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Carmina Burana - vffow.org€¦ · 5 5 Vorwort Schon als ich die ersten Manuskriptseiten las, die Annerose Rosan mir mit der Frage gab, ob es sich lohne, weiterzuschreiben, beschloß

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Vorwort

Schon als ich die ersten Manuskriptseiten las, die Annerose Rosan mir mit der Frage

gab, ob es sich lohne, weiterzuschreiben, beschloß ich, diese Lebenserinnerungen

zu veröffentlichen. Denn ich war sicher, hier eine besondere Zeugin unserer

grausamen Geschichte vor der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu haben. Die

Erzählungen kommen mit einer scheinbaren Naivität daher, in einer einfachen, ganz

unprätentiösen Sprache. Sie schildern gerade deshalb präzise, unverstellt. Die

Wirklichkeit, wie sie war, wird als hintergründig erkennbar, als doppelbödig. Die

Perspektive des Alltäglichen einer kleinbäuerlichen Welt bestimmt nicht nur die

Erinnerungen an die Kindheit, sondern auch an die Flucht und an die Ankunft in

einem fremden Land. Diese drei Teile gehören zusammen, weil sich so die

Verhältnisse gegenseitig in Frage stellen und die Verbindung von Zerbrochenheit

und Sinnerfüllung eines Lebens deutlich wird. Welcher Nachdenkende wünscht

nicht, daß wir aus der Geschichte lernten. Der Resignation können wir uns nur

entziehen, wenn wir dazu beitragen, Wissen, Erkenntnisse, Erlebtes nicht verloren

gehen zu lassen, sondern weiterzugeben, zu tradieren. Dies soll ein solcher Beitrag

sein.

Hartwig Struckmeyer

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Vorspann

Meine alte Heimat ist Masuren, der Süden Ostpreußens. Zuhause war ich in dem

Dorf Gilgenau bei Hohenstein. Meine Mutter stammte aus dem nicht weit entfernten

Ort Osterwein, einem Mischdorf, halb Gutsdorf, halb Bauerndorf. Ihr Vater wirkte in

dem dortigen Rittergut als Verwalter; Administrator sagte man damals. Mutter war

die Jüngste von acht Geschwistern. Mein Vater stammte aus dem nahegelegenen

Dorf Jugendfelde. Er hatte eine Schwester, meine Tante Minna. Sein Vater war in

der Kindheit ertaubt und ohne eine Berufsausbildung geblieben. Da er aber ein

reiches Elternhaus hatte, fiel sein Erbteil ganz ansehnlich aus. Man zahlte es ihm

aus, als er ins heiratsfähige Alter kam. Er kaufte in Jugendfelde ein Grundstück,

baute ein Haus, legte den Rest des Geldes gut an und lebte von

Gelegenheitsarbeiten und den Zinsen seines Geldes. Er heiratete eine Frau aus

armen Verhältnissen, die sehr tüchtig war. Von Beruf aus Schneiderin, war sie auf

diesem Gebiet sehr talentiert und daher bekannt und reichlich mit Arbeit eingedeckt.

Vater litt darunter, daß er und seine Eltern von seinen wohlhabenden, in guten

Positionen lebenden Verwandten immer recht herablassend behandelt wurde. Er

erlernte den Beruf des Maurers, bildete sich aber intensiv weiter und wurde bald

Bauunternehmer. Er entwarf die Zeichnungen für die Bauten, die er errichten ließ,

selbst, machte auch alle Berechnungen und arbeitete bis in die Nacht hinein. Am

Tage besuchte er die verschiedenen Baustellen.

Die Eltern meiner Mutter stifteten die Ehe; sie wollten bei ihrer jüngsten Tochter im

Alter bleiben und achteten deshalb darauf, daß sie einen Schwiegersohn bekamen,

der ihnen genehm war. Dafür erbte sie das Haus sowie den weiteren Besitz der

Eltern. Daß sie beide, mein Vater wie auch meine Mutter, den Namen Schwarz

trugen, war Zufall. Sie waren nicht miteinander verwandt; Schwarz ist ein häufiger

Name.

Vater war ehrgeizig. Im Ruhrgebiet wurde damals viel gebaut. Viele

Bergmannssiedlungen entstanden. Meine Eltern beschlossen, mit Mutters Eltern und

dem Kind - meiner damals einjährigen Schwester Lisette - nach Westfalen

auszuwandern. Sie veräußerten das elterliche Erbe und verließen die alte Heimat. In

Gelsenkirchen, Ückendorfer Straße, erwarben sie ein Grundstück mit einem Vorder-,

Mittel- und Hinterhaus. Dort wohnten mehrere Familien zur Miete. Es waren

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erfahrene, resolute Leute, die meiner Mutter, einer jungen, unsicheren Frau, manche

Schwierigkeiten bereiteten. Hinzu kamen die Behinderungen durch

Reglementierungen der französischen Besatzung, die nach dem Ende des Ersten

Weltkrieges dort das Sagen hatte. Schlimmer aber war der Hunger. Die Inflation war

so hoch, daß man für die gesamte Monatsmiete der drei Häuser gerade ein Brot

kaufen konnte und das auch nur mit viel Glück nach stundenlangem Anstehen. Die

Luft im Ruhrgebiet war miserabel.

Großmutter starb, und Mutter wurde krank. Also entschloß sich mein Vater, obwohl

er ein hohes Einkommen hatte, mit Frau und Kind und Großvater nach Masuren

zurückzukehren. In Gilgenau erwarb er sich für einen kleinen Bauernhof, verpachtete

den Acker, riß alsbald das alte Haus ab und begann im Jahre 1928, meinem

Geburtsjahr, mit dem Bau eines neuen, großzügig und modern gestalteten Hauses.

Noch ehe es fertig war - ich war 1 1/2 Jahre alt -, verunglückte Vater tödlich. Er war

36 Jahre alt. Aus Solidarität mit ihm und seiner in Not geratenen Familie bauten die

Arbeiter das Haus kostenlos zu Ende. Mutter kündigte die Pachtverträge und

versuchte, den Hof alleine zu bewirtschaften. Das war recht schwierig für sie. Da sie

noch jung war und als gute Partie galt, warben verschiedene Männer um sie. Sie

heiratete meinen Stiefvater, dessen Leben bisher nicht gerade glücklich verlaufen

war. Durch den frühen Tod seines Vaters hatte er sein Recht als Hoferbe und durch

die Inflation das ihm ausgezahlte Erbteil verloren. Wenn ich künftig von meinem

Vater rede, ist stets er gemeint.

