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Brasilien: 100 Tage Dilma 2

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Die Popularität der brasilianischen Staatspräsidentin Dilma Rousseff und der Arbeiterpartei PT befindet sich mit 13% auf einem historischen Tiefpunkt. Steigende Inflation, wachsende Arbeitslosigkeit und schwache Wirtschaftszahlen haben die Investoren verunsichert. Auch politisch verliert Rousseff bedrohlich an Einfluss. Auf Druck der Koalitionsparteien musste sie bereits sechs der insgesamt 39 Minister austauschen. Ferner erschüttert seit Monaten ein gigantischer Korruptionsskandal im staatlichen ÖlKonzern Petrobras das Land. Hunderttausend Brasilianer gingen im März und April landesweit auf die Straßen, um gegen Korruption und für ein Impeachment der Staatspräsidentin zu demonstrieren. Auch wenn eine Amtsenthebung Rousseffs eher wenig wahrscheinlich ist, hat sie bereits nach 100 Tagen ihre wirtschaftliche und politische Macht sowie ihr Ansehen und das ihrer Partei bei der Bevölkerung größtenteils verspielt.

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  • Hintergrund: Brasilien Nr. 29 / Mai 2015 | 1

    100 Tage Dilma 2 Brasilien in einer wirtschaftli-

    chen, politischen und moralischen Krise Beate Forbriger

    Die Popularitt der brasilianischen Staatsprsidentin Dilma Rousseff und der Arbeiterpartei PT befindet

    sich mit 13% auf einem historischen Tiefpunkt. Steigende Inflation, wachsende Arbeitslosigkeit und

    schwache Wirtschaftszahlen haben die Investoren verunsichert. Auch politisch verliert Rousseff bedroh-

    lich an Einfluss. Auf Druck der Koalitionsparteien musste sie bereits sechs der insgesamt 39 Minister

    austauschen. Ferner erschttert seit Monaten ein gigantischer Korruptionsskandal im staatlichen l-

    Konzern Petrobras das Land. Hunderttausend Brasilianer gingen im Mrz und April landesweit auf die

    Straen, um gegen Korruption und fr ein Impeachment der Staatsprsidentin zu demonstrieren. Auch

    wenn eine Amtsenthebung Rousseffs eher wenig wahrscheinlich ist, hat sie bereits nach 100 Tagen ihre

    wirtschaftliche und politische Macht sowie ihr Ansehen und das ihrer Partei bei der Bevlkerung gr-

    tenteils verspielt.

    Die zweite Amtszeit der Staatsprsidentin Rousseff politische Bestandsaufnahme

    Am 1. Januar 2015 begann die zweite Amtszeit der brasilianischen Staatsprsidentin Dilma Rousseff

    von der Arbeiterpartei PT, die im November 2014 die Stichwahl gegen den Kandidaten der wichtigsten

    Oppositionspartei PSDB, Acio Neves mit 51,64% zu 48,36% der Whlerstimmen - einem knappen

    Vorsprung von nur 3,4 Mio. Stimmen fr sich entscheiden konnte. Die Bilanz der ersten 100 Tage

    ihrer zweiten Amtszeit ist denkbar schlecht. Gleich zu Beginn musste sie die erste politische Niederla-

    ge hinnehmen. Trotz umfangreicher Absprachen mit anderen Parteien und dem Verzicht auf weitere

    mter in wichtigen Funktionen in der Abgeordnetenkammer und dem Senat, bekam die PT ihre beiden

    Kandidaten fr den Vorsitz der Abgeordnetenkammer und des Senats nicht durch. Sieger beider Wah-

    len waren die Kandidaten des Bndnispartners PMDB, Renan Calheiros fr die Prsidentschaft im Se-

    nat und Eduardo Cunha fr die Prsidentschaft in der Abgeordnetenkammer. Beide Positionen sind

    sehr einflussreich. Sie bestimmen fr die nchsten zwei Jahre die Agenda des Kongresses, knnen Ge-

    setzesentwrfe vorantreiben, blockieren oder auf Eis gelegte Gesetzesvorlagen wieder aus der Schub-

    lade ziehen. Allerdings besteht zwischen den beiden Husern nicht immer Konsens, was den Erfolg der

    Gesetzgebungsverfahren erschwert. Auch verfgt Staatsprsidentin Rousseff ber ein Vetorecht.

