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Verlag Traugott Bautz GmbH Constantin Noica Briefe zur Logik des Hermes libri nigri 10

Briefe zur Logik des Hermes fileConstantin Noica Constantin Noica Briefe zur Logik des Hermes libri nigri 10 10. Constantin Noica Briefe zur Logik des Hermes . L I B R I N I G R I

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Verlag Traugott Bautz GmbHISBN 978-3-88309-434-2

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Kann man sich eine andere Logik als die der heutigen Lo-giker vorstellen? Man kann allerdings versuchen, das Aus-sehen einer solchen anderen Logik zu beschreiben, oder ihr zumindest einen Namen geben: Eine solche neue Logik trü-ge den Namen des Hermes, des Gottes der Verständigung und der Auslegung.

Constantin Noica

Constantin Noica

Briefe zur Logikdes Hermes

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Constantin Noica

Briefe zur Logik des Hermes

L I B R I N I G R I

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Herausgegeben von

Hans Rainer Sepp

Wissenschaftlicher Beirat Suzi Adams · Adelaide │ Babette Babich · New York │ Kimberly Baltzer-Jaray · Waterloo, Ontario │ Damir Barbarić · Zagreb │ Marcus Brainard · London │ Martin Cajthaml · Olomouc │ Mauro Carbone · Lyon │ Chan Fai Cheung · Hong Kong │ Cristian Ciocan · Bucureşti │ Ion Copoeru · Cluj-Napoca │ Renato Cristin · Trieste │ Riccardo Dottori · Roma │ Eddo Evink · Groningen │ Matthias Flatscher · Wien │ Dimitri Ginev · Sofia │ Jean-Christophe Goddard · Toulouse │ Andrzej Gniazdowski · Warszawa │ Ludger Hagedorn · Wien │ Terri J. Hennings · Freiburg │ Seongha Hong · Jeollabukdo │ Edmundo Johnson · Santiago de Chile │ René Kaufmann · Dresden │ Vakhtang Kebuladze · Kyjiw │ Dean Komel · Ljubljana │ Pavlos Kontos · Patras │ Kwok-ying Lau · Hong Kong │ Mette Lebech · Maynooth │ Nam-In Lee · Seoul │ Balázs Mezei · Budapest │ Rosemary R. P. Lerner · Lima │ Monika Malek · Wroclaw │ Viktor Molchanov · Moskwa │ Liangkang Ni · Guanghzou │ Cathrin Nielsen · Frankfurt am Main │ Ashraf Noor · Jerusalem │ Karel Novotný · Praha │ Julia Orlova · St. Petersburg │ Luis Román Rabanaque · Buenos Aires │ Gian Maria Raimondi · Pisa │ Kiyoshi Sakai · Tokyo │ Javier San Martín · Madrid │ Alexander Schnell · Paris │ Marcia Schuback · Stockholm │ Agustín Serrano de Haro · Madrid │ Tatiana Shchyttsova · Vilnius │ Olga Shparaga · Minsk │ Michael Staudigl · Wien │ Georg Stenger · Wien │ Silvia Stoller · Wien │ Toru Tani · Kyoto │ Detlef Thiel · Wiesbaden │ Lubica Ucnik · Perth │ Pol Vandevelde · Milwaukee │ Chung-Chi Yu · Kaohsiung │ Antonio Zirion · México City – Morelia.

Die libri nigri werden am Mitteleuropäischen Institut für Philosophie, Prag herausgegeben. www.sif-praha.cz

Constantin Noica

Briefe zur Logik des Hermes

Aus dem Rumänischen übertragen von Stefan Moosdorf und Christian Ferencz-Flatz

Verlag Traugott Bautz GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Scrisori despre logica lui Hermes

bei Ed. Cartea Românească, Bukarest 1986.

Die Übersetzung ins Deutsche förderte das Rumänische Kultur-Institut Bukarest.

Der vorliegende Band erscheint als Teil eines Projekts, das der Förderung der rumänischen Philosophie im Ausland gewidmet ist

und von der Rumänischen Gesellschaft für Phänomenologie durchgeführt wird. www.romanian-philosophy.ro

Verlag Traugott Bautz GmbH D-99734 Nordhausen 2011

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

ISBN 978-3-88309-434-2

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VORWORT

Diese Briefe richten sich gleich einer Flaschenpost an irgendjemanden, in der Hoffnung, dass sie an den Grenzbereichen der Kultur aufgefunden und vielleicht gelesen werden von manchem Mathematiker, Logiker und sonstigem Zauberer der bloßen Formen.

Letztere haben sich nicht damit beschieden, in ihrem Paradies zu bleiben, sondern sind hinabgestiegen in die Welt, verbündet mit den Physikern und anderen Repräsentanten der Naturwissenschaften, sowie mit der durch eben diese Wissenschaftler erst ermöglichten Technik. Hier, in der Welt, stießen sie auf jene mannigfaltigen menschlichen Gestaltungen, die zu erklären die Geisteswissenschaften sich mühten. „Begreifen wir auch diese mittels unserer Genauigkeit und Gewissheit“, sagten sich die Zauberer der Formen und schufen, in der Welt des Menschen und der Kultur, einen Zustand, der die Worte Diderots zu bestätigen schien:

„Will man“, sagt Diderot, „eine kurze Geschichte fast unseres ganzen Elends kennen? Hier ist sie: es gab einen natürlichen Menschen; in dessen Inneres führ-te man einen künstlichen Menschen ein. Hierauf entbrannte zwischen beiden ein Bürgerkrieg und dieser dauert bis zum Tode.“

Doch der Gegensatz Diderots ist zu rigide und außerdem überholt: Der natürliche Mensch ist schon lange verschwunden; an seine Stelle trat der stets Formen suchende und Formen schöpfende Mensch. Was ihn stört an den Formen und Formalismen, die er selbst für einen Augenblick von ihren Inhalten befreit hat, ist deren Einseitigkeit, manchmal deren Aufdringlichkeit und immer deren Eilfertigkeit. Die Formalismen scheinen sich zu verhalten gleich dem von Descartes erwähnten Diener, welcher aus zu großer Eile seinen Befehl vergisst. Es geht nicht darum, der Natur mit ihrer zauberhaften Mischung von Ordnung und Unordnung eine strenge Ordnung entgegenzusetzen, sondern darum, der Ordnung der inhaltslosen Formen eine andere Art von Ordnung entgegenzusetzen. Diese leeren Formen, freischwebend wie sie sind, verunstalten häufig die Welt des Menschen, anstatt sie zu gestalten – und zwar nicht nur die Theorie, sondern auch die Ges chichte. Sie lassen den Menschen seine überlieferten Bedeutungen, seine natürlichen Sprachen und Stimmen verlieren, um eine andere Stimme zum Sprechen zu bringen: jene des „Fremden“. Wenn sie aber wahrhaftig das ganz Andere1 bleiben, wie man vom

1 Deutsch im Original. (Anm. d. Übers.)

BRIEFE ZUR LOGIK DES HERMES

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Göttlichen gesagt hat, dann droht ihnen das Geschick aller zur Erde hinab-gestiegenen göttlichen Botschaften.