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Das Gewitter

Ich war noch nicht ganz fünf Jahre alt. Ein Alter also, in dem man viele Erfahrungen

sammelt und in dem man sich besonders große Mühe gibt, viel zu verstehen und zu

lernen. Der Sommer war warm und trocken und für ein kleines Mädchen, das mit

Hunden, Katzen, Hühnern und allen Tieren, die auf einem Bauernhof zu Hause sind,

umging, eine herrliche Zeit. Für die Bauern aber war so ein trockener Sommer gar

nicht so ideal. Viele Feldfrüchte entwickelten sich schlecht oder gingen ganz ein,

wenn das Feld ungünstig zum Wind lag oder einen sandigen Boden hatte. Auch auf

den Wiesen wuchs das Gras spärlich, und manch ein Bauer mußte sich Mühe

geben, um genug Heu für den Winter zusammenzubringen, denn besonders die

Kühe mußten, wenn sie in der kalten Jahreszeit im Stall standen, gut versorgt

werden, damit sie genug Milch gaben und der Bauer etwas verdienen konnte. Meine

Eltern hatten Glück. Ein Bekannter im Nachbardorf verkaufte ihnen das Gras seiner

Wiese. Sie mähten es, machten Heu daraus und hofften, nun genug Wintervorrat für

die Kühe zu haben. So dachten sie. Am Vormittag hatten sie noch kräftig gearbeitet

und das Heu zu einzelnen Haufen zusammengetragen. Nächsten Tag sollte es

eingefahren werden. Vater stand mitten auf dem Hof und guckte in den Himmel. Ich

guckte auch in den Himmel, aber ich konnte nichts Interessantes entdecken. Er war

eintönig blau wie an den Tagen vorher. Keine Wolke war zu sehen. Selbst die Vögel

schienen zu träge zu sein, um mal einen Rundflug zu wagen. Vater steckte den

Finger in den Mund, hielt ihn hoch über den Kopf, schnupperte etwas und ging dann

ins Haus. Ich steckte auch den Finger in den Mund, hielt ihn in die Luft, schnupperte,

konnte aber nichts Besonderes bemerken bzw. riechen und ging hinterher. "Es wird

ein Gewitter geben", sagte Vater. „Möglicherweise müssen wir heute noch das Heu

holen." „Muß ich da mit?" hörte ich meine Schwester aus dem Hintergrund.

„Natürlich! Ohne dich geht's nicht."

Zum Heueinfahren brauchte man mindestens drei Personen; mit vier Leuten ging es

besser. Einer, meistens ein Junge von zehn bis zwölf Jahren, hatte die Zügel der

Pferde in der Hand und lenkte den Leiterwagen von einem Heuhaufen zum anderen.

Gab es in der Familie nur Mädchen, mußten diese Arbeit auch Mädchen tun. Ein

anderer, meistens der Bauer, stakte mit einer Forke das Heu auf den Leiterwagen.

Auf dem Wagen stand die Bäuerin, die das Heu entgegennahm und so packte und

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verteilte, daß ein festgefügtes Fuder entstand, das nicht verrutschen konnte. Hatte

die Familie noch ein größeres Kind, mußte es mit und die Heureste, die man mit der

Forke nicht aufheben konnte, nachharken und auf den nächsten Haufen legen. Die

Kinder taten diese Arbeit ganz gerne, besonders am Vormittag, wenn die anderen

zur Schule mußten. Vaters Anordnungen waren viel wichtiger als die des Lehrers,

und in der Ernte sowieso. In unserer Familie gab es nur Mädchen: meine große

Schwester und mich. Lisette mußte also in der Heuernte immer mit, um die Zügel zu

halten. Das Staken und auch das Nachharken machte Vater. In den Bauernfamilien,

die - wie wir - nur wenig Land besaßen und sich keine Knechte und Mägde leisten

konnten, mußten die Kinder ebenfalls mitarbeiten, sobald sie kräftig genug waren.

Nur bei den reicheren Bauern war das nicht immer nötig. In der großen Ernte aber,

der Getreide-, der Kartoffel- und der Rübenernte, wurde auch bei den „großen"

Bauern jeder gebraucht, und in Haus und Hof hatten die Kinder ohnehin ihre

Pflichten.

Es war so um die Vesperzeit. Vater stand am Fenster und blickte nach draußen.

„Der Himmel wird dunstig. Am besten, wir holen das Heu. Sicher ist sicher." Mutter

wandte sich mir zu: „Es wird ein Gewitter geben. Wir müssen einfahren. Wenn das

Heu naß wird, sind wir gezwungen, die ganze Arbeit noch einmal tun, und außerdem

ist das Heu dann nicht mehr so viel wert wie jetzt. Du bist ja schon ein vernünftiges

Mädchen und wirst hier ganz artig spielen. Wir sind bald wieder da." Vater spannte

die Pferde an. Mutter und Lisette setzten sich auf den Leiterwagen und ließen die

Beine seitlich zwischen den Sprossen herausbaumeln. Vater stand vorne, hielt die

Zügel in der Hand, und ab ging es durch das Hoftor hinaus. Ich war auf einen Stuhl

geklettert und schaute ihnen durch das Küchenfenster nach. In der Ferne grummelte

es leicht. Das Alleinsein machte mir im allgemeinen nicht viel aus. Ich konnte mir mit

allen möglichen Dingen, die man irgendwo fand - alte Schachteln, Blättern,

Holzstückchen -, wunderbar die Zeit vertreiben. In meiner Phantasie wurden diese

Dinge zu Palästen, zu Feen, zu Clowns. Dabei merkte ich gar nicht, daß das

Gewitter immer näher kam. Erst als es plötzlich ganz nah und sehr hell blitzte und

gleich darauf laut donnerte, wurde mir so richtig bewußt, daß ich ganz alleine in dem

großen Haus war. Meine Eltern hätten eigentlich längst zu Hause sein müssen. In

meiner Unruhe kletterte ich auf den Stuhl, um aus dem Küchenfenster nach ihnen

Ausschau zu halten, aber weit und breit war kein vollbeladener Heuwagen, der

unserem Hof zustrebte, zu sehen. Außerdem war es draußen schon ziemlich dunkel,

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und es regnete in Strömen. Was war zu tun? Erst einmal vom Fenster weg! Wenn

ich das, was mir Angst machte, nicht so deutlich sah, glaubte ich wohl, die Gefahr

sei nicht so groß. Mir fiel ein, was mir Tante Minna einmal gesagt hatte: „Wenn du in

Not bist, mein Kind, dann bete zum lieben Gott. Er hört und sieht dich immer, und

meistens hilft er auch, denn er weiß alles." Leider kannte ich nur ein Gebet: „Lieber

Gott mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm." Sicher würde dem lieben

Gott dieses Gebet gefallen. Wenn er ja sowieso alles weiß, brauchte ich ihm meine

Lage erst gar nicht zu schildern. Ich kniete hin und betete einmal, zweimal, dreimal,

aber es blitzte und donnerte immer weiter. „Vielleicht hört der liebe Gott ja doch nicht

alles", dachte ich. „Bei diesem Krach wäre das ja gar nicht zu verwundern." Ich

betete also lauter und noch lauter, aber das Gewitter hörte nicht auf, und die Eltern

trafen auch nicht ein. „Wahrscheinlich muß ich dem lieben Gott doch erklären, was

mich ängstigt", dachte ich. „Wie kann er auch alles wissen, wenn er so viele, viele

Menschen zu beobachten hat." Ich faltete also die Hände und schrie: „Bitte, lieber

Gott, schick meine Eltern nach Hause und schalte den Donner ab; er macht sooo

viel Krach." Aber der liebe Gott hörte mich nicht. Mir fiel Onkel Albert ein, der Mann

von Tante Minna. Wenn die Tante in die Kirche ging - und sie ging jeden Sonntag in

die Kirche; sie war sehr fromm -, dann versorgte der Onkel zu Hause das Vieh und

den Haushalt; er begoß die Blumen und kochte das Mittagessen, und wenn die

Tante wieder heimkam, brauchte sie nichts mehr zu tun. Der Onkel war also ganz

lieb, nur, er wußte nichts über den lieben Gott. Er war Kommunist; und Kommunisten

sind in derlei Dingen anscheinend nicht so aufgeklärt. Wenn die Tante mit mir über

den lieben Gott sprach und mir erzählte, was er alles kann und tut, machte Onkel

Albert immer seine Zwischenbemerkungen. Einmal, als die Tante aus dem Zimmer

ging, setzte er sich zu mir und erklärte mir, daß der liebe Gott wirklich nicht alles

kann und daß es viel besser sei, sich zuerst auf sich selbst zu verlassen. Daran

mußte ich jetzt denken. Mein Beten, mein Weinen hatten nichts bewirkt. Der liebe

Gott hat überhaupt nicht reagiert. Und da ich nicht wußte, wie ich das Unwetter

abstellen und meine Eltern nach Hause rufen sollte, kletterte ich in einen Sessel,

deckte mich mit einem Kissen zu und wartete ganz still und ergeben. Irgendwann

muß ich wohl eingeschlafen sein. Ich träumte, ein Engel erschien, hob mich hoch

und legte mich ins Bett. Morgens wachte ich, wie jeden Tag, in meinem Bett auf. Die