    Hintergrund:

    Brasilien

    Nr. 29 /18. Mai 2015

  • Hintergrund: Brasilien Nr. 29 / Mai 2015 | 2

    Die PMDB ist als heterogene Partei ohne klare

    ideologische Ausrichtung, aber mit ausgeprg-

    tem Machtinstinkt bekannt. Bislang hat sie als

    Knigsmacher in fast allen demokratisch ge-

    whlten Regierungen Brasiliens der letzten

    Jahre mitregiert. Seit etwas mehr als vier Jah-

    ren stellt sie mit Michel Temer den Vizeprsi-

    denten der Regierung Rousseff. Die PMDB ist

    mit 65 Abgeordneten zweitstrkste Partei im

    Abgeordnetenhaus, hinter der Regierungspartei

    PT mit 69 (von insgesamt 513) Abgeordneten.

    Die Oppositionspartei PSDB befindet sich mit 54

    Abgeordneten an dritter Stelle. Insgesamt sind

    in der aktuellen Legislaturperiode 28 der 32 in

    Brasilien registrierten Parteien im Abgeordne-

    tenhaus vertreten. 17 von ihnen gehren dem Regierungsbndnis an - eine wahre Herausforderung fr

    jeden Staatsprsidenten des brasilianischen Prsidialsystems.

    Mit der neuen Besetzung der 39 Ministerien lie sich Rousseff auffllig viel Zeit. Dies nicht nur, weil

    sie ihre Allianzpartner bedienen musste, sondern auch, um sptere Ministerwechsel und einen weite-

    ren Ansehensverlust ihrer Regierung zu vermeiden. Daher wartete sie zunchst ab, welche Politiker in

    das Ermittlungsverfahren der Fderalpolizei zu den Korruptionsfllen im staatlich kontrollierten l-

    konzern Petrobras (genannt Operation Lava jato) verwickelt waren und vom Obersten Fderalgericht

    fr eine Anklage als hinreichend tatverdchtig befunden wurden. Rousseff selbst musste auch bangen,

    ebenfalls auf der Liste der dringend Tatverdchtigen im PetrobrasKorruptionsskandal zu stehen.

    Eduardo Cunha, gewhlter Senatsprsident von der PMDB (l.) gratu-

    liert seinem Parteikollegen Renan Calheiros, zur Wahl als Prsident

    der Abgeordnetenkammer (r.) Quelle: Flickr.com, Senado Federal,

    Foto: Edilson Rodrigues / Agncia Senado

    Staatsprsidentin Dilma Rousseff stellt die 39 Minister ihrer zweiten Amtszeit vor, am 1.1.2015 / Quelle: Flickr.com by Senado Federal,

    Foto: Geraldo Magela/Agncia Senado

  • Hintergrund: Brasilien Nr. 29 / Mai 2015 | 3

    Denn schlielich war sie von 2003 bis 2010 Aufsichtsratsvorsitzende des lkonzerns und hatte in der

    Zeit diverse berfakturierte Dienstleistungs- und Kaufvertrge der Petrobras mit lkonzernen, Bauun-

    ternehmen, Ingenieurbros, etc. unterzeichnet. Einige der in Untersuchungshaft befindlichen Ange-

    klagten, darunter ehemalige Direktoren und Prsidenten renommierter Bauunternehmen und des lgi-

    ganten Petrobras, beschuldigten Rousseff sogar namentlich, von den Schmiergeldzahlungen der Un-

    ternehmen an die Firma Petrobras gewusst zu haben. Diese sollen vornehmlich in die Kassen der PT,

    PMDB und PP geflossen sein, u.a. auch, um Wahlkampagnen zu finanzieren.

