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- 1 - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg St. Gallen - Hilbert Meyer - Was ist guter Unterricht? Empirische Befunde und didaktische Empfehlungen Inhalt: Punkt 1: Eine Arbeitsdefinition für „guten Unterricht“ Punkt 2: Meine Hauptbotschaft: ZEHNERKATALOG Punkt 3: Erläuterung einiger Merkmale des Katalogs Punkt 4: Blick in die Forschungswerkstätten Punkt 5: John Hatties Synthese von Metaanalysen Punkt 6: DREI-SÄULEN-MODELL des Unterrichts Punkt 7: Aufbau von Lerngerüsten Punkt 8: Was tun? Gymnasium Untere Waid - 4. Dezember 2014

Carl von Ossietzky Universität Oldenburg St. Gallen ... · Die Merkmale sind wie ein Kranz um das sogenannte DIDAKTISCHE SECHSECK (ausführlicher erläutert in Meyer 2007, Lektion

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Carl von Ossietzky Universität Oldenburg St. Gallen - Hilbert Meyer -

Was ist guter Unterricht?

Empirische Befunde und didaktische Empfehlungen

Inhalt:

Punkt 1: Eine Arbeitsdefinition für „guten Unterricht“

Punkt 2: Meine Hauptbotschaft: ZEHNERKATALOG

Punkt 3: Erläuterung einiger Merkmale des Katalogs

Punkt 4: Blick in die Forschungswerkstätten

Punkt 5: John Hatties Synthese von Metaanalysen

Punkt 6: DREI-SÄULEN-MODELL des Unterrichts

Punkt 7: Aufbau von Lerngerüsten

Punkt 8: Was tun?

Gymnasium Untere Waid - 4. Dezember 2014

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Vorweg: Sicherlich gibt es auf dieser Welt wichtigere Dinge als die Frage nach dem guten Unter-richt:

- Der Frieden muss gesichert,

- ein gerechter Ausgleich zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd muss hergestellt,

- die Schöpfung muss bewahrt werden.

Aber die Menschen, die diese Schlüsselprobleme der Gegenwart und Zukunft lösen sollen, sitzen heute vor uns auf den Schulbänken. Und sie werden dort mit eher altertümlichen Lehrverfahren traktiert, die nicht erwarten lassen, dass die Team- und Projektfähigkeit, das Demokratiebewusst-sein und die Toleranz gegenüber Mensch und Natur in dem Umfang gefördert werden, wie dies für die Lösung der Schlüsselprobleme erforderlich ist.

1. Eine Arbeitsdefinition für „guten Unterricht“ 1.1 Zwei Annäherungen

Es gibt sehr viele Publikationen zum Thema Unterrichtsqualität. Aber die wenigsten Forscher ringen sich dazu durch, klar zu sagen, was für sie guter Unterricht sei. Die genannten Gründe: Das sei viel zu komplex, es hänge vom Fach ab, von den Schülern, von den Kerncurricula und anderem mehr. Diese Auskunft reichte mir nicht, als ich vor 10 Jahren mein Buch zum „Guten Unterricht“ (2004) schreiben wollte. Deshalb habe ich Schüler und Lehrpersonen befragt, was sie unter gutem Unter-richt verstehen. Zwei Beispiele:

Markus ist Zwölftklässler an einem Hamburger Gymnasium und besucht einen Leistungskurs Ge-schichte. Markus gehört zur Gattung der "Minimax-Lerner" und realisiert damit eine Haltung, ohne die gerade erfolgreiche Lernende kaum bis zum Abitur kämen.

Bei einer Befragung durch Wissenschaftler erklärt er: „Unterricht ist dann gut, wenn ich mit minimalem Aufwand einen maximalen Ertrag erziele.“

Auf die Nachfrage, was er damit meine, sagt Markus: "Ich bin zu Beginn des letzten Leistungskurses zu Herrn XY gegangen und habe ihm gesagt: ‚Herr ..., Sie können tun, was Sie wollen, aber ich bin an Ge-schichte nicht interessiert. Was muss ich tun, damit ich die Mindestpunktzahl bekomme?‘ Antwort des Lehrers: "... nicht stören und die Klausur mit der Mindestpunktzahl bestehen." Markus zum Forscher: "Das ist ein guter Lehrer!"

Ich stimme Markus zu, und zwar deshalb, weil dieser Lehrer - wenn auch auf dem niedrigst denkba-ren Niveau - ein Arbeitsbündnis mit seinem Schüler geschlossen hat. Und der Lehrer hat sogar, wenn er attraktiven Geschichtsunterricht anbietet, die Chance, den Schüler Markus von seiner Ge-schichtsabneigung zu kurieren. Ein Arbeitsbündnis kann sehr unterschiedliche Formen annehmen:

- Es kann mit einem einzelnen Schüler, zwischen einzelnen Schülern und mit der ganzen Klasse vereinbart werden.

- Es kann auf leisen Sohlen daher kommen. Die Klasse akzeptiert Sie, weil Sie freundlich und vorbereitet auftreten. Da muss gar nichts mehr förmlich vereinbart werden – die Klasse arbeitet einfach mit.

- Es kann am Ende einer Planungsstunde im Gespräch mit der Klasse vereinbart werden.

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- Es kann auch hart errungen und dann förmlich vereinbart worden sein. Sie und Ihre Klasse mussten sich erst zusammenraufen. Die Schüler ließen sich „auf Probe“ auf Ihr Lehrangebot ein, waren aber jederzeit auf dem Sprung, um aus dem Bündnis auszusteigen.

Wie Arbeitsbündnisse im Schulalltag gestaltet werden oder auch misslingen können, haben Werner Helsper u.a. (2009) in einer empirischen Studie zur Schul- und Unterrichtskultur eindrucksvoll be-legt. Die Autoren können sogar zeigen, dass hier und dort die Schüler die Initiative ergreifen, um die Lehrerperson dazu zu bringen, ein anspruchsvolleres Arbeitsbündnis anzubieten als zunächst vor-gesehen.

Ein Arbeitsbündnis ist die Voraussetzung dafür, dass die Schülerinnen und Schüler selbstreguliert arbeiten und dass sie Verantwortung für den eigenen Lernprozess übernehmen. Das können sie aber nur dann, wenn sie selbst didaktische Kompetenzen entwickeln. Damit ist mehr gemeint als „selbstständiges Lernen“ und Verantwortungsübernahme für den eigenen Lernprozess. Gemeint ist die Mitgestaltung des Lehr-Lernprozesses der ganzen Klasse.

Das Arbeitsbündnis muss belastbar sein. Ein aus Zeitgründen vorschnell verabschiedetes Arbeits-bündnis, bei dem die Lehrenden ihre Interessen einseitig durchgedrückt haben oder bei dem eine durchsetzungsfähige Minderheit der Klasse die übrigen Schülerinnen majorisiert hat, bricht meist nach wenigen Stunden in sich zusammen. Dann ist noch nicht „Ende der Fahnenstange“, aber im Unterricht muss eine Zäsur gemacht und erneut verhandelt werden.

Ein zweites Beispiel: Mariah ist Grundschülerin in der dritten Klasse. Ihre Lehrerin hatte die ganze Klasse gebeten aufzuschreiben, was für sie guter Unterricht ist. Mariah schreibt:

Eine solche Antwort geht zu Herzen. Und sie macht zweierlei deutlich: Gerade jüngere Schüler re-den und denken selten pauschal über die Güte des Unterrichts nach. Sie denken in Fächern. Und sie definieren die Attraktivität eines Faches auf der Folie der Wertschätzung oder Ablehnung der Lehrperson, die dieses Fach unterrichtet. Das deckt sich auch mit vielen Forschungsergebnissen: Die entscheidende "Variable" für hohen Lernerfolg ist – neben den Schülern selbst – eine „starke“

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Lehrerpersönlichkeit.

1.2 „Es geht nicht ohne eine Bildungstheorie“

Die Aufarbeitung der persönlichen Erfahrungen mit gutem und schlechten Unterricht reicht aber grundsätzlich nicht aus, um guten Unterricht theoretisch befriedigend zu definieren. Warum? Dies 1

Damit ist natürlich kein Rambo-Lehrer gemeint, sondern ein Mensch, der sein Fach versteht und dem es immer wieder gelingt, in die Perspektive seiner Schülerinnen und Schüler zu wechseln.

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hat rein logische Gründe. Sonst erläge man dem, was die Logiker den ‚naturalistischen Fehlschluss’ nennen.

These: Es ist logisch unzulässig, aus dem, was ist, abzuleiten (zu deduzieren), was sein soll. – Es geht nicht ohne Bildungstheorie.

Seit den Zeiten des Johann Amos Comenius (1592-1670) wird darüber nachgedacht, wie eine sol-che bildungstheoretische Begründung aussehen kann.

In dieser Traditionslinie ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Güte des Unterrichts nicht nur im Blick auf den Umfang des gelernten Wissens und der erworbenen Kompetenzen bestimmt wird. Auch die Erziehungsaufgaben, die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung und die Ausbildung einer demokratischen Unterrichtskultur spielen eine gewichtige Rolle.

Die Hauptbotschaft dieser Autoren lautet: Es reicht nicht aus, die heranwachsende Generation dazu anzuleiten, das Vorgegebene zu bewahren. Denn die alte Generation wird einmal abtreten. Und dann muss die junge Generation die Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen und eigene Entscheidungen in eigener Verantwortung treffen. Deshalb ist eine ausschließlich auf den Erhalt des Bestehenden ausgerichtete Erziehung prinzipiell ungenügend.

Diese bildungstheoretische Orientierung gilt m.E. auch für jede Schule, die Unterricht im christli-chen Verständnis praktiziert. Erziehung ist immer und nicht nur hier und dort darauf angewiesen, dass die vermittelten Normen von den Heranwachsenden freiwillig übernommen werden. Dies heißt, dass die Schüler das Recht haben müssen, sich „auch gegen die zugemutete Intentionalität“ (Herwig Blankertz) wenden zu können. Nur dann besteht die Chance, dass sie selbstbestimmt in die christliche Gemeinschaft hineinwachsen.

Ich fasse zusammen: (1) Wenn man/frau guten Unterricht geben will, ist es klug, ein Arbeitsbündnis mit den Schülerinnen und Schülern zu schmieden! (2) Die Lehrerpersönlichkeit spielt immer eine zentrale Rolle! (3) Es geht nicht ohne eine Bildungstheorie!