Sonne schien, und die Schwalben zwitscherten vor dem Fenster. Als ich in die

Küche trat, saßen alle am Frühstückstisch. Meine Mutter nahm mich auf den Schoß

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und erzählte mir, daß gestern, als sie alle mit dem vollgeladenen Heuwagen auf dem

Weg nach Hause waren, ein Rad gebrochen war und zwar gerade in dem

Augenblick, als sie über den Steg fahren wollten, der einen kleinen Graben

überquerte. Das Fuder kippte in den Graben; und das bei diesem Unwetter. Es muß

wohl sehr schlimm gewesen sein. Für mich aber war der gestrige Tag und alles, was

damit zusammenhing, schon Vergangenheit. Die Sonne schien, und der Hund stieß

mich mit seiner Schnauze an. Er wollte spielen.

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Die Sonnenwendfeier

Irgendwer, ich glaube, es war der Ortsgruppenleiter, hatte den Bauern erklärt, daß

mehr bäuerliches Brauchtum gepflegt werden müsse, und da wir ja - wie er sagte -

auf dem altgermanischen Siedlungsgebiet der Ostgoten lebten, sollte es etwas

Germanisches sein. Man beschloß, eine Sonnenwendfeier auszurichten. Einigen

Bauern paßte die Sache überhaupt nicht. „Mitten im Hochsommer, bei der vielen

Arbeit. Wem fällt denn nur so ein Blödsinn ein!" Andere wiederum freuten sich auf

etwas Ablenkung vom Alltagstrott: „Mal was Neues." Schon Wochen vorher begann

man mit den Vorbereitungen. Die größeren Mädchen und Jungen sangen echte und

unechte Volkslieder, und an manchem Abend nahmen sie auf dem Turnplatz

reihenweise Aufstellung, um, mit einem ordentlichen Anlauf, über einen Holzhaufen

zu hopsen. Manch einer blieb dabei hängen, zerkratzte sich die Beine und zerriß

seine Hose oder den Rock. Die Zuschauer, ein paar alte Leute und die kleineren

Kinder, amüsierten sich; nur die Mütter, die die kaputten Sachen ausbessern

mußten, schimpften auf diese neumodischen Einfälle, die manche Leute haben.

Unser Nachbar, Mitglied der Kapelle der freiwilligen Feuerwehr, blies jeden Abend

die Trompete, und mitunter konnte man direkt eine Melodie erkennen.

Der Tag der Sommersonnenwende kam heran, und es regnete in Strömen. Also

verlegte man das Fest aufs Wochenende, was allgemein begrüßt wurde, denn am

Sonntag arbeitete man meist etwas weniger als an den anderen Tagen, und deshalb

hatte wohl manch einer eher Lust hinzugehen. Auf einer Anhöhe außerhalb des

Dorfes wurde ein großer Holzhaufen geschichtet und ein Fahnenmast aufgestellt.

Um zehn Uhr abends sollte es losgehen und bis Mitternacht dauern. Wir Kleinen, ich

war etwa sieben Jahre alt, waren aufgeregt wie noch nie, denn es kam sonst nicht

vor, daß wir so lange bis in die Nacht hinein aufbleiben durften. Etwa eine halbe

Stunde vor Beginn sah man die Dörfler schön herausgeputzt, die Kinder an der Hand

der Eltern, zum Festplatz wandern. Auch ich war mit meiner Mutter rechtzeitig dort,

stand aber dann irgendwo zwischen Leuten, die ich nicht kannte; wahrscheinlich

deshalb, weil meine Mutter ungestört mit Bekannten, die sie nicht so oft traf, reden

wollte. Auf so einer Feier, auf der auch einige „offizielle" Herren anwesend waren,

konnte man ja nicht polnisch sprechen, nur um die Kinder nicht mithören zu lassen,

was man sich zu erzählen hatte. Die Feier begann mit einer Rede des

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Bürgermeisters, der alle Anwesenden begrüßte. Danach wurde der Holzstapel

angezündet. Irgendein Parteimensch, wahrscheinlich der Ortsgruppenleiter, sprach

darüber, daß es wichtig sei, altes Brauchtum neu zu beleben, und ebenso wichtig,

sich seiner germanischen Wurzeln zu erinnern. - Hinter mir fragte eine Frau flüsternd

ihren Mann, ob er dem Kowalski den Schraubenzieher abgegeben hätte, sie habe es

satt, daß die Kowalska sie immer wieder daran erinnere. - Nach der Rede klatschten

alle, und manche schienen sehr ergriffen zu sein. Die Feuerwehrkapelle spielte „Wer

recht in Freuden wandern will", was die Musiker am besten konnten, denn um ein

anderes Stück einzuüben, hatten sie nicht die Zeit gehabt. Außerdem wurde in dem

Lied die Sonne erwähnt. Also war es genau das richtige. Der Holzstapel brannte in

voller Pracht; die Funken stoben; die Gesichter der Zuschauer sahen im Feuerschein

alle rötlich aus; die Nacht war lau, und die Sterne blinkten. Nur der Mann hinter mir,

der, welcher dem Kowalski den Schraubenschlüssel noch nicht abgegeben hatte,

schien die Erhabenheit der Stunde nicht zu begreifen: „Daß die Fahne nicht

anbrennt, so dicht wie die den Mast neben den Haufen gestellt haben? Schade!"

„Pscht" machte die Frau. Die Jungen und Mädchen des Dorfes, alle in HJ-Kleidung

und in zwei Reihen aufgestellt, sangen: „Flamme empor, Flamme empor! Fliege mit

lo-ho-derndem Schei-hei-ne zu den Gebir-hir-gen am Rhei-hei-ne“ „Na, da haben sie

ja noch einen recht weiten Weg", sagte der Mann hinter mir. „Mensch Karl, halt den

Mund", flüsterte die Frau. Das Feuer war inzwischen ziemlich heruntergebrannt, und

jemand scharrte den Haufen mit einer Schippe soweit zusammen, daß er

einigermaßen klein wurde. Etwas tat sich. Dort, wo die Leute auf einem leichten

Abhang zum Festplatz hin standen, wurde Platz geschaffen, und einige Jungen und

Mädchen stellten sich in einer Reihe auf. Ein junger Mann lief ordnend hin und her.

Grete - ich bewunderte sie immer wegen ihrer langen blonden Zöpfe, die sich nach

hinten verdrückt hatte, wurde an den Arm gefaßt und als erste in die Reihe gestellt.