    Von den 39 Ministerien wies die PT 17 sich selbst zu. Nur sieben gingen an den Koalitionspartner

    PMDB, was prompt starken politischen Widerstand auslste. Dem Druck musste Rousseff schlielich

    nachgeben. Bis heute musste sie bereits sechs Minister austauschen, darunter auch das wichtige

    Ministerium fr Institutionelle Angelegenheiten, das die Aufgabe hat, politische Verhandlungen zwi-

    schen den Parteien im Kongress zu fhren. Das Amt musste der PT-Minister an den Vizeprsidenten

    Michel Temer von der Koalitionspartei PMDB abtreten. Ein herber politischer Machtverlust der PT, die

    damit den wichtigsten Posten fr die politischen Verhandlungen innerhalb der Koalition an die PMDB

    abtreten musste.

    Dilma 1 versus Dilma 2 - Die Ausgangssituationen der Regierungen Rousseffs im Vergleich

    Vergleicht man die Ausgangssituation der ersten Amtszeit Rousseffs vor vier Jahren mit der der jetzi-

    gen zweiten Amtszeit, so lassen sich gravierende Unterschiede feststellen. Anfang 2011 konnte Rouss-

    eff noch auf die volle Untersttzung des ehemaligen Staatsprsidenten und Parteikollegen Luiz Incio

    Lula da Silva bauen, die Arbeiterpartei PT stand wenn auch nur billigend - hinter ihr und der wich-

    tigste Koalitionspartner PMDB untersttzte ihre Regierung geschlossen. Nach den ersten 100 Tagen

    ihrer ersten Amtszeit erhielt sie mit ber 70% der Zustimmung in der Bevlkerung, eine hhere Zu-

    stimmung als ihr politischen Ziehvater und Amtsvorgnger, der ehemalige Staatsprsident Luiz Incio

    Lula da Silva nach den ersten 100 Tagen seiner ersten wie auch seiner zweiten Amtszeit. Die Zeit-

    schrift Economist krte Rousseff zur drittstrksten Frau der Welt - hinter Angela Merkel und Hillary

    Clinton - , die Wirtschaftsdaten Brasiliens waren 2011 sehr gut, es bestand eine hohe Weltmarkt-

    nachfrage nach Brasiliens Rohstoffen zu hohen Preisen, die Binnenmarktnachfrage war ebenfalls

    hoch, Brasiliens Haushalt ausgeglichen, die Inflation unter Kontrolle und die Arbeitslosenquote gering.

    Heute, Anfang 2015, ist die Situation Rousseffs

    eine vllig andere. Die politische Untersttzung

    Lulas, der PT und auch der PMDB sind gering. Die

    Opposition hat deutlich an Strke gewonnen. Der

    Korruptionsskandal Petrobras, in den vor allem die

    PT und ihre Bndnispartner PMDB und PP verwi-

    ckelt sind, ist gigantisch. Bislang beluft sich die

    Hhe der nachweislich durch Schmiergeldzahlung

    veruntreuten Gelder bei Petrobras auf ca. zwei

    Mrd. Euro. Die brasilianische Wirtschaft wuchs

    2014, trotz anhaltender Steueranreize nur schwach

    (0,1% des BIP).

    Umfragewerte zur Evaluierung der Regierung Dilma Rousseffs.

    Seit dem 15.3.2015 stimmen ihrem Regierungsstil nur noch

    13% der Bevlkerung zu (mit sehr gut/gut) / Quelle: G1.com.br

    12-04 datafolha (avaliacaogovernodilma12-04datafolha.jpg)

  • Hintergrund: Brasilien Nr. 29 / Mai 2015 | 4

    Die Inlandsnachfrage ist, insbesondere aufgrund der mittlerweile hoch verschuldeten Haushalte stark

    rcklufig, das Nominaldefizit des Landes mit 6,7% des BIP doppelt so hoch wie im Vorjahr (2014),

    die Inflation hat mit ca. 8% die Zielmarke von 4,5% (+/-2%) weit berschritten und die Arbeitslosen-

    zahl steigt kontinuierlich. Da verwundert es nicht, dass laut Umfragen im Mrz 2015 nur noch 13%

    der Bevlkerung mit der Regierung Rousseff zufrieden waren.