In der Tat scheint die zeitgenössische, überwiegend wissenschaftliche Kultur heute in dieselbe Klemme geraten zu sein, in der die theologische Kultur des Mittelalters gescheitert war: mit vollkommenen Mitteln eine unvollkommene Welt erklären zu müssen. Die Theologie war steckengeblieben im Problem der „Theodizee“, nämlich in der Frage, wie ein unfehlbarer und guter Schöpfer dennoch eine Welt voll des Schlechten erschaffen konnte; die Versuche, auf eine derartige Frage zu antworten, hatten zum Gnostizismus und zu den „Häresien“ in der Antike geführt, um dann die christliche Welt in ihren Fundamenten zu erschüttern. Das, was sich mit dem göttlichen Logos ereignete, beginnt in der heutigen Welt mit dem mathematischen Logos zu geschehen. Sollten die Mathematiker die Theologen von heute sein?

Sie sind es nicht eben, denn sie behalten, trotz all ihrer Sackgassen, oder vielleicht gerade von diesen angeregt, eine souveräne Erfindungsgabe. Aber es könnte sein, dass die von den Mathematikern inspirierten Schöpfer der verschiedenen Formalismen die Theologen unserer Tage sind. Und so wie die Theologen von damals, unzufrieden mit der Unvollkommenheit des Realen, häufig in die Welt der Engelshierarchien flüchteten, so erschaffen auch die zeitgenössischen Theologen eine Art von Angelologie, indem sie sich zunehmend auf die von der neuen Wissenschaft zur Welt gebrachten vollkommenen Erscheinungen der Technik zurückziehen. Wenn die Welt, die Gesellschaft, die Sprachen unvollkommen sind – umso schlimmer für sie, scheinen die neuen Theologen zu sagen.

Diese vom neuen göttlichen Logos verschmähten Dinge neigen jedoch dazu, vollkommen zu werden und tragen auf jeden Fall einen Bildungstrieb (nisus formativus) in sich. Sie sind in einem Werden begriffen und zielen darauf ab, den Fluss dieses Werdens zu gestalten. Statt sich aber diesem Werden zuzuwenden, zwingt man den Dingen deduktive Schlüsse auf. Den Zeitgenossen zufolge besteht die Logik selbst im „Erschließbaren“. Mit Erstaunen liest man bei Bertrand Russell: „What we wish to know, is what can be deduced from what.” Ist das alles, was sie wollen? Ist das alles, was man von Erkenntnis und Logik will? Jedoch nicht nur die Geisteswissenschaften insgesamt, als so unvollkommen sie sich auch erweisen mögen, neigen dazu, Gesetze, formale Strukturen und sogar eine eigene Logik zu entfalten, sondern das menschliche Leben selbst neigt dazu, Gestalt anzunehmen.

Nur, aus wer weiß welcher „Eigenwilligkeit“, scheint die Welt sich solchen perfekten Formen, die hinabsteigen und die Welt in ihren Netzen fassen wollen, zu verweigern. Die Welt strebt eher danach, sich in eigene Formen zu fassen. Es geschieht wie mit der Beschränkung der Dinge: Eine Beschränkung kann von außen kommen, und dann ist die Schranke eine aufgesetzte; oder aber die Schranke ist eine Grenze, die das Ding sich selbst setzt, und dann kommt sie von innen. Es gibt

Vorwort

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in allem, das ist, ein Recht auf Form, welches die Mathematiken, Formalismen und Logiken für gewöhnlich missachten, indem sie selbst Formen etablieren. Und es liegt etwas Unerbittliches in ihrem Vorgehen: Sie gestalten die Welt, indem sie sie homogenisieren. Sie wollen allen Wesen und Dingen zeigen, dass diese, so lange sie nicht Ein und Dasselbe sind, keine Form haben. Dadurch wird die Welt pulverisiert, um dann neu erschaffen, oder, wie in jener - gleichwohl überaus verwunderlichen - Infinitesimalrechnung, gezählt zu werden. Man könnte also sagen, dass die gesamte Welt diese hinabsteigenden Formen als „verunstaltend“ wahrnimmt, da sie das Krumme begradigen und das Heterogene zerstören. Die Dinge neigen in letzter Instanz vielleicht dazu Eines, aber nicht „Ein und Dasselbe“ zu sein.

Daraus entsteht der Kampf der Formen – ein Konflikt, der uns wahrhaftiger erscheint als jener von Diderot erwähnte zwischen schlichter Natur und Kultur. Dieser Konflikt zeigt sich in der ganzen Kultur (beispielsweise in der wissenschaftlichen, wo der Physikalismus mit den biologischen Formen ringt) und verleiht ihr eine beachtliche innere Spannung; aber er erscheint auch, und zwar diesmal dramatisch, in der Geschichte und im Leben des Menschen. Unter mannigfaltigen Gestalten und Verwandlungen erwecken die Formalismen, ohne ihren Willen – subtil und organisiert – im Menschen einen der brutalsten Instinkte, brutaler noch vielleicht als jener, andere Menschen zu versklaven: der Antrieb, sie zu uniformieren. Durch die exakten Wissenschaften angespornt und ausgestattet mit deren Autorität, setzen sich so die formalen Konstrukte durch, dem Pfeil der Zeit eine Rasanz verleihend, die alles in der Welt des Menschen als auf die finale Entropie hin beschleunigt erscheinen lässt.