Mir fielen die Übungen auf dem Turnplatz ein, und ein mächtiger Schrecken

durchfuhr mich, denn meine große Schwester stand auch in der Reihe. Es wurde

etwas Lautes gerufen und Grete nahm Anlauf, rannte auf den noch leicht

brennenden Haufen zu, sprang aber nicht drüber, sondern lief drumherum. Die Leute

lachten und klatschten, und der Mann hinter mir rief: „Bravo!" Neben mir stand ein

etwas größerer Junge, der anfing auf die feigen Weiber zu schimpfen und Anstalten

machte, hinüber zu den Feuerspringern zu laufen, um „es ihnen zu zeigen". Nur,

seine Mutter war da ganz anderer Meinung. Sie packte ihn am Arm: „Du bleibst hier!

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Du hast deine neue Hose an!" Er wehrte sich zwar, doch die Hand seiner Mutter war

nicht abzuschütteln. Irgendwie ging das Feuerspringen ohne ein Unglück vorüber,

und viele atmeten erleichtert auf. Jetzt war das Feuerrad an der Reihe. Man hatte ein

altes Wagenrad mit Stroh umwickelt und einige Holzleisten quer gesteckt, damit das

Rad nicht so leicht kippt, wenn es brennend den Abhang herabrollt. Das Feuerrad

sollte Höhepunkt und Abschluß der Feier sein, und da durfte nun wirklich nichts

schiefgehen. Zwei junge Männer hielten das Rad, ein dritter hockte mit

Streichhölzern davor und wartete darauf, daß die Kapelle zu blasen begann: „Abend

wird es wieder über Wald und Feld". Es war ein außerordentlich feierlicher

Augenblick. Das Rad rollte brennend los und - kippte nach etwa fünf Metern um.

„Och" klang es reihum, und mit der erhabenen Stimmung war's aus. Die Bläser

brachten mit Mühe ihr Abendlied zuende. Die Leute verzogen sich. Man sah auf dem

Heimweg noch kurz den Schein des brennenden Rades.

Für ein paar Tage war die Sonnenwendfeier noch das Gesprächsthema im Dorf. Am

Ende aber wurde beschlossen, daß man mit Schützenfest und Erntefest schon

genug Brauchtum pflege und solch eine Feier in einer so arbeitsreichen Zeit

vollkommen überflüssig sei. Außerdem fand sich kein Bauer, der ein Wagenrad über

hatte. Nach Meinung der alten Frau Jeruminski war es sowieso Sünde, einen großen

Haufen schönen Holzes nutzlos zu verbrennen, wo sie doch einen ganzen Sommer

im Walde sammeln mußte, um solch einen Stapel Feuerholz für den Winter

zusammenzukriegen.

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Die heiligen Nächte

Wenn die Tage kürzer wurden und die ersten Schneeflocken fielen, begann die Zeit

der Geheimnisse und Geschichten, der wunderbaren Begebenheiten und mancher

Rätsel. Auf den Höfen gab es wenig zu tun. Das Vieh war schnell gefüttert, und die

übrige Zeit wurde genutzt, um Geräte auszubessern oder neue Gegenstände

herzustellen; Körbe flechten oder Besen binden. Die schönste Zeit des Tages kam

mit der Dämmerstunde. Statt des elektrischen Lichtes zündete man die

Petroleumlampe an, und in der Röhre des Kachelofens schmorten die Bratäpfel.

Da im Dorf kaum jemand eine Zeitung abonniert hatte, vielleicht weil das Geld,

vielleicht auch weil die Zeit zum Lesen fehlte, erzählte jeder jedem, was es für

Neuigkeiten in der Stadt, in der Umgebung und im Dorf gab. Ob diese Geschichten

sich am Ende noch genauso anhörten, wie sie der erste erzählt hatte, war nicht so

wichtig. Wann weiß man es denn schon genau, ob etwas wahr ist oder wahr

gewesen ist. Jedenfalls wurde auch bei uns, wenn wir uns zur Vesperzeit in der

Wohnstube einfanden, das Neueste vom Tage besprochen. Fast immer mußte ich

als erste Rede und Antwort stehen: „Na, was hat der Lehrer euch denn heute

erzählt?" „Och, nichts Besonderes." „Also, als ich zur Schule ging ...“

Es war faszinierend zu hören, wie früher das Schulleben abgelaufen war.

Pünktlichkeit, Ordnung, vor allem aber Gehorsam galten als die wichtigsten

Eigenschaften, die jedes Kind als erstes lernen mußte. Daß es dabei oft zu

Ungerechtigkeiten kam, empörte mich jedesmal. Ich dachte vor allem daran, daß es

ja auch jetzt nicht viel anders zuging, nur schienen die Erwachsenen es gar nicht zu

bemerken. Wenn ich versuchte, Vergleiche zu ziehen, hieß es sofort: „Das ist etwas

ganz anderes." Also beschränkte ich mich darauf zu fragen, was sie denn damals

dagegen getan hätten. Vielleicht war ja ein Ratschlag dabei, der auch mir nutzen

konnte. Ich bekam auch prompt Antwort: „Die alte Krella hat immer geholfen." „Wer

war die alte Krella?" „Na, die Dorfhexe." „Wie hat die euch denn helfen können?"

„Sie hat uns beispielsweise geraten, in einer Vollmondnacht einen Strauch zu

suchen, der an einer Wegkreuzung steht. Von diesem Strauch sollten wir zwei

Zweige schneiden, die so gewachsen waren, daß sie sich kreuzten. Diese Zweige

legten wir dann genauso gekreuzt auf des Lehrers Hausschwelle und spuckten

dreimal drauf. Wenn alles klappte, mußte er in den nächsten drei Tagen krank

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werden." „Und, wurde er krank?" „Fast immer; was dachtest du denn!" „Was hatte er

denn?" „Durchfall." „Ach, sicher hat er nur was Schlechtes gegessen." „Das ist klar!

Aber er hat ja nur deshalb etwas Schlechtes gegessen, weil das Hexenkreuz auf

seiner Schwelle lag; du kannst es mir glauben, so ein Durchfall im Winter ist ziemlich

unangenehm." „Ja? Wieso eigentlich?" „Nun, stell dir mal vor, du müßtest in so einer

eiskalten Winternacht alle zehn Minuten nach draußen, über den Hof laufen und dich

auf das zugige Klo setzen." „Nein! Also so etwas Gemeines hättet ihr ihm ja nicht

gleich anzuhexen brauchen." „Ach, der war so zäh, überhaupt nicht kleinzukriegen.

Nach zwei Tagen war er wieder da." „Ich glaube eigentlich nicht an sowas."

Mutter, die inzwischen in der Küche das Abendbrot vorbereitete und unsere

Unterhaltung mitgehört hatte, mischte sich ein: „Du, es gibt wirklich manches

Unheimliche. Meinem Bruder Rudi ist mal ein Geist begegnet und das am hellichten

Tage." „Was? Konnte er ihn denn sehen?" „Nein, aber hören." „Wie seltsam." „Ja,

weißt du, der Gutsherr war gerade gestorben, und mein Vater - es war Sonntag -

hatte keine Lust, den üblichen Kontrollgang durch den Gutshof zu machen. Er

schickte also den Rudi los." „Und?" „Als Rudi zurückkehrte, war er ganz blaß, und

erzählte, daß er, als er auf den Hof gekommen wäre, hörte, wie jemand den

Rübenschneider in der Futterküche bediente. Er wunderte sich, denn zu dieser Zeit

war sowas außergewöhnlich. Als er die Tür öffnete, war aber niemand im Raum. Der

Schwengel des Rübenschneiders drehte sich von ganz allein, und die Rüben, die

vorher im Trichter waren, lagen zerschnitten auf dem Boden." „Wie gruselig. Ist er

nicht weggelaufen?" „Nein. Er hat ganz laut den Namen des verstorbenen Gutsherrn

gerufen, und sofort stand die Maschine still. - Übrigens, du kannst mir ein paar

Zwiebeln vom Boden holen. Du weißt ja, wo sie liegen. Sei vorsichtig an der Treppe."