    Auch die externen Faktoren entwickelten sich

    ungnstig - sind aber bei Weitem nicht allein fr

    die Wirtschaftsmisere verantwortlich, wie von

    der PT gerne behauptet wird. Die Landeswhrung

    Real hat deutlich an Wert verloren (ber 30%

    seit Anfang 2014) und die internationale Nach-

    frage nach Rohstoffen wie auch die Weltmarkt-

    preise fr Rohstoffe sind stark gefallen. Darber

    hinaus befindet sich Brasilien am Rande einer

    Wasser- und Energiekrise. Aufgrund fehlender

    Niederschlge musste die Wasserversorgung,

    insbesondere in den wirtschaftlich starken Ein-

    zelstaaten So Paulo, Rio de Janeiro und Minas

    Gerais schon mehrfach rationiert werden. Das

    Wasservolumen reicht den Wasserkraftwerken

    oftmals nicht mehr zur Stromproduktion aus, wodurch Brasilien auf andere Stromerzeuger zurckgrei-

    fen muss, was die Strompreise deutlich verteuert. Die Wasserenergie macht den Groteil der Strom-

    matrix Brasiliens aus. ber 80% des Stroms gewinnt das Land aus seinen Wasserkraftwerken.

    Der von Dilma Rousseff ernannte neue Wirtschafts- und Finanzminister, Joaquim Levy, ein Wirt-

    schaftsexperte der Universitt Chicago, soll das verlorene Vertrauen der Investoren in Brasilien durch

    fiskalpolitische Anpassungen nun zurckgewinnen. Da es allein durch Manahmen wie Steuererh-

    hungen fr die Brger oder die Abschaffung von Subventionen fr bestimmte Industriezweige nicht zu

    schaffen sein wird, die Haushaltslcher zu stopfen, drngt Levy auf Reformen zur Erhhung der Kon-

    kurrenzfhigkeit des Landes und Reduzierung der Staatsausgaben. Eine seiner Forderungen ist es u.a.

    die Zahl der Ministerien von 39 auf 20 zu reduzieren, was der Regierung missfllt. Zwar knnte dies

    zu finanziellen Einsparungen fhren, aber auch zu erheblichen politischen Schwierigkeiten, da die

    Regierung ihre Mehrheit im Wesentlichen ber die Vergabe von politischen Posten sichert.

    Ganz anders nahm der Koalitionspartner PMDB die Reformvorschlge auf. Im Eiltempo versucht er

    nun, eine Reihe von Reformen durchzupeitschen, wie die Regulierung der Arbeitsrechte von Leiharbei-

    tern, oder die Krzung von Ansprchen auf Arbeitslosenuntersttzung. Auch wurden Reformvorschl-

    ge des Wahl-und Parteiengesetzes wieder auf die Agenda gesetzt. Bei ihrem Reformeifer geht es der

    PMDB nicht nur um das Messen ihrer politischen Macht mit der PT, sondern auch darum, die Sympa-

    thien der demonstrierenden Bevlkerung fr sich zu gewinnen. Denn an einer Destabilisierung der

    Regierung oder gar des demokratischen Systems Brasiliens ist niemand interessiert, am allerwenigsten

    die PMDB.

    Niedriger Wasserstand des Trinkwasser-Reservoirs System Cantarei-

    ra im Bundesstaat So Paulo / Quelle: Flickr.com Fernando

    Stankuns, dam, Stausee Cantareira

  • Hintergrund: Brasilien Nr. 29 / Mai 2015 | 5

    Zivilgesellschaft zeigte Rousseff und der Korruption die rote Karte

    Am 15. Mrz und 12. April gingen brasilienweit Br-

    ger mit Kind und Kegel auf die Straen, um in erster

    Linie ihrem Unmut ber den weltweit grten Korrup-

    tionsskandal im staatlich kontrollierten lkonzern

    Petrobras Luft zu machen. Der Wertverlust des lgi-

    ganten betrug allein im Jahr 2014 R$ 44,6 Mrd. (ca.