Doch, genauso wie die lebendigen Formen, versuchen auch die formativen Bestrebungen der Menschen und der Geschichte, diesen künstlichen Formen zu widerstehen. Die Form erhebt sich wider die Form, wie in einem antiken Krieg der Götter, doch diesmal ist nicht, wie im Kriege der Trojer, der Konflikt der Menschen der eigentliche und entscheidende, sondern der Krieg der Götter, der Formen selbst. Was unserer Kultur zusätzliche Schönheit verleiht, ist die Tatsache, dass es den lebendigen Formen nicht um den Untergang der künstlichen zu tun ist (genausowenig, wie um die Rückkehr zur Natur, wie es Diderot, der Zeitgenosse Rousseaus, gewollt haben mag), sondern darum, gleich den Antiken einen Segen zu sehen in der Tatsache, dass es eine Welt des Unverweslichen gibt, die aber diesmal nicht falsch wie bei den Antiken, sondern im Gegenteil perfekt exakt ist, nur dass sie von Anbeginn nie versucht hat, auch wahr zu sein.

Um von all dem etwas auszudrücken, haben wir vorläufig die Form des Briefes gewählt. Der Leser, der nicht allzu lange bei der Vorbereitung einer neuen Logik verweilen will, mag sich beschränken auf die Lektüre des zweiten Teils - welcher

BRIEFE ZUR LOGIK DES HERMES

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allerdings auch nur eine Vorbereitung darstellt. So man sagen wird, das bloße Streben nach einer Logik könne nicht Logik geheißen werden, so werden wir entgegnen, dass die Physik eigentlich auch ein bloßes Streben nach Physik ist und dass am Tage, da die innere Ordnung des Weltganzen erkannt sein wird, all diese Unterteilungen der großen Ordnung, nämlich die „Gesetze“ der Physik, verschwinden werden. Alles wäre dann ein einziges Licht, so wie es jetzt der mathematische Logos in seiner Losgelöstheit von der Welt ist. Nur liegt, außer der Mathematik mit ihrer göttlichen Gleichgültigkeit gegenüber der Welt, alles im Dunkel, und was sich sonst Wissenschaft, Erkenntnis, Philosophie, Logik nennt, ist nur der Versuch ins Licht zu treten – nicht aber zu sehen, was aus ihm erschlossen werden kann.

Der AUTOR

ERSTER TEIL

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1. BRIEFE ZUR LOGIK IM ALLGEMEINEN

Auf Ihr Bekenntnis, dass Sie nicht wüßten, was Logik sei, antworte ich Ihnen aufrichtig, dass auch ich es nicht weiß. Der Unterschied liegt nur darin, dass Sie bedauern, nicht genügend Logik-Traktate gelesen zu haben, während ich bedaure, in ihnen nicht die mir und Ihnen nötigen Erhellungen gefunden zu haben. In der Hoffnung, Ihnen zu zeigen, wie widersprüchlich die Auffassungen der Logiker selbst sind über jenes, welches das Objekt ihrer Betrachtungen darstellt, möchte ich zwei Haltungen zitieren, die noch heute vorherrschen, obwohl die eine davon schon drei Jahrhunderte zählt.

„Die Logik kann man in vier, fünf Tagen darlegen“, sagt Arnauld zu einem Freund, in dessen Begleitung er in den Gärten Port-Royals spazieren geht.

„Die Logik kann man gar nicht darlegen“, sagt das neue Denken, denn sie ist ein Kalkül, das man nicht aus einfachen Darstellungen lernen kann.

Was sie aber vereint, Arnauld mit dem zeitgenössischen Logiker, ist der Umstand, dass beide zu wissen glauben, was Logik sei. Wir mögen uns einer besseren Sicht erfreuen, und es würde sich lohnen, die Logik anheben zu lassen mit dem Anerkennen der Tatsache, dass wir nicht wissen, was sie ist, mehr noch, dass wir nicht einmal wissen, wo wir sie zu suchen haben: im Denken? In den Dingen? Weder im Denken noch in den Dingen, sondern in leeren Zeichen und den Operationen mit diesen?

Der praktische Vorteil Arnaulds und seines heutigen Kollegen bestand darin, dass sie jegliche Verwunderung über ihr Objekt hinter sich ließen und also operieren und darlegen konnten. Jenem aber, der nicht weiß, was Logik ist, bleibt nichts übrig, als von der anfänglichen Verwunderung auszugehen und bei ihr zu verweilen.

Es gibt zwei Arten des Sichverwunderns, in deren Zeichen die logische Reflektion erwachen kann, und letztlich werden sie sich vielleicht als ein und dieselbe erweisen. Die erste ist die Verwunderung bezüglich der Verwunderung selbst, die somit zum Ursprung neuer Wissenschaften und Formen der Erkenntnis

BRIEFE ZUR LOGIK DES HERMES

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wird; denn tatsächlich hat man von jeder Wissenschaft gesagt, sie entspringe einem Sichverwundern. Worin besteht ihre Verwunderung? fragt die logische Reflektion. In der Tatsache, dass ein Vielfaches in eine Einheit gefasst werden kann? Oder darin, dass verschiedenste Erscheinungen einem Gesetz unterworfen sind? In diesem Falle fasst die logische Reflektion selbst als Verwunderung über die Verwunderung ein Vielfaches in eine Einheit: die Verwunderungen. In allen Wissenschaften tritt die gleiche Überraschung angesichts der Ordnung zutage. Als zweites jedoch wird die logische Reflektion von einer einfachen Verwunderung, die erstere einbezieht, erweckt: Ihr steht nicht nur die reale Ordnung vor, die andere Formen der Erkenntnis findet, sondern auch die mögliche Ordnung, der Zustand der Ordnung im Allgemeinen.

Die Dinge können sich in einer Ordnung befinden, so vielfältig diese auch sein mag. Dinge jedweder Art können Form annehmen. Nennen wir die Form, welche die Dinge annehmen und ihren Ordnungszustand Logizität, so merken wir, dass diese unbeachtet, oder, falls sie doch wahrgenommen wird, unverstanden bleiben kann. So geschah es in der Natur mit dem Zustand der Elektrizität. Die Antiken haben sie zwar zur Kenntnis genommen, in ihr aber eine zweitrangige und exzentrische Erscheinung der Natur gesehen; heute, nach zwei Jahrtausenden, gilt die Elektrizität als konstitutiv für die gesamte Wirklichkeit, vom inertesten Sein bis zum Nervensystem, und, neutralisiert, ist sie selbst dort, wo sie nicht in Erscheinung tritt, vorhanden.