1.3 Eine Arbeitsdefinition für „guten Unterricht“

In der folgenden Arbeitsdefinition habe ich die unverzichtbare bildungstheoretische Grundlegung für guten Unterricht in meinen Worten zusammengefasst:

Arbeitsdefinition Guter Unterricht:

Guter Unterricht ist ein Unterricht, in dem

(1) im Rahmen einer demokratischen Unterrichtskultur

(2) auf der Grundlage des Erziehungsauftrags

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(3) und mit dem Ziel eines gelingenden Arbeitsbündnisses

(4) die Persönlichkeitsentwicklung aller Schülerinnen und Schüler unterstützt wird und sinn-stiftende Orientierungen geschaffen werden,

so dass

(5) ein Beitrag zur nachhaltigen Kompetenzentwicklung geleistet wird

(6) und auch die Lehrerinnen und Lehrer einen humanen und nicht krankmachenden Arbeits-platz vorfinden.

Ich erläutere die wichtigsten Begriffe der Definition:

Demokratische Unterrichtskultur: Unterricht soll die Mündigkeit und die Solidaritätsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler entwickeln helfen und so einen Beitrag zum Bestand, aber auch zur Wei-terentwicklung unserer Gesellschaft leisten. Das vermag der Unterricht aber nur, wenn er – so schwierig das auch in der konkreten Umsetzung ist - selbst nach demokratischen Spielregeln ab-läuft.

Erziehungsauftrag: Unterrichten und Erziehen sind, wie dies seit Herbarts Zeiten immer wieder neu festgestellt wird, unlösbar miteinander verknüpft. Dabei werden die Erziehungsaufgaben der Schule offensichtlich immer größer, weil immer mehr Eltern einen Teil ihrer Pflichten an die Lehrerinnen und Lehrer delegieren. Das ist ärgerlich, aber nur begrenzt von der Lehrerschaft zu beeinflussen.

Persönlichkeitsbildung und sinnstiftende Orientierung gehören zusammen. Guter Unterricht hilft den Schülern, durch Auseinandersetzung mit den vereinbarten Aufgabenstellungen ihr Selbstvertrauen zu entwickeln und Wertorientierungen aufzubauen, um sich in der zunehmend komplizierter wer-denden Welt zurecht zu finden und sich einen eigenen Standpunkt zu den Schlüsselproblemen der Welt zu erarbeiten. Das kann man – mit Klafki, Blankertz oder Klingberg – auch schlicht als "Bil-dung" bezeichnen.

Ansprüche der Lehrerinnen und Lehrer: Unterricht, bei dem die Lehrer durch Überforderung, durch zu große Klassengrößen oder was auch immer in ihrer Arbeit behindert und demotiviert werden, kann nicht gut sein – ein Aspekt, der in der gängigen Literatur zum guten Unterricht weitgehend ausgeblendet wird und auch in meiner Veröffentlichung (Meyer 2004, S. 13) noch fehlte.

Fazit: Wer beim Stichwort „guter Unterricht“ nur an Wissens- und Könnensvermittlung denkt, greift zu kurz: Guter Unterricht ist mehr als die Addition von 10 Einzelmerkmalen!

2. Meine Hauptbotschaft: ZEHNERKATALOG 2.1 Überblick

Die empirische Unterrichtsforschung hat in den letzten 25 Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Ich habe diese Forschungsergebnisse studiert, sie didaktisch gewichtet, um drei damals empirisch schlecht abgesicherte, aber m.E. wichtige Punkte (die Merkmale 3, 5 und 9) ergänzt und dann zum ZEHNERKATALOG zusammengefasst. Der Katalog stellt einen Kriterienmix dar. Bildungstheoreti-sche Grundpositionen sind ebenso eingeflossen wie empirische Befunde zur Lernwirksamkeit ein-zelner Variablen.

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Die Merkmale sind wie ein Kranz um das sogenannte DIDAKTISCHE SECHSECK (ausführlicher erläutert in Meyer 2007, Lektion 7) herumgelegt.

ZEHNERKATALOG

1. Klare Strukturierung des Unterrichtsverlaufs (äußere Seite: geschickte Klassenfüh-rung, Rollenklarheit, Absprache von Regeln, Ritualen und Freiräumen; innere Seite: Herstellung einer didaktisch plausiblen Schrittfolge)

2. Hoher Anteil echter Lernzeit (durch gutes Zeitmanagement, Pünktlichkeit; Auslage-rung von Organisationskram; Vermeidung bzw. Reduzierung der „Zeitkiller“)

3. Lernförderliches Klima (durch gegenseitigen Respekt, verlässlich eingehaltene Re-geln, Verantwortungsübernahme, Gerechtigkeit und Fürsorge)

4. Inhaltliche Klarheit (durch Verständlichkeit der Aufgabenstellung, Plausibilität des the-matischen Gangs, Klarheit und Verbindlichkeit der Ergebnissicherung)

5. Sinnstiftendes Kommunizieren (durch Planungsbeteiligung, Gesprächskultur und Schülerfeedback)

6. Methodentiefe (Aufbau von Methodenkompetenz mit dem Ziel eines sicher beherrsch-ten Methodenrepertoires)

7. Individuelles und gemeinsames Fördern (durch Freiräume, Geduld und Zeit; durch innere Differenzierung; durch individuelle Lernstandsanalysen und abgestimmte Förder-pläne; besondere Förderung für Schüler aus Risikogruppen und für Hochbegabte)

8. Intelligentes Üben (durch Bewusstmachen von Lernstrategien, passgenaue Übungs-aufträge und gezielte Hilfestellungen)

9. Transparente Leistungserwartungen (durch ein an den Curricula und Bildungsstan-dards orientiertes, dem Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler entsprechen-des Lernangebot und zügige Rückmeldungen zum Lernfortschritt)

10. Vorbereitete Umgebung (durch gute Ordnung, funktionale Einrichtung und brauchba-res Lernwerkzeug)

11. Joker (z.B. für mediendidaktische und für fachdidaktische weitere Merkmale)

Ein mögliches Missverständnis: „Hoher Lernerfolg“ ist kein vergessenes elftes Merkmal, sondern die erhoffte und auch leidlich gut nachgewiesene Wirkung des Starkmachens aller zehn Merkmale.

Andreas Helmke (2012: 168-271) hat ebenfalls einen umfassend erläuterten Katalog mit zehn Merkmalen entwickelt, der große Ähnlichkeit mit Meyers Katalog hat und dazu den Charme besitzt, in wesentlichen Teilen vom Autor selbst erforscht worden zu sein:

ZEHNERKATALOG Helmke:

1. Strukturiertheit, Klarheit, Verständlichkeit 2. Effiziente Klassenführung und Zeitnutzung

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3. Lernförderliches Unterrichtsklima 4. Ziel-, Wirkungs- und Kompetenzorientierung 5. Schülerorientierte Unterstützung 6. Angemessene Variation von Methoden und Sozialformen 7. Aktivierung: Förderung aktiven, selbstständigen Lernens 8. Konsolidierung, Sicherung, intelligentes Üben 9. Vielfältige Motivierung 10. Passung: Umgang mit heterogenen Lernvoraussetzungen

Der wesentliche Unterschied zwischen Helmkes und Meyers Katalog liegt darin, dass mehrere der Helmkeschen Kriterien „nur“ aus der Perspektive der handelnden Lehrperson und nicht auch aus Schülersicht formuliert sind.

2.2 Nutzungsmöglichkeiten des ZEHNERKATALOGS

Merkmalskataloge können verschiedene Funktionen erfüllen. Ich empfehle folgende Nutzungsmög-lichkeiten:

1.) persönliche Stärken-Schwächen-Analyse als erster Schritt der Unterrichtsentwicklung (siehe Meyer, Guter Unterricht, S. 144)

2.) Schüler-Feedback mit Hilfe der 10 Merkmale (Beispiel: Christina Sczesny, in: Meyer: Was ist guter Unterricht?)

3.) Arbeit in Fachgruppen/Fachkonferenzen: fachdidaktische Konkretisierung der Merkmale und Formulierung von Entwicklungsaufgaben

4.) Kollegiales Hospitieren mit Hilfe der Beobachtungsbogen zu den 10 Merkmalen

5.) Strukturierte Stundennachbesprechung mit Hilfe des Zehnerkatalogs (vgl. dazu den Auf-satz Junghans & Feindt, in FRIEDRICH-Jahresheft XXV, 2007)

6.) Mitarbeitergespräche nach Unterrichtsbesuchen

7.) Integration des ZEHNERKATALOGS in das Schulleitbild.

8.) Orientierungsrahmen für die Schulinspektion

2.3 Überarbeitungsbedarf

Ich bin mehrfach gefragt worden, ob der Katalog durch die Hattie-Studien überholt sei. Meine Ant-wort: nein! Es ist sogar möglich, die bei mir noch schlecht belegten Merkmale 3 und 5 nun im Detail abzusichern. Überarbeitungsbedarf sehe ich aber an folgenden vier Stellen:

- Die Erziehungsaufgaben sind im Katalog und auch in den Erläuterungen im Buch (Meyer 2004) unterbelichtet. Sie werden ansatzweise in den Merkmalen 3 und 5 angesprochen, bleiben dort aber undeutlich.

- Es sollte stärker betont werden, dass es im guten Unterricht um den Aufbau einer demokrati-schen Unterrichtskultur geht.

- Das Merkmal „Methodenvielfalt“ aus dem 2004er Katalog ist in der Grafik von Seite 1 in „Me-thodentiefe“ umgetauft worden.

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3. Erläuterungen zum ZEHNERKATALOG Im Buch Meyer (2004): „Was ist guter Unterricht?“ finden Sie auf jeweils 8 bis 10 Seiten eine Defini-tion jedes Merkmals, eine Liste mit Indikatoren („Anzeigern“), einen knappen Bericht zum For-schungsstand und einige Ratschläge zum Starkmachen dieses Merkmals im Unterricht. Ich skizzie-re in diesem Skript nur die ersten drei und das sechste Merkmal!

3.1 Klare Strukturierung des Unterrichts (Prozessklarheit; Rollenklarheit, Absprache von Regeln, Ritualen und Gewährung von Freiräumen)

Im Kriterium Nr. 1 des ZEHNERKATALOGS wird das insgesamt wichtige Merkmal Klarheit speziell auf die Klarheit der Prozessstruktur des Unterrichts ausgelegt. Klarheit des Unterrichts hat eine äu-ßere Seite; damit meine ich das Classroom- oder Unterrichtsmanagement - und eine innere Seite; damit meine ich die didaktisch-methodische Linienführung einer Unterrichtsstunde.

Definition : Unterricht ist dann klar strukturiert, wenn das Unterrichtsmanagement funktioniert und wenn sich ein für Lehrer und Schüler gleichermaßen gut erkennbarer "roter Faden" durch die Stunde zieht.

