens Dienstag aus der Klinik kommen. Und die Oberschwester habe versprochen, ein Bett am Fenster im Kindersaal zu reservieren.

So setzte ich mich denn hin und schrieb an Mutti und rannte mit dem Brief zum Kasten.

Hansemann ließ sich von Maren in den Kindergarten bringen. Mit Spielen im Freien war es nichts mehr, das Wetter ließ es nicht mehr zu. Nun verbrachte Hansemann die Vormittage im Kindergarten damit, Christbaumkörbchen auszuschneiden und

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Katzen und Hunde aus Plastilin zu formen. Während ich arbeitete, dachte ich an Bernts Geburtstag. Wie nett,

daß Mutti gerade jetzt kam. Es gibt keinen Menschen, der einen Geburtstag so festlich gestalten kann wie meine Mutter.

Wenn Sonja nur bis dahin ihre Erkältung los wäre, es wäre Pech, wenn wir gerade in diesen Tagen Krankheit im Hause hätten.

Die Stunden flogen dahin, und ehe ich mich umgesehen hatte, kamen die Kinder aus der Schule. Sonja hatte eine ganz rote Nase und einen tüchtigen Schnupfen. „Du ziehst auf der Stelle die wollene Hose an, Sonja“, sagte ich. „Uff, reg dich nicht auf,“ sagte Sonja. Sie war übellaunig und reizbar.

„Bitte nicht diesen Ton“, sagte ich. „Tu, was ich dir gesagt habe. Marsch.“

Sonja stieg schmollend nach oben. Ich schüttelte den Kopf. Wenn ich bloß begreifen könnte, weshalb alle Mädels um jeden Preis so dünn wie möglich angezogen sein wollen.

Sie kam wieder herunter, und wir aßen zu Mittag. Dann wollten die Zwillinge fortgehen. „Zieht euch warm an“,

sagte ich. „Diese rauhe Luft ist richtig heimtückisch. Und bleibt nicht zu lange draußen.“

Ich hatte im Zimmer der Zwillinge etwas zu tun und entdeckte dabei auf dem Stuhl neben Sonjas Bett die wollene Hose.

Die Kinder hatten schon recht, wenn sie sagten, ich könne stinkewütend werden. Jetzt war ich es.

Ich rannte die Treppe hinunter und hoffte, die Sünderin noch zu erwischen. Ich wollte sie beim Schlafittchen nehmen.

Sie stand noch auf dem Vorplatz, im Begriff, ihre Gummistiefel anzuziehen.

Ich war tatsächlich wütend. Ich holte mit der rechten Hand aus und ließ sie mit einem kräftigen Schlag auf den Körperteil niedersausen, der sich einem geradezu anbietet, wenn sich der andere vor einem in gebückter Haltung die Stiefel anzieht.

„Vielleicht lernst du es jetzt, deine wollene Hose anzuziehen“, sagte ich. „Auuuu!“ war die einzige Antwort.

Das Mädel richtete sich auf, drehte sich um und sah mich erschrocken an. Ich rang nach Luft. Es war nicht Sonja, die ich gehauen hatte. Es war Senta.

„Jaja“, sagte Senta philosophisch und rieb sich ihr schmerzendes Hinterteil, als ich Abbitte getan und ihr beteuert hatte, ich sei tief unglücklich. „Das hab ich nun davon.“

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„Ach, Senta, damit wirst du mich nun bis an mein Lebensende aufziehen“, seufzte ich.

Senta schaute mich von der Seite an und lachte. „Es hat gemein wehgetan, Beate – du hast es gar nicht verdient,

daß ich so nett zu dir bin – aber ich werd mal nicht so sein, weil du’s bist. Auf Ehre, ich sag’s Sonja nicht weiter. Jedenfalls ein ganzes Jahr lang nicht. Das würde ja deine ganze Autorität untergraben – oder wie heißt es gleich? Und übrigens“, fuhr sie nachdenklich fort, „jetzt hab ich einmal zugute und darf ungehorsam sein, ohne daß ich bestraft werde, denn die Strafe habe ich ja nun weg. Nicht wahr?“

„Ach Senta – du gräßliches Frauenzimmer!“ „Das ist nicht dein Ernst, Beate. Du kannst uns im Grunde ganz

gut leiden.“ „Ja, das kann ich, mein Goldkind. Das läßt sich nicht leugnen.

Und ich danke dir, daß du so kameradschaftlich bist, Senta. Aber deine liebe Schwester kommt ins Bett mit Wärmflasche und Strafpredigt, darauf kannst du dich verlassen.“

„Dann irr doch bloß nicht wieder, so daß du mich ins Bett steckst!“ lachte Senta und verschwand durch die Tür.

Als die Zwillinge eine gute Stunde später zusammen nach Hause kamen, sagte ich kein Wort, bis ich Sonja beiseite nehmen konnte. Ich befahl ihr, mit in ihr Zimmer zu kommen, wo ich ihr eine Standpauke hielt, und ich wich nicht von ihrer Seite, bis sie sich maulend ausgezogen und ins Bett gelegt hatte. Dann brachte ich heißen Holundersaft, wickelte ihr einen wollenen Schal um den Hals und fuhr mit der Hand unters Kopfkissen und zog das Buch heraus, von dem mir schwante, daß es dort versteckt liege.

„Hier wird nicht gelesen“, sagte ich bestimmt. „Ganz unter die Decke mit dir, damit du den Krempel aus deinem Körper herausschwitzt.“

„Ich kann doch aber das Buch so halten…“ „Du kannst still daliegen und nachdenken, wie unfolgsam du

gewesen bist“, sagte ich, stopfte das Oberbett noch fester um sie und ging hinaus.

Als der Doktor nach Hause kam und nach Sonja fragte, teilte ich ihm mit, daß ich sie zur Strafe ins Bett gesteckt hätte.

„Sieh mal einer an“, sagte Dr. Rywig. „Und sie bleibt auch im Bett?“

„Es scheint doch so“, entgegnete ich. „Sie hat wohl Angst davor, was geschehen könnte, wenn sie ohne Erlaubnis aufstünde.“

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„Ich glaube, ich muß das, was ich neulich über die Autorität sagte, zurücknehmen“, meinte der Doktor lächelnd. „Es hat wirklich den Anschein, als ob die Kinder vor Ihnen Respekt hätten. Sagen Sie mir doch mal im Vertrauen: Wenn Sie meine hoffnungsvollen Sprößlinge gestraft haben, ist es dann nie vorgekommen, daß sie gesagt haben ,Dazu hast du gar kein Recht’?“

„Nein“, sagte ich. „Merkwürdig ist es schon; aber es ist nie vorgekommen. Die Kinder wissen, daß ich sie gern habe, und sie haben Vertrauen zu mir – wir haben so vieles Gute und Nette gemeinsam, und da finden sie es wohl ganz in Ordnung und richtig, daß ich sie strafe, wenn sie es verdient haben.“

Der Doktor nickte. Er schwieg eine Weile, in seine eigenen Gedanken vertieft. Dann hob er den Kopf und lächelte wieder.

„Nun, haben Sie an Ihre Mutter geschrieben?“ „Ja, das habe ich getan – und vielen Dank, Herr Doktor – ich

freue mich so sehr, daß ich meine Mutter hier bei mir haben darf, ich finde, ich habe hunderttausend Dinge mit ihr zu besprechen.“

„Sagen Sie mal – sind Sie Ihrer Mutter ähnlich?“ fragte der Doktor plötzlich.

„Meiner Mutter ähnlich? Ja – doch – das glaube ich schon…“ „Ist sie es, von der Sie die Fröhlichkeit geerbt haben?“ „Ja, wenn Sie meine gute Laune meinen, die habe ich wohl von

meiner Mutter. Vati ist auch nicht gerade ein Kopfhänger, das kann man wirklich nicht sagen – aber Muttis Wesen ist so, daß es sie mitten in all ihrer Mühsal mit acht Kindern und sparsamster Lebensweise und vierzehnstündigem Arbeitstag jung und frisch erhalten hat. Ob Sie es nun glauben oder nicht, wenn Muttchen auch immer alle Hände voll zu tun hat, denkt sie auch immer noch an andere außer ihrer eigenen Familie. Wenn jemand Hilfe braucht, dann kommt sie an, sowie sie kann, und wenn wir Kinder Freunde und Freundinnen mit nach Hause gebracht haben, dann war Mutti die Gastlichkeit selber – es hieß dann einfach, noch einen Teller auf den Tisch, und der Gast aß mit, was wir selber aßen, und das waren Makrelen in der Makrelenzeit und Heringe in der Heringszeit, wir mußten ja den Pfennig umdrehen, wissen Sie…“

„Freunde mit nach Hause bringen…“, wiederholte Dr. Rywig sinnend. „Wissen Sie, da fällt mir etwas ein. Das tun meine Kinder eigentlich nie.“

„Nun, an mir soll’s nicht liegen…“ „Nein, das glaub ich gern, Beate. Sie würden sicher genauso sein

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wie Ihre Mutter – auch in dieser Hinsicht. Nein – Tante Julie hat es wohl nie gern gesehen. Jaja, die arme Tante Julie, sie hat für uns getan, was sie konnte, wir dürfen das keinesfalls vergessen.“

„Natürlich hat sie das“, pflichtete ich bei. „Und ehe Tante Julie kam, waren die Kinder noch zu klein, als

daß…“ Ich unterbrach mich selbst. Es schien, als ob des Doktors Gesicht

sich verschloß, irgend etwas verbergend, worüber er nicht sprechen wollte.

Ein Gedanke, der öfter schon in meinem Kopf gespukt hatte, meldete sich, und ich fragte mich: Wie ist Frau Rywig gewesen? Und wie ist die Ehe gewesen? Weshalb hatte der Doktor nirgendwo ein Bild seiner verstorbenen Frau, weder auf dem Schreibtisch noch an der Wand? Bernt hatte auch keines. Nur im Zimmer der Zwillinge hing eine Fotografie von dem schönen Antlitz.

Natürlich hatte ich meine Frage nie laut geäußert. Aber ich gestehe offen, ich war neugierig.

Ob es die Wärmflasche war, der Holundersaft oder die Strafpredigt, die geholfen hatten, weiß ich nicht. Aber Sonja war am nächsten Morgen wieder ganz obenauf.

Sie kam noch vor Senta zum Frühstück heruntergetapst. Auf dem Vorplatz fing sie mich ab.

„Guten Morgen, Beate.“ „Guten Morgen, du Göre. Na, wie geht es?“ „Eins a. Mir geht es schon wieder viel besser.“ Jetzt kam sie dicht an mich heran, suchte nach meiner Hand und

flüsterte: „Sei mir nicht böse, Beate!“ Ich drückte sie rasch an mich. „Schon gut, Kleine. Wir sind also

wieder gut Freund, nicht wahr! Komm, mein Kind, nimm den Brotkorb mit hinein, ich will nur meine Schürze abbinden – und da kommt Maren auch schon mit dem Tee.“

Ich stand am Küchentisch und summte ein Liedchen vor mich hin, während ich einen Kuchenteig anrührte. Ich wollte ein paar Vanilleplätzchen backen. Die aß Mutti so gern, und wir konnten es uns so selten leisten, welche zu backen, denn sie waren für eine große Familie zu üppig.

Maren war im Keller beim Bügeln, ich war allein und machte es mir gemütlich mit den Plätzchen und gab mich meiner Freude auf Muttis Besuch hin.

„Hallo, du, Beate!“ Ich wandte mich um. Ich hatte die Tür nicht

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gehört. „Aber Bernt, was machst du um diese Tageszeit zu Hause,

Junge? Bist du aus der Schule geflogen?“ „Ganz recht. Mit der ganzen Klasse. Wir sollten die letzte Stunde

Mathematik haben, und der Mathematiklehrer ist krank geworden.“ „Und du hast gerochen, daß ich Kuchen backen will, und da hast

du die Beine in die Hand genommen und bist nach Hause geflitzt?“ Bernt lächelte. Er blieb stehen. Es schien, als habe er etwas auf

dem Herzen, womit er nicht so recht herausrücken wollte. „Nun?“ ermunterte ich ihn. „Du siehst aus, als wolltest du mir

etwas anvertrauen.“ Jetzt sah er mich voll an. „Du kannst doch sicher dicht halten, Beate?“ „Das kann ich, Bernt. Wenn ich jemandem verspreche, daß ich

schweige, dann schweige ich.“ „Und du würdest es niemals – ja, zum Beispiel Papa erzählen? Es

ist nichts Schlimmes“, fügte er schnell hinzu. „Nichts, was…“ „…was mich in Gewissenskonflikte bringen kann, meinst du?“ „Ja, genau das meine ich. Und dann erzählst du bestimmt nichts

weiter?“ „Brauchst du noch zu fragen, Bernt? Sind wir nicht Kameraden?“ „Doch“, sagte Bernt. „Ja – so was Dolles ist es ja auch nicht –

aber gerade dir muß ich es sagen – ich – ich habe ein Gedicht gemacht – und das hab ich für fünfzig Kronen bei einer Zeitung angebracht…“

Bernt war ganz kurzatmig vor Aufregung. Ich wischte mir die Hände in der Eile notdürftig ab und schüttelte

Bernt die Hand. „Mein lieber Junge – ich gratuliere von Herzen. Das ist doch

famos – wie stolz bin ich auf dich. Außerdem bin ich stolz und froh darüber, daß du mir dein Vertrauen schenkst. Aber Bernt, warum soll dein Vater es nicht erfahren?“

„Natürlich soll er es erfahren, aber nicht eher, als bis es erscheint. Ich möchte es ihm unmittelbar vor die Nase legen, weißt du – was, meinst du, wird er wohl sagen?“

„Was ich auch gesagt habe. Nein du, Bernt, jetzt lassen wir die Kuchen Kuchen sein – komm, wir gehen hinein, ich habe Lust auf einen Vormittagstee, du nicht auch? Das Wasser kocht gerade, ich bin im Nu fertig…“

Dann saßen wir im Wohnzimmer, jeder mit einer Tasse Tee vor

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sich. „Bernt, darf ich dein Gedicht lesen?“ fragte ich. „Ja – aber – aber – du lachst mich bestimmt nicht aus, Beate?“ „Wie kannst du das nur denken, Bernt!“ Er holte einen zusammengefalteten Zettel aus seiner Tasche und

reichte ihn mir. Ich las. Es war ein lyrisches Gedicht mit feiner Naturstimmung,

in einem kräftigen, guten Rhythmus und von einer gewissen Spannung der Gedanken.

„Es ist wunderbar, Bernt. Wie wird dein Vater sich freuen, du!“ Bernt faltete den Zettel wieder zusammen, und ich sah, wie seine

Hände zitterten. „Aber, Bernt, wie konntest du nur einen Augenblick denken, ich

würde dich auslachen – oder ich könnte dein Geheimnis nicht bei mir behalten?“

Er gab lange Zeit keine Antwort auf die Frage. Dann sagte er, und es kam mühsam, so als sträube er sich innerlich, es auszusprechen: „Ich habe schon oft Gedichte gemacht, Beate. Aber ich habe sie nie einem Menschen gezeigt, außer einem einzigen Mal. Und da wurde ich ausgelacht. Aber das ist lange her. Ich war erst sieben Jahre alt.“

„Und das sitzt heute noch in dir? Als du sieben warst, Bernt, waren deine Verse wohl auch nicht so gut wie heute?“

„Das hat nichts damit zu tun. Natürlich war das Gedicht grauenhaft… aber ich zeigte es einem… zeigte es jemandem, der hoch und heilig versprach, es niemandem zu erzählen. Und dann kam ich dazu, als er es anderen vorlas. Sie lachten alle über das Gedicht und dieser… dieser Jemand lachte mit. Sie machten sich lustig über den niedlichen kleinen Jungen, der glaubte, er könne dichten, und… und…“

„Bernt“, sagte ich. „Diesem Jemand würde ich gern mal die Leviten lesen.“

Bernt warf mir einen schnellen Blick zu, seine Augen waren fast schwarz.

„Das kannst du nicht mehr, Beate. Es war meine Mutter.“ Behutsam legte ich meine Hand auf die von Bernt. Ich konnte nichts sagen. Aber ich fing an, Zusammenhänge zu begreifen, die mir bisher unverständlich gewesen waren. Allerlei Fragen lagen mir auf der Zunge, heikle Fragen… konnte ich es wagen?

„Bernt“, sagte ich endlich. „Vielleicht siehst du es falsch. Gewiß

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wollte deine Mutter sich nicht lustig machen. Sie hatte wohl nicht gedacht, daß du hören würdest, wenn sie dein Gedicht vorlas. Und du hast nun all die Jahre diese Last mit dir herumgeschleppt und dich davon niederdrücken lassen. Viel zu lange hast du geschwiegen. Ich will dich nicht ausfragen, Bernt, und dich nicht bitten, mir etwas zu erzählen. Aber du sollst wissen, daß du auf mich zählen kannst, wenn du einmal einen Menschen brauchst, um dich auszusprechen. Ich bin ein ganz alltägliches Mädel, Bernt. Ich habe nicht deine… deine Intelligenz – du weißt ja selber, daß du sehr intelligent bist. Aber ich habe dich gern, und ich kann schweigen. Das wollte ich dir gern ein für allemal gesagt haben.“

Bernt sah mich wieder an, und nie waren seine Augen so schön gewesen.