    13,5 Mrd. Euro). Die Demonstranten kamen berwie-

    gend im Nationaltrikot oder T-Shirts in den National-

    farben gelb und grn, schwenkten die Nationalflagge,

    sangen die Nationalhymne und hielten Schilder in die

    Luft, auf denen Parolen standen, wie "Dilma raus!",

    "PT raus!, Raus, ihr Korrupten!", Es reicht!, Hrt auf mit der Korruption!, Sofort eine Politikreform und "Impeachment gegen Dilma!".

    Wre der Grund nicht so ernst gewesen, htten die Demonstrationen durchaus an Fan-Zge der ver-

    gangenen Fuballweltmeisterschaft in Brasilien erinnert, denn sie verliefen friedlich, solidarisch und

    demokratisch. Nicht zu vergleichen mit den Massenprotesten aus dem Jahr 2013 im Vorfeld der Fu-

    ballweltmeisterschaft. Diese entzndeten sich damals an den Fahrpreiserhhungen des ffentlichen

    Nahverkehrs. Sie nahmen immer grere Ausmae an, wurden hufig von sogenannten Schwarzen

    Blocks unterlaufen und endeten berwiegend in Krawallen und gewaltsamen Zusammensten mit

    der Polizei. Der Regierung Rousseff wurde schon damals von den Demonstranten Misswirtschaft, Kor-

    ruption und Verschwendung vorgeworfen, woraufhin die Staatsprsidentin einen intensiveren Dialog

    mit den Brgern und Verbesserungen im Bildungs-, Gesundheits- und Nahverkehrsbereich versprach

    sowie die Verabschiedung eines neuen Anti-Korruptionspakets. Obwohl noch keine wesentlichen Re-

    formen erfolgten, gelang Rousseff 2014, wenn auch nur knapp, die Wiederwahl.

    Wer steckt hinter den demonstrierenden zivilgesellschaftlichen Bewegungen?

    Aufgerufen zu den friedlichen Demonstrationen im Mrz und April 2015 hatten diverse zivilgesell-

    schaftliche Bewegungen in erster Linie in den sozialen Medien. Zu den Bewegungen zhlten: Movi-

    mento Brasil Livre MBL (Bewegung Freies Brasilien), dessen populrstes Fhrungsmitglied der libe-

    rale 19-jhrige Kim Kataguiri ist, die liberal-neoliberale Bewegung #vempararua (#komm auf die Strae) und die liberal-libertre Bewegung Movimento Liberal ACORDA BRASIL (Liberale Bewe-

    gung WACH AUF BRASILIEN). Einen hauptverantwortlichen Organisator der Demonstrationen gib es genauso wenig, wie ein einheitliches Motto. Zur berraschung der Regierung gingen Hunderttausende

    Brasilianer in fast allen brasilianischen Einzelstaaten auf die Strae. In der Metropole So Paulo sollen

    es im Mrz 2015 ber eine Million und im April ca. 700.000 Demonstranten gewesen sein, die sich auf

    der berhmten Avenida Paulista und ihren Querstraen versammelt hatten. Aber auch in vielen ande-

    ren Stdten Brasiliens beteiligten sich Tausende an den Protestmrschen. Diese sollten bewusst unpar-

    teiisch sein, darauf legten die zivilgesellschaftlichen Gruppen groen Wert. Dennoch mischte sich die

    oppositionelle Solidaridade als einzige Partei unter die Demonstranten und sammelte Unterschriften

    fr ein Impeachment gegen die Staatsprsidentin.