In der Abbildung habe ich wichtige „Bausteine“ für klare Strukturierung aufgelistet und zugleich markiert, welche Wirkungen sie haben können. Die Formulierung „dies führt zu“ in der Zeichnung muss natürlich mit Vorsicht interpretiert werden. Die Empiriker weisen ja immer nur statistische Durchschnittswerte aus.

Zunächst zur äußeren Seite, also zum Classroom-Management:

Verständlichkeit der Aufgabenstellung: Eine klare Aufgabenstellung ist ein didaktisches Kunst-werk. In ihr findet eine Bündelung von Ziel-, Inhalts- und Methodenentscheidungen statt. Diese Bündelung muss erstens in sich stimmig sein und zweitens auch die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler angemessen berücksichtigen. Das nennen die psychologisch orientierten Unterrichtsforscher „Passung der Lernaufgaben“ oder „Adaptivität“.

Regelklarheit: Sie schafft Verlässlichkeit der Arbeitsbeziehungen. Der Lehrer hat die Hauptverant-wortung dafür, dass Regeln vereinbart und eingehalten werden. Dies heißt aber nicht, dass er für alles die alleinige Verantwortung trägt. Wünschenswert ist die schrittweise Verantwortungsüber-nahme der Schüler.

Rollenklarheit bedeutet, dass die im Verlauf einer Unterrichtseinheit notwendigen Rollendifferen-zierungen von beiden Parteien, dem Lehrer und den Schülern erkannt, akzeptiert und durchgehal-ten werden. Lehrer und Schüler können, je nach Aufgabenstellung, folgende Rollen einnehmen:

- die (traditionelle) Rolle des Unterrichtenden,

- die (traditionelle) Rolle des Lernenden,

- die Moderationsrolle (z.B. bei der Projektbegleitung und in der Freiarbeit)

- die Organisatorenrolle,

- die Rolle einer kritischen Freundin/eines kritischen Freunds (z.B. bei der Beratung).

Kooperative Klassenführung: Gerd Lohmann hat auf der Grundlage einer gründlichen Analyse der amerikanischen Klassenmanagement-Literatur ein für deutsche Schulverhältnisse geeignetes Modell des kooperativen Klassenmanagements entwickelt, in dem die Schülerinnen und Schüler schrittweise Verantwortung für die Unterrichtsführung übernehmen (Lohmann 2003, S. 75).

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Und nun zur inneren Seite : Die Existenz eines roten Fadens ist u.a. an folgenden Punkten zu er-kennen:

Stimmigkeit von Zielen, Inhalten und Methoden: Zwischen den Zielen, Inhalten und Methoden bestehen Wechselwirkungen. Sie rühren daher, dass nicht nur in den - von wem auch immer festge-legten - Zielen, sondern auch in den ausgewählten Inhalten und den Methoden ein eigener „drive“ steckt, den ich als „innere Zielgerichtetheit“ bezeichne (vgl. Jank/Meyer 2002, S. 55-60).

Folgerichtigkeit des methodischen Gangs: Mit dem Fachbegriff „methodischer Gang“ wird die Folgerichtigkeit beschrieben, mit der sich der zweite Unterrichtsschritt aus dem ersten, der dritte aus dem zweiten usw. ergibt (vgl. Jank/Meyer 2002, S. 88-92).

Schaut man sich eine beliebige Stunde etwas genauer an, so wird man allerdings rasch feststellen, dass es den einen methodischen Gang gar nicht gibt. In jeder Unterrichtsstunde lassen sich viel-mehr mehrere ineinander verwobene Linien finden. Ich spreche deshalb von den „methodischen Linienführungen" einer Stunde:

- Lenkungslinie: Der Unterricht kann mit einer hohen Lehrerdominanz beginnen und mit ei-ner entsprechend hohen Schüleraktivität enden; er kann umgekehrt von der Selbsttätig-keit der Schüler zur lehrerzentrierten Ergebnissicherung führen.

- Vertrautheitslinie: Die Linienführung kann vom Vertrauten zum Fremden verlaufen oder umgekehrt.

- Gefühlslinie: Sie kann von einer gefühlvollen, ganzheitlichen Einbindung der Schülerin-nen und Schüler in das Thema zu einer rational-begrifflichen Klärung voranschreiten oder umgekehrt.

- Abstraktionslinie: Die Linienführung kann vom Abstrakten zum Konkreten oder umge-kehrt vom Konkreten zum Abstrakten führen.

- Komplexitätslinie: Die Linienführung kann vom Einfachen zum Komplizierten oder umge-kehrt verlaufen (wobei das logisch Einfache nicht unbedingt das psychologisch Einfache ist).

Es gibt keine gesetzmäßigen Vorschriften, welche Linienführung wann zu wählen sei. Dies ist und bleibt eine Frage der Ziel- und Inhaltsstruktur sowie der methodischen Fantasie des Lehrers und der Schülerinnen und Schüler. Empirisch gut belegt ist aber, dass „Sprunghaftigkeit“ in der Linienfüh-rung stark leistungsmindernd ist (Gruehn 2000, S. 130).

3.2 Hoher Anteil echter Lernzeit (time on task) : durch gutes Zeitmanagement, Pünktlichkeit; Auslagerung von Organisationskram.

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Das Merkmal "hoher Anteil echter Lernzeit" ist empirisch sehr gut bestätigt. Was sind die „Zeit-Killer“?

Zeit-Killer

- unpünktlicher Stundenbeginn und verfrühtes Ende

- Abwicklung von Organisationsaufgaben während des Unter-richts

- Hausaufgabenkontrolle während des Unterrichts

- unterschiedliche Lerntempi der Schüler (insbesondere im leh-rerzentrierten Unterricht, nicht so sehr im geöffneten Unterricht)

- Disziplinprobleme

Kostenbewusstsein: Eine Unterrichtsstunde kostet heute in Deutschland circa 75 Euro. Ein Stu-dienrat mit A 13, der täglich drei von fünf Stunden mit 5 Minuten Verspätung beginnt, verplempert also jeden Tag circa 25 Euro aus der Staatskasse. – Eine Gymnasiastin kostet den Staat knapp 5000 Euro pro Jahr. Wenn sie einen Vormittag schwänzt, prellt sie den Staat – bei 200 Schultagen – ebenfalls um circa 25 Euro. An Berufsbildenden Schulen kostet eine Unterrichtstunde den Staat bzw. die Kommune nach einer aktuellen Studie an der Uni Kiel 95 Euro.

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Ich formuliere einige Ratschläge:

Pünktlichkeit: Guter Unterricht fängt pünktlich an und endet pünktlich. Das gilt für Lehrer und Schüler gleichermaßen. Zu spät kommende Schüler müssen sich entschuldigen – dann sollten es die Lehrer auch tun.

Auslagerung von "non-instructional activities" aus dem Unterricht: Jeder Praktiker weiß, was die Zeitdiebe sind: Klassenbucheintragungen, Geld einsammeln, Entschuldigungen zur Kenntnis nehmen, vergessenes Material ersetzen usw. Möglichst viel davon sollte aus dem Unterricht her-ausverlagert werden. Ich weiß, dass dies insbesondere für Klassenlehrer sehr schwierig ist. Den-noch behaupte ich: Hier gibt’s fast in jeder Schulklasse Rationalisierungsreserven.

Langsamkeits- und Schnelligkeitstoleranz: Gute Lehrer akzeptieren die unterschiedlichen Ar-beitstempi ihrer Schüler und reagieren darauf mit innerer Differenzierung sowie mit gezielter Förde-rung der Lernstrategien langsamer Schülerinnen und Schüler.

Rhythmisierung des Unterrichtsverlaufs: Sie zielt darauf ab, die Biorhythmen der Schülerinnen und Schüler (Konzentrations- und Aufnahmefähigkeit), das Niveau und die Reihung der Aufgaben-stellungen und die institutionellen Gegebenheiten der Schule so gut es geht in Einklang miteinander zu bringen. Dazu muss der herkömmliche 45-Minuten-Takt der Schulstunden aufgebrochen werden.

Eine Warnung zum Schluss: Die „echte Lernzeit“ soll erhöht werden. Das heißt aber nicht, dass der Lehrer immer und überall den Zeitmeister spielen und „durchbrettern“ soll. Wenn die Zeit knapp wird (und das ist im Schulalltag fast immer der Fall), muss sogar besonders gründlich gearbeitet werden. Denn es bringt ja nichts, wenn der Lehrer mit dem Stoff durchgekommen ist, dieser aber nicht bei den Schülern angekommen ist.

3.3 Lernförderliches Klima

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82 Prozent davon sind Personalkosten; 1 Prozent davon sind Kopierkosten; 0,5 Prozent Schulbuchkosten.

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Mit dem Begriff Klima bzw. Unterrichtsklima wird die humane Qualität der Lehrer- Schüler- und der Schüler- Schüler-Beziehungen beschrieben. Es geht nicht um Wellness, auch nicht um Kuschelpä-dagogik, sondern um die empirisch zu beantwortende Frage, welches Klima am besten beim Ler-nen hilft.

Definition : Ein lernförderliches Klima bezeichnet eine Unterrichtsat-mosphäre, die gekennzeichnet ist durch:

(1) gegenseitigen Respekt,

(2) verlässlich eingehaltene Regeln,

(3) gemeinsam geteilte Verantwortung,

(4) Gerechtigkeit des Lehrers gegenüber jedem einzelnen und dem Lernverband insgesamt und

(5) Fürsorge des Lehrers für die Schüler und der Schüler untereinander.

Respekt: Eine gute Lehrperson verfügt über eine Berufsethik, die am Respekt vor den Schülern und den Kollegen (einschließlich Schulleitung) orientiert ist (Fend 1998: 41). Sie bleibt auch dann respektvoll, wenn „überraschungsintensive“ Schüler aus der Rolle fallen, wenn sie die Lehrerin ver-bal angreifen und sich selbst Knüppel zwischen die Beine werfen.

Respekt ist keine wünschenswerte Zugabe zur professionellen Berufsarbeit, sondern zwingende Notwendigkeit. Der den Schülern gezeigte Respekt erleichtert ihnen, die Übermacht der Lehrperson zu akzeptieren und hilft ihnen, sich als autonom wahrzunehmen (Sennett 2004: 150). Gegenseitiger Respekt ist auch die entscheidende Voraussetzung, ein Arbeitsbündnis einzugehen. Respektloser Umgang löst Wut oder Angst aus. Wer aber wütend ist oder Angst hat, kann nicht um Hilfe bitten (Sennet 2004: 148). Dies bedeutet, dass eine respektlose Lehrperson ihre Einwirkungsmöglichkei-ten auf die Schüler massiv beschneidet. Allerdings gibt es – gerade an Privatschulen mit Schulgeld – auch oft genug respektlose Schüler.