„Danke, Beate! Du kannst natürlich einwenden, daß ich die Geschichte von damals als kleiner Junge falsch gesehen habe, daß ich besonders empfindlich war. Aber ich verlor dadurch alles Vertrauen zu meiner Mutter und zu den Erwachsenen überhaupt. Und es war ja auch nicht bloß dies eine Mal. Als ich acht wurde, schenkte Papa mir ein Fahrrad, und ich war ganz aus dem Häuschen vor Freude. Weißt du, was Mutter sagte? Ja, du hast’s gut, so etwas bekam ich nicht, als ich so klein war!’ Es war beinahe so, als wäre es nicht in Ordnung, daß ich etwas bekam, was Mama nicht gehabt hatte. Oder sie sagte: ‚Denkst du vielleicht, ich habe das gedurft, als ich klein war?’ wenn ich um etwas bat. – Da hörte ich dann allmählich auf, noch um irgend etwas zu bitten. Und ich hörte auf zu reden, hörte auf zu erzählen. – Dann… ja, kurz darauf wurde Hansemann geboren, und Mama starb, und dann kam Tante Julie.“

Ich nickte. Jetzt verstand ich. Und ich ahnte noch mehr: So wie diese Frau ihren Ältesten nicht verstanden hatte, sogar

scheu und mißtrauisch werden ließ, so mochte sie wohl auch ihrem Mann gegenüber gewesen sein.

Mit einem Male war mir alles, alles klar. „Bernt“, sagte ich, „eins darfst du aber nicht vergessen. Es gibt

Menschen, denen ist die gesegnete gute Laune nicht mit in die Wiege gelegt worden. Wir, die wir sie mitbekommen haben, müssen unendlich dankbar dafür sein. Die Menschen, die sie nicht haben, die sind selber am schlimmsten dran. Man kann vor anderen Menschen weglaufen, aber nicht vor sich selber und seiner eigenen Schwermut. Glaube mir, deine Mutter hatte es schwer.“

Bernt sah mich aufmerksam an, und es dauerte etwas, bis er

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sprach. „Da hast du natürlich recht, Beate. Ich muß gestehen, über diese

Seite der Sache habe ich noch nicht nachgedacht.“ „Dann tu es jetzt, Bernt“, antwortete ich. „Versuche mal, ob du

dich dazu durchringen kannst, daß du voller Mitgefühl an deine Mutter zurückdenkst, anstatt mit Bitterkeit.“

„Du bist klug, Beate“, sagte Bernt, und er lächelte mir zu. „Nein“, entgegnete ich. „Was Klugheit anbetrifft, so bin ich

reinster Durchschnitt. Aber ich bin etwas anderes. Ich bin glücklich.“ „Und Glück ist gerade das, was diesem Hause not tut“, sagte

Bernt. „Es ist nötiger als Klugheit.“ „Großer Gott, da kommen die Zwillinge“, rief ich. „Und ich habe

Maren versprochen, den Nachtisch zu machen. Bernt, deck doch bitte den Tisch für mich, aber schnell, du mußt flitzen wie ein geölter Blitz – ach liebe Zeit! – die Plätzchen! Die habe ich völlig vergessen!“

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Die Macht der Frau

Da waren sie.

Mein Muttchen mit dem alten braunen Koffer in der Hand und mit wachen, gespannten Augen. Heidi mit abstehenden Rattenschwänzen unter einer neuen roten Kappe und mit einem neuen Mantel an – ach, jetzt erkannte ich ihn wieder, es war Ediths alter, der nur gewendet worden war.

Ich rannte den Bahnsteig entlang und umschlang Mutti mit beiden Armen. Der Mund ging, tausend Fragen und Antworten auf einmal, und wir waren über die Maßen glücklich.

Von der Sperre wartete Dr. Rywig. „Die erste Wiedersehensfreude sollen Sie für sich allein erleben“,

hatte er lächelnd gesagt. „Aber ich werde bereit stehen, um das Gepäck in Empfang zu, nehmen, sobald Sie mit den Umarmungen fertig sind.“

Das Versprechen hielt er. Ich stellte mit einem gewissen Stolz die beiden einander vor. Ich

weiß selber nicht recht, worauf ich so stolz war. Aber es war wohl so ein Gefühl, als ich sie zusammenführte, wie: Habe ich nicht eine wonnige Mutter? – und: Habe ich nicht einen sympathischen Chef?

„Aber Herr Doktor“, sagte meine Mutter, „es ist wirklich nicht recht, daß Sie sich solche Ungelegenheiten machen und selber herkommen…“

„Es wäre nicht recht gewesen, wenn ich es nicht getan hätte, Frau Hettring“, sagte der Doktor lächelnd und ergriff Muttis Koffer. „Und da haben wir also die kleine Heidi! Du bist ja ein großes Mädchen, Heidi, gehst du schon in die Schule?“

„Im Herbst komme ich rein“, antwortete Heidi. „Bist du der Doktor, der das mit meiner Nase machen soll?“

In diesem Punkt mußte Dr. Rywig sie enttäuschen. Dagegen war Heidi offenbar sehr beeindruckt, daß sie im Auto neben ihm sitzen durfte.

Mutti und ich saßen auf dem Rücksitz und hielten einander an den Händen und waren beide glücklich, beisammen zu sein.

Zur Feier dieses Tages hatte Hansemann Erlaubnis bekommen, aufzubleiben, bis wir da waren. Er war der erste, der uns auf dem Vorplatz entgegenkam.

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Heidi sah ihn an, und er sah Heidi an. „Heidi, das ist Hansemann“, sagte ich. „Von dem hast du schon gehört, nicht wahr?“

Heidi musterte ihn kühl. „ Wrum hast du Mädchenhaare, wo du doch ein Junge bist?“ war

ihr erstes Wort. „Ich hab keine Mädchenhaare. Ich hab Locken“, erklärte

Hansemann. „Du siehst aus wie’n Mädchen“, entschied Heidi. Dann wandte

sie sich an Dr. Rywig. „W’rum heißt er Hansemann?“ „Aber Heidi!“ ermahnte die Mutter. „Ja, da hast du schon recht“, meinte der Doktor. „Getauft ist er

Hans Jörgen, aber wir haben mal mit Hansemann angefangen…“ „Ich hab ‘ne Puppe, die heißt Hansemann“, sagte Heidi. „Das ist

‘n Puppenname. Ich nenne dich Hans Jörgen“, sagte sie abschließend und drehte sich zu dem jungen Mann um. „Hast du auch Polypen in der Nase?“

„Nein“, sagte Hansemann niedergeschmettert. Dann hellte sich seine Miene auf: „Aber ich hab ‘n Blinddarm gehabt.“

Damit war die Verbindung hergestellt, und jetzt kamen Bernt und die Zwillinge und machten Tante Julies Erziehung alle Ehre. Sie waren so niedlich und höflich und wohlerzogen, daß mein Herz sich vor Stolz weitete.

Wir saßen beim Abendbrot, und Heidi blickte sich um. „Wo sind die anderen?“ fragte sie. „Welche anderen, Heidi?“ „Na, die anderen alle! Die anderen Kinder?“ „Ich hab leider keine weiteren“, lachte der Doktor. Heidi ließ die

Augen prüfend über die vier Vorhandenen gleiten. „Ih, so’n paar bloß“, sagte sie. „Bei uns sind wir viel mehr.“

Mutti wies Heidi zurecht, aber es hielt nur für eine ganz kurze Zeit vor.

Wir aßen zum Abendbrot Wiener Würstchen und Kartoffelsalat. Ich hatte den Verdacht, und der war sicher berechtigt, daß Mutti und Heidi den ganzen Tag noch nichts Warmes in den Leib bekommen hatten.

„W’rum essen wir abends Mittag? Und w’rum essen wir am Alltag Sonntagessen?“

Es war tatsächlich nicht ganz einfach, auf Heidis viele „W’rums“

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zu antworten. Und es war eine Erleichterung, als wir die beiden Kleinen ins Bett gebracht hatten.

„Ich muß um Entschuldigung bitten wegen meiner schrecklichen Tochter“, sagte Mutti, als wir vor dem Kamin im Wohnzimmer zur Ruhe gekommen waren.

„Wegen welcher, Frau Hettring?“ sagte der Doktor schmunzelnd. „Wegen der großen oder wegen der kleinen?“ Mutti lachte.

„Für die Große weise ich jede Verantwortung zurück. Sie ist mündig und muß für sich selber geradestehen.“

„Mündig, ja!“ rief Sonja aus. „Sie ist so streng mit uns…“ Sie zwinkerte mir zu, als sie das sagte.

„Du siehst mir aber nicht so aus, als ob es dir schlecht bekäme“, sagte Mutti trocken. „Oder meinst du, ich soll Beate wieder mit mir nach Hause nehmen, nach Tjeldsund zurück?“

„Das sollen Sie mal wagen!“ „Das möchten wir uns sehr verbitten!“ „Wir sperren sie ein und verstecken den Schlüssel!“ Die Kinder

riefen es alle gleichzeitig. Wieder klopfte mein Herz laut und froh. Dann kam die kleine Gesellschaft zur Ruhe, Mutti fragte den

Doktor allerlei wegen der Operation und der Klinik und der Besuchszeiten – und dann wünschten wir uns gute Nacht. Muttchen war müde von der Reise, und morgen mußte sie früh heraus. Sie und Heidi sollten zusammen mit Dr. Rywig in die Klinik fahren.

Mutti blieb in der Klinik, bis die kleine Operation gut überstanden war. Dann erhielt ich telefonischen Bescheid und fuhr hinein, um sie abzuholen. Die Herbstsonne glänzte über der Stadt, ich hatte mir freigenommen und ging mit meiner Mutter Einkäufe machen. Es war eine Riesenfreude, Muttchen ein wenig Geld zuzustecken, damit sie für alle zu Hause Geschenke kaufen konnte. Und sie hatte ihre Freude daran, in große, schöne Geschäfte und Kaufhäuser zu gehen. Sie genoß die breiten Straßen und großen Gebäude, gar nicht zu reden von der Konditorei, in die ich sie zu Schokolade und Torte einlud.

Ihre Augen wurden ganz jung, sie war fröhlich und guter Dinge. „Beate, du hast unglaubliches Glück gehabt“, sagte sie, als wir

den ersten Hunger gestillt hatten und etwas zu uns gekommen waren. „Ich finde, du bist bei ganz reizenden Menschen gelandet, und man merkt’s, wieviel sie von dir halten, mein Kind!“

„Ja“, sagte ich nachdenklich und rührte in meiner Tasse. „Aber weißt du, Mutti, sie waren gar nicht so reizend, als ich kam. Ja,

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höflich und freundlich, das wohl, aber…“ „Aber?“ Nun erzählte ich von Tante Julie, von dem muffigen Bernt und

dem müden und nervösen Arzt, und wie ich unseren „Samstagschäker“ eingeführt und Hansemann die schlimmsten Unarten abgewöhnt hatte, wie der Doktor und Bernt allmählich auftauten, ich erzählte von Bernt, der dem Doktor mit der Abrechnung half, erzählte, wie Vater und Sohn jetzt kameradschaftlich miteinander stünden.

Mutti hörte zu und nickte, aufmerksam und teilnehmend. „Weißt du, Beate“, sagte sie sinnend, „ich wüßte zu gern, wie

Frau Rywig war.“ „Tja…“, sagte ich. Mehr sagte ich nicht. Denn das hätte ich ja

selbst gern gewußt. „Ich habe irgendwie das Gefühl, als ob dies – dies Grau in Grau,

dieser Mangel an Harmonie und glücklichem Familienleben – als ob der Grund dafür tiefer läge“, sagte Mutti bedächtig. „Hatten sie ein gutes Familienleben geführt, ehe Frau Rywig starb, dann hätten sie sich nicht so auseinanderleben können, nachdem Tante Julie kam.“

„Da hast du, glaube ich, recht“, sagte ich. Dann schwiegen wir beide, und kurz darauf machten wir uns auf

den Heimweg. Es war Samstag, und wehe mir, wenn ich die Kinder und den Doktor um ihren Samstagschäker brächte. Der Tortenboden stand fertig zu Hause, Maren hatte hoch und heilig versprochen, Schlagrahm zu kaufen, und ich hatte ein Buch „Tausend knifflige Fragen für Groß und Klein“ erstanden – das würde am Abend ein Raten geben!

So kam es auch. Und jedesmal, wenn Bernt mit einer richtigen Antwort herausplatzte, war ich so stolz, als ob er mein Sohn sei.

Ich schaute verstohlen zu dem Doktor hinüber. Seine Augen hingen an Bernt. Und ich wußte, was er dachte:

Was hast du nicht schon alles gelesen, Junge! Und das habe ich nicht gewußt! Ich habe von meinem Altesten nichts geahnt, außer, daß er ein ausgezeichneter Schüler ist und daß er zu Hause unfreundlich und schwierig ist.

Unfreundlich und schwierig. Oh, Tante Julie, Tante Julie, da hast du trotz allem am meisten gesündigt – daß du in all deiner Fürsorglichkeit für den lieben Doktor seine Kinder daran hindertest, Kontakt mit ihm zu bekommen. Und, daß du Bernt stets als „schwierig“ hinstelltest.

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An diesem Abend hatten Mutti und ich vor dem Einschlafen noch ein langes Gespräch.

Als die Zwillinge schlafen gegangen waren, hatte ich versprochen, noch einmal nach oben zu kommen und ihnen gute Nacht zu sagen, und Sen ta hatte Mutti die Hand hingestreckt und gefragt: „Kommst du auch, Frau Hettring?“

„Wenn du es möchtest, Sen ta“, lächelte Mutti. „Wieso weißt du, daß ich Senta bin?“

„Da hab ich wohl so eine Art Instinkt“, sagte Mutti. „Ja, ich komme noch und sage euch gute Nacht, Mädelchen.“

Wir waren zu ihnen hinaufgegangen und hatten ihnen das Deckbett festgestopft und sie beide zur guten Nacht noch einmal in die Arme geschlossen. Mutti war einen Augenblick stehengeblieben und hatte sich die Fotografie an der Wand angesehen – das schöne, beherrschte Antlitz.

Kurz darauf waren Mutti und ich allein in meinem Zimmer. „Du hast eine große Aufgabe in diesem Haus übernommen,

Beate“, sagte Mutti. „Ja“, erwiderte ich. „Das weiß ich. Und ich glaube, ich fange

allmählich an, sie zu bewältigen.“ „Das tust du“, sagte Mutti. „Ich hatte richtig meine Freude daran,

zu sehen, wie die Familie sich’s heute abend gemütlich machte. Aber, Beate, ich hatte recht mit meinen Vermutungen heute vormittag. Die Schuld an den Schwierigkeiten lag nicht bei Tante Julie. Die liegt weiter zurück. Das sah ich an Frau Rywigs Gesicht. Die Augen sind so kühl, Beate.“

„Ja“, antwortete ich, „so wirkt das Bild auf mich auch. Arme Frau Rywig, wie muß es traurig sein, wenn man mit einem unfröhlichen Herzen geboren ist, Mutti.“

„Und wie haben wir es gut“, lächelte meine Mutter. „Weißt du, Beate, wenn ich daran denke, wie es uns in all diesen Jahren gegangen ist, mit Unruhe und Kinderkrach und Krankheiten und bedrängten wirtschaftlichen Verhältnissen – und trotzdem mit der Freude und dem Vertrauen und der Liebe – ja, dann finde ich, wir sind die glücklichste Familie der Welt.“

„Das finde ich auch, Muttchen. Und ich habe mir das Ziel gesetzt, die Familie Rywig zur zweitglücklichsten zu machen.“

„Gott segne dich dafür, mein Kind“, sagte meine Mutter. Sonntags waren wir in der Klinik und besuchten Heidi. Sie lag

quietschvergnügt in ihrem Bett und unterhielt sich auf das

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lebhafteste mit dem kranken Kind neben ihr, einem kleinen Ding von fünf Jahren. Sie erzählte von ihrer Reise von Tjeldsund nach Oslo, als handele es sich um eine Expedition zum Himalaja.

Hinterher machten wir mit dem Doktor eine kleine Autofahrt auf die Höhen um Oslo. Mutti war selig wie ein Kind.

Montagmorgen kam mein Fräulein Schwester aus der Klinik, frisch wie ein Fisch, und verkündete nach rechts und nach links, daß sie nun nicht mehr durch die Nase spreche. Sie nützte ihre wiedergewonnene Redegabe auf das äußerste aus.

Mutti und ich hatten kein bißchen Zeit, uns mit ihr abzugeben, denn am Mittwoch hatte Bernt Geburtstag, und wir hatten geheime Besprechungen und dachten uns alles mögliche aus, genauso, wie wenn meine eigenen Brüder Geburtstag haben.

Die Zwillinge waren rührend. Sie erboten sich ganz von selbst, Kindermädchen bei Heidi und Hansemann zu spielen, der übrigens von jenem Tag seinen Taufnamen zurückerhalten hatte. Heidi weigerte sich entschieden, ihn Hansemann zu nennen, und da sie hartnäckig den Namen „Hans Jörgen“ gebrauchte, wurden wir alle davon angesteckt.

Am nächsten Morgen, als die Zwillinge in die Schule gegangen waren, erklärte Hans Jörgen, er wolle nicht in den Kindergarten. „Ich will mit Heidi spielen“, verkündete er auf das entschiedenste. „Na gut“, sagte ich. „Dann hinaus in den Garten mit euch! Aber nun mußt du Kavalier sein, Hans Jörgen. Denk daran, du bist Gastgeber, und Heidi ist dein Gast.“

Es waren noch keine drei Minuten vergangen, da unterhielt Heidi sich lebhaft mit einem kleinen Mädchen jenseits des Gartenzauns. Das mußte Lieselotte Erlestad sein. Sie mochte ungefähr so alt sein wie Heidi. Merkwürdig: Wir hatten nicht die geringste Verbindung mit unseren Nachbarn. Zu Hause, in Tjeldsund, da schauten die Nachbarinnen immer kurz zu Mutti herein, holten sich ein Rezept, oder wir liehen uns beim Nachbarn das Waffeleisen aus, oder trugen die Kostprobe von einem Kuchen hinüber. Hier im Hause standen wir kaum auf Grüßfuß mit den Nachbarn.

Nach weiteren zehn Minuten war Lieselottchen in unserem Garten drüben, und alle drei saßen in der Sandkiste und bauten nach Heidis Anweisungen Wege und Türme und Treppen. Heidi war nicht umsonst bei ihren Brüdern in die Sandkistenlehre gegangen.