Wir behaupten also, dass die Dinge, so wie auch die Gedanken und Symbole, durch Form, Ordnung, Logizität gleichsam elektrisiert sind, und dass, genau wie der Zustand der Elektrizität in der Natur, der Zustand der Logizität überall vorausgesetzt werden kann. Im Zeichen der von diesem Zustand ausgehenden Faszination hätte man sich eine Wissenschaft namens „Logik” vorzustellen. Aber überstürzen wir nicht, Zuflucht zu suchen bei den Lehrbüchern, denn möglicherweise beschreiben und entwickeln sie nur eine lokale Elektrisierung. Hingegen bezieht sich die Verwunderung, von der auszugehen wir beabsichtigen, auf eine andere Logizität: Diese scheint einen Gutteil des Sichtbaren und fast alles Unsichtbare der Gedanken – oder jenes Kalkül und seine Operationen, die des eigentlichen Denkens ermangeln – elektrisieren zu können. Wir werden, anhand der sich in ihnen mani-festierenden Logizität, diese Formen lokaler Elektrisierung im Folgenden „logische Situationen“ nennen, und mit der Schlicht- und Unbedarftheit, mit welcher ein Physiker vor Faraday und Maxwell verschiedene Manifestationen der Elektrizität entwickelt hätte, einige dieser Situationen darstellen.

Es gibt zuerst eine Situation der Wiederholung. Sie könnte die elementare logische Situation sein, und in jedem Fall ist zumindest sie von allgemeingültigem Charakter: Ein Jedwedes kann sich wiederholen und so seinen Gliedern die Ord-nung des „Selben“ verleihen. Die Wiederholung ist bisweilen arhythmisch und stellt

1. Briefe zur Logik im Allgemeinen

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dann die Wiederkunft eines bestimmten Inhaltes dar. In dem Moment jedoch, da sie rhythmisch wird, scheint sie das absolut Logische zu sein, denn der Rhythmus ist, wie auch die Form, ohne Inhalt. So verzeichnen wir die Wiederholung im Falle der Himmelskörper, mit der Ausstrahlung der unsichtbaren Pulsare, so wie in den Gedanken, in der Natur, in den Zeichen, ja sogar im Todestrieb, der - einigen Psychoanalytikern zufolge - nach Wiederholung strebt. Die Wiederholung ist eine erste (und vielleicht letzte) Annahme von Form. Die logische Reflektion steht ihr mit Verwunderung gegenüber.

Es gibt dann die logische Situation der Symmetrie. Mit ihren wiederum vers-chiedenen Formen, die sie gegenüber einer Geraden, einem Punkt, einer Ebene usw. annimmt, schenkt sie der Eintönigkeit der Wiederholung – indem sie diese von ihrer Rigidität befreit – eine raffinierte Verschiedenartigkeit. In der Symmetrie kristallisieren sich unzählige schöpferische Formen der unbelebten und der belebten Welt. Die Aufhebung der Wiederholung in der Symmetrie aber ist eine Bestätigung der Ordnung, welche die Wissenschaft der Logik wird zu beachten haben.

Mit der logischen Situation der Ähnlichkeit erweitert sich die Identitätsordnung der Wiederholung, zusammen mit jener der Diversifikation von Wiederholung in der Symmetrie. In ihrer Ähnlichkeit sind die Wiederholung und die Symmetrie nicht mehr gebunden, sondern freistehend. Man hat von der Geometrie behauptet, sie sei im Grunde die Wissenschaft des Dreiecks, ja sogar diejenige des gleichwinkligen Dreiecks. Aber mit der Ähnlichkeit finden wir uns, wie mit der Wiederholung oder der Symmetrie, überall wieder. Sie führt weit hinaus aus der Welt des Sichtbaren hinein in die Welt anderer Schwingungen (wir sprechen von Ähnlichkeit sogar bei der Erscheinung der „Resonanz”, die Kommunikation mittels Funkwellen ermöglicht, aber auch in allem, was mit Gemeinsamkeit zusammenhängt). In ihrem unmittelbaren Sinne, so vage er auch sein mag, stellt die Ähnlichkeit ein Ordnung sprinzip dar; im strengen Sinne führt sie geradewegs zur Analogie und zur Proportionalität.

Die logische Situation der Proportionalität (Ana-logie bei den Antiken) stellt eine Quelle unerschöpflicher Verwunderung dar. Mit ihr gelangen die bisher genannten logischen Situationen zu einer Gliederung, die imstande ist, auf verschiedenen Ebenen wahrhaftige Gesetze auszudrücken, welches die bisherigen Situationen, die bloße Wiederholung, die Symmetrie und die Ähnlichkeit, nicht vermochten. Man kann leicht feststellen, dass 90 Prozent der Gesetze der Physik auf Proportionalität beruhen. Aber auch diesmal und vor allem jetzt, im Falle der Proportionalität, können wir uns jeglichem anderen Gebiet der Wirklichkeit und der Wahrheit zuwenden. Das biologische Wachstum z.B. ist in hohem Maße eine Frage der Proportionalität. Eine Beweisführung bedient sich der Proportionalität, d.h. beweglicher Beziehungen, während sich die Argumentation häufig der von der Proportionalität abhängigen Urteile der Analogie bedient. Operationen jedweder Art bringen die Gleichheit der Beziehungen ins Spiel, d.h. die Proportionen.

BRIEFE ZUR LOGIK DES HERMES

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Aber noch überraschender für die logische Reflektion ist es, zu sehen, dass auch die Mittel der Dichtkunst die logische Situation der Proportionalität ins Spiel bringen. Was ist eine Metapher, hinsichtlich ihres formalen Aufbaus? – Sie ist eine versteckte Proportionalität.