Forschungsstand: Annedore Prengel (2013) hat in einer Studie zur Anerkennungskultur empirisch untersucht, ob und wie gut Lehrpersonen respektvoll mit den Schülern umgehen. Das Ergebnis, das auf knapp 6000 protokollierten und ausgewerteten Interaktionsszenen aus allen Schulstufen beruht, bedrängt: Ungefähr ein Viertel aller anerkennungsrelevanten Lehrer-Schüler-Interaktionen wurde als „verletzend“ eingeordnet.

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Dabei gab es extreme Unterschiede zwischen einzelnen Lehrpersonen ein und derselben Schule (Prengel 2013: 114 f.). Es besteht also Handlungsbedarf, auch wenn ich mir aufgrund eigener An-schauung von 60 Jahren Schulerfahrung sicher bin, dass respektlose Umgangsformen der Lehrper-sonen insgesamt nicht zu-, sondern abgenommen haben.

Katalysatorwirkung des Faktors Klima : Ein positives Unterrichtsklima macht keinen Schüler klü-ger, aber es hat eine katalysierende Wirkung und deshalb einen indirekten Einfluss auf den Lerner-folg: Die Schüler können ihre Fähigkeiten und Interessen im lernfreundlichen Klima besser entfal-ten; der Anteil echter Lernzeit wird erhöht; es ist einfacher, ein kooperatives Unterrichtsmanage-ment zu realisieren. Außerdem kann fest damit gerechnet werden, dass ein gutes Klima die Berufs-zufriedenheit der Lehrerinnen und Lehrer erhöht und dadurch positive Effekte an anderer Stelle aus-löst.

Widersprüchlichkeit: Die fünf Dimensionen eines positiven Klimas, also der Respekt, die Regel-klarheit, die Verantwortung, Gerechtigkeit und Fürsorge, können im Unterrichtsalltag leicht in Wider-spruch zueinander geraten. Diese Widersprüchlichkeit ist nicht aufhebbar. Sie kann nur ausbalan-ciert werden. Eben dies hinzubekommen, sagt Fritz Oser (1998), macht die Professionalität von Lehrpersonen aus.

3.4 Sinnstiftendes Kommunizieren

Dieses Merkmal ist schwer zu definieren und schwer empirisch nachzuweisen. Dennoch ist dies für mich das wichtigste aller 10 Merkmale (vgl. dazu auch meine Arbeitsdefinition für guten Unterricht). Sinnstiftungen sind sehr zerbrechlich. Es gibt viele Agenten außerhalb des Unterrichts, die bei der Sinnstiftung mitwirken (Eltern, Peers, Medien) und es gibt häufig lange nach gehabtem Unterricht deutliche Umwidmungen des Sinns. Das lässt sich besonders gut am Mathematikunterricht zeigen, dessen große Bedeutung oft erst nach Verlassen der Schule erfasst wird.

Gute Lehrer sind deshalb die gesamte Unterrichtszeit damit beschäftigt, Sinn zu stiften. Sie erläu-tern geduldig, was mit einer Aufgabe gemeint ist, sie verknüpfen die Aufgabenstellungen mit dem Lebensalltag der Schüler oder mit zukünftigen Berufsbezügen. Sinnstiftung findet auch nonverbal statt. Viele Lehrerverstehen es, durch ihre Körpersprache bestimmten Inhalten besondere Bedeu-tung zu geben.

3.5 Methodenvielfalt

Viele Fragen zu Einzelmethoden sind noch wenig erforscht. Aber an einigen Stellen sieht’s recht gut aus:

- Gut bestätigt ist, dass das Lernen in Kleingruppen den durchschnittlichen Lernerfolg erhöht

- Wir wissen, dass das „Lernen durch Lehren“ gut funktioniert.

- Wir wissen, dass sich die regelmäßige Arbeit mit Mindmaps und Conceptmaps auf das Behal-ten von Sachinformationen auswirkt.

- Wir wissen, dass regelmäßig veranstalteter Schülerfeedback den Lernerfolg erhöht.

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- Wir wissen, dass das Nachdenken über den eigenen Lernprozess – auch als Metakognition bezeichnet – den Lernerfolg erholt.

Methodenvielfalt: Es herrscht kein Mangel an Methoden-Koffern, Trainingskursen und Leitfäden, die Ihnen helfen, Methodenvielfalt zu sichern.

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Vielfalt ist wichtig, aber sie hat keinen Wert an sich. Auf der nächsten Seite finden Sie eine DIDAKTISCHE LANDKARTE mit mehreren Dutzend Hand-lungsmustern.

Ein Methoden-Feuerwerk, von dem sich die Teilnehmer/innen eher erschlagen als bereichert fühlen, bringt aber nicht viel. Das ist auch empirisch gut belegt. Dort, wo ein breites Methodenangebot vor-liegt, lernen die Schüler mehr. Es gibt aber keine lineare Lernerfolgssteigerung durch ein Mehr an Methodenvielfalt. Schneller als gedacht kippt die Kurve wieder um (Helmke 2009, S. 266):

Allerdings wissen wir aus anderen empirischen Untersuchungen zur alltäglichen Methodenpraxis (Hage, Bischoff u.a. 1985; Helmke 2009, S. 265), dass an den meisten Schulen und sicherlich auch an den Hochschulen keinerlei Anlass besteht, vor zu viel Methodenvielfalt zu warnen. Bei der Me-thodenfrage ist’s wie beim ostfriesischen Tee: Die Mischung macht’s.

Persönliches Methodenrepertoire: Für Ihre persönliche Entwicklung ist es wichtig, sich ein rei-ches Methodenrepertoire zuzulegen. Damit ist ein Satz sicher beherrschter Inszenierungstechniken, Handlungsmuster, Verlaufsformen und unterrichtlicher Grundformen gemeint, den Sie emotional bejahen und deshalb auch immer wieder im Schulalltag einsetzen.

Methodentraining: Die Lernenden benötigen ebenfalls einen Grundstock an sicher beherrschten Methoden, die möglichst im Kollegium/im Fachbereich abgesprochen sind, um Synergieeffekte zu erzielen. Isoliertes Training, wie es zum Teil in Anschluss an Heinz Klippert (1994) propagiert wird, klappt nämlich nicht und macht deshalb allenfalls in kurzen Einführungsphasen Sinn. Entscheidend für den Erfolg ist die Integration der Arbeit am Methodenrepertoire in den Fachunterricht, in die Pro-jekte und die Praktika.

Didaktische Landkarte: Auf der nächsten Seite habe ich eine Landkarte abgebildet, auf der meh-rere Dutzend von Einzelmethoden (= Handlungsmuster) abgebildet sind. Die Landkarte ist horizon-tal und vertikal geordnet:

- in der Horizontalen nach dem Kriterium „Verkopfung versus Ganzheitlichkeit“,

- auf der Vertikalen nach dem Kriterium „hohe versus niedrige Lehrerzentriertheit“.

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Klippert (1994); Wiechmann (1999); Endres (2001); Mattes (2011) – durchweg mit einem Sek-I-Schwerpunkt!

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4. Blick in die Forschungswerkstätten Ich habe nun schon mindestens ein Dutzend Mal gesagt, „die Wissenschaft hat dieses oder jenes festgestellt“. Aber wie machen das die Wissenschaftlicher, empirisch seriöse Aussagen zusammen zu tragen? Diese Forschung ist aus mehreren Gründen sehr kompliziert. Ich starte mit einer „para-doxen Intervention“ und zeige Ihnen, was man tun muss, um zu falschen Schlussfolgerungen zu kommen.

4.1 „Von China lernen heißt siegen lernen“ (?)

Als ich vor sechs Jahren von der East China Normal University in Shanghai zu Vorträgen eingela-den war, habe ich auch in sieben verschiedenen Schulen in Shanghai, Hang-Shou und Wuhu am Unterricht teilgenommen. Die chinesischen Gastgeber haben uns ausschließlich in Vorzeigeschulen geschickt (wie wir dies in Deutschland nicht anders getan hätten). Deshalb können wir folgern: Das, was wir dort gesehen habe, war für die Chinesen guter Unterricht.

Der chinesische Unterricht ist stock-konservativ, aber dies auf hohem Niveau. Darüber hinaus ist er extrem erfolgreich. (Das wissen wir aus der PISA-IV-Leistungsstudie des Jahres 2009, in der die Schülerinnen und Schüler aus Schanghai in sämtlichen Lernzielbereichen die Spitzenplätze erreicht haben – weit vor Finnland und Korea.) Dennoch saßen die Schüler nicht geknechtet in ihren Bän-ken. Sie waren froh und munter bei der Sache. Es gab auch viel Ermutigung bei klugen Antworten, aber keinerlei sichtbares individuelles Fördern

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, keine Planungsbeteiligung der Schüler, keine Auf-forderung zur Selbstregulation des Lernens.

Wieder zu Hause, las ich in den Medien, dass das Kollegium der Rüetli-Schule aus Berlin einen öffentlichen Protest formuliert hatte, dass der reguläre Unterrichtsbetrieb aufgrund der Disziplinlo-sigkeit der Schüler zusammengebrochen sei und dass es so nicht weiter gehen könne. Ich fragte mich: "Machen wir in Deutschland etwas grundsätzlich falsch? Müssen wir zu dem stärker lehrer-zentrierten direktiven Unterricht zurückkehren, um endlich wieder Boden unter die Füße zu bekom-men?" Kurze Zeit später war Andreas Helmke zu einem Vortrag in Oldenburg und ich erzählte ihm, dem Südostasien-Spezialisten, von meinen Erfahrungen. Darauf Andreas Helmke:

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Dabei muss allerdings berücksichtig werden, dass an vielen chinesischen Schulen außerhalb des regulä-ren Unterrichts individuelle Förderung von Lehrern praktiziert wird, die ja die ganze Woche Präsenzpflicht in der Schule haben.

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"Herr Meyer: Sie machen einen Denkfehler. Wir wissen doch gar nicht, ob die Schülerleistungen in China nicht noch besser würden, wenn in China mehr offener Unterricht nach europäischem Muster gemacht würde. Meine Meinung: Ja, dann wären sie noch besser! Dass die chinesischen Schüler so gut sind, liegt nicht am lehrerzentrierten Unterricht, sondern vorrangig an der konfuzianischen Traditi-on, das Lernen sehr, sehr wichtig zu nehmen und den Lehrern mit hohem Respekt zu begegnen."