So verging eine halbe Stunde in größtem Frieden. Da erscholl aus dem Garten lautes Geschrei. „Mama, Mammmaaaa!“

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Ich war wie der Blitz aus der Tür. Gleichzeitig ging die Tür des Nachbarhauses auf. Eine junge Frau – vermutlich Frau Erlestad – kam herausgestürzt.

Sie hatte allen Grund, zu stürzen. Denn mitten in der Sandkiste saß ihre schreiende Tochter, aus einer Wunde an ihrer Stirn strömte Blut.

Hilf Himmel! Hansemann stand mit einer Schaufel in der Hand daneben. Kein anderer konnte der Missetäter sein!

Er stimmte jetzt in Lieselottchens Gebrüll ein. „Ich hab es nicht mit Absicht getan! Ich hab es nicht mit Absicht getan!“

Als nun Lieselotte und Hansemann beide so laut schrien, fand Heidi wohl, daß sie sich nicht ausschließen dürfe. Es war ein Terzett, das Tote auferwecken konnte.

„Bist du still, Hans Jörgen“, rief ich. „Kein Mensch hat behauptet, daß du es mit Absicht getan hast. Heidi, marsch, hinein zu Mutti, laß das Geheule. Frau Erlestad – Sie sind Frau Erlestad, nicht wahr? – es tut mir schrecklich leid, kommen Sie bitte mit herein, wir verbinden Ihre Kleine sofort…“

Gottlob war meine Mutter da. Sie war mit solchen Zwischenfällen vertraut.

„Wasserstoffsuperoxyd und ein Pflaster“, sagte Mutti, nachdem sie sich den Schaden besehen hatte. Wir wuschen Lieselottchen das Blut vom Gesicht, klebten ein Pflaster auf die Wunde und schenkten ihr zum Trost einen Keks, und alsbald legte sich der Sturm.

Frau Erlestad war eine verständige Frau. „Du lieber Gott, so etwas kommt vor, wenn Kinder zusammen

spielen“, sagte sie gleichmütig. „Besten Dank für die Hilfe – Sie scheinen Übung in so was zu haben. Frau – Frau…“

„Hettring“, sprang Mutti ihr bei. „Ja, ich habe allerdings eine gewisse Übung, ich habe nämlich fünf Söhne und drei Töchter – dies ist die Älteste.“

„Ach, Sie sind doch die Wirtschafterin von Dr. Rywig?“ fragte Frau Erlestad. „Ich habe Sie öfter gesehen, wenn Sie einholen gingen und so…“

„Ja, das stimmt haargenau, das bin ich“, sagte ich. „Frau Erlestad, meine Mutter und ich wollten eben einen Vormittagstee trinken, möchten Sie uns nicht Gesellschaft leisten, auf den Schrecken?“ Oh, das wollte Frau Erlestad gern.

Mutti unterhielt sich dann so nett mit ihr, wie sie all die vielen Jahre mit ihren Nachbarn daheim geredet hatte, und ehe Frau

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Erlestad ging, hatte sie Muttis Waffelrezept bekommen, und sie hatte Mutti das Muster von Lieselottchens Jäckchen versprochen.

Die Kinder waren wieder hinausgeschickt worden, diesmal sicherheitshalber ohne Schaufeln. Mutti war hinaufgegangen, um das Rezept aufzuschreiben, und Frau Erlestad und ich blieben einen Augenblick allein.

„Fräulein Hettring“, sagte Frau Erlestad. „Da ist etwas, was ich Ihnen sagen muß, es muß raus, sonst platze ich, und wenn Sie mich auch für furchtbar taktlos halten. Ich möchte Ihnen nur sagen, es ist ein wahrer Segen, daß Sie in dies Haus gekommen sind. Wir haben ja in letzter Zeit ab und zu die fröhlichen und munteren Stimmen gehört, und wir haben beobachtet, wie die Zwillinge rausrennen und Sie am Gartentor erwarten, wenn Sie nach Hause kommen. Wissen Sie, Rywigs Kinder haben uns immer furchtbar leid getan. Die alte Tante war bestimmt die Vorzüglichkeit in Person, aber wie sie mit den armen Kindern umgesprungen ist – du darfst dies nicht und du mußt das lassen, mach nun artig einen Diener und mach einen schönen Knicks und tritt dir die Füße ab und so weiter – aber das war nicht das schlimmste. Man soll nur Gutes über die Toten reden, ja, ich weiß, so heißt es, aber – Frau Rywig war so unfreundlich und so wenig umgänglich, wie man es sich gar nicht vorstellen kann, und wir Nachbarn zogen uns von ihr zurück. Wir wollten nichts mit ihr zu tun haben, sie allerdings auch nicht mit uns. Und da ist es wirklich wunderbar zu sehen, wie die Kinder sich in der letzten Zeit herausgemacht haben. So, darauf brauchen Sie nichts zu antworten, aber ich wollte es doch sagen, und dann fände ich es furchtbar nett, wenn ich mich eines Tages, so bald es Ihnen paßt, für diese Teestunde revanchieren könnte. Ich bin von zu Hause gute nachbarliche Beziehungen gewöhnt…“

„Ach, ich auch!“ sagte ich. „Wie nett“, sagte Frau Erlestad. Dann kam Mutti mit dem

Waffelrezept. Am Nachmittag tranken wir Erwachsenen Kaffee vor dem

Kamin. „Wo sind eigentlich unsere beiden Jüngsten?“ fragte Dr. Rywig.

„In meinem Zimmer“, sagte ich. „Jeder mit einer stumpfen Schere bewaffnet, und jeder mit einem Haufen alter Illustrierten mit vielen Bildern drin.“

„Und die Zwillinge? Und Bernt?“ „Die Zwillinge haben sich ganz überlegen über die

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Schulaufgaben hinweggesetzt, sie sollten längst zu Hause sein. Heute dürfen Sie sie aber bestrafen, Herr Doktor, ich bin froh, wenn ich es nicht brauche. Bernt sitzt in seinem Zimmer, er hat irgend etwas Wichtiges vor. Ach übrigens: Bernt! Ich wollte fragen, ob ich nicht sein Geburtstagsgeschenk jetzt schon von Ihnen haben könnte, damit ich es ihm auf den Geburtstagstisch stellen kann. Mutti und ich wollten den schon heute abend aufbauen, wenn die Kinder im Bett sind.“

„Ja“, sagte der Doktor. „Offengestanden, ich hatte eigentlich vor, Bernt Geld zu schenken, und dann habe ich noch eine Kleinigkeit für ihn, aber die kann man nicht auf den Tisch legen.“

Der Doktor ging ins Arbeitszimmer und kam mit einem Briefumschlag zurück. „Für meinen Sohn und Kameraden Bernt“ – stand außen darauf.

Ich nahm den Umschlag an mich, ich wollte gerade etwas sagen – aber da ging hinter mir die Tür auf.

„Du lieber Gott!“ stöhnte der Doktor auf. „Was in aller Welt – “, rief Mutti. „Ach du Schreck“, japste ich. Denn in der Tür stand Heidi mit

Rattenschwänzen und einer unendlich stolzen und wichtigtuerischen Miene – und neben ihr Hans Jörgen, vormals Hansemann.

Ja, nun war endgültig Schluß mit dem süßen Kosenamen, das sah ich sofort. Denn das Wesen, das dort neben Heidi stand, forderte in keiner Weise zu Kosenamen heraus.

Wo ehemals Hans Jörgens Engelslocken in einem weichen goldblonden Schwall den Kopf umrahmt hatten – dort waren nur hier und da Zotteln zu sehen, mit denen Heidis stumpfe Papierschere nicht hatte fertig werden können. Zwischen den Zotteln ein höchst holpriges Stoppelfeld. An einigen Stellen schimmerte die Kopfhaut zwischen den Haarzotteln hervor.

Ich hatte das Gefühl, daß Heidi es einzig und allein ihrer Operation verdanken konnte, wenn Mutti sie nicht mit fester Hand beim Wickel nahm und mit ihr nach oben ging, um sie in einer Art zu strafen, die in genauem Gegensatz zu den Lehren der modernen Kinderpsychologen gestanden hätte. Aber Heidi war nun mal frisch an der Nase operiert und einem solchen Kind fügt man anstandshalber keinen Schmerz zu, nicht einmal am entgegengesetzten Körperteil.

„Kommt her, ihr beiden“, sagte der Doktor. Sie kamen näher. Heidis Miene veränderte sich sichtlich, sie

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verriet weniger Stolz als vorher und mehr schlechtes Gewissen. „Wer von euch beiden ist auf diesen Gedanken gekommen?“

fragte Dr. Rywig. „Ich“, sagte Heidi. „Warum hast du das getan, Heidi?“ „Darum, weil Hans Jörgen, der sah aus wie ‘n Mädchen. Und ‘n

Junge kann doch nicht wie ‘n Mädchen aussehen. Weil… dann lachen alle Leute ihn aus, und Hans Jörgen ist doch ‘n richtiger Junge.“

Um des Doktors Mund zuckte es. Ich warf Mutti einen Blick zu. Sie hatte sich tatsächlich so weit in der Gewalt, daß sie ihre Mundwinkel ruhig hielt, aber das Lachen funkelte in ihren Augen.

„Ja, das wollen wir hoffen, daß Hans Jörgen ein richtiger Junge ist“, sagte der Doktor. „Aber, Heidi, und du auch, Hansem… Hans Jörgen: Ihr wußtet doch ganz genau, daß ihr dies nicht durftet.“

„Das hat uns aber keiner gesagt“, verteidigte sich Heidi. Es konnte kein Zweifel bestehen, daß bei dem Paar Heidi-Hans Jörgen die Frau es war, die das Wort führte und die Beweise zur Hand hatte. Nun, so weit hatte Heidi recht.

„Heidi“, sagte Mutti, die ihre Jüngste kannte. „Warum hast du nicht gefragt, ob du Hans Jörgens Haar abschneiden durftest?“

„Klar hab ich gefragt, und er hat ja gesagt.“ „Du weißt genau, was ich meine. Warum hast du nicht Hans

Jörgens Vater gefragt?“ „Nein, das konnte ich noch nicht tun, der hätte doch bestimmt

nein gesagt“, erwiderte Heidi. Da streckten wir die Waffen: Respekt und Autorität und Strafe

und Standreden. Wir schrien vor Lachen, und die beiden kleinen Sünder schrien mit.

Der Doktor ging hinauf, um die Haarschneidemaschine zu holen. Er brachte nicht nur diese mit, sondern außerdem noch ein Paket, in Zeitungspapier, dessen Inhalt er uns zeigte. Einen Schwall goldblonder Locken. Die Operation war offenbar vor dem großen Spiegel in des Doktors Schlafzimmer vorgenommen worden.

„Wissen Sie, was ich jetzt denke, Beate?“ fragte Dr. Rywig. „Was bekomme ich, wenn ich es errate?“ fragte ich. „Eine Schachtel Zigaretten“, antwortete der Doktor. „Sie denken: Ein Glück, daß Tante Julie dies nicht miterlebt hat“,

sagte ich. Der Doktor steckte die Hand in die Tasche und holte eine

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Packung Zigaretten heraus. „Bitte sehr, Beate!“ Dann zog er sich mit seinem Jüngsten und der

Haarschneidemaschine zurück. Als die Zwillinge nach Hause kamen, vergaßen wir zu schelten.

Und beim Abendbrot herrschte „Ausnahmezustand“, weil wir Besuch hatten, und die Kleinen durften auch mit am Tisch essen – Bernt und die beiden Mädchen schrien laut vor Lachen.

Hans Jörgen wirkte komischerweise viel größer, viel schlanker – und vor allen Dingen viel jungenhafter mit seinem kurzgeschorenen Schädel. Ja, denn kurzgeschoren war er, so kurz, daß kein Sträfling kürzer geschoren sein könnte.

„Das ist famos, Hans Jörgen“, sagte Bernt. „Jetzt habe ich beinahe das Gefühl, ich habe einen richtigen großen Bruder und nicht nur so ein kleines, blondlockiges Brüderchen!“

„Und jetzt denkt keiner mehr, daß du ‘n Mädchen bist“, strahlte Heidi, Gesicht und Finger voll Blaubeermarmelade.

Der Doktor warf Heidi einen Blick zu. „Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten“, sagte er. „Und es ist nur gut, daß Hans Jörgen in frühem Alter die Macht der Frau kennenlernt!“

„Was ist das, die Macht der Frau?“ fragte Hans Jörgen. „Das ist das, womit Heidi dir die Locken abgeschnitten hat.“ „Nei-i-i-n“, rief Hans Jörgen. „Damit hat sie mir gar nicht die

Locken abgeschnitten. Sie hat eine Schere genommen.“

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Geburtstag und Weihnachtsvorbereitungen

Mutti und ich waren am nächsten Morgen früh auf den Beinen.

Schon am Abend vorher hatten wir angefangen, den Geburtstagstisch für Bernt aufzubauen. Die kleinen Geschenke von den Zwillingen und Hans Jörgen waren hübsch in buntes Papier eingeschlagen, mit rotseidenem Band darum, ebenso die Tafel Schokolade von Heidi, die Taschentücher von Mutti und das Buch von mir – „Alpine Flora“, ein Buch mit den schönsten Farbfotos von Alpenrose, Enzian, Edelweiß und Knabenkraut und was es sonst noch an farbenprächtigen Blüten und Pflanzen dort unten gab.

Der Doktor hatte dabeigestanden und unserer Arbeit zugesehen, er hatte zugesehen, wie Mutti lange, grüne Ranken und kleine Schokoladetiere brachte, die mit Klebestreifen an den Ranken befestigt wurden.

„Ich glaube, wir müssen Sie jedesmal einladen, wenn wir Geburtstag feiern, Frau Hettring“, sagte der Doktor lächelnd.

„Ich denke, Beate kann es ebensogut“, lachte meine Mutter. „So, nun stellen wir Herrn Doktors Umschlag hier in die Mitte – und morgen kommt noch die Torte dazu und die frischen Blumen.“

Und, wie gesagt, am nächsten Morgen waren wir früh auf und verzierten die Torte mit Schlagsahne und Marzipanblümchen und vierzehn Lichtern.

Nun wurde die ganze Herrlichkeit hineingetragen, und wir standen da und horchten. Auf der Treppe ertönten Schritte. Ich hatte den Zwillingen eingeschärft, daß sie früh aufstehen sollten, damit die ganze Familie zu dem feierlichen Augenblick versammelt wäre.

Sie kamen, und gleichzeitig erschien der Doktor, mit einem ausgeschlafenen und fertig angezogenen Hans Jörgen an der Hand. Heidi kam auch mit strubbeligen Rattenschwänzen und voller Erwartung. Die Kinder untersuchten genau, wo ihre Geschenke aufgebaut waren, und dann stellten sie sich in einer Reihe auf, mit glänzenden, erwartungsvollen Augen.

Jetzt ging Bernts Tür. Mutti und ich eilten wie der Wind herbei und zündeten die Kerzen an.

„Gehen Sie hinaus und nehmen Sie Bernt in Empfang, Herr

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Doktor“, flüsterte ich, und in meinem Eifer schob ich ihn zur Tür. Der Doktor lachte – und dann ging er hinaus und erwartete das

Geburtstagskind am Fuß der Treppe. Was gesprochen wurde, hörten wir nicht, aber gleich darauf kam er zurück, den Arm um Bernts Schulter gelegt.

Bernt blieb stehen und kniff die Augen zusammen. „Ich glaube, ihr seid – nein, so was… was ist denn das… und dann Blumen, aber nein…“ Bernt war verlegen und glücklich und wußte nicht, was er sagen sollte.

Aber die Kleinen retteten die Lage. Sie zerrten Bernt bis an den Tisch, kleine, eifrige Finger zeigend und erklärten:

„Das ist von mir, Bernt – dies Paket da – nein, das nicht – das ist von Sonja…“

Heidi zappelte vor Aufregung, und Bernt erbarmte sich und packte ihr Päckchen zuerst aus. Nun wurde gelacht und gedankt und geschwabbelt und geschwatzt, und ich mußte Mutti hinter des Doktors und Bernts Rücken schnell mal an mich drücken.

Dann hielt das Geburtstagskind seines Vaters Briefumschlag in der Hand.

Bernt las die Aufschrift und stand ganz still. „Nun, mein Junge – willst du ihn nicht aufmachen?“

Bernt schluckte, und ich hörte, da ich dicht hinter ihm stand, was er erwiderte, ganz leise: „Ich finde, der Briefumschlag allein ist schon Geschenk genug, Papa.“

Aber angesichts des Fünfzigkronenscheines der innen drin lag, strahlte er dann doch, und er vertraute seinem Vater hocherfreut an, daß er sich nun bald eine ordentliche Blumenpresse anschaffen könne.

„Wenn ihr aber rechtzeitig in die Schule kommen wollt, dann müssen wir jetzt frühstücken“, sagte der Doktor. „Außerdem liegt in der Klinik ein armer Kerl und wird zurechtgemacht, damit ich ihm in einer Stunde den Blinddarm herausholen kann. Beeilt euch, Kinder, dann könnt ihr mit mir in die Stadt fahren!“

Beim Frühstück ging es munter zu, nur Hans Jörgen und Heidi waren enttäuscht, weil sie die Geburtstagstorte nicht jetzt schon kosten durften.

„Die bekommen wir heute nachmittag“, sagte Bernt fest. „Jetzt tut es mir fast leid, daß ich keinen eingeladen habe, wie du es mir angeboten hast, Beate“, fügte er hinzu. „Ich hatte doch keine Ahnung, daß du – daß ihr so viel von mir hermachen würdet!“

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„Es ist noch nicht zu spät, Bernt!“ sagte ich schnell. „Wenn du jemand hast, den du…“

Bernt überlegte einen Augenblick. „Ach nein. Heute nicht. Vielen Dank, Beate – aber wenn du mich

das nächste Mal fragst, sage ich ja.“ „Wißt ihr was“, sagte der Doktor. „Wenn Beate sich wirklich die

Mühe machen will, dann geben wir in den Weihnachtstagen eine kleine Jugendgesellschaft. Vielleicht mit Tanz? Bernt ladet die Kavaliere ein, und die Zwillinge schaffen die Damen heran. Was meint ihr dazu?“

Die Zwillinge waren Feuer und Flamme und vergaßen vor Begeisterung ganz das Essen. Bernt lächelte still und froh.