    Demonstration gegen Korruption und Inkompetenz der PT-

    Regierung am 15. Mrz 2015 auf der Avenida Paulista in So

    Paulo / Quelle: Archiv FNF-Brasilien

  • Hintergrund: Brasilien Nr. 29 / Mai 2015 | 6

    Die Demonstrationen zeigten Wirkung. Un-

    mittelbar nach den Demonstrationen im

    Mrz beriefen der Justizminister und der

    Generalsekretr der Prsidentin Rousseff

    eine Pressekonferenz ein. Die beiden Regie-

    rungsvertreter identifizierten die Demonst-

    ranten als berwiegend Oppositionswhler

    aus der Mittel- und oberen Mittelschicht,

    die ein Ende der Korruption sowie eine Poli-

    tikreform fordern wrden. Im Namen der

    Regierung bekrftigten sie ihre Bereitschaft,

    dennoch einen Dialog mit allen Klassen der

    brasilianischen Gesellschaft zu fhren und

    eine Politik fr alle Brasilianer machen zu

    wollen. Auch teilten sie verstndnisvoll den

    dringenden Wunsch der Bevlkerung nach Korruptionsbekmpfung und versprachen, in Krze das

    Wahlversprechen der Regierung einzulsen und ein Manahmenpaket zur Korruptionsbekmpfung zu

    prsentieren, was wenig spter auch geschah. Die Forderung nach einem Amtsenthebungsverfahren

    gegen Dilma Rousseff lehnten sie kategorisch ab, da ein Impeachment ihrer Meinung nach kein demo-

    kratisches Instrument sei. Auch verneinten sie vehement die Existenz einer Regierungskrise.

    Eine erste ffentliche Protestwelle gegen die

    Staatsprsidentin Dilma Rousseff fand bereits am

    8. Mrz statt, als sie anlsslich des Internationa-

    len Frauentags eine Fernsehansprache hielt, in

    der sie vor allem ihre Politik verteidigte. Die Brasi-

    lianer reagierten in vielen Stdten emprt mit

    sogenannten Terrassenrevolten. Whrend ihrer

    Ansprache buhten und pfiffen sie aus den Fens-

    tern, schlugen mit Kochlffeln auf Tpfe und

    Pfannen, schalteten mehrfach hintereinander die

    Lichter in ihren Wohnungen ein- und aus oder

    riefen lauthals Dilma raus, Dilma Diebin". Die

    Videos wurden in den sozialen Netzen verbreitet. Um einem erneuten ffentliche Ausbuhen und Topf-

    schlagen mit Breitenwirkung zu entgehen, vermied Rousseff seither weitgehend ffentliche Auftritte.

    Hinsichtlich ihrer Ansprache zum 1. Mai (dem Internationalen Tag der Arbeit) folgte Rousseff sogar

    dem Rat ihrer Strategieberater, Pressesprecher und auch des ehemaligen Staatsprsidenten Lula da

    Silva, diese erstmals nicht zu einer festen Uhrzeit landesweit ber die ffentlichen Radio- und Fern-

    sehsender zu bertragen, sondern stattdessen eine Videobotschaft ins Internet einzustellen, die zu

    beliebigen Uhrzeiten abgerufen werden konnte.

    Demonstration gegen die Staatsprsidentin Dilma Rousseff und die

    Regierungspartei PT vor dem Wagen der Bewegung Freies Brasilien am 12. April 2015 auf der Avenida Paulista in So Paulo / Quelle: Archiv

    FNF-Brasilien

    Proteste der brasilianischen Bevlkerung gegen die Staatsprsiden-

    tin Dilma Rousseff. Terassenrevolte mit Topfschlagen / Quelle: Flickr.com, Jesco Carneiro, panelao

  • Hintergrund: Brasilien Nr. 29 / Mai 2015 | 7

    Wie wahrscheinlich ist ein Impeachment?