Helmke hat Recht. Ich habe vor vier Jahren nicht nur einen, sondern gleich zwei Denkfehler ge-macht habe: Der erste Denkfehler bestand darin, dass man aus dem empirischen Nachweis einer Korrelation (in diesem Falle: der starken Lehrerzentriertheit des Unterrichts mit hohem Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler) nicht vorschnell folgern darf, dass das eine ursächlich für das andere sei.

Korrelationen, gemessen mit dem Korrelationskoeffizienten „r“, sind ein quantitatives Maß dafür, wie eng zwei Variablen linear miteinander verknüpft sind (Köller u.a. 2013: 13). Die in der PISA-Studie IV gemessene hohe Korrelation von Lehrerzentriertheit und Lernerfolg bei den chinesischen Schü-lern (s.o.) ist aber kein Nachweis, dass hier ein Ursache-Wirkungsverhältnis vorliegt. Die straffe Lehrerzentriertheit könnte ja, wie Helmke spekuliert, ein mögliches noch besseres Abschneiden verhindert haben. Die Experten sind sich einig: Lehrerzentriertheit allein führt die chinesischen, ko-reanischen und vietnamesischen Schüler nicht zu so beeindruckenden Lernerfolgen. Die hohe Leis-tungsmotivation in konfuzianischer Tradition, der tiefe Respekt vor den Lehrpersonen und der deut-lich höhere Umfang der absoluten Lernzeit sind viel wirksamer (Helmke 2012: 93-99).

Der zweite Denkfehler bestand darin, unbedarft aus einem empirischen Sachverhalt („hoher chine-sischer Lernerfolg korreliert mit hoher Lehrerzentriertheit“) eine normative Entscheidung abzuleiten („genauso möchten wir es in Deutschland auch haben“). Wer aus empirischen Befunden 1 zu 1 ab-leitet, was sein soll, macht einen logischen Fehler (s.o.). Die Richtigkeit dieser Feststellung wird beim Vergleich unserer Vorstellungen mit dem chinesischen Konzept guten Unterrichts deutlich. Dort fehlte völlig, was wir als demokratische Teilhabe der Schülerinnen und Schüler an der Unter-richtsgestaltung in Deutschland einfordern. Kein Wunder: China ist eine Diktatur.

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4.2 Oberflächen- und Tiefenstrukturen

Die Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefenstrukturen gehört heute zum Standard didaktischer Theoriebildung und empirischer Forschung. Das gilt auch für den chinesischen Grundschulunter-richt: Der sehr hohe Lernerfolg dieser Schüler lässt sich nur angemessen erklären, wenn zwischen Oberflächen- und Tiefenstrukturen unterschieden wird:

Auf der Ebene der Oberflächenstrukturen kann gemessen werden. Die Tiefenstrukturen können nur über subjektive Beurteilungen von Experten ermittelt werden. Deshalb sagt man auch, diese Bewer-tungen seien „hoch inferent“. Das bedeutet nicht, dass man keine wissenschaftlich fundierten Aus-sagen darüber machen könnte.

Für die Analyse der Tiefenstrukturen sind theoretische Modelle entwickelt worden (Oser & Baeriswyl 2001; Kunter & Trautwein 2013: 76ff), die kluge Hypothesen über die Ursachen von Lernerfolg zu-lassen, die aber noch einige Fragen offen lassen.

Ich ziehe den Schluss: „Einfach so“ empirische Daten als Argumentationshilfe für die Gestaltung des Unterrichts zu nehmen, ist gefährlich! Man muss die Daten in einen Theorierahmen einbetten, aus dem heraus sie angemessen interpretiert werden können.

4.3 „Viele Wege führen nach Rom“

Wir wissen aus der didaktischen Theorie, aus der empirischen Unterrichtsforschung und aus der Professionalisierungsforschung, dass es keinen Königsweg zur hohen Unterrichtsqualität gibt. Zu diesem Ergebnis kommt auch die berühmte SCHOLASTIK-Studie von Weinert und Helmke (1997: 250). In dieser Studie wurden 54 Grundschulklassen zwei Jahre lang begleitet. Die Eingangs- und Schlussleistungen wurden gemessen und mit Unterrichtsmerkmalen korreliert. Die Merkmale guten Unterrichts sind in dieser Studie nur sechse, und sie sind etwas anders geschnitten als in meinem ZEHNERKATALOG, sie bleiben aber gut vergleichbar. „Aktive fachliche Unterstützung“ entspricht meinem „individuellen Fördern“; „Strukturiertheit“ und „Klassenführung“ sind bei mir zu Merkmal 1 fusioniert.

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Das überraschende Ergebnis der SCHOLASTIK-Studie: Gerade in den sechs „best practice“-Klassen gab es eine erhebliche Streuung im Ausprägungsgrad einzelner Merkmale und einige sehr deutliche "Ausrutscher". Einzelne Klassen zeigten sehr schlechte Werte bei den von mir in der Abbildung eingekreisten Variablen - sie zählten dennoch zu den sechs besten. Allerdings wissen wir nicht, ob diese Schulklassen vielleicht noch bessere Leistungen gezeigt hätten, wenn auch die „Ausrutscher-Variablen“ stark gemacht worden wären. Ich folgere daraus:

These: Gerade Lehrpersonen mit hohem Leistungsvermögen entwickeln ein je eigenes Profil ihres Unterrichts. Sie können Schwächen im einen Bereich durch Stärken in anderen Berei-chen kompensieren.

Deshalb wäre es grundverkehrt, bei der Qualitätssicherung und –steigerung alle Lehrpersonen „über einen und denselben Leisten“ spannen zu wollen. Ein Kollegium ist wie ein bunter Blumen-strauß. Da gibt es diese und jene Farben und hin und wieder auch eine leicht angetrocknete Blume.

4.4 “Auf die Lehrpersonen kommt es an”

Wie hoch ist der durchschnittliche Anteil der Lehrpersonen am unterrichtlichen Lernerfolg der Schü-lerinnen und Schüler? Der Neuseeländer John Hattie (2009; 2012) hat sich getraut, auf der Grund-lage von 800 sogenannten Metaanalysen eine Meta-Meta-Analyse durchzuführen und so zu gene-ralisierten quantifizierten Aussagen über jene Variablen zu kommen, die den Lernprozess der Schü-ler positiv beeinflussen können. In einer Vorstudie (2003) hat er aus seinen vielen Einzelberech-nungen ein Kreisdiagramm gemacht:

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Die Grafik erfasst wohlgemerkt nur die statistisch ermittelten durchschnittlichen Einflussstärken.

Bei einzelnen Lehrpersonen und Schülern können die Prozentwerte stark variieren. Zusätzlich ist zu beachten, dass kein Einflussfaktor für sich allein wirkt. Wir können festhalten:

These : Durchschnittlich 30 Prozent des unterrichtlichen Lernerfolgs der Schülerinnen und Schüler werden durch die Qualität des Unterrichts und die Professionalität des Lehrerhan-delns herbeigeführt.

Das ist eine ganze Menge! Dass das Lernpotenzial der Schülerinnen und Schüler mit durchschnitt-lich 50 Prozent angegeben ist, darf eigentlich niemanden überraschen. Wäre dieser Prozentsatz niedriger, so wären alle unsere Hoffnungen auf selbstgesteuertes Lernen in den Wind geschrieben.

5. John Hatties Synthese von Metaanalysen 5.1 Hatties Hauptbotschaft

Im Buch „Visible Learning for Teachers“ (deutsch: 2013) kommt John Hattie zu der nicht überra-schenden, nun aber als „Weltbotschaft“ empirisch abgesicherten Erkenntnis, dass es – abgesehen von den Lernenden selbst – vor allem auf die Lehrpersonen ankommt, wenn man nach Gründen für die Lernerfolge und -misserfolge der Schülerinnen und Schüler sucht. Hattie bringt diese Botschaft auf eine einprägsame, leicht nach Shakespeare-Englisch klingende Kurzformel (Hattie 2013, S. IX):

„Know thy impact!“ (Wisse, was Du selbst bewirken k annst!)

Der Satz gilt für beide Seiten: „Wisse als Schüler, was du bewirken kannst!“ Und: „Wisse als Lehr-person, wie Du auf deine Schüler wirkst!“

Oberflächlich betrachtet, ist John Hattie ein um strikte Wertneutralität seiner Analysen bemühter Positivist. Seinen Vortrag an der Universität Oldenburg eröffnete er mit dem Satz „I like to count“. Wohl wahr – mehr als 20 Jahre seines Berufslebens hat er mit diesem Projekt zugebracht; und es geht munter weiter. Aber der Schein trügt. Auch Hattie konnte sein Buch nicht schreiben, ohne auf eine normative Orientierung zurück zu greifen, die sich mit aktuellen und auch schon älteren Didak-tik-Entwicklungen in Europa deckt. In meinen Augen ist er ein pragmatisch orientierter Reformpäda-goge, dessen Stärke darin besteht, dass er das, was er normativ einklagt, empirisch absichern

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kann, und dessen Schwäche darin besteht, dass sein bildungstheoretischer Überbau nur angedeu-tet wird.

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5.2 Der Hattie-Hype

Hatties Studien dürften noch für mehrere Jahre die Diskussion der deutschsprachigen Unterrichts-forscher und auch der Schulpolitiker und Unterrichtsentwickler stark beeinflussen. Man kann in Ös-terreich, in der Schweiz und in Deutschland – anders als in den USA oder in China – von einem regelrechten Hattie-Hype sprechen. Wie lässt sich der Hype erklären? Ich vermute folgende Grün-de:

- Komplexitätsreduktion: Hattie hilft pädagogisch engagierten Lehrpersonen, Forschern und Schulentwicklern, die vom Einzelnen beim besten Willen nicht mehr zu überblickende Flut an wissenschaftlichen Detailinformationen zur Schul- und Unterrichtsqualität zu ordnen und auf Kernbotschaften zu reduzieren.

- Sehnsucht nach einfachen Antworten: Hattie liefert einfache Antworten auf komplizierte Fragen. Das macht ihn für die Medien interessant. Aber das macht das Hantieren mit seinen Daten auch gefährlich. Es verführt dazu, aus den von Hattie ermittelten Korrelationen zwischen Unterrichts-variablen und Lernerfolg vermeintlich gut bestätigte Kausalhypothesen zu machen; und es ver-leitet dazu, einzelne Lernergebnisse als monokausal verursacht zu deuten – auch wenn Hattie immer wieder anmerkt, dass dies unzulässig sei.

- Emotionale Bestärkung: Hattie vermittelt jedem, der die deutschsprachigen Kurz- und Kürzest-darstellungen liest, ein gutes Gefühl. Er liefert empirische Evidenz, dass dasjenige, was der Le-ser selbst für wichtig hält, tatsächlich wichtig ist.