Dann brachen sie auf und zogen ab. Das letzte, was ich hörte, war ein wilder Wortwechsel der Zwillinge, ob sie wohl Ingrid und Lisa mit einladen sollten, nachdem Ingrid das und das gesagt hatte und Lisa Senta in der Turnstunde gestupst hatte…

Der Doktor aß mit uns zusammen Mittag. „Ich habe mich einfach davongemacht“, lachte er, als ich fragte, wie in aller Welt er das ermöglicht habe. „Ich habe bis morgen aufgeschoben, was ich irgend konnte, ich habe es der Stationsschwester überlassen, ohne mein Beisein ein paar Verbände zu wechseln, und hier bin ich denn.“

Als die Frikadellen aufgegessen waren, und zwar in einer Zahl, daß Tante Julie bestimmt vom Stengel gefallen wäre – Hans Jörgen hatte sich allein fünf Stück einverleibt – räusperte sich der Doktor, und wir hörten an dem Räuspern, daß etwas Wichtiges bevorstand.

Ich hatte gerade die Hand ausgestreckt, um nach Maren zu klingeln, aber jetzt zog ich sie zurück.

Aller Augen waren auf den Doktor gerichtet. „Du Bernt“, sagte der Vater. „Ich bekam gerade vor ein paar

Tagen das Verzeichnis über die verschiedenen medizinischen Kongresse, die im nächsten Sommer abgehalten werden.“

„Und du hast dich für einen auf Tahiti entschlossen?“ fragte Bernt schmunzelnd.

„Falsch geraten. Aber wenn mir alles nach Wunsch geht, dann werde ich einen internationalen Chirurgenkongreß in Innsbruck mitmachen.“

„Oh, da kannst du aber lachen“, platzte Bernt heraus. „Nicht wahr?“ „Dann bist du ja mit der Bahn nur ganz wenige Stunden von den

Zillertaler Alpen entfernt!“

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„Ja, eben. Daher hatte ich auch die Absicht, dich zu fragen, ob du vielleicht mitwillst? Mir vielleicht in Innsbruck mit Notizen und dergleichen zur Hand gehen, und wenn der Kongreß zu Ende ist, dann fahren wir noch für eine Woche in die Zillertaler Alpen.“

Bernt blickte den Vater an, sein Atem ging rasch. Seine Brust hob und senkte sich. Die Augen glänzten wie Sterne.

„Papa, ich – du…“, dann schwieg er und preßte die Lippen zusammen. Er reichte dem Vater die Hand, atmete einmal tief auf, und dann endlich konnte er stammeln: „Papa – du bist der – der – der beste Vater der Welt!“

Noch nie hatte ich mich so froh und glücklich gefühlt wie in der Zeit, die jetzt folgte.

Heidi war zur Nachuntersuchung gewesen, alles war gut und in Ordnung, und dann reisten Mutti und sie nach Hause, mit dem Koffer voller Geschenke und mit der inständigen Bitte, bald wiederzukommen. Die ganze Familie fuhr mit zum Bahnhof, wir saßen im Wagen dicht gepackt wie die Sardinen – Heidi auf Muttis Schoß, Hans Jörgen auf Bernts, Senta auf meinem, und auf dem Bahnsteig winkten sechs Taschentücher, sechs Stimmen riefen „Auf Wiedersehen recht bald!“

Daheim wartete der Alltag. Ein glücklicher Alltag. Bernt studierte die „Alpine Flora“, bis ihm die Augen schier aus

dem Kopfe standen. Hans Jörgen lag Lieselottchen Erlestad zu Füßen, mit der dem Mann eigentümlichen Treulosigkeit; er hatte sich sehr schnell über Heidis Abreise getröstet. Bald saßen sie bei uns am Eßtisch und zeichneten, kneteten oder bauten aus Bauklötzern Häuser – bald war Hans Jörgen stundenlang unsichtbar und mußte von Erlestads geholt werden, wo er Lieselottchens Puppenstube nach seinem Geschmack ummöblierte.

Aber zu Hause saßen die Zwillinge und ich abends vor dem Kamin und stopften Socken und besserten Unterwäsche aus. Ja, sie taten es wahrhaftig freiwillig! Es fing damit an, daß ich von der Weihnachtsbäckerei sprach und fragte, welche Kuchensorten sie am liebsten mochten. Und voller Eifer bestürmten sie mich, daß wir anfangen sollten.

„Erst muß ich aber den Stopfkorb leer gestopft haben“, sagte ich. „Der lastet schwer auf meinem Gewissen.“

Da meinte Sonja, ob sie nicht helfen könnten, wenn ich es ihnen zeigte – und nun saßen sie da und stopften sich die Finger wund, während ich einen neuen Hosenboden in Hans Jörgens Overall nähte

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und die Ränder an den Taschen von Dr. Rywigs weißen Arztkitteln heilmachte.

Unser Mundwerk ging, wir redeten über Kuchensorten und Weihnachtsgeschenke und die geplante Tanzerei. Die Tage flogen dahin, und wir waren so voller Weihnachtserwartung und Vorfreude wie bei uns zu Hause, ja, mehr noch. Ich hatte gewissermaßen das Gefühl, daß die Kinder bisher darum betrogen worden waren und es nun nachholen mußten, alles auf einmal.

Es kam vor, daß die Zwillinge baten, ob sie die eine oder andere Schulfreundin zum Mittagessen nach Hause mitbringen dürften. Ich sagte nie nein, auch wenn es noch so schlecht paßte. Dies war ja gerade etwas, was ich vermißt hatte. Ich mußte an zu Hause denken, wie alle Kinder zur Zeit und zur Unzeit Freunde und Freundinnen mit nach Hause geschleppt hatten.

Unsere kleinen Gäste fühlten sich bei uns wohl. Als wir mit dem Stopfen und Flicken fertig waren, gingen wir abends ans Vergolden der Nüsse, machten Ketten aus Glanzpapier und Weihnachtskörbchen, und unser Besuch machte begeistert mit.

Kam der Doktor abends heim, das Gesicht von Müdigkeit gefurcht, dann war es, als glätteten sich die Furchen, wenn er uns mit unserem Buntpapier und dem Rauschgold, mit Scheren und Kleister um den Eßtisch sitzen sah. Es konnte geschehen, daß er sich dazusetzte und ein Körbchen ausschnitt, oder sich die Pfeife anzündete, uns bei der Arbeit zusah und uns gute Ratschläge gab. Seine Augen ruhten oft auf Bernt, wenn er dasaß und Hans Jörgen half, die Glieder einer Kette zusammenzukleben oder einen Anhänger in eine vergoldete Walnuß zu stecken. Friedlich und behaglich. Hans Jörgen war lieb und gut, und Bernt wurde nicht ungeduldig, wenn der kleine Bruder ihn bei seiner eigenen Arbeit störte. Bernt verfertigte den allerhübschesten Christbaumschmuck. Er saß mit „Alpine Flora“ vor sich und schnitt mit unendlicher Geduld aus Buntpapier feine kleine Blättchen aus, die er zusammenfügte, so daß die reizendsten Alpenblumen daraus entstanden.

Er hatte eben die neuen Farbfotos vom Fotografen zurückbekommen und es noch gerade geschafft, das Wettbewerbsherbarium fertigzumachen, ehe die Frist abgelaufen war. Es war wunderhübsch, nur wesentlich kleiner, als ursprünglich gedacht war.

Aber diese Geschichte wurde nie mehr erwähnt. Sie gehörte einer

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vergangenen Zeit an. Es hatte sich seitdem viel Gutes und Schönes ereignet.

Dann kam der Doktor eines Tages nach Hause und fand die Stuben leer. Maren richtete ihm schnell ein Mittagessen an, und als er gegessen hatte, erschien er in der Küche.

Hier fand er die ganze Familie versammelt, alle mit Küchenschürzen um und von Fettgeruch umgeben und mit Kuchenrollen und Backrädchen in den Händen. Ich hatte den Teig für die Schürzkuchen ausgerollt, Bernt stand am Topf und buk sie in dem brutzelnden Fett, nachdem Senta sie mit den Rädchen ausgerollt und Sonja die eine Ecke durch den Schlitz in der Mitte gesteckt hatte. Hans Jörgen stand vor einem Backbrett, das ich quer über zwei Hocker gelegt hatte, und buk für sich allein. Mit glühenden Wangen, blanken Augen, Mehl auf der Nase und überall, rollte er nach seinem eigenen Gutdünken Kuchen aus. Ich hatte ihm versprochen, daß sie zuletzt gebacken werden sollten. Hans Jörgen sollte auch seine eigene kleine Kuchendose bekommen, mit der er dann aufwarten könnte, wenn Lieselottchen ihn besuchte.

Die Kinder nahmen in der Küche den gesamten Platz ein. Ich selber stand in einer Ecke und rührte den Teig für die braunen Kuchen an, die am nächsten Tag drankommen sollten.

„Wozu wollen Sie mich denn anstellen, Beate?“ fragte der Doktor.

„Sie können Senta ablösen“, sagte ich. „Radeln Sie Kuchen aus. Senta muß sich jetzt der fertigen Kuchen annehmen. Die müssen in eine Dose gelegt werden, und das muß eine zarte Frauenhand tun.“

Und wahrhaftig! Zwei Minuten später stand der Doktor mit aufgekrempelten Hemdärmeln da und radelte mit seinen empfindsamen, geschickten Arzthänden Schürzkuchen aus.

Als die Kinder an diesem Abend zu Bett gegangen waren und ich die Küchenschürze an den Nagel hängte, erschien der Doktor wieder in der Küchentür.

„Beate!“ sagte er. „Jetzt habe ich aber mal was zu sagen, verstehen Sie?“

„Aha“, sagte ich. „Habe ich denn was verbrochen?“ „Nein, wir wollen jetzt erst etwas verbrechen. Sie sollen einen

Kaffee machen, einen, der es in sich hat, und dann spendieren Sie ein paar Stück von dem Gebäck, und dann erholen wir beiden Alten – haben Sie gehört, daß ich ,Alten’ sagte? – uns von all dem Trubel am Kamin.“

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„Gut“, sagte ich, „Kaffee und Kostproben kommen,“ „Wissen Sie, Beate“, sagte der Doktor, als wir unseren Kaffee

getrunken hatten, „ich freue mich unbändig auf Weihnachten. Ich alter, nüchterner Griesgram – ich freue mich so, wie ich mich die letzten… die letzten…“

„…fünf Jahre?“ half ich ihm aus. Da huschte ein Schatten über sein Gesicht. „…die letzten vierzehn Jahre nicht gefreut habe, Beate. Gute Nacht.“

Er warf mir noch einen Blick zu und ging still aus dem Zimmer.

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Eine Begegnung und ein Anruf

Weihnachtsprüfungen. Bernt war der Beste in der Klasse. Die Zwillinge waren, genau wie immer, vergnügte, sorglose „Mittellage“.

Geheimnisvolle Gesichter. Bernt und der Doktor steckten drinnen im Arbeitszimmer die Köpfe zusammen, und eines Tages teilten sie mir mit, daß sie zum Essen nicht nach Hause kämen. Bernt sollte nach der Schule gleich in seines Vaters Praxis gehen, und sie wollten zusammen in die Stadt fahren.

„Ist das nicht abscheulich, uns so einfach im Stich zu lassen?“ sagte ich beim Mittagessen zu den Zwillingen. „Aber wißt ihr was? Morgen gehen wir drei in die Stadt, dann können Papa und Bernt hier zu Hause sitzen und sich ohne uns mopsen.“

„Oh, wie himmlisch.“ „Primstens!“ „Was wollen wir einkaufen?“ „Wir drei allein, Beate?“ „Holst du uns von der Schule ab?“ Es schien für die Zwillinge ein Erlebnis zu sein, mit mir in die

Stadt zu fahren, und ich dachte daran, wie festlich mir immer zumute war, wenn ich als kleines Kind mit Mutti in die Stadt gehen durfte. Meine armen Kinder, auch das hatten Tante Julie und das Schicksal ihnen vorenthalten!

In der Stadt war ein brandender Verkehr, und wir genossen ihn. Wir gingen in ein Papiergeschäft mit bunten Weihnachtskarten und Weihnachtspapier, Seidenband, Kerzen und Lametta. Wir waren in einem Sportgeschäft und besorgten Schlittschuhe für Hans Jörgen. Und die Zwillinge schleppten mich in ein Rauchwarengeschäft und in ein Geschäft für Herrenausstattung, wo ich ihnen helfen mußte, etwas für ihren Vater zu finden.

Dann kamen wir zu einer Parfumerie, und hier wurde mir befohlen, draußen zu warten. Lächelnd gehorchte ich.

Ich stand vor dem Schaufenster und sah mir die feinen Parfüms und zierlich verpackten Seifen an, als mich plötzlich jemand unsanft in die Rippen stieß.

„Oh, Verzeihung – ach – Beate!“ Ich stand und starrte in Axels Gesicht.

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„Das ist doch aber wirklich drollig – nein, wie siehst du glänzend aus, Beate! Dir scheint es großartig zu gehen.“

„Mir? Ja, mir ist es noch nie so gut gegangen. Und du – wie geht es dir?“

„Ach, es macht sich, und es muß ja, weißt du. Viel im Büro zu tun. Nein, das ist aber wirklich nett, dich mal wiederzusehen, Beate. Ich habe so oft an dich denken müssen.“

Schwindelmeier! dachte ich, aber ich konnte es mir leisten, ihm zuzulächeln. Weshalb sollte ich das nicht tun, da ich so froh und zufrieden war?

„Hast du was vor, Beate? Könnten wir uns nicht schnell irgendwohin setzen und uns ein Gläschen genehmigen?“

„Danke, du, das kann ich leider nicht. Ich warte auf meine Pflegekinder.“

Mir rutschte das Wort heraus, ohne daß ich darüber nachgedacht hätte, und zurücknehmen wollte ich es nicht.

„Dann läute ich dich mal an, Beate. Ich muß dich unbedingt wiedersehen. Himmel nein, wie bist du hübsch geworden, Mädel!“

Sieh mal einer an, dachte ich. Geworden! War ich nicht etwa immer schon hübsch?

„Ich wollte dich schon lange mal anläuten, aber ich hatte völlig verschwitzt, wie der Arzt hieß, bei dem du bist…“

„Das sollte vielleicht so sein“, sagte ich, und dann ging die Ladentür auf und meine Goldkinder kamen.

„Hallo, Beate, platzt du jetzt vor Neugierde?“ Sie henkelten sich bei mir ein.

„Ich habe eben einen alten Bekannten aus Tjeldsund getroffen, Kinderlein. Ja, das sind also meine Kinder, Axel…“

Axel schaute lächelnd auf die beiden blonden, fröhlichen Mädels. „Ich habe wahrhaftig heute nichts getrunken“, sagte er. „Aber ist

es trotzdem möglich, daß ich doppelt sehe? Ihr müßt euch beide ein Namensschildchen um den Hals hängen. Wie heißt ihr?“

„Sonja Rywig. Senta Rywig.“ Liebe Zeit, da sagten sie ihren Nachnamen! Nun wußte Axel ihn

also. „Tja, wir müssen weiter, Axel…“, ich reichte ihm die Hand zum

Abschied. „Ach nein, Beate – nein, wart doch noch ein wenig, renn nicht so

ohne weiteres los! Wenn man nun schon mal seine alte Liebe wiedergetroffen hat, dann…“

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„Red keinen Unsinn, Axel.“ Zu meinem unbeschreiblichen Ärger merkte ich, daß ich rot

wurde. „Wann bist du mal frei? Wann paßt es, daß ich anklingele?“ „Es paßt überhaupt nicht, fürchte ich.“ Da mischte Sonja sich ins Gespräch, und ich hätte sie erwürgen

können: „Pfui, Beate, du redest, als ob du niemals frei hättest. So

abscheulich behandeln wir dich doch wohl nicht!“ „Liebling, so habe ich es auch nicht gemeint. Natürlich kann ich

mir frei nehmen, wann ich will. Aber jetzt vor Weihnachten habe ich so viel anderes zu tun. Nein, laß es dir gut gehen, Axel, und frohes Fest!“

Er ergriff meine Hand. „Wie – wie erwachsen du geworden bist, Beate! Und so

verteufelt hübsch. Und so – so sicher, scheint mir. Steht dir verflixt gut. Also – wenn ihr wirklich weiter müßt – frohes Fest, Rywigs hoch zwei – frohes Fest – Putschikam!“

Endlich war ich ihn los. Und das war bis dahin der schönste Augenblick meines Lebens! Denn mit einem Male wußte ich mit leuchtender Klarheit: ich

war erwachsen geworden – wie Axel sehr richtig gesehen und gesagt hatte. Und ich war sicher und war glücklich, und ich war so hübsch, wie man es ist, wenn man sich sicher und glücklich fühlt. Und – ich war mit Axel vollständig fertig. Ich empfand nicht einen Schimmer von Wehmut oder Gekränktheit oder Sehnsucht oder was immer – ich war fertig, gründlich fertig mit Axel und mit allem, was ihn betraf.

„Du, Beate“, sagte Senta plötzlich beim Abendbrot. „Was war das Komisches, wie er dich nannte, diese alte Liebe von dir? Ich hab so was wie Pussikam verstanden?“

Der Kuckuck hole die alberne Röte in meinem Gesicht! Ich merkte zu meinem namenlosen Ärger, wie mir das Blut wieder in die Wangen stieg.