Verweilen wir zur Veranschaulichung der Wirkmächtigkeit der Proportionalität kurz bei jenem Vers, der möglicherweise das Antlitz unserer literarischen Kultur verändert hat. Als Eminescu aus Wien der Zeitschrift „Convorbiri literare” Venere şi Madonă2 schickte, konnte nichts anderes auf dem Gebiet der Poesie die außergewöhnlichen Empfindungen Negruzzis und später Manolescus so sehr erwecken wie der Vers: „Weichlich der Arm, gleich dem Denken des dichtenden Kaisers.”3 Wir wollen sagen, mag es auch gewagt sein, dass mit diesem Vers die moderne rumänische Kultur anhebt. Er ist aber seinem Wesen nach, wie jede Metapher, eine Proportion, d.h. eine Gleichheit von Beziehungen. Die Beziehung zwischen den Bewegungen des Armes und seiner Weichlichkeit ist die gleiche wie jene zwischen den Regungen des Geistes und dem Denken des dichtenden Kaisers. Und wie auch sonst in einer Proportionalität ist auch hier die Stellung der Beziehungen gleichgültig. Es ist einerlei, ob man 10:5 = 6:3 oder 6:3 = 10:5 schreibt. In der herkömmlichen Dichtung müsste die Metapher lauten: „Das Denken des dichtenden Kaisers ist gleich einem weichlichen Arm“, denn die Metapher ist ein konkretisierter Vergleich. Aber siehe da, der Dichter bedient sich hier der inneren Freiheit der Proportionalität und vergleicht umgekehrt das Konkrete mit etwas Abstraktem. Daraus entspringt das poetische Wunder. Wir wollen freilich nicht behaupten, dass die logische Situation der Proportionalität hinreichend ist zur erschöpfenden Auslegung des Verses. Doch wir verweilten für einen Augenblick bei dem poetischen Wunder, um ersichtlich zu machen, dass sich selbst in diesem Bereich eine logische Situation verbergen kann.

Wir sind angelangt bei der Proportionalität als bei einer hohen Errungenschaft des Gedankens in seinem Versuch, die Gesetzmäßigkeiten der Welt und der künstlerischen Schöpfung auszumachen. Die unvollendete mathesis universalis aus den „Regeln” des Descartes schien nichts anderes zu sein als eine Wissenschaft der Proportionalität. Die Renaissance der Maler, Bildhauer und Architekten war eine den Ideen der Proportionalität gewidmete Hymne. Und da hätte nur die Logik nichts zur Proportionalität zu sagen?

Und dennoch ist die Proportionalität nur eine logische Situation unter anderen, auch wenn sie die bis hierher beschriebenen Situationen zur Vollendung führt. Es gibt noch andere logische Situationen, die ihren Platz in der Wissenschaft der Logik suchen. Nehmen wir z.B. die Situation der Koordination Plötzlich elektrisiert sie

2 Der Titel eines Gedichtes von Mihai Eminescu. (Anm. d. Übers.)3 Deutsch von den Übersetzern. (Anm. d. Übers.)

1. Briefe zur Logik im Allgemeinen

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die Dinge: Sie verbindet oder löst sie (aus dem „und“ der kopulativen beiordnenden und dem „oder“ der trennenden beiordnenden Konjunktion speist sich der neuen Logik grundlegendes Kapitel), sie verknüpft und vermehrt die Dinge, fügt ihnen etwas hinzu, schafft Verbindungen, Zusammensetzungen, Anhäufungen, Absonderungen, Ansammlungen, Verkettungen und Kettenreaktionen.

Genauso reich aber, und vielleicht logisch bedeutsamer, ist die Situation der Subordination. Der wissenschaftlichem Denken abholde Philosoph Schopenhauer konnte dennoch etwas Treffliches äußern, und zwar dass jegliche Wissenschaft die Koordinationen in Subordinationen verwandelt. Dadurch schafft man neue Formen der Verknüpfung zwischen den Dingen, mithin neue logische Situationen: die logische Implikation, die Folge, die Deduktion (reduziert auf die Theorie des Syllogismus, findet die Logik des Aristoteles gänzlich darin Platz); es erscheinen der einfache und der verkettete oder verzweigte konditionale Satz, es erscheint die Ader der Logik, deren Gang man gleich dem Bergmann folgen kann, oder die Gewissheit eines Verlaufes und mit ihr die Vorhersehbarkeit.

Doch bisweilen bricht die Verkettung jäh ab: Die Negation kommt zum Vorschein. Liefert nicht auch sie eine logische Situation? Sie schafft einen Horizont, innerhalb dessen vieles geschehen kann. Für gewöhnlich sagt man, dass ein minus A das A annuliert. Wie denn das? Wahrhaftig, ich komme nicht im Mindesten vorwärts, tu ich zwei Schritt vor und zwei zurück. Schreibe ich etwas an die Tafel und wische das von mir Geschriebene dann weg, so bleibt nichts übrig. Auf anderen Ebenen aber erinnert das vorgebliche Annulieren des A an den Fall der beiden Löwen, welche, in den selben Käfig gesperrt, einander auffressen, so dass morgens nichts als ihre Schwänze zu finden übrig bleibt.

Wenn man sagt, minus A sei kein anderes Seiendes (oder kein anderes Urteil), sondern immer noch A, doch verneint, dann ergibt sich die Frage: Was ist das verneinte A? Es ist das Komplement des A, wird man uns sagen, d.h. alles, was A nicht ist, jedweder andere Buchstabe oder jedwedes andere Wirkliche; aber man könnte genausogut sagen, dass es das Gegenteil von A sei, auf wer weiß welcher Werteskala; es ist auch das durchgestrichene A4, was bedeutet, dass es nicht der Bus A ist, obwohl die Fahrbahn eine gemeinsame Strecke hat, also ist es A und es ist es nicht; oder vielleicht bedeutet es mehr als das Gegenteil von A, als das durchgestrichene A; vielleicht bezeichnet es jenes, das sich dem A widersetzt, ihm entgegentritt, das ihm Widersprechende.

Und damit sind wir bei einer neuen logischen Situation angelangt, bei der Situation des Widerspruches. Lassen wir die Annulierung der Widersprüche, von der wir im Falle der einfachen Verneinung schon gesehen haben, wohin sie führt,

4 Anspielung auf ein Symbol, welches zur Bezeichnung der öffentlichen Verkehrsmit-tel in Rumänien gebraucht wird. (Anm. d. Übers.)