- Handlungsorientierung: Hattie liefert all jenen, die bestimmte Bausteine guten Unterrichts im eigenen Unterricht stark machen wollen, handfeste Anregungen und Argumentationshilfen, auch wenn einige Rezensenten (Brügelmann, Hartmann) sagen, dass dies gar nicht zulässig sei.

- Aufbau von Droh-Kulissen: Man kann Hatties Ergebnisse nutzen, um andere unter Druck zu setzen. Das passiert auch, z.B. dann, wenn Schulleiter ihre Kollegien mit Hinweis auf Hatties „konservative“ Forschungsergebnisse von didaktisch-methodischen Experimenten abzuhalten versuchen.

Hattie selbst warnt vor der Überinterpretation seiner Daten und erinnert daran, dass es sich nur um „grobe Abschätzungen“ handle, die keine Rezepte darstellten (2013, S. 4).

5.3 Was sind Metaanalysen?

Bei Metaanalysen werden mehrere, manchmal auch hunderte Einzeluntersuchungen zu einem be-stimmten Themenfeld - z.B. zum Einfluss von Kleingruppenarbeit oder von Feedback-Methoden auf den Lernerfolg - zu einem Durchschnittswert zusammengerechnet. So wird es möglich, einerseits Trends, die sich in vielen Studien immer wieder abzeichnen, herauszuarbeiten, und andererseits „Zufallstreffer“, die überraschende und/oder unglaubwürdige Einzelstudien geliefert haben, durch den Abgleich mit einer viel größeren Datenmenge zu relativieren. Die so berechneten Effektstärken sind dann nicht mehr von der Stichprobengröße der einzelnen Studie abhängig, sondern geben

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z.B. in den 6 Wegweisern aus Hattie (2013, S. 280/81) und in den 8 mind frames aus Hattie (2012, pp. 159-166)

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einen international gültigen Durchschnittswert an, wobei einschränkend angemerkt werden muss, dass Hattie nur englischsprachige Veröffentlichen erfasst hat, die aber weltweit.

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Warnung: Man darf die Effektstärken auf keinen Fall mit Prozentanteilen verwechseln: Es gibt ja Werte oberhalb von d = 1.00.

Ein Beispiel: Kleingruppenarbeit hat bei Hattie eine Effektstärke von d = 0.49 (aus: Hattie 2013, S. 113). Das ist ein erfreulich hoher Wert. Allerdings sind nur 2 Metaanalysen in die Berechnung ein-geflossen, eine davon aus dem Hochschulbereich – also eine arg knappe Datenbasis!

Durchschnitt ist kein Maßstab! Niemand kann uns zwingen, die von Hattie ermittelten durch-schnittlichen Effektstärken zur Richtschnur des eigenen Handelns zu machen. Man kann auch selbstbewusst an die Arbeit gehen, eine bei Hattie schlecht benotete Variable stark machen und sagen: „Seht her – ich bin besser als der Durchschnitt!“ 6

Für die Durchführung einer Metaanalyse gelten bestimmte Spielregeln der Statistik: Es werden grundsätz-lich nur quantitative Studien erfasst. Qualitative Studien bleiben unberücksichtigt. Es werden nur solche Studien berücksichtigt, in denen die Effekte mit den Lernergebnissen in Kontroll-Klassen ohne solche Maßnahmen verglichen worden sind. Die Größe der erfassten Stichprobe und die Signifikanzwerte wer-den in das Gesamtergebnis hinein gerechnet.

d = minus 0.00 möglichst vermeiden!

d = 0.00 bis 0.20 ein sehr kleiner Effekt –schadet nicht, aber nützt auch kaum.

d = 0.21 bis 0.40 ein kleiner Effekt – hilft ein wenig

d = 0.41 bis 0.60 ein wirksamer Effekt

d = 0.61 und größer ein starker Effekt

d = 1.00 und größer ein sehr starker Effekt

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5.4 Oberflächenstrukturen

Hattie ist ein Sammler, kein Didaktiker. Er hat die von ihm erfassten Unterrichtsvariablen von Platz 1 bis Platz 150 nach Effektstärken geordnet (Hattie 2012). Es ist aber viel spannender, Hatties Vari-ablen neu und anders zu sortieren. Ich tue dies, und zwar im Blick auf die bei Hattie nicht gesondert ausgewiesene Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefenstrukturen des Unterrichts.

„formative assessment“ (im Unterrichtsprozess gegebene Leistungs-rückmeldungen der Lehrperson)

d = 0.90

Reziprokes Lernen (wechselseitiges Lehren und Lernen der Schü-ler)

d = 0.74

Schülerdiskussionen im Unterricht d = 0.82

Selbst-Verbalisation d = 0.64

Direkte Instruktion d = 0.59

Kooperatives statt individualisiertem Lernen d = 0.59

Peer-tutoring (gegenseitiges Helfen der Schüler) d = 0.55

Konsequente Klassenführung (classroom management) d = 0.52

Kleingruppenarbeit d = 0.49

Kooperatives Lernen d = 0.42

Hoher Anteil echter Lernzeit (time on task) d = 0.38

Computerunterstützer Unterricht d = 0.37

Förderklassen für Hochbegabte d = 0.30

„ability grouping“ – leistungshomogene Differenzierung d = 0.30

inklusive Beschulung d = 0.29

Individualisierung d = 0.22

Klassengröße d = 0.21

Lernen in jahrgangsgemischten Klassen d = 0.04

Sitzen bleiben d = minus 0.16

Tabelle 1: Oberflächen-Merkmale (aus: Hattie 2014)

Die Variablen „Direkte Instruktion“ und „Kooperativer Unterricht“ schneiden leidlich gut ab, der „Indi-vidualisierende Unterricht“ überraschend schlecht. Hattie provoziert die Frage: Wäre es klüger, auf den Ausbau des Individualisierenden Unterricht zu verzichten? Ich sage: nein. Hatties Studien er-heben ja nur den Ist-Stand. Sie sagen nichts darüber aus, welches Entwicklungspotenzial in einer didaktischen Maßnahme steckt! Deshalb ist es grundsätzlich verkehrt, aus einem niedrigen Effekt-stärken-Wert zu folgern, dass es sich nicht lohnt, sich weiter darum zu kümmern:

- Wenn stark Individualisierter Unterricht in den letzten 20 Jahren nur mäßige Effektstärken vor-weisen konnte, zeigt dies, wie anspruchsvoll diese Grundform ist (was wir auch vor Hattie wuss-

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ten). Also muss man, wenn man diese Unterrichtsform für wichtig hält, Anstrengungen unter-nehmen, besser als der weltweite Durchschnitt zu werden.

- Nähme man Hatties Daten schlicht als Richtschnur pädagogischen Handelns, so wäre es nur konsequent, die Jahrgangsmischung, den Inklusiven Unterricht, die Konfessionsschulen (d = 0.23) und die ganze Lehrerbildung (mit der abenteuerlich niedrigen Effektstärke von d = 0.11) abzuschaffen. – Aber das werden wir nicht tun!

Offensichtlich bringt es nichts, die Grundformen des Unterrichts gegeneinander auszuspielen. Das schreibt Hattie selbst (2013, S. 31 f.): Seine Daten legen nahe, die alte Fehde zu beenden und in-struktionale und konstruktivistische Vorstellungen vom guten Unterricht miteinander zu verknüpfen.

Mischwald ist besser als Monokultur!

6. Drei-Säulen-Modell des Unterrichts Seit knapp 30 Jahren propagiere ich ein Unterrichtskonzept, mit dem die Mischwald-These im Schulalltag umgesetzt werden kann.

Was sind Grundformen des Unterrichts? In der Realität liegen keine Grundformen herum! Der Be-griff bezeichnet im Jargon der Wissenschaftler ein „theoretisches Konstrukt“. Es wird konstruiert, um die bunte Vielfalt von Erscheinungsformen des Unterrichts besser einfangen zu können. Zu diesem Zwecke werden Lehr-Lernarrangements, die ähnlichen Inszenierungsmustern folgen, zu einer Gruppe zusammengefasst. Dabei wird Zufälliges weggelassen und Elementares hervorgehoben. In diesem Abstraktionsprozess findet zugleich eine Normierung des Konstrukts statt - die Grundform wird zu einem idealen Modell stilisiert. Dies soll helfen, die Stärken der einzelnen Grundformen her-auszuarbeiten.

Um die bunte Fülle von Lehr-Lernarrangements halbwegs trennscharf den vier Grundformen zuord-nen zu können, habe ich eine Grafik gezeichnet, in der die Grundformen einander zugeordnet und durch typische Arbeitsformen erläutert werden. Dabei arbeitete ich mit einem weiten Unterrichtsbe-griff, der neben dem herkömmlichen Unterricht alle didaktisch geplanten Aktivitäten der Schule von der Gestaltung einer Klassenfeier bis zur Exkursion einschließt (Meyer 2007: 56).

Kriterien: Bei den Zuordnungen habe ich die folgenden drei systematisch miteinander verknüpften Kriterien genutzt:

(1) bevorzugte Sozialform: Die Grundformen unterscheiden sich im Blick auf die soziale Architek-tur, also die jeweilige Konstellation von Lehrenden und Lernenden und die daraus resultierende Bevorzugung bestimmter Sozialformen.

(2) Niveau der Selbststeuerung: Sie unterscheiden sich im Blick auf das angestrebte Niveau der Selbststeuerung des Lernens.

(3) Lehrer- und Schülerrollen: Sie unterscheiden sich im Blick auf die von den Lehrenden und den Lernenden einzunehmenden Rollen.

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Hybridformen: Nirgendwo gibt es die Grundformen in Reinform. Die konkreten Zuordnungen gelten deshalb immer nur der Tendenz nach. Das führt dazu, dass sich im Schulalltag viele Hybridformen finden lassen, z.B. die fachgebundene Projektarbeit mit Anteilen Direkter Instruktion oder die The-menplanarbeit mit Plenumsphasen usw. Sie müssen nicht zurechtgestutzt werden – was in sich stimmig ist, kann auch genutzt werden.

Lehrer- und Schülerrollen: Lehrpersonen und Schüler bewegen sich in den Grundformen in je unterschiedlichen Rollen, auch wenn es keine strengen Grenzen gibt: Wer instruiert, erzieht auf indirekte Weise; wer berät, instruiert auch ein wenig, usw.

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Den Schülern die unterschiedlichen Rollenerwartungen deutlich zu machen, ist ein anspruchsvolles Geschäft, das nur durch präzises Einhalten der wechselnden Rollen durch die Lehrpersonen zu bewältigen ist. Dabei helfen Rituale und klare Regeln, Metaunterricht und wechselseitiges Feed-back.