„Ach, das war nur ein Unsinn – eine alte blöde Redensart aus – aus der Schulzeit“, entgegnete ich. Leider hörte ich selbst, wie unnatürlich meine Stimme klang – wie immer, wenn man mit aller Gewalt möglichst harmlos wirken möchte. „Und das mit der alten Liebe, das war auch Unsinn.“

„Schade“, sagte Senta. „Ihr müßt nämlich wissen, Beate stand und redete mit einem

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tollen Kavalier, als wir aus dem Laden rauskamen, wo wir – ich meine, wir kamen also raus, und Beate wartete draußen, und da stand sie mit einem Herrn, der…“

„Es war ein ehemaliger Schulkamerad aus Tjeldsund“, sagte ich und wurde glühend rot dabei, und ich hatte nur den einen Wunsch, diesen beiden niederträchtigen Gören den Schnabel gründlich zu stopfen. „Er sah aus wie Marlon Brando!“ rief Sonja.

„Und du siehst aus wie Mickymaus“, sagte ich. „Marlon Brando ist übrigens gar nicht mein Typ.“

„Aber du bist vielleicht seiner“, kreischten die Kinder, und in diesem Augenblick hätte ich am liebsten die eine genommen und die andere damit verhauen.

Ich spürte nämlich die forschenden Augen des Doktors auf mich gerichtet, und ich wurde immer röter, nur weil ich nicht rot werden wollte.

Der Kuckuck hole den Axel, dachte ich. Am letzten Schultag kam Bernt mit geheimnisvoller Miene nach

Hause. Er ging gleich in sein Zimmer hinauf und kam erst zum

Mittagessen wieder zum Vorschein. Es war ein Samstag, und wir warteten mit dem Essen, bis der Doktor kam.

„Du, Papa“, sagte Bernt beim Essen. „Du weißt doch, die Blumenpresse, die ich mir kaufen wollte, die brauch ich nicht. Ich habe sie gewonnen. Zweiter Preis im Pflanzen Wettbewerb.“

Wir gratulierten alle wie aus einem Munde. Ich stellte mit größter Befriedigung fest, daß Bernt es nicht mir zuerst erzählte. Es war ihm etwas Selbstverständliches geworden, daß er sich zuallererst an seinen Vater wandte, wenn er Erfreuliches zu berichten hatte. „Das ist aber herrlich, Bernt. Nun, und wie war die Beurteilung?“

„Oh, glänzend. Wäre die Sammlung etwas reichhaltiger gewesen, dann hätte ich bestimmt den ersten Preis bekommen.“

Wir dachten alle dasselbe, aber es wurde nicht ausgesprochen. Denn, wie gesagt, dieser Zeitabschnitt lag endgültig hinter uns.

„Was war der erste Preis?“ „Ein kleines Mikroskop. Aber weißt du, jetzt spare ich eben für

so ein Ding. Und im nächsten Jahr – im nächsten Jahr, Papa, da reiche ich die schönste Sammlung von Alpenblumen ein.“ Bernts Augen strahlten.

Die Zwillinge hatten etwas vor. Niemand fragte, was; denn in wenigen Tagen war Heiligabend. Sie zogen sich in ihr Zimmer

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zurück. Hans Jörgen wurde ins Bett geschickt. Wenn er aufbleiben und den Samstagschäker mitmachen wollte, mußte er mittags ein bißchen auf Vorrat schlafen.

Der Doktor, Bernt und ich waren allein. „Du, Papa“, sagte Bernt ein wenig zögernd. „Beate und ich haben

ein Geheimnis zusammen – und jetzt sollst du es auch erfahren…“ „Nanu, vor Weihnachten, Junge? Kannst du es nicht länger bei

dir behalten?“ sagte der Vater und lachte. „Es hat nichts mit Weihnachten zu tun. Es ist bloß was – bloß

was…“ Bernt kramte in seiner Brusttasche und holte eine zusammengefaltete Zeitschrift heraus.

„Es war nur dies hier“, sagte er und reichte dem Vater die Zeitschrift. Sie war schon auf der richtigen Seite aufgeschlagen und umgeknickt, so daß der Titel des Gedichts und „Von Bernt Rywig“ einem sofort ins Auge sprang.

„Aber Bernt – Bernt…“, sagte der Doktor. Dann putzte er seine Brille und las. Er las einmal, noch einmal. Dann räusperte er sich und putzte abermals die Brille.

„Das ist – hm – das ist sehr gut, Bernt. Sehr gut. Und damit hast du bis jetzt dichtgehalten…“

„Beate hat davon gewußt“, sagte Bernt. Es folgte eine kleine Pause, und sie war voll unausgesprochener Worte. Dann lachte Bernt seinen Vater an, strahlend und vertrauensvoll.

„Nächstes Mal erzähle ich es dir, Papa!“ Montag nachmittag mußte ich schnell einmal in die Stadt. Ich

kam ziemlich spät nach Hause, eben noch rechtzeitig zum Abendbrot.

„Es kam ein Telefongespräch für Sie, Beate“, sagte der Doktor, und seine Stimme wirkte komisch trocken und sachlich.

„Nanu, für mich? Wer um Himmels willen – wer könnte mich denn anläuten?“

„Es war eine Männerstimme“, sagte der Doktor. „Er hat seinen Namen nicht gesagt.“

„Oh, das war sicher Marlon Brando!“ rief Sonja. „Unfug“, sagte ich. „Vielleicht war es irgendein Bekannter aus

Tjeldsund – vielleicht jemand auf der Durchreise oder so…“ „Schnaub dir die Nase, Sonja“, sagte der Doktor plötzlich schroff

und böse. „Es ist ja nicht mitanzuhören, wie du immer hochziehst. Und klappere nicht mit der Gabel auf dem Teller herum, Senta. Ihr vergeßt, daß euer Vater müde und nervös ist.“

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Die Zwillinge schauten den Vater erschrocken an. Schweigend aßen wir weiter.

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Eine Ohrfeige, ein Besuch und ein Krankenlager

Unser Weihnachtsabend war einzig schön.

Heimlichkeiten, Spannung, kleine listige Andeutungen, munteres Necken – der Duft von Kuchen und gutem Essen – und ein großer Christbaum im Wohnzimmer. O ja, gutes Essen und einen Weihnachtsbaum hätten sie jedes Jahr gehabt, erzählten die Kinder, aber – aber – „es ist irgendwie alles anders in diesem Jahr, es ist viel, viel schöner!“ wie Sonja sich ausdrückte.

Der Doktor fuhr vormittags nur kurz in die Stadt und kam zum zweiten Frühstück nach Haus. Es war eine kleine, eilige Mahlzeit, die nur den ärgsten Hunger stillen sollte, ohne uns den Appetit für den Braten am Abend zu nehmen.

Während wir bei Tisch saßen, klingelte es, und Maren kam mit einem großen Blumenstrauß herein.

„Vielen Dank und eine Erkenntlichkeit für gelungenen Blinddarm“, mutmaßte Bernt.

„Nein, es ist für Fräulein Hettring“, sagte Maren. Natürlich, Axels Schrift auf dem Briefumschlag. Verwünscht, konnte er sein Gemüse nicht lieber an die grüne Spinne schicken?

Hier saß ich nun und fünf – nein sechs Augenpaare waren auf mich gerichtet. Marens Augen blickten nicht weniger aufmerksam.

„Marlon Brando!“ sagte Senta. „Wenn du mit diesem Quatsch von Marlon Brando nicht

aufhörst, Senta, dann hau ich dir eine runter“, sagte ich aufbrausend. Dann bat ich Maren, die Blumen mit in die Küche zu nehmen, und wir aßen weiter. Aber die gute Stimmung war gestört…

Der Abend wurde trotzdem herrlich. Als ich das Geschenk vom Doktor auspackte, hatte ich ein Gefühl, als würde mir der Unterkiefer gleich auf meine Blusennadel hinunterfallen.

„Herr Doktor, nein, das ist aber zu toll…“ Denn als ich das Päckchen auswickelte, kam die entzückendste

kleine Armbanduhr zum Vorschein, die ich je gesehen hatte. „Oh, Herr Doktor – vielen, vielen Dank – ich freue mich ganz

furchtbar…“ Ich ging zu ihm und reichte ihm die Hand. Ich hatte Hans Jörgen

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für die Schokolade umarmt und die Zwillinge für die feine Seife, ja, sogar Bernt hatte ich rasch an mich gedrückt, als ich einen sehr schönen, in Leder gebundenen Taschenkalender ausgepackt hatte – und nun stand ich da und konnte dem Doktor weder zeigen noch sagen, wie sehr ich mich freute.

„W’rum umarmst du Papa nicht auch?“ fragte Hans Jörgen. „Ich schließe mich der Frage meines Jüngsten an“, sagte der

Doktor, und hinter seiner Brille funkelte es. Er streckte die Arme aus – und da schlang ich die meinen um

seinen Hals, und vor den Augen der vier lachenden Kinder umarmten wir uns herzlich und innig.

In den Sekunden, da ich seine Arme um mich spürte – in diesen Sekunden geschah etwas Merkwürdiges mit mir. Ich hatte ein seltsames Gefühl, das nur mit einem schlichten Satz auszudrücken war: Hier gehörte ich her.

Es folgten fröhliche Weihnachtstage – die Kinder waren mehrfach eingeladen. Einmal machte die ganze Familie eine Autofahrt; wir aßen auswärts zu Mittag und hatten es furchtbar nett – und Silvester fand unsere kleine Gesellschaft statt. Am Morgen dieses Tages waren die Zwillinge außerordentlich verwundert, als sie herunterkamen und nur einen Geburtstagstisch und nur eine Torte mit nur zwölf Lichtern vorfanden.

„Wir sind doch zwei!“ sagte Senta. „Gewiß“, sagte ich. „Aber das erste, was ihr mir erzähltet, als ich

hier antrat, war, daß ihr in zwei verschiedenen Jahren geboren wäret. Heute ist also Sonjas Geburtstag, morgen deiner.“

Senta strahlte auf. „Ach Beate, du willst doch nicht etwa sagen, daß wir zwei Geburtstage feiern?“

„Doch, das ist sonnenklar! Es muß ja in dieser Welt gerecht zugehen.“

„Beate, du bist ganz groß! Wir haben unseren Geburtstag immer zusammen gefeiert.“

Abends kamen fünf Mädels und sechs Jungen, und vierzehn fröhliche Menschenkinder tanzten in das neue Jahr hinein. Um zwölf Uhr stießen wir mit Obstsekt an, und zehn Minuten nach zwölf gratulierten wir Senta zu ihrem Geburtstag.

Der Doktor und ich waren die ganze Zeit mit dabei. Es war keine Rede davon, daß die Jugend für sich allein sein wollte und die Erwachsenen sich gefälligst nicht zu zeigen hätten. Ich tanzte mit dem Doktor, und mir widerfuhr die Ehre, von einem von Bernts

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Freunden aufgefordert zu werden. Und die Mädels waren offensichtlich stolz darauf, mit Sonjas und Sentas „Klasse“-Vater tanzen zu dürfen.

Mit Bernt tanzte ich ebenfalls. Aber den letzten Tanz tanzte ich mit Dr. Rywig, und – ja – wie soll ich es ausdrücken – ich glaube, ich komme der Wahrheit am nächsten, wenn ich die alte und abgenutzte Wendung gebrauche: Ich wünschte mir, der Tanz nähme nie ein Ende!

Dann war wieder Alltag. Arbeitsreich, aber fröhlich und glücklich. Eines Abends ging das Telefon.

Ich nahm den Anruf entgegen und wollte gerade sagen: „Ja, einen Augenblick, der Doktor kommt sofort“; aber daraus wurde nichts. Denn eine fröhliche Jungmädchenstimme fragte nach Beate Hettring.

„Hallo, Beate! Kannst du hören, wer hier ist?“ „Nein – das kann ich nicht.“ „Ach, du Schlauberger. Hier ist Hannemarie – hast du meine

Stimme ganz vergessen?“ Hannemarie! Meine alte Schul- und Kränzchenschwester aus

Tjeldsund. „Aber nein – das ist ja drollig“, rief ich, „wie in aller Welt…“ „Oh, ganz einfach, deine Mutter hat mir deine Adresse gegeben,

ich bin seit vier Tagen in Oslo und sterbe fast vor Alleinsein. Es wäre herrlich, wenn wir uns sehen könnten, Beate.“

„Natürlich sehen wir uns, das ist klar. Aber wann?“ „Kannst du morgen abend?“ „Ja, sehr gut.“ „Dann komm doch zu mir. Du kennst Oslo und findest dich

zurecht. Wenn wir uns an irgendeiner Ecke verabreden, dann verlaufe ich mich todsicher.“

„Was machst du eigentlich hier?“ „Ich nähe Unterwäsche. Feinere Unterwäsche. Ich habe eine

Anstellung im Salon ‚Rosetta’. Du machst dir keinen Begriff! Wir liefern an die vornehmsten Damen der Stadt, ohne Nerzmantel oder Persianer hat es gar keinen Zweck, zu uns zu kommen. Unsere Preise sind aber auch gepfeffert. Ach du – ich kann jetzt nicht weiter mit dir klönen, da will jemand an den Apparat, ich bin hier in meiner Pension – also du kommst morgen abend?“

„Abgemacht. Ganz sicher. Ich freue mich schon mächtig.“ Hannemarie gab mir noch ihre Adresse, und ich legte den Hörer auf.

Ich lächelte vor mich hin. Was für ein Glück! Erstens war es

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natürlich nett, eine Freundin in der Stadt zu haben – aber dazu noch eine Spezialistin in feiner Unterwäsche! Die Zwillinge hatten gerade mit der Tanzstunde angefangen und wünschten sich jede brennend einen Petticoat. Ich war nicht geneigt, einfach hinzugehen und diese irrsinnig teuren Dinger zu kaufen, aus denen sie nach einem Jahr herausgewachsen waren – wenn aber Hannemarie mir helfen würde, dann könnte ich sie selber zusammenschneidern, und dann…

Ich strahlte wohl über das ganze Gesicht, als ich mich wieder setzte. Die Kinder schauten mich fragend an, das Gesicht des Doktors war hinter der Zeitung verborgen. „Wie aufregend, Beate, war es die alte Liebe?“

„Wer sonst? Eine von ihnen, du neugieriges Ding.“ „War es Marl… ich meine, war es dieser Schicke von neulich?“

Die Zeitung raschelte und knisterte, als der Doktor sie von sich schleuderte.

„Hör auf mit dem Gefrage, Senta! Man sollte meinen, du hättest nie gelernt, was sich gehört.“

Er stand jählings auf und ging in sein Arbeitszimmer hinüber. Hannemarie hatte ein großes, anständiges Zimmer in einer ruhigen Pension. Hier stand ein großer Arbeitstisch – „den brauche ich, weißt du, ich pussele ja auch ein bißchen für mich selber“, sagte sie, und ein paar bequeme Sessel, ein sauberes Bett und ein breites Sofa. „Du siehst, ich kann auch einen Gast aufnehmen“, sagte Hannemarie. „Wenn sie dich bei Rywigs schlecht behandeln, dann komm ruhig zu mir.“

„Damit rechne lieber nicht“, sagte ich und lachte. „Ich hab es wahnsinnig gut bei Rywigs.“

„Das sieht man dir an“, nickte Hannemarie. „Du bist richtig erwachsen, Beate. Und wie hübsch du geworden bist, Mädchen!“

Dann unterhielten wir uns über gemeinsame Bekannte in Tjeldsund. Hannemarie erzählte mir von dem Salon für Unterwäsche „Rosetta“, und ich erzählte von Muttis Besuch und wie wohl ich mich bei Rywigs fühlte. Dann erzählte ich von den Zwillingen, von all dem Spaß und allen Verwirrungen durch die Ähnlichkeit zwischen ihnen – und dann kam ich auf die Petticoats zu sprechen.

„Aber selbstredend!“ sagte Hannemarie. „Wenn du einen Sonntag frei hast, dann setzen wir uns hin und übertreten das dritte Gebot und nähen die Petticoats in einem Nu zusammen. Den Stoff werde ich besorgen, ich krieg ja Prozente.“ Hannemarie war eine Perle.

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Sie machte Wasser für Neskaffee im Schnellkocher heiß und holte eine Dose selbstgebackene Plätzchen aus Tjeldsund hervor. Wir schwabbelten; die Zeit verging, und erst als meine feine kleine Armbanduhr halb zwölf zeigte, brach ich endlich auf.

„Kommst du am Sonntag?“ fragte Hannemarie. Jaja, ich würde Sonntag kommen. Als ich bei unserem Haus anlangte, war im Arbeitszimmer noch

Licht. Mit einem Male tat mein Herz einen sonderbaren Hüpfer. Dann war der Doktor noch auf – alle anderen schliefen längst. Vielleicht saß er bei einer unvernünftigen Tasse Kaffee. Vielleicht wollte er fragen, ob ich müde sei oder ob ich noch ein halbes Stündchen mit ihm sitzen wolle…

Aber als ich ins Haus trat, war das Arbeitszimmer dunkel. Ich hörte des Doktors Schritte auf dem oberen Flur verhallen. Er mußte in dem Augenblick gegangen sein, als er die Gartenpforte kreischen hörte.

Die Kinder waren höchst erstaunt, als ich verkündete, ich wolle einen der mir zustehenden freien Sonntage benutzen, auf eigene Faust auszugehen. Das war etwas vollkommen Neues. Ich war noch kein einziges Mal einen ganzen Tag allein fortgewesen.

„Was willst du denn so lange machen?“ fragte die unverbesserliche Senta. „Gehst du mit deiner alten Liebe aus?“

Da fuhr der Doktor hoch, und im nächsten Augenblick saß eine schallende Ohrfeige auf Sentas linker Backe.

„Kannst du nicht endlich lernen, ein bißchen Takt zu üben“, schrie er sie an. „Raus mit dir, rauf in dein Zimmer.“

Ich schluckte. Es mußte schließlich alles seine Grenzen haben, auch die Strenge. Ich verstand ihn einfach nicht.

Dazu war ich zu dumm. Hannemarie und ich saßen den ganzen Sonntag über und nähten

Petticoats. Ganz fertig wurden wir nicht, aber wir verabredeten, daß ich mal an einem Abend schnell heraufspringen würde, dann könnten wir die letzte Hand an unser Werk legen.