    Ein Impeachment gegen die amtierende Staatsprsidentin

    Dilma Rousseff, wre rechtlich nur dann mglich, wenn man

    ihr einen konkreten Strafbestand nachweisen knnte, z.B. eine

    konkrete Beteiligung an einer Schmiergeldaffre, die Verwen-

    dung von Bestechungsgeldern fr ihre Wahlkampagne 2014

    oder einen Versto gegen das Gesetz der Ausgabenverantwor-

    tung in ihrer aktuellen Amtszeit. Der erste Fall ist eher un-

    wahrscheinlich, da das Oberste Fderalgericht bereits befand,

    dass die Vorwrfe gegen Rousseff im Korruptionsfall Petrobras

    nicht ausreichend seien. Sollten jedoch nachgewiesenermaen

    Schmiergelder in Rousseffs Prsidentschaftskampagne 2014

    geflossen sein, oder sich der Verdacht besttigen, dass ihre

    Wahlkampfflugbltter zum Teil kostenlos von der staatlichen

    Post Correios an Millionen von Haushalten ausgetragen wur-

    den, so htte dies weitreichende Konsequenzen. Denn damit

    htte sie gegen das Wahlgesetz verstoen, was der Wahl

    Rousseffs und der ihres Vizeprsidenten die rechtliche Grund-

    lage entziehen wrde. Der lachende Dritte wre der Zweitplat-

    zierte der Stichwahl, Acio Neves und sein Stellvertreter von

    der Oppositionspartei PSDB. Der zuletzt genannte Fall zum

    Versto der Ausgabenverantwortung, knnte nur dann zum

    Tragen kommen, wenn die Prsidentin einer unzulssigen Fi-

    nanzierung oder Ausgabe ffentlicher Gelder berfhrt wer-

    den knnte. Insbesondere hier sieht die Opposition eine kleine

    Chance. Denn noch sind die Untersuchungen nicht abgeschlossen und vor allem dank der krzlich in

    Brasilien eingefhrten Kronzeugenregelung, werden fast tglich weitere Korruptionsflle bekannt.

    Einer davon fhrte krzlich zur Verhaftung eines weiteren Schatzmeisters der PT, zwei weitere Korrup-

    tionsflle deckten korrupte Machenschaften in der Fderalen Steuerbehrde und der Brasilianischen

    Entwicklungsbank BNDES auf.

    Im Fall eines Amtsenthebungsverfahrens innerhalb der ersten beiden Jahre einer vierjhrigen Amtszeit

    wrden Neuwahlen stattfinden. Die Regierungsgeschfte wrde bergangsweise der Vizeprsident

    bernehmen. Im Falle eines Impeachments in den letzten beiden Jahren einer Amtszeit wrde es keine

    Neuwahlen mehr geben. Der Vizeprsident wrde das Prsidentenamt bis zum regulren Ende der Le-

    gislaturperiode ausben.

    Insgesamt erscheint bislang ein Impeachment gegen Rousseff jedoch eher unwahrscheinlich. Es fehlt

    an einer starken politischen Alternative zur jetzigen PT-PMDB-Regierung. Vor 23 Jahren beim Amts-

    enthebungsverfahren gegen den damaligen Staatsprsident Fernando Collor de Mello war das anders.

    Damals wurden die Opposition und ihre Verbndeten von der mchtigen PMDB untersttzt. Heute

    drfte die PMDB kaum an einem Regierungswechsel ernsthaft interessiert sein, da sie de facto die

    Regierungsgeschfte ja schon ausbt. Sie wird vermutlich mit der Opposition in all denjenigen Anlie-

    gen kooperieren, die der wirtschaftlichen Entwicklung dienen und das Land stabil halten.