Ein Beispiel für die fantasievolle Realisierung der Grundformen liefert die Hamburger Reformschu-le IGS Winterhude. Sie hat die an den Fächern orientierte Stundenplanung weitgehend ad acta ge-legt und ein neues Modell entwickelt, in dem sich alle vier von mir definierten Grundformen wieder-finden (vgl. Butt 2011):

- Gemeinsamer Unterricht: Der Schultag beginnt an jedem Morgen mit einem Morgenkreis in den Stammgruppen.

Danach folgen in variierender Reihenfolge an jedem Tag:

- Individualisierender Unterricht: Kuba („kulturelle Basis“) - mit Anteilen von Direkter Instruktion

- Kooperativer Unterricht: Projektarbeit - mit Anteilen von Direkter Instruktion

- Individualisierender Unterricht: Werkstattarbeit - mit Anteilen von Kooperativem Unterricht

Zusammengefasst: Das Drei-Säulen-Modell ist ein Zielkonzept für entwickelten Unterricht. Es kann im Blick auf den Bildungsauftrag und das Schulleitbild variiert werden.

7. Aufbau von Lerngerüsten 7.1 Tiefenstrukturen des Lernens und Lehrens

Viel interessanter als Hatties Daten zu den Oberflächenstrukturen sind die Ergebnisse zu jenen Variablen, die sich auf „weiche“ Faktoren der Unterrichtsgestaltung beziehen. Ich bezeichne sie als Tiefenstrukturen, auch wenn das Etikett nicht immer hundertprozentig passt, weil auch alle Tiefen-struktur-Merkmale eine Oberflächenstruktur haben. Hier sind die gemessenen Effektstärken insge-samt deutlich höher als bei den Oberflächenstrukturen:

Glaubwürdigkeit der Lehrperson bei den Schülern7

d = 0.90

Klarheit und Verständlichkeit der Lehrersprache d = 0.75

Schüler-Feedback d = 0.75

positive Lehrer-Schüler-Beziehung d = 0.72

Bewusstmachen metakognitive Strategien d = 0.69

Herausfordernde (an der oberen Kante des Leistungsvermögens ange-siedelter) Ziele

d = 0.56

Konsequente Klassenführung d = 0.52

Selbstwirksamkeitsüberzeugungen der Schüler (Selbstkonzept) d = 0.47

Erwartungshaltung der Lehrperson d = 0.43

echte Lernzeit (time on task) d = 0.38

7

Diese Variable taucht erst bei Hattie (2014) auf.

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Tabelle 2: Tiefenstruktur-Merkmale (Hattie 2014)

Die Tabelle 2 zeigt, was die Mehrzahl der Unterrichtsforscher seit langem behauptet: Besonders lernförderlich ist ein Unterricht, in dem den Schülern ein gutes Klima vorfinden und in dem ihnen ein „Geländer“ für basale ebenso wie für anspruchsvolle Lernaufgaben geboten wird. Der Aufbau sol-cher Geländer wird in der englischsprachigen Unterrichtsforschung mit dem ursprünglich konstrukti-vistisch geprägten, heute aber generalisierten Begriff Lerngerüst („scaffold“) beschrieben. Daraus folgt:

These: Es reicht nicht aus, eine ausgewogene Mischung der in Kapitel 3 beschriebenen Grundformen herbeizuführen. Lernwirksam werden die Grundformen erst, wenn je spezifische Lerngerüste hinzukommen.

7.2 Lerngerüste

Der Aufbau von Lernhilfen wird in der englischsprachigen Unterrichtsforschung mit dem ursprüng-lich konstruktivistisch geprägten, heute aber generalisierten Begriff Lerngerüst („scaffold“

8

) be-schrieben (Dubs 2009). Ich gehe davon aus, dass die Lerngerüste variieren – je nachdem, welche der 3 genannten Grundformen des Unterrichts gerade praktiziert wird:

Lerngerüste für den Individua-lisierenden Unterricht

Lerngerüste für die Di-rekte Instruktion

Lerngerüste für den Koope-rativen Unterricht

formative assessment (Rück-meldungen an die Schüler während ihrer Arbeit – nicht erst am Schluss)

Klare Strukturierung des Unterrichtsprozesses durch die Lehrperson; der rote Faden ist erkennbar.

Übungen zur Förderung der Teamfähigkeit

Bewusstmachen der von den Schülern genutzten Lernstrate-gien

formative assessment Übungen zum Aufbau von Planungskompetenz

Arbeit mit Lernlandkarten (indi-viduelle, vom Lehrer begleitete Lernpläne)

Schüler-Diskussionen – sinnstiftendes Kommuni-zieren

Reflexionsphasen: Wo ste-hen wir? Wo wollen wir hin-kommen?

Peer-tutoring - Aufbau eines Helfersystems zwischen den Schülern

Meta-Unterricht Reziprokes Lernen: Schüler übernehmen Lehraufgaben

Individualisierte Förderpläne auf der Grundlage klarer Lern-standsdiagnosen

anspruchsvolle Lernziele (an der oberen Kante des Leistungsvermögens)

Präsentationen im Plenum und vor der Schulöffentlich-keit.

Portfolioarbeit differenziert gestellte Hausaufgaben

Portfolioarbeit

Ich fasse die Konsequenzen aus meiner Hattie-Analyse in vier Punkten zusammen: 8

Das Wort ist etymologisch mit dem französischen Schafott verwandt – was zum Anlass zu dieser oder jener ironischen Anmerkung genommen werden könnte.

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(1) Die Lehrerpersönlichkeit beeinflusst den Lernerfolg massiv (siehe die hohe Effektstärke für Glaubwürdigkeit) – eine erfreuliche, aber durch Anstrengungen zur UE nur wenig zu beeinflus-sende Tatsache.

(2) Lehrerzentrierter Unterricht ist besser als sein Ruf. Kooperativer Unterricht schneidet überra-schend gut ab. Individualisierender Unterricht ist offensichtlich noch weltweit eine „Baustelle“.

(3) Wichtiger als der Streit über die Frage, ob offener Unterricht besser als der herkömmliche Un-terricht ist, ist die Frage, welche Lerngerüste und hilfreichen Instrumente in allen 4 Grundfor-men aufgebaut werden.

(4) Besonders lohnend sind jene Lerngerüste, die viel Zeit kosten, aber die Selbstreflexivität der Schüler stärken: Schülerdiskussionen, Schüler-Feedback und Metaunterricht! Sie führen zu ei-ner Verlangsamung des Lerntempos. Aber das zahlt sich später wieder aus!

Die reformorientierten Kolleginnen und Kollegen können also zufrieden sein! Alles spricht dafür, dass ein klar strukturierter, kognitiv aktivierender Unterricht, in dem die Schüler zu selbstbewussten Partnern der Lehrpersonen erzogen werden, hoch erfolgreich sein kann!

8. Was tun, um den eigenen Unterricht weiter zu entwickeln? Der im Abschnitt 3.3 formulierte ZEHNERKATALOG taugt nicht als Handlungsanweisung. Er liefert Kriterien, keine Rezepte. Deshalb soll in diesem letzten Teil des Skripts geklärt werden, was Lehr-personen tun können, wenn sie den Ehrgeiz haben, ihren eigenen Unterricht und ihre Lehrkompe-tenzen weiter zu entwickeln.

Die folgenden Ratschläge folgen alle der von John Hattie formulierten Maxime: KNOW THY IM-PACT!

8.1 Lernen, das Lernen der Schüler zu verstehen

Gute Lehrpersonen verstehen es, das Lernen der Schülerinnen aus der Perspektive der Schüler zu betrachten und dann mit den fachlichen und überfachlichen Aufgaben zu verknüpfen. Aber wie macht man das? Drei Ratschläge, die leider allesamt mit Arbeit verbunden sind:

- Genau beobachten: Sie müssen Ihre Schülerinnen und Schüler bei der Arbeit genau beobach-ten. Das geht kaum während der Direkten Instruktion. Das geht sehr gut im Individualisierten und im Kooperativen Unterricht.

- Feedback einholen und zurückgeben: Sie sollten regelmäßig und nicht nur hin und wieder Feedback von den Schülern einholen. Dann können Sie auch gut Feedback zurückgeben – am besten während des Unterrichtsprozesses und nicht erst am Ende. (Das nennt John Hattie „formative assessment“ – siehe oben, Abschnitt 2).

- Fachdidaktik studieren: Es tut mir leid wegen der vielen Arbeit, aber anders geht es nicht: Sie sollten sich in jedem Ihrer studierten Fächer auf dem Laufenden halten und neue Bücher lesen, in denen vorgeführt wird, wie man das Lernen der Schüler verstehen kann.

Dann fällt es die in Abschnitt 1 genannte „konstruktive Förderung“ leichter; dann gelingt es besser, eine „Fehlerkultur“ aufzubauen, also gezielte Impulse zu setzen, wenn sich die Schüler bei der selbstbestimmten Arbeit verrannt haben.

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4.2 Die persönliche Theorie guten Unterrichts weite rentwickeln

Jeder und jede, der bzw. die unterrichtet oder der/die sich auf den Lehrerberuf vorbereitet, besitzt bereits hoch ausdifferenzierte persönliche Vorstellungen über guten und schlechten Unterricht, über die kleinen Erfolge und großen Katastrophen. Deshalb schrieb der Amerikaner Dan Lortie schon vor 40 Jahren: „Teachers teach as they have been taught - but they don’t teach as they have been taught to teach.“ Und deshalb versuche ich gar nicht erst, Ihnen meine Theorie einer guten Lehrper-son überzustülpen. Das geht gar nicht.

Was leisten die persönlichen Theorien? Die US-Amerikanerinnen Helenrose Fives & Michelle Buehl haben in einem aktuellen Forschungsbericht (2012) die Forschungsergebnisse zu „teacher beliefs“ zusammengefasst und 3 Hauptfunktionen benannt:

- Teacher beliefs wirken wie ein Filter, der dafür sorgt, dass die im Unterricht gemachten Erfah-rungen kompatibel zur persönlichen Theorie umgedeutet werden. Das gilt auch für die theoreti-schen Informationen, mit denen Lehrpersonen konfrontiert werden.

- Sie wirken als Rahmen (frame), innerhalb dessen Probleme und Aufgaben im Unterricht einge-ordnet und bewertet werden.

- Sie wirken als Richtschnur (guide) und steuern das Handeln im Klassenzimmer.