Ich kam spät heim – in ein dunkles und schlafendes Haus. Am nächsten Morgen sah ich den Doktor nur flüchtig, er hatte es

eilig und mußte früh weg. Die Kinder fragten nicht, wo ich am Tage vorher gewesen war. Ich lächelte in mich hinein. Am Donnerstag wollte ich wieder zu Hannemarie gehen, und die Zwillinge würden wohl große Augen machen, wenn ihnen ihr sehnlichster Wunsch erfüllt wurde.

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Die Post kam, und ich verteilte sie wie gewöhnlich. Ein dicker Brief von Mutti. Ein ganzer Haufen langweilig aussehender medizinischer Zeitschriften und Reklamen für den Doktor, und ein Brief mit einer sauberen, schrägen Damenhandschrift. Ich sah mir den Namen des Absenders an und dachte sofort, jetzt sei ich wohl ebenso indiskret wie Senta und hätte ebensogut eine Ohrfeige verdient.

Julie Rywig, Sanatorium Bjerkebakken. Sieh mal einer an. Was mochte Tante Julie wollen? Diesen Brief legte ich zuoberst auf den Haufen und das Ganze

auf den Schreibtisch. Beim Abendessen sollte ich erfahren, was Tante Julie wollte.

Tante Julie fühlte sich viel wohler, erzählte der Doktor, und wolle nicht mehr im Sanatorium bleiben. Eine Freundin von ihr habe sie nach Dänemark eingeladen. Sie würde über Oslo reisen und uns gern auf drei Tage besuchen, wenn es uns recht wäre.

Die Kinder nahmen die Nachricht schweigend entgegen. Senta machte zwar den Mund auf, um etwas zu sagen, aber ich glaube, die Erinnerung an die Ohrfeige hielt sie zurück. Nur Hans Jörgen ließ sich vernehmen: „W’rum kommt Tante Julie?“

„Um uns zu besuchen, Hans Jörgen. Um zu sehen, wie gut es uns geht und wie groß ihr alle geworden seid. Wie ist es, Beate, paßt es in Ihr Programm, daß…“

„Selbstverständlich“, sagte ich. „Ihre Tante bekommt mein Zimmer, und ich ziehe derweil zu den Zwillingen hinüber.“

„Ih, wie schick!“ „Bestens, Beate!“ „Ich möchte ja ungern absagen…“, meinte der Doktor. „Das fehlte auch noch! Natürlich kommt Fräulein Rywig, und

wir werden außerordentlich lieb und nett zu ihr sein. Nicht wahr, Kinder?“

„Aber klar“, sagten die Kinder, doch irgendwelche Begeisterung war aus den Stimmen nicht herauszuhören.

„Selbstverständlich“, hatte ich gesagt, als der Doktor fragte, ob es passe. Aber in Wirklichkeit paßte es in keiner Weise. Wenn Tante Julie mit ihren Argusaugen ankam, dann mußte das Haus vor Sauberkeit blitzen.

Ich möchte nicht behaupten, daß ich eine schlechte Hausfrau bin, aber jede Frau hat Zeiten, in denen das Haus nicht so in Schuß ist, wie es sein müßte. Das Wetter war so kalt und scheußlich gewesen,

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daß wir die Wäsche um eine Woche verschoben hatten; nun quoll der Wäschepuff über. Und all das Gemurkse mit Weihnachten und dem zweifachen Geburtstag und großer Gesellschaft hatte mich in jeder Beziehung zurückgebracht. Da lagen allerlei ungebügelte Praxiskittel vom Doktor, Schubläden mußten aufgeräumt werden, und der Küchenschrank war keineswegs einwandfrei.

Maren zeigte viel Verständnis, und wir machten uns gemeinsam an die Arbeit. Ich läutete Hannemarie in der „Rosetta“ an und sagte Bescheid, daß ich diese Woche nicht käme. Hannemarie antwortete: „Nun gut, das ist nicht so gefährlich. Die Kleinigkeiten, die noch zu machen sind, kann ich allein schaffen. Dann holst du die Petticoats bei irgendeiner Gelegenheit bei mir ab.“

Nettes Mädel, die Hannemarie. „Ich glaube fast, Sie haben sich erkältet, Fräulein Hettring“, sagte

Maren, als ich zum fünftenmal am Bügelbrett geniest hatte. „Uff ja, das scheint mir auch so“, sagte ich. Ich wickelte mir

einen Schal um den Hals und nahm Aspirin, mehr konnte ich für meine Gesundheit nicht tun.

Aber die Arbeit ging mir nur sehr schwer von der Hand, denn ich hatte Rückenschmerzen, und nun fing auch noch mein Kopf an, weh zu tun.

O weh, das würde ja schön aussehen, wenn ich krank würde, ausgerechnet jetzt, da Tante Julie in Sicht war.

Am nächsten Tag hatte ich Fieber, ich schluckte noch mehr Aspirin, wickelte mich ganz und gar in Wolle ein und tat alles, um mich gegen Zug zu schützen.

Abends warf der Doktor einen Blick auf mich, stutzte und sah mich mit peinlich professionellen Arztaugen forschend an. „Ist Ihnen nicht gut, Beate?“

Ich versuchte, mir ein kleines Lächeln abzuringen. „Ach, nur ein bißchen erkältet.“

Er nahm meine Hand. „Mädchen, Sie haben ja Fieber! Nein, still jetzt.“

Er fühlte den Puls. „Wollen Sie gefälligst gleich ins Bett gehen, je eher, desto besser.

Nehmen Sie das Fieberthermometer mit und messen Sie sich, ich komme in einer Viertelstunde zu Ihnen rauf. Marsch, ins Bett.“

„Aber Herr Doktor, ich habe doch so viel…“ „Ins Bett, hab ich gesagt. Maren und die Zwillinge greifen mit

an. Bernt hilft auch…“

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„Ist doch klar“, sagte Bernt. „Geh ins Bett, Beate, damit du schnell wieder gesund wirst.“

„Ich wollte doch aber gerade zu den Zwillingen umziehen, und…“

„Tante Julie bekommt mein Zimmer, ich kann solange in Papas mitschlafen“, sagte Bernt. „Nicht wahr, Papa?“

„Selbstredend. Das regelt sich alles. Also Beate…“ Ich konnte mich nicht wehren und im Grunde sehnte ich mich unsagbar nach dem Bett.

Ich schlüpfte aus den Kleidern, suchte mit den letzten Kräften mein bestes Nachthemd heraus und bürstete mir die Haare. Ich mußte doch ordentlich aussehen, wenn der Arzt kam.

Dann maß ich meine Temperatur. Ich blinzelte mit den Augen. Das Quecksilber zeigte über neununddreißig.

Der Doktor kam. Er warfeinen Blick auf das Thermometer. „Sie sind mir eine Schöne! Mit solchem Fieber laufen Sie herum.

Ich will gar nicht laut sagen, was Sie verdient hätten. Und was ist das für ein Leichtsinn, mit bloßen Armen und bloßem Hals dazuliegen. Daß Sie so unvernünftig sein können, Beate!“

Er sah sich im Zimmer um, sein Blick fiel auf meine Strickjacke, die über einer Stuhllehne hing. Die nahm er, richtete mich im Bett auf und zog sie mir an, behutsam und geschickt, wie ich es einem Mann nie zugetraut hätte.

„So, Kleine. Jetzt möchte ich Sie mir mal begucken, Mund auf!“ Der Hals wurde angeschaut und Rücken und Brust abgehorcht.

„Na ja, also. Da haben wir den Salat. Sie haben eine blühende Grippe, mein Fräulein. Einen Hals so rot wie Purpur, und orgeln tut es in Ihrer Brust nicht schlecht! Das gefällt mir gar nicht. Sie bleiben zunächst mal eine Woche im Bett, dann werden wir…“

„Aber Herr Doktor! Eine Woche! Das geht nicht. Das ist unmöglich!“

„Beatchen, ich werde Ihnen sagen, was unmöglich ist. Es ist uns unmöglich, Sie zu entbehren, und wenn Sie nicht gehorchen, bekommen Sie eine Lungenentzündung, und dann müssen wir sehr lange auf Sie verzichten. Also hübsch unter die Decke mit Ihnen. Ich schicke Bernt zur Apotheke nach Tabletten und Hustensaft. – Und dann muß ich leider, so schmerzlich es mir ist, Besuchsverbot erlassen. Ich möchte ungern, daß die Kinder sich anstecken…“

„Nein, selbstverständlich, Herr Doktor, das wäre ja noch schöner!“

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„Maren wird kommen und für Sie sorgen, ich binde ihr sicherheitshalber einen Mundschutz vor, und ich…“

„Ja, Sie, Herr Doktor – ich möchte Sie auch nicht anstecken.“ „Pah, ich bin immun“, lachte der Doktor. „So, mein Kindchen,

nun machen Sie die Augen zu, ich schicke Maren zu Ihnen mit etwas zu trinken, und wenn wir sonst noch was für Sie tun können, dann immer heraus mit der Sprache!“

„Sie sind so wahnsinnig nett zu mir, Herr Doktor.“ „Denken Sie mal an! Sie wissen offenbar nicht, daß ich einen

Arzteid abgelegt habe. Demzufolge bin ich verpflichtet, allen zu helfen, ungeachtet der Hautfarbe und Rasse und Religion und wie es sonst noch heißt – und ungeachtet dessen, ob es Freund oder Feind ist…“

„Feind bin ich auf alle Fälle nicht“, murmelte ich. Ich war so müde.

Der Doktor war aufgestanden. Jetzt beugte er sich vor und strich mir über das Haar.

„Kleines Mädelchen“, sagte er leise, und seine Stimme war weich und nicht die Spur berufsmäßig. Sie war so „privat“, wie es überhaupt ging, und es klang irgendwie ein wenig Wehmut mit hindurch. „Liebes kleines Mädelchen…“

Am nächsten Tag war das Fieber etwas heruntergegangen, aber ich fühlte mich noch ziemlich elend. Maren kam und machte mein Bett und half mir, mich zu waschen. Sie war rührend hilfsbereit.

Als sie mir das Mittagessen appetitlich angerichtet auf einem Tablett brachte, fragte ich nach den Kindern.

„Die Zwillinge sind nicht wiederzuerkennen“, lachte Maren. „Sie helfen ganz von selbst! Senta steht und bügelt ihr eigenes und Sonjas Unterzeug, und Sonja stopft Herrn Doktors Socken.“

„Ach, die süßen Dinger. Grüßen Sie sie vielmals von mir, Maren.“

„Ja, ich sollte auch sehr grüßen und gute Besserung wünschen.“ Als es nachmittags wieder klopfte, dachte ich, es sei der Doktor, und rief herein. Aber es war Bemt, der kam. Er hatte sich einen von seines Vaters weißen Arztkitteln übergezogen und einen Mundschutz vorm Gesicht.

„Bernt!“ sagte ich, „das darfst du aber nicht.“ „Doch, das darf ich wohl!“ rief Bernt, und seine Augen lachten

über der weißen Maske. „Papa hat es mir erlaubt, er hat gesagt, ich sei das einzige vernünftige von seinen Kindern. Ich habe ihm mein

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Ehrenwort gegeben, daß ich nicht deine Hand anfasse, und ich wasche mich hinterher mit Papas antiseptischer Seife. Wie geht’s, wie steht’s, Beate?“

„Besser“, sagte ich. „Und euch?“ „Ooch! Wir stehen kopf, um alles für Tante Julies Besuch fein zu

machen. Sie kommt ja heute abend.“ „Ja, das tut sie ja.“ „Ja, und du, Beate, dann war ein Anruf für dich. Eine Dame. Sie

sagte, ich sollte dich von Hannemarie grüßen und sagen, daß Paket könne jederzeit abgeholt werden, sie wäre fertig mit dem, was sie für dich nähen sollte.“

„Oh, das ist fein!“ sagte ich. „Bernt, glaubst du, du könntest das in diesen Tagen mal für mich erledigen? Es ist nämlich…“ Und dann vertraute ich ihm an, daß es eine Überraschung für die Zwillinge sei, und er dürfe kein Wort verraten, sondern solle nur das Paket ins Zimmer heraufbringen. Er schrieb sich Hannemaries Namen und Adresse auf.

„Ich wußte gar nicht, daß du eine Freundin hier am Ort hast“, sagte Bernt.

„Sie ist auch noch nicht lange hier“, erklärte ich ihm. „Erst seit Neujahr. Grüß sie vielmals von mir, Bernt.“

„Wird gemacht!“ sagte Bernt. Der Doktor brachte mir herrliches Obst, Maren brachte mir

Blumen von den Zwillingen, und als Bernt in der Stadt gewesen war und das Paket geholt hatte, brachte er mir ein Buch, das er mir schenkte.

Tante Julie war angekommen und am folgenden Tag kam auch sie auf Krankenbesuch.

Sie fragte freundlich, wie es mir gehe, und sagte, ich müsse unter allen Umständen im Bett bleiben, bis ich ganz gesund sei, ich solle mir keinerlei Gedanken wegen des Haushalts machen, es sei ihr nur

eine Freude, etwas helfen zu können, und natürlich würde sie hierbleiben, bis ich wieder ganz obenauf sei, die Dänemark-Reise könne sie doch ohne weiteres aufschieben. Mir sank das Herz klaftertief.

Der Doktor kam und horchte mich ab und schaute mich an und nahm die Temperatur.

„Fühlen Sie sich ein bißchen frischer, Beate? Die Temperatur ist ja ganz manierlich jetzt.“

„Ach, Herr Doktor, darf ich nicht aufstehen?“

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„Ja, übermorgen, wenn Sie ein braves Kind sind. Aber wissen Sie, ich fürchte, wir müssen uns der Zwillinge erbarmen. Die setzen mir ständig zu, sie wollten Sie gern besuchen. Und nun kann ich das schon wagen. Aber schicken Sie sie nach einer Viertelstunde wieder hinaus – und Sie bekommen sie einzeln, sonst schwatzen die zwei Sie kurz und klein.“

„Oh, wie ich mich freue, Herr Doktor! Ich liege doch hier und sehne mich halb tot nach meinen Mädels.“

Ich wußte nicht, daß ich „meine“ sagte, als das Wort auch schon heraus war; es blieb gleichsam in der Luft hängen. Der Doktor sah mich an, lächelte und ging zur Tür. „Na schön, ich werde – Ihren

Mädels Bescheid sagen!“ „Ach, Beate, ich habe mich so nach dir gebangt! Du, wir haben

gelost, wer dich zuerst besuchen darf, und ich habe gewonnen. Und Senta ist beinahe geplatzt! Beate, du mußt schnell machen und wieder gesund werden, du weißt nicht, wie du uns fehlst!“

„Aber Kindchen, Tante Julie macht euch doch alles…“ Sonjas Gesicht erlosch. Plötzlich zuckte es um ihren Mund.

„Was ist denn, mein Kind? Ist irgend etwas los?“ „Es – es ist bloß, daß – daß – Tante Julie wollte Strümpfe stopfen

– und dann fand sie die Socken von Papa, die ich mal gestopft hatte – und ich hatte es doch so gut gemacht, dachte ich, ich hatte mir solche Mühe gegeben – und nun hat sie alles wieder aufgetrennt und es noch mal gemacht…“

Ich mußte mehrmals schlucken. „Jaja, Sonja“, sagte ich. „Du weißt, mit den Jahren wird man –

anders. Tante Julie hat vor allen Dingen eins im Auge, alles soll tadellos aussehen…“

„Ja, Beate, aber dann hat sie die Baumwollwäsche, die Senta gebügelt hat, noch mal gebügelt, sie hat alles noch mal eingesprengt und gesagt, ,so könnt ihr nicht rumlaufen, Kinder, wie oft habe ich euch gesagt, euer Unterzeug muß immer einwandfrei sein, denkt bloß, wenn ihr plötzlich einen Unfall hättet’ – ach, ich wünschte, die hätte mal einen Unfall…“

Ich wollte etwas sagen, wollte versuchen, in sanftem Ton ein bißchen zu zanken – aber jetzt liefen Sonja die Tränen über die Backen.

Mein liebes kleines Mädchen, wenn sie etwas brauchte, dann war es Trost und keine Schelte – die tüchtige kleine Sonja hatte sich mit dem Stopfen gequält, das sie aus tiefstem Herzen verabscheute – und

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Senta hatte sich hingestellt und gebügelt, voller Stolz, daß sie helfen konnte, während ich krank lag… Wenn ich Tante Julie in diesem Augenblick vor mir gehabt hätte…!

Als Senta kam, wurden mir weitere Einzelheiten berichtet. Senta war zweifellos die mitteilsamere von den beiden, und sie war so wütend, daß es nur so knisterte.

Tante Julie war tief gekränkt gewesen, weil Hansemann – wie sie nach wie vor sagte – seine Locken nicht mehr hatte. Aus irgendeinem Grunde gab sie mir die Schuld. Und als Maren unsere „Familienschürzkuchen“ zum Kaffee hinstellte, hatte Tante Julie etwas über die Kuchen geäußert – ja, natürlich waren sie windschief und komisch, aber es waren unsere Kuchen, einträchtig und gemeinschaftlich verfertigt, und in glücklichster Weihnachtsstimmung. Und Tante Julie war losgerannt und hatte für Hans Jörgen Vitasol besorgt, obwohl er seit langer Zeit schon gewöhnlichen Lebertran nahm. Wohl war Hans Jörgen viel verständiger geworden, aber welcher fünfjährige Junge nimmt gewöhnlichen Lebertran, wenn er etwas angeboten kriegt, das nach Zucker und Apfelsinensaft schmeckt?