BRIEFE ZUR LOGIK DES HERMES

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beiseite. Mit der widersprüchlichen Verneinung wird eine Situation geschaffen, die das Bisherige aufzuheben scheint. Die sich widersprechenden Glieder können einander gegenseitig blockieren, doch entsprechend der Auffassung Ştefan Lupaşcus, eines überaus originellen Philosophen rumänischer Abkunft aus dem Westen, können sie sich ebenfalls, eines auf Kosten des anderen, aktualisieren und somit jedesmal mehr oder weniger aktuell oder mehr oder weniger virtuell sein; andererseits können sich Widersprüche auflösen in einer Synthese, die beide sich widersprechenden Glieder – verwandelt – enthält; es kann jedoch auch sein, dass die eine Seite des Widerspruches – bereichert um den Antagonismus der anderen – diese integriert, und dass also der Widerspruch nicht zweiseitig ist, sondern einseitig. Es kann sich mithin vieles im logischen Horizont des Widerspruches ereignen, und einige Denker, die Dialektiker, behaupten sogar, Alles vollziehe sich im Horizont des Widerspruches.

Mit der Dialektik sind wir auch hinübergetreten aus der Welt der Dinge in die des Menschen, und hier erscheinen unablässig logische Situationen, oder sie sind zumindest im Begriff zu erscheinen. Man kann nicht, ohne dass die von uns angestrebte Logik dabei Schaden nähme, über derartige Situationen hinweggehen unter dem Vorwand, ihnen fehle, im Gegensatz zum Unbelebten und zu den formalen Symbolen, die letztgültige Strenge. Ein Mord bleibt – auch wenn er nicht perfekt ist – ein Mord. Alle Geisteswissenschaften folgen in ihrem Versuch, Gesetze zu finden, dem Faden einer logischen Situation, ohne eine ausgestaltete Logik zu bieten. Die zu Beginn in Erinnerung gerufenen und scheinbar nur die Welt des Leblosen ins Auge fassenden logischen Situationen finden sich, anders orchestriert, im Organischen und Geistigen wieder. So findet sich die Wiederholung, wenn auch ergänzt, im Problem der Identität wieder, und es müsste uns eigentlich verwundern, dass die Gleichung A = A ein bloßes logisches Prinzip, und nicht ein logisches Problem darstelle. Sichtbar wird das Problematische dieser Gleichung im Ich = Ich, ein Staat ist in allem derselbe Staat, der Tag eines Weisen ist derselbe Tag des Weisen, alles der Form A = A. Der Vergleich und die Urteile der Analogie sind ihrerseits beheimatet in den Geisteswissenschaften. Auf die Proportionalität stützen sich ganze Bereiche anderer Gebiete als die der leeren oder physischen Zahlen. Weder lässt sich die Koordination auf die Anwendung zweier Konjunktionen beschränken, noch die Subordination auf eine bloße Implikation; andererseits erschienen uns die Negation und der Widerspruch ungleich reicher in ihrem logischen Gehalt als ihre mechanische Anwendung.

Die erwähnten Situationen, von denen einige nicht einmal einer rein logischen Betrachtung unterzogen wurden, sind, gelöst von den verschiedenen Gebieten des Realen oder der Kultur, weit davon entfernt, ihren logischen Charakter einzubüßen. Warum sollte sich schließlich die Logik nur in der Mathematik und in den Klassifizierungen der Naturwissenschaften, d.h. im rein Konstruktiven und im rein

1. Briefe zur Logik im Allgemeinen

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Deskriptiven widerspiegeln? Und außer den obigen logischen Situationen erscheinen überall andere neue: Die Biologie bietet einige charakteristische logische Situationen, sowohl die Geschichte und die Künste bringen logische Verfahren ins Spiel, als auch die Plan- und die Marktwirtschaft; die Technik, die philosophische Wissenschaft und Spekulation stehen alle unter dem Joch logischer Situationen.

Hier können wir innehalten. Wir haben folgende Situationen vor uns: Die Wiederholung, die Symmetrie, die Ähnlichkeit, die Proportionalität, die Koordination, die Subordination, die Verneinung, den Widerspruch – die wir alle in den Geisteswissenschaften, um deren spezifische Situationen ergänzt, wiedergefunden haben. Haben wir nun alle logischen Situationen aufgezählt, um die anfängliche Verwunderung einer Wissenschaft zu erzeugen? Aber nein, nicht einem derartigen Gedanken sind wir gefolgt, sondern jenem, mittels der verschiedenen aufgeführten logischen Situationen ein fruchtbares Chaos zu schaffen, das eine Wissenschaft der Logik verlangt. Zwei Umstände sind es, die aus diesen Situationen einen möglichen Anfang machen. Als erster die Tatsache, dass alle genannten Situationen formal sind oder es werden können; als zweiter derjenige, dass alle wiederum gleichzeitig unter der Idee des logischen Feldes zusammengefasst werden können.

Man hat von der Idee des Feldes gesagt, sie stelle, neben jener der Funktion, die große Neuerung des modernen Denkens dar. Hier aber kann die Idee des Feldes in ihrer allereinfachsten Form eingeführt werden: Sie ist eine Idee, die jeglicher antike Logiker mit Leichtigkeit hätte entwerfen können, wenn er sich nicht der ausgestalteten Logik des Aristoteles als Vorbild gegenüber gesehen hätte.

Es gibt ein Feld der Wiederholung, so wie es eines der Koordination und der Subordination gibt; ein Feld der Ähnlichkeit wie der Proportionalität, sowie eines des Widerspruches und der logischen Situationen aus den verschiedenen Geisteswissenschaften. Jede logische Situation schafft ein Feld, in dessen Angesicht ein denkendes Bewusstsein von Verwunderung erfüllt werden kann. So wie es elektromagnetische Felder gibt überall in der Wirklichkeit, so gibt es auch im Realen wie im Idealen logische Felder.

Was aber ist in Wahrheit, d.h. in seinem Wesen ein logisches Feld? So uns von nirgendher Antwort auf diese Frage zukommt, müssen wir selber sie zu geben versuchen im nächsten Brief.