Wer sich bewusst macht, welche subjektiven Vorstellungen er hat und diese Vorstellungen mit The-oriewissen anreichert, arbeitet an dem, was ich die „persönliche Theorie guten Unterrichts“ nenne. Er bzw. sie erfüllt damit ein Hauptmerkmal professioneller Lehrerarbeit: Er bzw. sie hat reflexive Distanz zum eigenen Handeln hergestellt (ausführlich erläutert in Jank & Meyer 2002, 143-152).

Die persönlichen Theorien sind viel wirkmächtiger als die Theoretiker-Theorien. Das ist kein Mal-heur, sondern funktional. Denn Lehrpersonen müssen oft in Sekundenschnelle Entscheidungen treffen und handeln. Da wäre es überhaupt nicht möglich, erst das Problem zu definieren, dann in die Theorie hinein hochzurechnen, dort die Antwort zu suchen und dann wieder zu einer Einzelent-scheidung für den eigenen Unterricht kleinzuarbeiten.

Zumeist sind diese persönlichen Theorien noch nicht so gründlich abgesichert wie die Theoretiker-Theorien. Aber im Prinzip müssen und können sie den gleichen Gütekriterien wissenschaftlichen Arbeitens genügen wie die im Wissenschaftsbetrieb produzierten Theorien:

- Sie enthalten bewusst formulierte Hypothesen über Korrelationen und Ursache-Wirkungszusammenhänge („Wenn ich x tue, dann müsste y die Folge sein!“; „Weil sich Schüler x auf Kompetenzstufe y bewegt , kriegt er z nicht gebacken!“)

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- Sie gelten auf Widerruf, werden also an der Praxis überprüft und gegebenenfalls verworfen oder überarbeitet.

- Sie sind eingebettet in ein tiefes Verständnis des Faches.

- Und sie basieren auf einem berufsethischen Kode, also einem Satz von Werten und Regeln des zwischenmenschlichen Umgangs und der pädagogischen Orientierung.

Was tun, um die persönliche Theorie weiter zu entwickeln? Die Lösung kann nicht darin bestehen, noch mehr Wissen noch mundgerechter zuzubereiten. Vielmehr kommt es darauf an, die Berufs-praktiker zu befähigen und zu ermutigen, selbst ans Theoretisieren zu gehen, also Persönliche Theorien zu bilden und diese in Kenntnis wissenschaftlicher Erklärungsansätze in einer Aktions-Reflexions-Spirale zu überprüfen. Das beschreiben die Professionsforscher als Aktions-Reflexions-Spirale.

Es gibt interessante Vorstellungen zur Umsetzung dieser Idee für die heutige Zeit, z.B. den von Herbert Altrichter und Peter Posch (2007) im Rückgriff auf Lawrence Stenhouse und John Elliott entwickelten Ansatz der Lehrer-Aktionsforschung oder die von Autoren wie Radtke, Helsper u.a. entwickelte pädagogische Kasuistik. An der Universität Oldenburg haben wir seit 20 Jahren die "Oldenburger Teamforschung" entwickelt, in der Studierende und Lehrer gemeinsam drängende Alltagsprobleme der Schule in kleinen Teams erforschen und nach Lösungen suchen (vgl. Fich-ten/Meyer 2008).

8.3 Sich selbst Entwicklungsaufgaben setzen!

Die Idee, dass sich Lernende - seien es Schülerinnen und Schüler oder Lehrpersonen - dadurch qualifizieren, dass sie sich selbstständig Entwicklungsaufgaben setzen, ist die Kernidee der von Herwig Blankertz angestoßenen, dann aber insbesondere an der Uni Hamburg weiter entwickelten Bildungsgangdidaktik.

Wer sich selbst Entwicklungsaufgaben setzt, arbeitet an seiner „persönlichen Didaktik“. Er macht sich seine eigene Lernbiografie bewusst und kann so das eigene Weiterlernen bewusster steuern und auch das Lernen der Schüler besser verstehen.

Welche Entwicklungsaufgaben sich Berufseinsteiger tatsächlich setzen, haben Uwe Hericks (2006, S. 94) und Manuela Keller-Schneider (2010) erforscht und dabei vier Aufgabenfelder gefunden:

- Vermittlung: Berufseinsteiger müssen lernen, zwischen Vermittlung und Aneignung zu unter-scheiden und Vorstellungen zum fachlichen Lernen entwickeln.

- Kompetenzentwicklung: Berufseinsteiger müssen lernen, die eigene Praxis zu reflektieren und sie gezielt weiter zu entwickeln.

- Anerkennung: Berufseinsteiger müssen das machen, was wir als verlässliche Beziehungsarbeit bezeichnet haben.

- Einfinden in der Institution Schule: Berufseinsteiger müssen lernen, die institutionellen Rah-menbedingungen zu akzeptieren und sich an der kooperativen Schul- und Unterrichtsentwick-lung zu beteiligen.

Es herrscht kein Mangel an unterrichtsbezogenen gemeinsamer Entwicklungsaufgaben. Ich liste einige auf, die mir aktuell attraktiv und lohnend zu sein scheinen.

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Lohnende Entwicklungsaufgaben

(1) Ausdifferenzierung und Ausbalancierung der Grundformen des Unterrichts

(2) Entwicklung einer neuen Aufgabenkultur (kognitiv aktivierende Aufgabenstellungen)

(3) Entwicklung eines Konzepts kompetenzorientierten Unterrichts

(4) Ausbau der Inneren Differenzierung

(5) Ausbau eines gemeinsamen Konzepts individueller Förderung

(6) Entwicklung kooperativer Lernformen

(7) Entwicklung eines Methoden-Curriculums, an das sich alle Kollegen gebunden fühlen

(8) Rhythmisierung des Schultages und der Schulwoche (Doppelstunden; Gestaltung der Mittagspause usw.)

(9) Wiederbelebung des Plenumsunterrichts9

(10) Portfolio-Arbeit

(11) Aus- und Aufbau von Helfersystemen

8.4 Teamarbeit und individuelles Arbeiten geschickt kombinieren

Teamarbeit ist alles andere als ein Selbstläufer, auch wenn sie von ihren Verfechtern immer wieder als das Natürlichste auf der Welt hingestellt wird. Die Teamarbeit muss den in Deutschland vorherr-schen Schulstrukturen mühsam abgerungen werden. Umso wichtiger ist es, die Gelingensbedin-gungen theoretisch zu fassen und empirisch auszuleuchten, um klarere Perspektiven für die Stär-kung der Teamarbeit zu formulieren. Dazu liegen einige Forschungsergebnisse vor (Huber & Ahl-grimm 2012). Cornelia Gräsel u.a. (2006), Brigitte Steinert u.a. (2006) und andere haben in einer Reihe von Einzelstudien herausgefunden, dass Lehrerkooperation keine Berge versetzt, aber doch ein bisschen hilft, die Unterrichtsqualität und damit die Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler zu verbessern.

Die deutschen Lehrer haben das Image, schlechte Teamarbeiter zu sein. Aber das scheint sich zu ändern. Das Motto „Ich und meine Klasse – sonst niemand“ wird in der Forschung als „Autonomie-Paritäts-Muster“ bezeichnet. Eine aktuelle Forschung aus Hamburg zeigt, dass nur 26 Prozent der dort erfassten Lehrpersonen diesem Lehrertypus zuzurechnen ist (Ihme u.a 2012). Die Bereitschaft zur kooperativen Schul- und Unterrichtsentwicklung wächst. – Prima!

Teamarbeit ist vor allem anderen eine „vertrauensbildende Maßnahme“. Wer den anderen in seine Karten gucken lässt, kann dasselbe auch von seinem Kollegen erwarten. Aber sie ersetzt nicht die individuelle Entwicklungsarbeit. Denn eine Schule, die 100 Prozent der zu erledigenden Arbeiten im Team realisieren wollte, gibt es nirgendwo. Sie wäre mit Sicherheit ineffektiv und für alle Beteiligten hochgradig belastend. Es gibt erfolgreiche Einzelkämpfer, die beeindruckende Beiträge zur Unter-richtsentwicklung geliefert haben (Wopp 2007).

9

Diese Aufgabe wird nur von wenigen meiner Kollegen in solche Maßnahmenkataloge aufgenommen. Ich halte es für zwingend. Die Öffnung des Unterrichts ist nicht dadurch zu bewerkstelligen, dass man den Frontalunterricht destruiert. Er wird noch mehrere Jahrzehnte die meist genutzte Sozialform bleiben.

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4.5 Sein eigenes Leben reich machen – innerhalb und außerhalb der Schule!

Vielleicht überrascht Sie dieser Ratschlag – aber er ist empirisch gut belegt (siehe Jank/Meyer 2002, S. 168). Stefania Wilczynska, die vergessene Mitarbeiterin von Janusz Korczak

im Jüdischen Waisenhaus in Warschau, schrieb dazu:

"Wenn Du die Kinder erziehen willst, musst Du dein eigenes Leben reich gestalten. Lies, gehe ins Theater, liebe die Natur, versuche dich selbst zu fühlen, soweit und so viel Du nur kannst. Alles, was in dir selbst geschieht, was in dir selbst lebendig werden kann, kommt schließlich der Pädagogik zugute."

Wer es versteht, auch noch anderes als die Schule zur Kenntnis zu nehmen, ist auch besser gegen die Burnout-Gefahren des Lehrerberufs gewappnet.

Fazit Was guter Unterricht ist, wird immer umstritten bleiben. Und das ist gut so. Daraus die Konsequenz zu ziehen, auf das Definieren von Gütekriterien ganz zu verzichten, halte ich jedoch für unange-messen. Es ist allemal besser, wenn die Lehrerinnen und Lehrer ihre immer schon vorhandenen persönlichen Theorien guten Unterrichts (s.o.) in einer intensiven Auseinandersetzung mit dem akademischen Stand der Diskussion weiterentwickeln, als dass sie "aus dem Bauch heraus" defi-nieren, was richtig ist.

Dieses Justieren der persönlichen Theorie ist ein komplexer, manchmal anstrengender, aber hier und dort auch Spaß machender Prozess, der am besten in einem wiederholten Wechsel von Aktion und Reflexion durchgeführt wird. Alles „Durchbrettern“ stört nur.

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Literatur

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Einige Literaturhinweise fehlen in dieser Liste. Sie finden Sie in dem Buch Meyer „Unterrichtsent-wicklung“ (2015).

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Vortrag Hilbert Meyer: Was ist guter Unterricht? – Empi-rische Befunde und didaktische Ratschläge Teil 1: Arbeitsdefinition und ZEHNERKATALOG Teil 2: Blick in die Forschungswerkstätten Teil 3: John Hatties Synthese von Metaanalysen und ihre didaktischen Konsequenzen Teil 4: Was tun, um den eigenen Unterricht weiter z u entwickeln?