„Hör mal, Senta“, sagte ich schließlich. „Ihr seid doch hoffentlich artig zu Tante Julie?“

Senta sah mich mit ihren grundehrlichen Augen an. „Wir sind wahnsinnig höflich, Beate, auf Ehre“, sagte sie. „Denn

weißt du, Bernt sagte zu uns, wenn wir nicht höflich wären, dann hättest bloß du darunter zu leiden, dann würde Tante Julie meinen, du erziehst uns nicht ordentlich. Wir sind also artig, aber innerlich knirschen wir mit den Zähnen. Und Sonja und ich haben verabredet, wenn wir etwa mal platzen, dann wollen wir uns nur gegenseitig in die Arme kneifen, und das soll dann heißen ,reg dich nicht auf, vergiß nicht: Beate ist bald wieder da’, und das hilft dann.“

„Senta“, sage ich. „Möchtest du mich an etwas erinnern, sobald ich wieder auf bin?“

„Ja, natürlich – was denn, Beate?“ „Daß ihr beide, du und Sonja, eine Riesenumärmelung von mir

bekommt, und daß wir zusammen in die Konditorei gehen und ihr so viel Schlagsahnetorte essen dürft, daß ihr drei Tage lang kein Essen mehr sehen mögt.“

Da lachte Senta von einem Ohr zum anderen. „Ja, darauf kannst du dich verlassen, daran werd’ ich dich

bestimmt erinnern!“

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Und dann kam’s zum Platzen

Ich war seit drei Tagen auf den Beinen und fühlte mich wie zerschlagen. Zum ersten Male in meinem Leben merkte ich, was Nervosität war.

Tante Julie schwang das Zepter, und ich war zu einem folgsamen kleinen Mähschaf herabgesunken. Was nützte es, daß die Kinder sich herausfordernd an mich wandten, was nützte es, daß sie mich um Erlaubnis fragten in Dingen, um die sie unter normalen Umständen nie gefragt hätten – wenn Tante Julie mir das Wort aus dem Munde nahm und für mich antwortete?

Maren war knurrig und stumm. Tante Julie war eins-zwei-drei in ihre alte Gewohnheit verfallen, zu „kontrollieren“.

Hans Jörgen hatte wieder angefangen, auf seinen Namen Hansemann zu hören und ließ sich verwöhnen. Seine aufkeimende Charakterstärke mußte fortgesetzt unterbaut und angespornt werden, sie war noch nicht so fest – nicht so fest, daß er sich die Annehmlichkeit einer systematischen Verhätschelung nicht nur zu gern gefallen ließe.

Der Doktor war seltener zu Hause als sonst. Wenn er kam, war er blaß und zerfurcht und müde.

Und die Kinder liefen mit einer seltsam erloschenen Miene herum.

Tante Julie sagte kein Wort von Abreisen. Herrgott, konnte sie nicht endlich abziehen? Sie hatte sich in Bernts Zimmer eingenistet in Kommodenschubladen und auf dem Schreibtisch, und Bernt schlief auf dem Feldbett in des Vaters Zimmer und machte seine Aufgaben und Aufsätze an dem kleinen Tisch da drinnen.

Wann würde sie nun bloß ihre Koffer packen? Ich war doch wiederhergestellt, ich konnte zu jeder Zeit antreten und meine alte Arbeit wiederaufnehmen – aber Tante Julie ließ mich nicht heran.

Was mich trotz allem hochhielt, was mich fähig machte, eine bittere Pille nach der anderen zu schlucken, was ein höfliches Lächeln auf meinem Gesicht hervorzwang, das war die sichere Aussicht, daß Tante Julie bald wegfahren und wir unseren Samstagschäker wieder machen würden, und daß wir uns wieder frei und froh und offen und harmlos fühlen – und wieder eine glückliche Familie sein würden.

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Bei alledem mußte ich den Kindern gegenüber noch Haltung bewahren. Ich konnte doch vor ihnen meinen innigsten Wunsch nicht laut werden lassen: wenn Tante Julie nur endlich fahren wollte!

Eines Nachmittags war sie in der Stadt, und der Doktor kam etwas früher nach Hause als gewöhnlich. Er war blaß und sah fast abgehärmt aus.

„Beate“, sagte er, und es tat so gut, diesen Namen wieder aus seinem Mund zu hören. Seit Tante Julie da war, hatte er eisern „Fräulein Hettring“ gesagt. „Beate, wollen Sie bitte eben mal zu mir herüberkommen? Ich möchte gern mit Ihnen reden.“

Ich ging hinein. „Setzen Sie sich bitte, Beate.“ Ich setzte mich hin und wartete. Der Doktor blickte auf seine

Schreibtischplatte nieder. Dann begann er zu reden, langsam, so als suche er mit großer Sorgfalt nach den Worten.

„Beate, ich muß Ihnen ein wenig von – von meiner verstorbenen Frau erzählen.“

„Ja, Herr Doktor?“ „Hinterher werden Sie verstehen, weshalb ich es tat. Ich habe

sehr früh geheiratet, Beate. Es war eine Studentenehe. Meine Frau studierte auch, brach aber ihr Studium ab, als Bernt seine Ankunft meldete. Meine Frau war sehr – sehr schön. Aber sie war ein unglücklicher Mensch, Beate. Ihr war etwas in die Wiege gelegt worden, was im Leben am schwersten zu ertragen ist. Sie hatte eine schwierige Gemütsveranlagung, sie war so – so – ohne Freude. Sie war selbst nicht froh und hatte nicht die Gabe, anderen Freude zu bereiten. Im Gegenteil: mit ihrer Schwermut zerstörte sie ihrer Umgebung oft alle Freude. Ich möchte von meiner Frau nicht übel reden, aber ich muß es Ihnen erklären. Ich denke an sie nur mit dem tiefsten Mitgefühl. Es war nicht ihre Schuld, daß sie mit einem so schwierigen Charakter auf die Welt kam. Es war schlimm für mich und schlimm für die Kinder, aber am schlimmsten für sie selbst.

Sie konnte infolge ihrer Melancholie hin und wieder Menschen verletzen und beleidigen. Und das – das hat sie einmal mit Tante Julie getan. Es war nur ein Mißverständnis, aber ein verhängnisvolles, und es kränkte Tante Julie furchtbar.

Sehen Sie, Beate – darum zeugt es von wahrer Größe, daß Tante Julie unverzüglich kam und meine Situation rettete, als meine Frau starb. Tante Julie war damals gerade pensioniert worden – sie war im Staatsdienst angestellt gewesen – und ohne sich einen Augenblick zu besinnen, kam sie zu mir ins Haus – in dies Haus, das sie nach jener

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Kränkung weinend verlassen hatte.“ Ich wollte den Doktor nicht unterbrechen. Aber heimlich dachte

ich, daß es vielleicht gar kein so großes Opfer für Tante Julie gewesen war. Frau Rywig war tot, wer sollte sie noch kränken? – und vielleicht ahnte Tante Julie, daß sie durch diese Kränkung noch viele Jahre Vorteil haben würde, weil der Neffe immer die Höflichkeit und die Rücksicht selber gegen sie sein würde!

„Ich sehe Tante Julies Fehler sehr gut, Beate“, fuhr der Doktor fort. „Ich sehe ein, daß es für Sie schwierig ist, mit ihr zusammen zu arbeiten. Und dennoch – dennoch…“

Er machte eine Pause, und mein Herz setzte aus. Denn jetzt begriff ich, was kommen würde.

„Beate, ich glaube – ich meine – ich bin so eine tolpatschige und kurzsichtige Mannsperson, ich habe ja nicht geahnt, wieviel Sie hier im Hause zu tun hatten, mit vier Kindern, die Sie so viel Zeit gekostet haben – und der ganze Haushalt obendrein…“

Aha, dachte ich, Tante Julie hat also von den ungebügelten Kitteln gepetzt und von dem unordentlichen Küchenschrank.

„Und jetzt – jetzt komme ich zum Kern der Sache, Beate – Tante Julie möchte gern hierbleiben. Sie sagt, es sei tatsächlich Arbeit für zwei genug, außer Maren – und Sie würden dann viel mehr freie Zeit haben, Sie sind jung – und – und… ja, und dann können Sie sich vielleicht noch mehr den Kindern widmen…“

Ich schluckte und schluckte und nahm mich gewaltig zusammen, um ganz ruhig zu sprechen.

„Ich dachte, Fräulein Rywigs Gesundheitszustand sei nicht…“ „Sie hat sich wesentlich erholt. Und wie sie selber sagt – wenn

Sie Ihren Teil der Arbeit übernehmen, dann bleibe für sie nicht mehr zuviel übrig – ja, ich weiß, was Sie denken, Beate, ich verstehe Sie besser, als Sie ahnen – aber ich bitte Sie so herzlich, wie ich kann: Bleiben Sie bei uns, Beate, nehmen Sie sich der vier Kinder an – die brauchen Sie – wir brauchen Sie, wir haben Sie alle so furchtbar gern, Beate.“

Es nützte alles nichts mehr. Ich mußte das Taschentuch hervorholen, um die dummen Tränen aus den Augenwinkeln abzuwischen.

„Es – es wird furchtbar schwierig werden, Herr Doktor…“ „Ich weiß es, ich weiß es. Aber, Beate, wie würde es uns ohne

Sie ergehen? Und Sie verstehen doch, ich kann zu Tante Julie nicht sagen ,geh bitte wieder fort’. Sie darf nicht noch einmal verletzt und

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gedemütigt aus diesem Hause weggehen – Beate, verstehen Sie das?“

„Ja, Herr Doktor“, flüsterte ich. „Würden Sie es versuchen, Beate? Würden Sie allen Ihren guten

Willen aufbieten? Würden Sie es – um meinetwillen tun?“ Er hatte die Brille abgenommen. Seine Augen bettelten und

flehten – und sie waren groß und dunkelgrau und bis zum Rande mit Güte und Bangigkeit angefüllt.

Wie sollte ich ihm zu seinen sonstigen Bürden noch eine weitere aufladen? Diesem Mann, den ich – ich meine – diesem Mann, den ich so sehr schätzengelernt hatte?

„Ja, Herr Doktor“, antwortete ich. „Ich will mein Bestes tun. Um Ihretwillen.“

Die Zwillinge jubelten über ihre Petticoats. Und der Doktor versprach ihnen neue Tanzstundenkleider.

„O ja, Beate – wann gehen wir in die Stadt und besorgen sie?“ „Sowie Papa mir Geld dazu gibt“, lachte ich. „Sie können sie bei Steen & Ström besorgen und auf Konto

schreiben lassen“, sagte der Doktor. Am selben Nachmittag fuhr Tante Julie in die Stadt. Sie kam

nach Hause mit Kleidern für die Zwillinge, nach ihrem eigenen Geschmack ausgesucht. Nichts von dem, was die Zwillinge sich erträumt oder erhofft hatten.

Die Zwillinge heulten laut vor Enttäuschung. Es kostete mich mehr Diplomatie und mehr Kraft, als ich ahnte, um den Zwischenfall beizulegen. Es war doppelt schwierig, weil ich in meinem Innern unbedingt auf Seiten der Zwillinge war.

„Maren, wie können Sie es sich einfallen lassen, Renofix für die lackierten Türen zu nehmen? Ich habe doch gesagt, dafür ist Kernseife da…“

„Fräulein Hettring nimmt immer Renofix, und sie werden so hübsch davon.“

„Tun Sie nun, wie ich gesagt habe, Maren. Es gehört sich nicht, daß Sie immer widersprechen.“

Maren stellte die Renofixbüchse in den Schrank zurück und machte die Schranktür unnötig laut zu.

„Wo bist du gewesen, Bernt? Weshalb kommst du so spät nach Hause?“

„Ich hatte Beate gefragt, ob ich bis acht wegbleiben dürfte.“ „Das ist viel zu spät. Du sollst um sieben im Haus sein.“

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„Iß jetzt auf, Hans Jörgen, sonst bekommst du keinen Nachtisch“, sagte ich.

„Hansemann hat wohl zuviel auf den Teller bekommen“, sagte Tante Julie. „So ein kleiner Magen kann eine so große Portion gar nicht bewältigen. Schau her, Hansemann, du ißt jetzt lieber etwas von dem Pudding…“

Meine Nerven waren zum Reißen gespannt. Ich heulte allabendlich, wenn ich im Bett lag. Ich schlief nachts jämmerlich, und tagsüber kochte ich vor Wut und Verzweiflung.

Die Kinder baten mich mit unglücklichen Gesichtern, den Samstagschäker zu machen. Ich buk etwas und versuchte, es ein bißchen gemütlich zu machen. Alles ging schief, keiner von uns vermochte in Stimmung zu kommen.

Sonntag morgen wachte ich mit wahnsinnigem Kopfweh auf. Der Doktor fragte mich, ob ich mit ihm und den Kindern hinausfahren wollte. Tante Julie gehe in eine Kunstausstellung, und wir würden spät essen.

Ich sagte, der Wahrheit gemäß, daß ich Kopfweh hätte und am liebsten zu Hause bleiben wolle. Maren hatte frei, und ich war allein im Haus.

So setzte ich mich denn an den Tisch in meinem Zimmer. Nie in meinem Leben war ich so niedergedrückt gewesen.

Und dann nahm ich Papier und Füller und begann zu schreiben: „ Lieber Herr Doktor Rywig!

Sie sagten neulich zu mir, ich möchte versuchen, Sie zu verstehen. Ich habe es versucht – ich verstand Sie wirklich. Ich hatte mir vorgenommen, zu tun, worum Sie mich baten – ich bot allen meinen guten Willen auf. Ich habe in dieser Zeit mehr guten Willen und mehr Selbstbeherrschung nötig gehabt als in meinem ganzen sonstigen Leben zusammen – aber nun kann ich nicht mehr.

Lieber Herr Doktor – jetzt bin ich es, die Sie bittet, das zu verstehen. Und sollten Sie mich nicht verstehen, dann – ja, dann fragen Sie die Kinder. Die werden mich verstehen, das weiß ich. Denn sie haben die zahllosen Mißverständnisse und Unzuträglichkeiten miterlebt, die in den letzten Tagen gekommen sind.

Sehen Sie, würde ich bei Ihnen und Ihren lieben, netten Kindern bleiben, dann würde es böse auslaufen. Die Kinder würden hin und her gerissen werden – nicht nur zwischen zwei Frauen, sondern zwischen zwei Welten, zwei Lebensauffassungen. Ich liebe sie alle

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vier viel zu sehr, als daß ich ihnen so etwas antun möchte. Es ist viel besser, wenn sie diese lichte, gute, glückliche Zeit in der Erinnerung bewahren, so wie sie war, anstatt daß sie durch Disharmonie und Trübsal überschattet würde.

Ich weiß ja, daß es nicht anders sein kann. Ich verstehe, daß Sie Tante Julie nicht hinaussetzen können. Lieber Doktor Rywig, ich möchte es für Sie nicht noch schwieriger machen, als es schon ist. Darum ziehe ich mich freiwillig zurück. Es ist nicht Feigheit, daß ich auf und davon gehe, ohne mich zu verabschieden. Einerseits möchte ich mir den Abschied ersparen, andererseits, und das ist viel wichtiger, möchte ich die Kinder schonen.

Ich fahre nicht nach Tjeldsund zurück. Ich bleibe in Oslo und suche mir hier eine gute Stellung. Denn ich möchte so gern in der Nähe Ihrer Kinder bleiben. Ich weiß, daß sie mich brauchen werden, und sie sollen mit mir in Verbindung bleiben.

Lieber Herr Doktor, die Tränen kullern und kullern, während ich

dies schreibe. Mir geht es ganz furchtbar schlecht, aber ich weiß, es ist richtig, was ich tue.

Dank, vielen Dank für diese herrliche Zeit. Es war die beste Zeit meines Lebens, und ich weiß nicht, wie ich ausdrücken soll, was ich für Sie und Ihre süßen Kinder empfinde.

Ich bin glücklich, daß Sie und Bernt jetzt so gut miteinander stehen, und ich bin so froh, wenn ich daran denke, daß Sie mit ihm nach Innsbruck und in die Berge reisen wollen. Die Zwillinge werden immer durchkommen, sie haben Halt aneinander, wie Sie selbst mal sagten. Und Hans Jörgen hat sowohl einen guten Vater als auch einen großen Bruder, und beide werden ihm gute Kameraden werden.

Die Kinder werden mich entbehren, aber sie sind jetzt so weit, daß sie mich entbehren können. Vielleicht ist es, wenn ich es so richtig durchdenke, für mich selber am schlimmsten? Ich fange allmählich an, es zu glauben – denn meine Tränen wollen nicht aufhören…

Ich schreibe wieder, wenn ich eine ständige Adresse in Oslo habe, und wenn ich ein bißchen Abstand gewonnen habe.

Lieber Herr Doktor Rywig – vielen Dank – vielen Dank – und seien Sie nicht böse auf Ihre Beate.

Die Tränen flossen und flossen, während ich meinen Koffer

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packte. Ich legte den Brief mitten auf des Doktors Schreibtisch und

bestellte mir eine Taxe. Hannemaries sanfte Pensionswirtin bedauerte, Hannemarie sei

nicht da, sie mache einen Tagesausflug, aber…? Ich erfand irgend ein Märchen, daß ich morgen abreisen müsse

und fragen wollte, ob ich heute nacht auf Hannemaries Sofa übernachten dürfe, sie habe es mir angeboten, falls…

Aber gewiß doch, selbstredend, natürlich, mein Fräulein, ich helfe Ihnen mit Ihrem Koffer – wir haben eben gegessen, aber wenn Sie hungrig sind, dann kann ich…

Nein danke, ich hätte gegessen, log ich. Ich würde mich lieber etwas auf Hannemaries Sofa legen.

Aber gewiß doch. Wie sei es nett, daß Hannemarie etwas Gesellschaft habe. Ja, die Wirtin kenne mich, ich sei doch Fräulein Hettring aus Tjeldsund?

Allerdings, die sei ich. Und nun stand mein Koffer in Hannemaries Zimmer, und die Tür

schloß sich hinter der Wirtin. Ich setzte mich in einen Sessel und starrte mit brennenden, verweinten Augen in die große, hoffnungslose Leere.

Es klopfte an die Tür. Aha. Die etwas zu liebenswürdige und mütterliche Wirtin kam,

um… Nein, die kam nicht. Es war Bernt, der auf der Schwelle stand.