    Staatsprsidentin Dilma Rousseff bei einer Pres-

    sekonferenz zu den landesweiten Demonstratio-

    nen in Brasilien im Regierungspalast in Braslia /

    Quelle: Flickr.com Senado Federal, Foto: Jonas

    Pereira, Agncia Senado

  • Hintergrund: Brasilien Nr. 29 / Mai 2015 | 8

    Politische Konsequenzen

    Die PT hat an Glaubwrdigkeit verloren. Ihr Image einer Arbeiterpartei mit ethischen Werten, ist stark

    beschdigt. Namenhafte Politiker und Mitbegrnder der PT gehen auf Distanz. Der Macht-Zyklus der

    PT scheint nach den beiden grten Korruptionsfllen in der Geschichte Brasiliens - Mensalo in der Zeit der Regierungen Lulas und Petrobras in der Zeit der Regierungen Rousseffs sowie einer zwlf-

    jhrigen Amtszeit erschpft. Ob der Aufruf des charismatischen, ehemaligen Staatsprsidenten Lula da

    Silva nach einer erneuten Untersttzung der Prsidentin und der PT Erfolg haben wird, ist daher frag-

    lich.

    Die Opposition selbst kann lediglich mit ihrer Arbeit in der Parlamentarischen Untersuchungskommis-

    sion zum Korruptionsfall Petrobras bei der emprten Zivilgesellschaft punkten, wo sich insbesondere

    die liberalen Bundesabgeordneten Onyx Lorenzoni und Efraim Filho vehement fr die Aufklrung des

    Skandals einsetzen. Die politische Macht der Opposition reicht momentan jedoch nicht fr mehr. Zwar

    will ein Groteil der brasilianischen Bevlkerung eine neue, bessere Politik, aber ob diese mit den be-

    stehenden Parteien und dem aktuellen Politiksystem mglich sein wird, ist hchst fraglich. 70% der

    Brasilianer fhlen sich laut einer Umfrage vom Mrz 2015 von keiner der 32 brasilianischen Parteien

    reprsentiert.

    Auch die jngsten machen mobil und fordern auf den Demonstrationen Zusammen knnen wir verndern, Ich will ein besseres Brasi-lien, am 15.3.2015 auf der Avenida Paulista in So Paulo / Quelle: Archiv der FNF-Brasilien

  • Hintergrund: Brasilien Nr. 29 / Mai 2015 | 9

    Ein positiver Moment fr liberale Politik

    Zurzeit warten weitere Parteien auf ihre Registrierung beim Obersten Fderalen

    Wahlgericht. Darunter auch Novo (Neu), eine zivilgesellschaftliche Bewegung, deren Mitglieder - zumeist aus der Mittel- und oberen Mittelschicht - bewusst nicht aus der Politik kommen. Sie wollen

    sich von der alten Politik lossagen und eine neue Politik machen. Eine Politik, die die Macht der Politik

    und Politiker einschrnkt. Sie stehen fr individuelle Freiheit, Marktwirtschaft, Rechtsstaat und einen

    schlanken Staat und setzen sich insbesondere fr Innovation, Brgerbeteiligung und freien Zugang zur

    Bildung ein. Fr Novo engagieren sich verschiedene liberale Gruppen und Organisationen, darunter

    auch Mitglieder einiger Partnerorganisationen der FNF Brasilien. Sie untersttzen Novo bei der Ver-

    breitung ihre liberalen Werte und werben fr eine Mitgliedschaft.

    Die Politik in Brasilien bietet zurzeit sehr

    viel Platz fr liberale Reformvorschlge.

    Diesen Moment haben auch verschiede-

    ne liberale und libertre Gruppen, Orga-

    nisationen und politische Einzelpersn-

    lichkeiten, die in verschiedenen brasilia-

    nischen Parteien verstreut sind, erkannt

    und nutzen ihn. Dabei zhlen sie auf die

    Untersttzung der Zivilgesellschaft, die

    sehr wachsam ist. Denn schlielich geht

    es ihnen um die Zukunft Brasiliens.

    Beate Forbriger ist FNF-Projektleiterin fr Brasilien.

    Impressum

    Friedrich-Naumann-Stiftung fr die Freiheit (FNF)

    Bereich Internationale Politik

    Referat fr Querschnittsaufgaben

    Karl-Marx-Strae 2

    D-14482 Potsdam

    Demonstranten fordern Weniger Marx Mehr Mises, am 12.4.2015 auf der Avenida Paulista in So Paulo / Quelle: Archiv der FNF-Brasilien