Ich ging auf den Dachboden, nicht ohne dabei alle Türen aufzulassen, damit der

Lichtschein aus der Küche möglichst weit den dunklen Flur und die Bodentreppe

beleuchtete. Oben griff ich mir etliche Zwiebeln und wandte mich zur Treppe. Gott

sei Dank, daß bei uns niemand gestorben war, dessen Geist irgendwo herumspuken

konnte. Da machte es leise „Ssst." Steht da nicht jemand hinter mir? Ich schaute

mich um, aber in der Dunkelheit konnte ich nichts erkennen. Ich ging schnell zur

Treppe, wieder machte es „Ssst, ssst, ssst." Ich sauste die Treppe hinunter und

wunderte mich, daß ich nicht danebentrat; hinter mir machte es „Ssst, ssst, ssst" bei

jedem Schritt. Mutter blickte verwundert, als ich in die Küche kam: „Nanu, was ist

geschehen? Du bist ja ganz blaß im Gesicht." „Hinter mir hat jemand gezischt."

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Vater, der durch die Wohnzimmertür blickte, fing an zu lachen: „Klar, mit 'ner

Zwiebelschale am Latschen." Ich blickte nach unten. Tatsächlich; irgendwie hatte

sich eine Zwiebelschale an einem meiner Latschen festgeklemmt. „Du mußt laut

pfeifen, wenn du zu dieser Jahreszeit abends in den Keller oder auf den Boden

gehst. Mein Bruder Fritz hat das auch immer getan. Das vertreibt garantiert jeden

Geist," riet mir Vater fürs nächste Mal. Die Nacht schlief ich trotzdem gut, und von

Geistern habe ich nicht geträumt. Nein, an Geister wollte ich nicht glauben, mit

Ausnahme des Nikolauses. An den glaubte ich schon - oder auch nicht; ich wußte es

nicht so genau. Jedenfalls habe ich es nie versäumt, zum Nikolaustag meine besten

Schuhe blitzblank zu putzen und einen davon zur Nacht auf die Fensterbank zu

stellen. Und tatsächlich; am nächsten Morgen lag ein Schokoladenweihnachtsmann

drin. Mein Freund Hans fand nur einen Zettel in seinem Schuh, auf dem, dick

unterstrichen FAULPELZ stand. Er hatte seinen Hausschuh aufs Fensterbrett

gestellt.

Irgendwie schien es aber doch im Haus zu spuken. Wieso sah man manches Mal

mitten in der Nacht, wenn alle schliefen, Licht durch die Türritzen schimmern? Und

wenn ich dann auf Zehenspitzen zur Tür schlich, um durch das Schlüsselloch zu

spähen, war alles dunkel. Also nichts wie zurück ins Bett und bis über die Ohren

zugedeckt. Am Tag vor Heiligabend bemerkte ich mal wieder Licht im Wohnzimmer

und als ich durchs Schlüsselloch blickte, erlosch es nicht. Ich drückte also die Klinke

herunter und guckte vorsichtig hinein. Niemand war da. Merkwürdig! Der Kachelofen

war noch warm. Ich kuschelte mich in eine Ecke der Ofenbank und wartete. Nach

einer Weile hörte ich die Haustür zufallen. Mutter kam ins Zimmer, eingehüllt in ein

großes warmes Tuch und mit Schneeresten auf dem Kopf. Sie brachte eine richtige

Eiseskälte mit und schien überhaupt nicht überrascht zu sein, mich hier zu finden.

„Was hast du denn da?" fragte ich. „Ein Päckchen von Lisette." Ich wunderte mich,

denn Lisette war in Osterwein, um im dortigen Gutshaushalt die „feine Küche" zu

erlernen, und die Post kam doch nicht um fünf Uhr in der Nacht.“ „Und wer hat dir

das gegeben?" „Sosnowski, der um diese Zeit die Milch von Osterwein nach

Hohenstein zur Molkerei fährt." „Und du hast das gewußt?" Meine Verwunderung

wurde immer größer, denn wir hatten weder einen Brief erhalten, der das Päckchen

ankündigte, noch hatte Irmchen Lux uns zum Fernsprechgerät gerufen. Der Gastwirt

Lux war zu der Zeit, als ich acht Jahre alt war, der einzige im Dorf, der ein Telefon

besaß. „Ja, weißt du," Mutter wirkte selbst am meisten erstaunt über das, was ihr

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geschehen war, „Ich kann's eigentlich selbst kaum begreifen, aber ich habe es

geträumt." „Gibt es sowas?" „Es sieht so aus. Jedenfalls träumte ich ganz deutlich,

daß Lisette ins Zimmer kam und mir sagte, daß ich aufstehen, zu der Milchbank bei

Reschkes gehen und auf den Milchmann aus Osterwein warten solle, sie habe ein

Päckchen für uns abgegeben. Der Milchmann werde es dort ablegen. Sie mache

sich aber Sorgen, daß es vielleicht gestohlen werde, und das wäre schade, weil sie

sehr dafür gespart hätte. Aus dem Traum erwacht, dachte ich mir, daß es ja nicht

schaden könne, wenn ich mich anzöge und mal gucken ginge." „Hast du lange

gewartet?" „Überhaupt nicht. Als ich da war, fuhr der Sosnowski gerade um die

Ecke." Inzwischen hatte Mutter den Bindfaden, der das Päckchen zusammenhielt,

sorgfältig aufgeknotet und die Schachtel aufgemacht. Ein langer Brief lag obenauf;

dann kam ein hübsches buntes Tuch zum Vorschein, das Mutter sich gleich um den

Hals legte. Für Vater lag eine Tabakpfeife dabei und für mich ein Deckchen zum

Aussticken und vier Docken Stickgarn. Das Deckchen hatte nur einfaches

Kreuzstichmuster, aber es war das erste überhaupt, das ich gestickt habe. Ich

besitze es heute noch.

Am nächsten Tag durfte ich beim Kuchenbacken helfen. Die Mandeln für den

Lebkuchen brühte Mutter zwar selbst, aber die Haut abziehen durfte ich dann und

auch die Teigschüssel auslecken. Vater hörte Radio: „Hier ist der Reichssender

Königsberg und der Landessender Danzig. Sie hören ‘Schimkat ist der Ansicht’." Es

war eine Sendereihe, in der zwei Männer über ein aktuelles Thema diskutierten.

Schimkat war meistens anderer Ansicht. „Walter!" Mutter, die in die Speisekammer

gegangen war, kehrte mit verärgertem Gesicht und der Keksdose unterm Arm

zurück, kam schnurstracks ins Wohnzimmer und knallte die Dose auf den Tisch:

„Das warst du doch schon wiedermal. Es sind fast alle weg. Was denkst du dir

eigentlich dabei?" „Nun schimpf doch nicht gleich. Deine Kekse schmecken doch so

hervorragend, und außerdem kannst du ja wieder welche backen." „Jetzt, so kurz vor

dem Fest? Die werden doch nicht mehr richtig mürbe." Mutter schien etwas

versöhnt. „Wieso vor, es geht ja auch nach dem Fest." „Ja, aber in den heiligen

Nächten ..." Vater unterbrach sie: „Wer sagt denn, daß du die Kekse in der Nacht

backen sollst." Jetzt lachte Mutter wieder: „Ach, red' doch nicht; außerdem ..."