Ich fuhr hoch – und dann fiel ich Bernt um den Hals. Es war gerade, als hätten wir uns ein Jahr lang nicht gesehen.

„Liebster Bernt, woher wußtest du denn…“ „Ich wußte gar nichts, Beate. Ich hoffte nur, daß du hier wärest,

du weißt doch, ich hab hier neulich ein Paket für dich abgeholt.“ „Und dann kommst du einfach angerannt, Bernt…“ Er sah mich

an, und die Augen waren die seines Vaters, als er mich bat zu bleiben – „um meinetwillen“.

„Beate – du darfst nicht – du darfst nicht von uns weggehen. Ach Beate, du weißt ja nicht – die Zwillinge haben laut aufgeheult, als Papa erzählte – und Hans Jörgen schrie und brüllte – und Papa – Papa war aschfahl im Gesicht, Beate…“

„Ach, Bernt – mach es mir doch nicht so schwer…“ „Beate, du darfst einfach nicht. Du darfst uns nicht so im Stich

lassen. Papa hat sich hingesetzt und sofort an dich geschrieben…“

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„Weiß er denn, wo ich bin?“ „Ich sagte ihm, wenn du nicht hier wärest, dann würde deine

Freundin bestimmt wissen, wo du bist. Er könnte den Brief hierher schicken, sagte ich.“

„Aber Bernt – du bist doch kein Dummkopf. Du weißt doch, weshalb ich wegwill.“

„Natürlich weiß ich das, Beate. Ich bin doch nicht von gestern. Und ich weiß noch mehr. Ich hab so meine Ahnungen, weshalb Papa nicht kurzen Prozeß macht und Tante Julie hinaussetzt. Aber, Beate, du machst es uns doch nicht leichter, wenn du weggehst. Du weißt genau, wie es dann wird – Papa fühlt sich zu Hause nicht wohl und bleibt wieder in der Praxis oder in der Klinik. Hans Jörgen wird wieder ein verhätscheltes Baby, und ich…“

„Du, Bernt“, sagte ich, „du hast deinen Vater. Und er hat dich.“ „Mir schwant ja, wem ich auch das zu verdanken habe, Beate.“

Ein winzig kleiner Schalk blitzte in Bernts Augen. „Aber, Beate – wenn wir dir nun versprechen, daß wir mit dir durch dick und dünn gehen – wenn wir nun all die Behaglichkeit und den Spaß und das Vertrauen ganz einfach beibehalten und – und…“ Bernts Stimme wurde immer leiser und matter, so als merke er selbst, wie undurchführbar das, was er vorschlug, war.

„Aber, Bernt, vielleicht ein wenig später…“, begann ich, und dann klopfte es abermals.

Ich kam gar nicht so weit, herein zu rufen. Die Tür ging auf, und da standen die Zwillinge, Sonja und Senta, mit rotverweinten Augen, Hand in Hand wie zwei kleine Kinder aus dem Kindergarten.

„Ach, Beate! Wie herrlich, daß wir dich gefunden haben. Beate, du meinst das doch nicht im Ernst, was du an Papa geschrieben hast? Ach Beate, wir haben so geheult, wie du es dir gar nicht vorstellen kannst – du mußt wieder nach Hause kommen, Beate, und zwar wie du gehst und stehst – ach bitte, bitte…“

„Ach, meine lieben, lieben Kinder – wenn ihr wüßtet, wie gern…“

„Beate, bitte entschuldige mich für all die vielen Male, wo ich naseweis gewesen bin – ich will es auch nie wieder tun, Beate…“, das war Senta.

„Beate, ich gehe auch den ganzen Sommer mit wollenen Hosen, wenn du es willst…“ Sonja legte den Arm um meinen Hals.

Dann weinte ich wieder. Die Kinder schmiegten sich ganz fest an mich, und ich weinte, und alles war so furchtbar, so fürchterlich

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schwer. Meine Vernunft sagte mir, wenn ich jetzt nachgäbe, würden wir nach zwei Tagen wieder genausoweit sein. Es ging nun einmal nicht mit Tante Julie und mir zusammen. Und woher sollte ich wissen, wer Tante Julie in taktvoller Art und Weise klarmachen könnte, daß sie überflüssig sei? Sie sah nur, daß der Küchenschrank aufgeräumt und die Hemden gebügelt werden müßten, daß das Weihnachtsgebäck nicht so aussah, wie sie es gewohnt war, und daß die Socken nicht tadellos gestopft waren. Damit glaubte sie, sie sei unentbehrlich. Sie hatte keine Ahnung davon, daß es Dinge gab, die wertvoller waren als gelungenes Weihnachtsgebäck und vorzüglich gebügelte Hemden.

„Kinderchen“, hub ich von neuem an. „Wollen wir nicht ein bißchen Zeit verstreichen lassen? Vielleicht nehme ich zunächst mal eine Stellung an, und wenn Tante Julie euch dann verläßt, dann lasse ich alles stehen und liegen, und wenn ich beim König selber angestellt wäre…“

„Nein Beate, wir brauchen dich jetzt auf der Stelle.“ „Aber Kinder – das könnt ihr doch nicht entscheiden, das müßt

ihr doch einsehen. Ihr dürft doch nicht vergessen, daß Papa da auch noch ein Wörtchen mitzureden hat!“

„Ganz recht!“ ertönte eine Stimme von der Tür, und wir wandten uns alle vier um.

Dort stand Dr. Rywig mit Hans Jörgen an der Hand. „Beate!“ rief Hans Jörgen, riß sich von seinem Vater los und

hopste auf meinen Schoß. „W’rum bist du hier? W’rum bist du nicht zu Hause? Beate, du mußt gleich wieder mit nach Hause kommen. Und ich will auch bloß so’n Lebertran nehmen wie Bernt und die Zwillinge, und ich gieße auch die ganze Vitasolflasche ins Klo.“

„Solche Heldentaten möchte ich nicht geloben“, sagte der Doktor. Er legte liebevoll seinen Arm um Hans Jörgens Schultern. „Bernt, höre zu. Hier draußen ist ein großer Vorplatz. Nimm die Zwillinge und Hans Jörgen mit und wartet alle da draußen, und achtet darauf, daß ihr leise seid wie die Mäuschen. Ich möchte gern ein Wort mit Beate allein reden.“

Die Kinder gingen gehorsam zur Tür. Hans Jörgen drehte sich um. „Dauert’s lange?“

Ich begegnete den Augen des Doktors. Und da mit einem Male, wie aus einer Erleuchtung, fielen alle meine Kümmernisse von mir ab. Plötzlich begriff ich – begriff alles bis auf den Grund. „Nein, Hans Jörgen“, sagte ich. „Es dauert nicht lange.“

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Die Tür schloß sich leise hinter den vier Kindern. „Beate“, sagte der Doktor und nahm meine Hand. Er stand einen

Augenblick da, und als er wieder sprach, war ich ganz fassungslos, denn die Frage, die er an mich richtete, begriff ich überhaupt nicht.

„Beate, was hat es mit diesem verdammten Marlon Brando auf sich?“

„Mit Ma… Ma… Marlon…?“ „Jaja. Diesem bildschönen Kerl, der Blumen schickt und

telefoniert und immer abwechselnd als Schulkameradin und Kränzchenschwester auftritt…?“

„Nein, das ist ja wirklich allerhand!“ brauste ich auf. „Der bildschöne Kerl heißt Axel und interessiert mich nicht für’n Sechser. Es war reiner Zufall, daß ich ihn damals auf der Straße traf. Und er ist durchaus nicht als Freundin aufgetreten. Wenn ich gesagt habe, eine Freundin hätte angeläutet, dann war es Hannemarie, in deren Zimmer wir uns im Augenblick aufhalten.“

Da hellte sich Dr. Rywigs Miene auf, er sah gleich viel jünger aus. Jetzt nahm er auch meine andere Hand.

„Verzeihung, Beate. Beatchen – ich muß etwas sagen, was mir schon lange auf der Seele liegt – schon seit – schon seit damals, als du vor mir standest und mich anschriest, ich dürfte Bernt nicht schlagen. Ich habe es nur nicht gewagt, weil ich ein alter Knabe bin und du ein reizendes junges Mädchen. Und weil ich dachte, dieser Marlon Brando habe irgendwie ein Anrecht auf dich. Aber Beate – jetzt darf ich es sagen – du hast es selbst herausgefordert durch deine Flucht heute: Ich möchte dich zurückhaben. Ich möchte dich für immer haben, Beate, ich will dich als Frau des Hauses. Verstehst du denn nicht, du kleines Mädel, daß ich dich liebe? Ich weiß, ich bin viel zu alt für dich…“

„Gar nicht – nur vierzehn Jahre und fünf Monate älter“, sagte ich schnell.

Da faßte er mich fest um meine Schultern, hielt mich ein wenig von sich ab.

„Warum hast du dir das so genau ausgerechnet, Beate?“ Jetzt stieg mir die Röte in mein Gesicht, und ich schmiegte meinen Kopf an Gerhards Schulter.

„Weil – weil – ich dasselbe wünschte wie du – aber du bist so ein bekannter und kluger Doktor der Medizin – und ich bin nur ein ganz alltägliches Mädchen…“

„Beate – abgesehen von dem fürchterlichen Kohl, den du da eben

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verzapft hast von klug und ganz alltäglich – hast du den Mut, mir ins Auge zu sehen und mir zu sagen, daß du mich lieb hast? Mich nervösen, jähzornigen, unausstehlichen, übellaunigen alten Mummelgreis?“

Ich richtete meine Augen auf Gerhard, ich hielt seinen Blick fest, und ich sage langsam und deutlich: „Ich liebe dich, Gerhard.“

Als Gerhard die Tür öffnete und die Kinder hereinkommen ließ, begegneten uns vier gespannte Gesichter und vier fragende Augenpaare:

„Papa – kommt Beate zurück?“ „Ja, Kinder. Sie kommt zurück.“ „Jetzt gleich?“ „Unbedingt. Jetzt gleich.“ „Aber – Papa -Tante Julie? Was machen wir mit der?“ „Oh, das werd ich dir sagen. Tante Julie ist doch kein Unmensch.

Sie wird nicht im geringsten gekränkt sein, wenn ich ihr erkläre, sie sollte lieber nach Dänemark fahren, weil…“

Er blickte seine Kinder an, eins nach dem anderen, Bernts kluge Augen verrieten, daß er verstanden hatte, der schelmische Blick der Zwillinge verriet, daß ihnen der Zusammenhang dämmerte…

„Weil wir in drei Wochen die allerbeste Hausfrau bekommen, nämlich Frau Beate Rywig…“

Wir waren nicht imstande, sofort zu Tante Julie nach Hause zu fahren. Wir gingen in Gerhards Praxis hinauf, er läutete zu Hause an und sagte, wir seien alle miteinander in der Stadt und kämen später. Da saß ich dann auf seiner Untersuchungsbank, Hans Jörgen war auf meinen Schoß gekrabbelt, und die drei Großen mußten immer abwechselnd den Vater und mich einmal fest umfassen.

„Ist es euch klar, daß ihr eine Stiefmutter bekommt?“ fragte ich. „Der Name tut nichts zur Sache“, meinte Bernt. „Nenne es

Stiefmutter oder was du sonst willst. Die Hauptsache ist, daß wir dich wiederkriegen.“

„Aach – jetzt kapiere ich!“ rief Sen ta. „Was kapierst du?“ Senta drehte sich zu ihrem Vater um. „Jetzt kapiere ich, warum du so maßlos wütend wurdest, wenn

ich Beate mit dem Marlon Brando aufzog. Eigentlich hättest du dem

am liebsten eine geknallt, und darum mußte ich dann herhalten. Aber Papa, für diese Ohrfeige müßtest du eigentlich Sühne leisten!“

Gerhard stand feierlich auf und streckte Senta die Hand hin: „Ich will es nie wieder tun, Senta, sei wieder lieb!“

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„Ist schon gut, Papachen.“ „Du, Beate“, sagte Hans Jörgen. „Muß ich dich jetzt Mutti

nennen?“ „Du mußt nicht, Hans Jörgen, aber du kannst es ruhig tun, wenn

du Lust hast.“ „Au fein“, sagte Hans Jörgen befriedigt. „Weißt du, wenn

Lieselottchen ,Mutti, Mutti, komm und guck mal’ ruft, dann ist es gar nicht fein, wenn ich nicht auch Mutti rufen kann. Ich rufe bloß immer ,Beate, Beate, komm mal her und guck’.“

„Daß wir daran nicht ein bißchen früher gedacht haben!“ sagte Gerhard.

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Nachschrift

Wenn ich Gerhards Fernglas an die Augen nehme, kann ich von dem Balkon aus, auf dem ich sitze, einen Gebirgskamm sehen, auf dem weißes Edelweiß blüht. Richte ich das Glas ein wenig nach rechts, dann sehe ich einen Felshang mit Zwergholz, das von wilder Klematis überwuchert wird, und gleich darunter eine Halde, die mit roten Alpenrosen bedeckt ist. Irgendwo dort oben wandern Gerhard und Bernt umher und sammeln Alpenblumen. In ein paar Stunden kommen sie nach Hause. Sie haben versprochen, ganz bestimmt zum Abendbrot da zu sein. Unsere Wirtin hat uns Zillertaler Krapfen versprochen, und die müssen gleich aus der Pfanne gegessen werden.

Ich habe gefleht und gebettelt, daß ich die Wanderung mitmachen dürfe, aber Gerhard hat es rundweg abgeschlagen.

„Entweder – oder, Beate“, hat er gesagt. „Entweder eine anstrengende Wanderung den schroffen Felshang hinauf oder einen gesunden Sohn oder eine Tochter im Dezember. Was möchtest du lieber?“

„Uff, so ist es, wenn man mit einem Arzt verheiratet ist“, seufzte ich.

„Beatchen, morgen machen wir eine schöne Wanderung, die einer werdenden Mutter angemessen ist, aber heute müssen wir diese Klematis und ein Edelweiß für Bernt erwischen, das siehst du doch ein?“

„Ja, Gerhard, ich sehe es ein. Wenn aber der hübsche Hofbauer vorüberkommt, ist es sehr gut möglich, daß ich ihm aus Langeweile Augelchen mache.“

„Das tu du nur, seinen Dialekt verstehst du ja sowieso nicht“, sagte Bernt neckend. Dann gingen sie, und nun sitze ich mit dem Fernglas hier auf dem Balkon und freue mich darauf, daß sie bald nach Hause kommen.

Die Tage in Innsbruck sind wundervoll gewesen. Während Gerhard zu seinen gelehrten Vorträgen ging, sind Bernt und ich mit der Drahtseilbahn zum Hafelekar hinaufgefahren, oder wir haben in einer entzückenden alten Taverne mit Balkan-Spezialitäten Mittag gegessen – ich habe noch immer den Pfeffergeschmack auf der Zunge von einem komischen Gericht, dessen Namen Bernt aufgeschrieben hat – Cevapcice hieß es. Wir besichtigten viele

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schöne alte Kirchen, wir bestaunten das Goldene Dachl, und wir fuhren mit einer Pferdedroschke kreuz und quer durch die Stadt. Und jetzt sind wir seit einer Woche hier unten in einem winzigen Dorf mitten in den Zillertaler Alpen. Wenn Bernt alle Pflanzen beisammen hat, die er haben will, wollen wir für einen Tag über den Brenner rutschen, nach Meran, und so viele Feigen und Pfirsiche und frischgepflückte Apfelsinen essen, wie wir in uns hineinstopfen können.

Da kommt ja der stattliche Hofbauer! Bernt hat leider recht, ich verstehe nicht eine Silbe von dem, was er sagt. Aber er winkt mit einem Brief, und diese Sprache versteht man immer.

Es ist Sentas Handschrift – nein Sonjas – wahrhaftig – sie schreiben so ähnlich, daß es unmöglich ist, einen Unterschied zu erkennen. Und der Brief ist in Tjeldsund abgestempelt.

„Liebste Beatemutti und Papa und Bernt! Tausend Dank für Brief und Karte aus Innsbruck. Euch geht es bestimmt phantastisch, aber wir beneiden Euch überhaupt nicht, denn uns geht’s hier mordsmäßig gut. Deine Mutter ist das Allerbeste, was es auf der Welt gibt, Beate, und Du kannst glauben, sie lacht, wenn Hans Jörgen Großmama zu ihr sagt. Hans Jörgen ist übrigens ein richtiger Schürzenjäger; jetzt hat er wieder das Lieselottchen ganz und gar vergessen, nun ist es von früh bis spät bloß noch Heidi. Edith hat uns beigebracht, wie man Knopflöcher näht. Und wir sind mit Jens und Rolf zum Angeln draußen gewesen. Es macht ‘n Mordsspaß, in Betten übereinander zu schlafen. Ich schlafe in Deinem und Senta in Heidis, und Heidi ist zu Deinen Eltern umgezogen. Deine Mutter paßt auf, daß wir alles tun, was wir tun müssen, und das lassen, was wir nicht dürfen. Und wir tragen keine wollenen Hosen, äh bäh!

Wie geht es mit Brüderchen-Schwesterchen? Du, wie ich mich aber freue. Sei nun bloß vorsichtig mit Dir selber, süße, goldige, liebste Beatemutti.

Seid alle hunderttausendmal umarmt, besonders aber Du, von Deiner Sonja

Und von mir auch. Du, wollen wir wetten – ob es nun Zwillinge

werden? Umarmung und Kuß von Senta.“

Ich lächle und hebe den Kopf. Jetzt höre ich Stimmen unten vom

Page 142: Bleib bei uns Beate

Hang. Dort kommen Gerhard und Bernt. Sie winken mir beide zu, sie kommen näher, und ich sehe, daß ihre Augen leuchten.

Es ist Sommer, und die Nachmittagssonne glüht, sie glänzt auf den Alpenblumen und über fernen Schneegipfeln. Und aus der Küche kommt ein herrlicher Duft von Zillertaler Krapfen.