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2. WAS BEDEUTET EIN LOGISCHES FELD ODER Z WISCHEN DER LOGIK DES ARES

UND DER LOGIK DES HERMES

Alle Welt scheint zu wissen, was unter einem metaphysischen Schauer zu verstehen ist, aber kaum jemand wird einem sagen können, was Metaphysik sei. Die Adjektive der Philosophie sind klarer als ihre Substantive. Genauso in der Logik. Wir verwenden unablässig das Adjektiv „logisch“: Es ist nicht logisch, dies zu sagen; so wäre es logisch; die Situation ist weit davon entfernt, logisch zu sein; hier ist eine logische Fährte; die Schullogik jedoch beachtet unsere Beispiele nicht, und wir beachten unsererseits die Schullogik nicht. Wir stoßen aber offensichtlich auf Situationen, die wir, bei einem derartigen Gebrauch des Adjektivs, logische Situationen nennen müssen. Die Dinge und Symbole, unsere Gedanken und Formulierungen können Verbindungen eingehen und können Form annehmen; so erhalten sie Zusammenhang, Schlüssigkeit, Strenge, Übersichtlichkeit des Ganzen und eines jeden Teils im Rahmen des Ganzen – und erlauben dann gültige Schlussfolgerungen.

Selbst wenn die logische Reflektion kein eigenes Gebiet der Welt wie andere Wissenschaften hat, so ist sie nichtsdestotrotz von einer Erfahrung der logischen Situationen erweckt. Die Tatsache, dass das Logische – vor jeder Reflektion über es selbst – im Realen, im Möglichen, im Imaginären oder zumindest im Konstruierten zu finden ist, lässt sich nicht leugnen. Wenn man es in den Dingen nicht zugibt, findet man das Logische im Denken wieder, und wenn man nicht über „das Denken und seine Verbindungen“ (wie sich die klassische Logik definiert) nachdenken will, wenn man sich also weigert, Subjekt der Logik zu sein, kann man sich jenen logischen Situationen, die einen zu ihrem Objekt machen, nicht entziehen.

Kann man mit derartigen logischen Situationen beginnen, anstatt von einer Definition der Logik selbst auszugehen? In dem Maße aber, in dem die herkömmlichen

2. Was bedeutet ein logisches Feld

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Definitionen und die Wissenschaft der Logik für die Kultur unbefriedigend bleiben und ihr nichts Besonderes zu sagen haben, wie es heutzutage der Fall ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als von den logischen Situationen auszugehen. Man könnte sogar sagen, dass die Wissenschaft der Logik genau deshalb unbefriedigend bleibt, weil sie sich von den vom Menschen wahrgenommenen logischen Situationen keine Rechenschaft gibt. Ihnen muss jedoch noch Ordnung verliehen werden, und die erste Art, in der dies geschehen soll, besteht darin, sie zu vereinen mittels der Idee des logischen Feldes.

Alle logischen Situationen, so verschieden sie auch seien, schaffen Felder. Die Idee des logischen Feldes reduziert die Mannigfaltigkeit (logische Situationen im Wirklichen, im Denken, in Formulierungen oder in Symbolen) auf eine Einheit. Die Logik könnte hervorgehen aus einer Theorie des logischen Feldes. Während jedoch die logischen Situationen, gleich einer Erfahrung des Logischen, nur beschrieben werden können, bedarf das logische Feld der Definition.

Wir werden also nicht mit einer Definition der Logik beginnen, jedoch versuchen, das logische Feld zu definieren. Sowohl die logischen Situationen der Wiederholung, der Symmetrie, der Ähnlichkeit, der Proportionalität, der Koordination, der Subordination, der Verneinung, des Widerspruches, als auch die logischen Situationen der Geisteswissenschaften in Betracht ziehend, wollen wir sagen: Logisches Feld nennen kann man jene Situation, in der das Ganze im Teil, und nicht nur der Teil im Ganzen ist.

Es mag zunächst sonderbar klingen, wird sich aber vielleicht rasch als berechtigt erweisen. In einer „logischen“ Ganzheit ist der Teil mit einer ungewöhnlichen Bedeutung aufgeladen und wie elektrisiert. In einer gewöhnlichen Ganzheit ist der Teil gleichgültig: So sind beispielsweise in einem Ganzen von der Art eines Haufens oder eines einfachen Kollektivs die Teile im Ganzen enthalten, und nur ihr äußeres Zusammenfassen ergibt das Ganze. In einem mechanischen Ganzen, zum Beispiel in einem Uhrwerk, steht das Teil in, aber auch unter der Organisation des Ganzen. In einem organischen Ganzen gehört das Teil zum Sinn des Ganzen und schöpft seinen Sinn erst aus diesem. Nirgends ist das Ganze im Teil: Es bezieht es mit ein, befehligt oder führt es zu Ende. In den logischen Situationen jedoch – und eben deshalb erscheinen sie uns als „logisch“ – verhält es sich mit den Dingen umgekehrt: Das Ganze ist im Teil, oder das Teil trägt alle Bedeutung des Ganzen. Ein Verfahren ist logisch, wenn es die Berechtigung des Ganzen in sich trägt.

Wählen wir zu Beginn die ideale Situation, jene, die sich in der Mathematik (doch auch hier nicht überall) ergibt. Bei der Lösung eines mathematischen Problems ist das Ganze des Problems jederzeit im Teil enthalten. Wenn wir zum Beispiel ein Problem in eine Gleichung bringen, ist es in der erhaltenen Gleichung vollständig vorhanden. Man beginnt, die Gleichung umzuformen: Das Problem erhält sich in jeder identischen Umformung der Gleichung. Bei jedem Lösungsschritt

BRIEFE ZUR LOGIK DES HERMES

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ist das Ganze gegenwärtig, so dass man sagen kann, das vom Problem dargestellte Ganze sei in jedem Teil enthalten. Und so ist es auch in der logischen Situation der Wiederholung, in welcher der Teil (jede einfache Wiederholung) die Gesamtheit des Phänomens Wiederholung ins Spiel bringt; in der Symmetrie, in der jeder Punkt das Gesetz der Symmetrie in sich trägt; oder bei der Proportionalität, in der jede einzelne Proportion im gleichen Verhältnis steht und so das ganze Feld der Proportionalität ausdrückt. So ist es bei der Koordination, beim Widerspruch – und besonders bei den logischen Situationen des Menschen.