„Außerdem ist vorerst genug anderer Kuchen da," redete Vater dazwischen. „Welche

heiligen Nächte meinst du denn?" fragte ich neugierig. „Das sind die Tage zwischen

Weihnachten und dem Dreikönigsfest." „Die Tage oder die Nächte?" „Beide." „Was

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ist denn an diesen Tagen Heiliges dran?" „Das weiß ich auch nicht so genau.

Jedenfalls geht das, was man in diesen zwölf Nächten träumt und an den Tagen

beginnt, in dem entsprechenden Monat des kommenden Jahres in Erfüllung." „Aha,"

meldete sich Vater, „jetzt weiß ich auch, weshalb du nach Weihnachten keine Kekse

backen willst." „Quatsch. Aber meine Mutter hat in diesen Tagen nie Erbsen gekocht

und schon gar nicht Wäsche gewaschen." „Wieso denn das nicht?" warf ich ein.

„Erbsen bedeuten Tränen, und das Waschen weißer Wäsche bringt Tod in die

Familie." „Und esse ja keine Klopse," sagte Vater ernst zu mir, „du kriegst sonst

Pickel im Gesicht und Furunkel am Podex."

Schon während des Sommers hatte Vater eine schön gewachsene junge Fichte

ausgespäht, die er kurz vor dem Fest aus dem Wald holte und am Heiligabend

vormittags in einen kunstvoll geschnitzten hölzernen Christbaumständer einpaßte.

Nach dem Mittagessen wurde der Baum geschmückt. Vater war für die obere Hälfte

zuständig, wegen seiner Größe. Auf die Spitze wurde entweder ein Rauschgoldengel

gesteckt oder ein Glockenspiel, das sich durch die Hitze zweier Kerzen in Bewegung

setzte. Es erklangen dann die ersten Takte einer Weihnachtsmelodie. Die untere

Hälfte war mein Bereich. Die Kiste mit dem Christbaumschmuck habe ich immer mit

einer Mischung aus Ehrfurcht, Neugier und Staunen behandelt. Sie barg wunderbare

Schätze. Viele von Großeltern und alten Tanten ererbte Sachen waren dabei; kleine

handgeschnitzte Figuren aus dem ländlichen Alltag, vor allem aber eine bunte

glasgeblasene Menagerie. Manch eines der Tierchen hatte in den langen Jahren

seiner Existenz schon ein Ohr oder den Schwanz verloren, aber ich liebte auch die

Invaliden heiß und innig. Zum Abendbrot gab es meist etwas, das schnell

zuzubereiten war; d.h., solange ich noch an den Weihnachtsmann glaubte und der

Weihnachtsmann auch wirklich kommen mußte. Als ich älter wurde, brachten die

Engel die Geschenke in der Nacht zum ersten Feiertag. Sie lagen morgens unter

dem Tannenbaum. Obwohl ich nun darauf etwas länger warten mußte, war ich doch

froh, daß ich keinem Weihnachtsmann mehr ein Gedicht aufsagen oder ein Lied

vorsingen mußte. Aber die Erwartung ließ mich unruhig schlafen. Meist saß ich

schon, wenn es noch stockfinstere Nacht war, unterm Tannenbaum und spielte mit

den Sachen, die von den Engeln des Christkindes hingelegt waren. Wenn Mutter

dann um fünf Uhr morgens aufstand, um die Kühe zu melken und das Vieh zu

füttern, schimpfte sie mit mir, aus lauter Angst, ich könnte mich erkälten. Die bunten

Teller waren alle gleich groß und auch ganz gleichmäßig gefüllt, aber Vater wollte

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trotzdem immer wissen, was ich wohl Besonderes bekommen hatte. Meist

vernaschte er schon am ersten Tag seine leckersten Sachen, und darum wollte er

nun mit mir tauschen. Er konnte eben seinen Janker [ ostpreußisch: Begierde] nach

Thorner Katrinchen oder den süßen Herzen aus Königsberger Marzipan schlecht

unterdrücken. Also nahm ich schleunigst meinen Teller und verzog mich.

Im Haus roch es nach Tannennadeln, nach Kerzen, Pfefferkuchen und Gänsebraten.

Eine richtige Weihnachtsgans zuzubereiten ist eine Kunst für sich, besonders dann,

wenn man sie in der Bratröhre eines Kachelherdes zubereitet. Gleich morgens,

manchmal noch vor dem Frühstück, wird in der kleinen Feuerstelle unter der

Bratröhre das Feuer angemacht, damit die richtige Glut entsteht. Der Gänsebraten

muß in regelmäßigen Abständen gewendet, vor allem aber mit der Soße aus dem

Bräter begossen werden. Nur dann wird er knusprig, saftig und bis ins Innere

durchgegart. Mutter wollte in den Keller, um Kartoffeln zu schälen: „Walter, begießt

du die Gans, solange ich unten bin?" „Aber selbstverständlich, du kannst sie mir

beruhigt überlassen." Und tatsächlich. Vater wirtschaftete hingebungsvoll in der

Küche. Immer wieder hörte ich die Klappe der Bratröhre quietschen und das

Geräusch, das entsteht, wenn man den Bräter zum Begießen rauszieht. Mutter

kehrte zurück, und Vater ging wieder ins Wohnzimmer, setzte sich in den Sessel und

schaltete das Radio mit Weihnachtsmusik ein und schien mit sich und der Welt

vollkommen zufrieden. „Walter," klang es scharf und hell aus der Küche, „was hast

du mit der Gans gemacht?" „Na begossen, wie du es mir gesagt hast." „Ja und

vollkommen entstellt. Der Purzel fehlt. Den hast du gegessen. Ich möchte wissen,

wann du es endlich lernst, dich mal zu beherrschen. Wie sieht die Gans jetzt aus, so

ohne Purzel!" „Außerordentlich appetitlich. Bestimmt." „Wenn ich jetzt Gäste hätte,

könnte ich sie so nicht auf den Tisch bringen." „Du hast ja keine Gäste," und mir

flüsterte er zu: „Laß dir was einfallen." Das Tischdecken war meine Sache. Mutter

brachte den Bratenteller mit der herrlich duftenden Gans (ohne Purzel) herein.

Inzwischen hatte ich einige Äpfel geviertelt, noch mal geteilt, einige Stücke auf

hölzerne Zahnstocher gespießt, die ich, sobald Mutter wieder in der Küche war, dort

wo vorher der Purzel saß, in die Gans pikste und zwar so, daß eine hübsche Rosette

entstand. Die übrigen Apfelstücke legte ich um die Gans. Vater nickte anerkennend,

und Mutter war wieder versöhnt. Die Feiertage vergingen viel zu schnell, obwohl wir

immer noch einen Drittfeiertag anhängten.

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Wenn das Wetter es zuließ, wurden die Tiere, die es nicht gewohnt waren, Sommer

und Winter ununterbrochen im Stall zu leben, für kurze Zeit an die frische Luft

gelassen. Vater war zum Männertreff in die Dorfschmiede gegangen. Ich mußte mal

eben verschwinden, war aber zu bequem, quer über den Hof zu dem Häuschen mit

dem Herz in der Tür zu laufen und hockte mich in der Nähe der Haustür in den

Schnee. Daß Mutter die Gänse rausgelassen hatte, bemerkte ich in der Eile nicht.

Der Schnee war weiß und die Gänse auch. Plötzlich rauschte es hinter mir.

Irgendwas stieß mich in den Schnee, zog mich an den Haaren und prügelte auf mich

ein. Ich schrie wie am Spieß, und im nächsten Augenblick war Mutter da. Sie packte

Ganter Adam am Kopf und schleuderte ihn in Richtung Holzstall. Wenn ich nun

glaubte, er bekäme es seinerseits mit der Angst zu tun, hatte ich mich geirrt.

Hochergobenen Hauptes und breitbeinig marschierte er auf seine Haremsdamen zu

und trompetete seinen Triumph über den Hof. Seine drei Frauen neigten ihm mit

ehrfürchtigem Geschnatter die Köpfe entgegen und nickten ihm ununterbrochen zu,

während er noch eine ganze Weile mit seinem Sieg prahlte.

Der Silvestertag kam. Mutter machte den Teig für den Schmalzkuchen fertig. Ein Teil

davon wurde für die Raderkuchen [ostpr. Schmalzgebäck] abgenommen und zum

Backen vorbereitet. Dazu mußte er ausgerollt und in handtellergroße rechteckige

Stücke geschnitten werden. In die Mitte dieser Teigstücke machte ich mit einem

spitzen, scharfen Messer einen kurzen Schnitt und zog die eine Seite des Vierecks

hindurch, so daß eine Art Schleife entstand. Sie wurde in das siedende Fett gelegt,

und es war faszinierend zuzusehen, wie der Teig aufging, eine schöne braune Farbe

annahmen und sich in Minutenschnelle zum duftenden Raderkuchen entwickelte.

Mutter fischte geschickt die fertigen Kuchen mit einem Schaumlöffel aus dem

kochenden Schmalz und legte sie auf das vorbereitete Kuchenblech. Nach dem

Abkühlen wurden sie mit Puderzucker bestreut. Aus der anderen Hälfte des Teiges

backte Mutter Pommeln [ostpr. Schmalzgebäck]. Das war einfacher. Man brauchte

den Teig nur vom Löffel in das heiße Fett rutschen zu lassen. Dabei entstanden die

eigenartigsten Figuren. Auch die Pommeln wurden nach dem Abkühlen mit

Puderzucker bestreut. Während aber die Raderkuchen in der Speisekammer

verschwanden, um in den nächsten Tagen wieder auf dem Kaffeetisch zu landen,

verspeisten wir die Pommeln noch am Silvesterabend. Meist waren sie noch etwas

warm. Niemals wieder habe ich Fettgebackenes mit so viel Genuß gegessen wie

Mutters Pommeln. Natürlich ließ Vater sich so etwas nie entgehen, auch wenn er auf

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dem Hof noch so sehr mit Vorsichtsmaßnahmen gegen mögliche Silvesterscherze

der männlichen Dorfjugend beschäftigt war. Daß Pommeln eigentlich nur zu Silvester

gebacken wurden, hatte seine besondere Bewandtnis. Man konnte mit ihnen in die

Zukunft sehen. Dazu mußte man sie im Schein einer Kerze so drehen, daß der

Schatten, der an der gegenüberliegenden Wand entstand, eine Figur zeigte, in der

man ein Symbol oder auch etwas anderes zu erkennen glaubte. Manches Mal war

es ein Kopf mit einer langen Nase oder ein Glücksschwein oder auch nur ein

Kartoffelsack. Erst dann durfte man seinen Pommel essen. Mutter versuchte wirklich

ernsthaft, irgendwas zu erkennen, was ihr meistens mißlang. Vater dagegen wußte

sofort, was uns blühte. Mir prophezeite er, daß ich im nächsten Jahr krumme Beine

und einen dicken Podex bekäme und mich als Stehaufmännchen durchs Leben

schlagen müßte. Mutter dichtete er einen langen Hals und eine Glatze an, was sie zu

der kurzen Bemerkung veranlaßte, daß wohl eher er eine Glatze bekäme als sie.

Daraufhin ließ er mich an seinen Haaren ziehen, und ich konnte bestätigen, daß sie

alle noch fest saßen, dicht, kräftig und schwarz.

Die Silvesternacht schien ruhig zu bleiben. Alle gingen ins Bett. Vater schnarchte

nach kurzer Zeit ruhig und gleichmäßig, aber laut genug, so daß ich es in meinem

Zimmer hören konnte. Mutter dagegen war immer sehr leise. Auch im Dorf war es

ruhig. Kein Hund bellte, ein Indiz dafür, daß von den Dorfmädchen keines unterwegs

war, um an einer Zaunecke zu rütteln. Letzten Silvester hatte Idas große Schwester

den Zaun traktiert, um zu erfahren, aus welcher Richtung ihr späterer Bräutigam

käme. Das Hundegebell, das daraufhin einsetzte, zeigte es an; nur, es war ihr

eigener Hund, der bellte, und so probierte sie eine andere Methode aus, die

außerdem viel sicherer sein sollte. Wenn es ihr gelang, zwischen Weihnachten und

dem Dreikönigstag an sieben aufeinanderfolgenden Nächten sieben Sterne zu

zählen, brauchte sie nur noch darauf zu achten, welcher Mann ihr am nächsten

Morgen zuerst auf der Straße begegnete. Diesen würde sie heiraten. Aber auch das

war ein Reinfall. Der erste Mann, der ihr über den Weg lief, war Nachbars Opa. Ich

drehte mich auf die Seite und versuchte zu schlafen. Es klappte aber nicht so schnell

wie sonst. Lagen mir die Pommeln im Magen oder waren es die Hunde, die nun

doch zu bellen anfingen? Vielleicht wollten sie sich nur miteinander unterhalten.

Onkel Emil hatte mir mal erklärt, daß vor allem die angeketteten Hunde

untereinander Gespräche führten, wenn es ihnen zu langweilig sei.

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Es war noch dunkel, als ich wach wurde. Jemand klopfte an das elterliche

Schlafzimmerfenster: „Walter, steh auf! Walter, du mußt mir helfen! Mir haben sie

alle Milchkannen und die Karre verschleppt, und ich muß doch die Milch irgendwo

reingießen können." Jetzt war Vater wach. „Also sind die Lorbasse [ostpr.: Lümmel]

doch heute Nacht unterwegs gewesen. Moment Paul, ich bin gleich unten." - Im

Winter geben die Kühe nicht so viel Milch wie im Sommer, deshalb hatten die

Bauern mehr Ersatzkannen rumstehen und konnten einander aushelfen. - Vater

blieb weg. Wir beide, Mutter und ich, hatten längst gefrühstückt. Der Kaffee stand

zum Warmhalten auf dem Herd. „Der schmeckt nachher ganz abgestanden", ärgerte

sich Mutter. Gegen Mittag kam Vater leicht angeheitert nach Hause. „Wo warst du

denn so lange?" begrüßte ihn Mutter, „den Kaffee habe ich längst weggegossen."

„Macht nichts. Wir haben uns bereits in der Wirtschaft gestärkt nach der Schufterei."