Es mag wiederum sonderbar erscheinen, dass wir das Logische hauptsächlich beim Menschen hervorheben – wo aber könnten die das Ganze in sich tragenden Teile (wenn man diese Definition des logischen Feldes zumindest provisorisch annimmt), oder der Übergang des äußeren Mediums ins innere Medium klarer zu Tage treten? Denn das äußere Medium kann als inneres Medium übernommen werden, das salzige und warme Meer kann man sich als im warmen und salzigen Blut des Säugetieres übernommen vorstellen – so wird der Teil zum Ganzen potenziert. Indem er aber dies tut, ist der Teil mehr als nur er selbst oder jenseits seiner selbst – was man unablässig im Menschen und im Menschlichen sieht. Ein Mensch ist wahrhaftig Mensch und tritt hinaus aus der Statistik, wenn er eine Welt wird. („In jedem Menschen versucht sich eine Welt“, sagt Eminescu; in jedem müsste sich eine versuchen). Für gewöhnlich verdient ein Ding, wenn es seine „Ufer“ nicht überflutet, seinen Namen nicht; und der Nil ist der Fluss der Welt par excellence, denn er ermöglicht und ist durch sein Überfluten eine Welt. Selbst in der Erkenntnis gebraucht der Mensch ein Kriterium des ab uno disce omnes, etwa indem er in den Naturwissenschaften nach einem idealen, dem einzigen, das Gesetz offenbarenden Experiment sucht. Und in der Mathematik, so hat man behauptet, entspringe die Integralrechnung der Idee einer Schlussforgerung über das Ganze aus dem Schluss über die Teile.

Vor allem aber im Verhalten und Schaffen des Menschen sieht man dies. Der wahre Dichter wird dereinst zur Poesie selbst; der Physiker, im Anbeginn überwältigt von all dem Gewussten, endet bisweilen darin, dass er zur Physik selbst wird. Die heutige Literaturkritik akzeptiert den direkten Sinn eines Textes nicht mehr, sondern sie suggeriert, jeder Leser lege nach eigener Lesart aus. Kants moralischer Mensch, Teil der Gesellschaft, müsse sich dessen ungeachtet so benehmen, dass sein Verhalten jederzeit als Gesetz für die Anderen gelten könne. Der Genius definiert sich eben dadurch, dass er auf dem Gebiet, auf dem er sich ausdrückt, gesetzgebend wirkt – bis hin zum Tyrannen, der nichts anderes will, als dass sein Wille Gesetz werde, und der, so ihm dies nicht gelingt, zur Tyrannei greift. Die Welt ist voller Individuen, die dazu neigen, allgemeine Bedeutungen vorzugeben oder diese zumindest in den anderen auzumachen. Wenn man sich jemandem hingibt, wenn man einer Idee beipflichtet, wenn man einen Sinn verkörpert, so tut

2. Was bedeutet ein logisches Feld

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man dies, weil man in jenen eine Welt sieht. Selbst wenn man liebt, spürt man in dem anderen Wesen einen Träger allgemeiner Bedeutungen – ein wahrhaft logisches Feld. Kann aber hier die Rede von logischen Bedeutungen sein, oder bestenfalls von einer Pascalschen Logik des Herzens? Wir werden sehen. Man könnte, in Umschreibung Shakespeares, sagen: „Es ist mehr Logik in der Welt, denn in deinen Büchern, Horaz.“

Im Gegenzug ist, Menschliches vorübergehend außer Acht lassend, nicht überall da Logik, wo die Strenge, ihr idealer Zustand, erscheint. In Struktur und System beispielsweise müsste man eigentlich keine strikt logische Situation sehen. Hier ist der Teil konstitutiv, drückt allerdings damit noch nicht das Ganze aus (genausowenig, wie ein Zahnrädchen des Uhrwerkes schon das ganze Uhrwerk wiedergibt). Es wäre wohl angemessener, hier von mechanischen, organischen oder systemischen Situationen zu sprechen. Nicht jede strenge Entwicklung ist auch eine logische Entwicklung. Genauso ist im Falle einer mathematischen Beweisführung – im Unterschied zu einer mathematischen Lösung – etwas anderes im Spiel als eine rein logische Situation: Es ist längst bekannt, dass die mathematische Beweisführung neue, intuitive oder abstrakte Elemente einbringt – (um zu zeigen, dass die Winkelsumme im Dreieck gleich der Summe zweier rechter Winkel ist, verlängere ich eine der Seiten usw.) –, so dass der Teil nicht immer das Ganze ausdrückt und die Umwandlungen keine tautologischen sind.

In den logischen Situationen ist das Ganze in jedem Teil dasselbe. Die Tautologie mag das Wesen der Logik ausmachen, jedoch nicht in dem Sinne, als dass man in der Logik immer „dasselbe sagt“, sondern in jenem, in dem ein Selbiges sich jederzeit in jedem Moment des Ganzen widerspiegelt. In eben diesem Sinne könnte man sagen, dass sich ein Schicksal oder ein Menschenleben in einer logischen Situation befinden können, dann nämlich, wenn jeder Schritt des Lebens die Rechtfertigungen des Ganzen enthält. Der Weise lebt „logisch”, weil er in jedem Augenblick das Gesetz des wahrhaftigen Menschen in sich trägt. In seiner Verantwortung vor dem Ganzen ist er unablässig eine „Totalität jeden Augenblickes”.

Bevor wir versuchen zu sehen, wie eine Logik aussähe, in der das Ganze im Teil enthalten ist, wollen wir sehen, wie die Logik, in der der Teil im Ganzen enthalten ist, aussieht. Letztere aber stellt eben die bisherige Logik dar, sowohl die klassische und aristotelische als auch die moderne. Wie verschieden auch immer sie erscheinen mögen, haben die alte und die neue Logik nichtsdestotrotz genau die (für das Wirkliche, jedoch nicht für das Logische sinnvolle) These des gesunden Menschenverstandes gemeinsam: dass der Teil im Ganzen enthalten sei; und gemeinsam sind ihnen auch die schließlich keineswegs harmlosen Konsequenzen dieser These.

So entstanden beispielsweise die Logik des Aristoteles und besonders die Lehre des Syllogismus. Von diesem hat Henri Poincaré mit einer nicht ganz unberechtigten