„Nach welcher Schufterei?" wollten wir wissen, aber Vater zog erstmal in Ruhe seine

Stiefel aus, stellte sie zum Trocknen auf die Kiste mit dem Feuerholz und den

Stiefelknecht an seinen angestammten Platz im Flur. Er badete seine Füße in

heißem Wasser, zog frische Socken und seine Latschen an, stopfte seine Pfeife,

und nun erzählte er uns, daß auf dem zugefrorenen Dorfteich mindestens zwölf

Karren zu einem Turm aufgebaut waren und etwa dreißig Milchkannen drumherum

im Kreis standen. Das Unangenehme dabei war, daß die Lorbasse die Kannen zum

Teil mit Wasser gefüllt hatten, das über Nacht steinhart gefror, und etliche waren

zudem von außen angegossen worden, so daß sie auch noch auf dem Eis

festgefroren waren. „Das war ein hartes Stück Arbeit. Aber wer weiß denn schon, ob

das alles war. Die Frau Krüger jedenfalls bekam auch ihren Teil ab.“ „Die arme

Frau", Mutter schüttelte mißbilligend den Kopf. „Die ist gar nicht arm", warf ich

schnell ein, „die ärgert uns Kinder immer. Wenn wir mal ein bißchen laut sind, macht

sie gleich Krach und will den Landjäger [Dorfpolizist] holen." „Dann hat sie den

kleinen Schrecken auch verdient", lächelte Vater. „Wir wären überhaupt nicht auf sie

aufmerksam geworden, hätte sie nicht laut ‘Jesus, Maria’ gerufen und die Hände

über dem Kopf zusammengeschlagen. Als sie uns bemerkte, huschte sie schnell

wieder ins Haus. Sie war ja noch im Hemd." „Mein Gott, warum das denn, in dieser

Kälte", wunderte sich Mutter. „Nun ja, das Anziehen war im Moment ein wenig

schwierig für sie. Ihre Kleider trug die Strohpuppe, die vor der Tür stand.“ Vater gab

sich wenig Mühe, sein Vergnügen zu verbergen, und ich bedauerte es sehr, das

nicht gesehen zu haben. Mutter schaute uns streng an: „Da gibt es überhaupt nichts

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zu lachen. Ich finde das absolut nicht lustig", aber insgeheim amüsierte sie sich

doch. „Ich weiß nicht, wo das hinführen soll", überlegte sie nach einer Weile laut, „die

jungen Leute heutzutage haben aber auch gar keinen Respekt mehr vor dem Alter."

Vater verzog den Mund. „Du brauchst gar nicht so zu gucken", tadelte sie ihn. „Am

liebsten wärst du doch heute Nacht dabeigewesen.“ Vater sagte nichts, räkelte sich

in seinem Sessel und zog an seiner Pfeife.

Bei seinem letzten Besuch in Hohenstein hatte Vater eine Schallplatte von einem

Freund erhalten. Der wollte sie unbedingt loswerden, weil seine Frau sie von

morgens bis abends spielte und das Gequietsche der Sängerin ihm so durch Mark

und Bein ging, daß er es nicht mehr aushalten konnte. Er wußte, daß wir ein

Grammophon besaßen und meinte, wir könnten sie vielleicht brauchen. Ich befand

mich allein im Haus. Mutter war auf ein Schwätzchen bei der Nachbarin, und Vater

arbeitete im Stall. Das war die Gelegenheit, die neue Platte zu hören. Zuerst mußte

das Grammophon aufgezogen werden. Dazu drehte man die Kurbel, die seitlich im

Gerät steckte, so lange, bis sie etwas schwerer ging. Dann legte man die Platte auf,

setzte mit aller Vorsicht den Hebel mit der spitzen Grammophonnadel in deren

äußere Rille und ließ sie laufen. Den Trichter, aus dem die Töne kamen, wagte ich

nicht anzufassen. Ich zog also den Sessel, so gut ich konnte, in seine Nähe,

kuschelte mich ins Kissen und lauschte dem Gesang. Es war herrlich! Vaters

Stimme weckte mich aus meiner Versunkenheit: „Ist das die Platte, die ich letztens

mitbrachte?" Auf mein zustimmendes Nicken drehte er sich um und brummte

ziemlich laut beim Rausgehen: „Jetzt kann ich den Karl verstehen." Als er wieder in

der Stube war, stopfte er seine Pfeife und machte es sich bequem. „Also du singst

besser", lächelte er. Damit er ja nicht auf die Idee käme, mich zum Singen

aufzufordern, brachte ich das Gespräch wieder auf die Silvesternacht: „Stimmt es,

daß in der Stadt zu Silvester mit Rasseln und Trommeln und Schießen in der

Geisterstunde so viel Krach gemacht wird, um zu verhindern, daß die Geister des

alten Jahres mit ins neue Jahr rüberkommen und wieder Unheil stiften? Du kommst

doch aus der Stadt, du mußt das doch wissen." „In den großen Städten ist das wohl

so, aber in Gilgenburg ließ man die Geister lieber spuken", meinte Vater. „Weißt du,

es ist einfacher, am Neujahrsmorgen Milchkannen, Karren und andere Dinge

einzusammeln, als wild gewordenes Vieh zu beruhigen. Die Kühe z.B. geben gleich

weniger Milch, wenn sie sich aufregen." „Hattet ihr denn Kühe in der Stadt?", wollte

ich wissen. „Oh ja! Gilgenburg ist keine große Stadt, und da gab es auch Bauern."

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„Dann habt ihr also auch die Bauern geärgert?" „I wo! Da waren andere, die eine

Strafe der Geister nötiger hatten." „Wer denn?" „Der Pfarrer zum Beispiel." „Der?

Nicht der Lehrer?" „Nicht so wie der Pfarrer. Der Lehrer war noch ganz menschlich,

aber mit dem Pfarrer war absolut nicht zu spaßen." „Hat der dich denn auch

verhauen?" „Auch, aber am meisten hatte der Fuffel [ostpr.: Schnodder] unter ihm zu

leiden." „Fuffel?" „Fuffel war mein Freund Oskar. Er hatte keinen Vater mehr, aber

viele Geschwister, und deshalb mußte er auch arbeiten, damit die Familie genug

zum Leben hatte." „Warum nanntet ihr ihn Fuffel?" „Weil er nie ein Taschentuch bei

sich hatte und seinen Schnodder immer hochzog. Er hat es nie kapiert, seine Nase

so wie wir sauber zu halten. Du weißt, ein Nasenloch zuhalten und feste schnauben.

Manche von uns waren so perfekt darin, daß wir manches Mal ein richtiges

Zielschießen veranstalteten." „Iih, vielleicht wollte Oskar euren komischen Sport nicht

mitmachen, deshalb kapierte er das Ausschnauben per Daumen einfach nicht."

„Nein, nein, ich glaube, er wollte es genauso gut können wie wir, einfach weil er dann

seinen Ärmel nicht mehr zum Abwischen hätte nehmen müssen. Seine Mutter hatte

schließlich genau dort an alle seine Ärmel Knöpfe angenäht, so daß es vorbei war

mit dem Abwischen." „Daß ihm seine Mutter kein Taschentuch gab?" „Kann ich

verstehen," sagte Mutter, die inzwischen von ihrem Besuch bei der Nachbarin zurück

war. „Ihr glaubt ja nicht, wie ekelhaft es ist, die schmierigen Taschentücher zu

waschen. Wenn man ein Waschbrett hat geht es noch, aber wenn man die Dinger

zwischen den Daumenballen sauberreiben muß, pfui!" „Und nur weil Oskar keine

Taschentücher besaß, hat ihn der Pfarrer verhauen?" „Nein, Oskar hatte auch keine

Zeit oder war einfach zu müde, um den Katechismus auswendig zu lernen, und

deshalb schlug der Pfaffe ihm mit der Rute so in die Handfläche, daß sie dick

anschwoll." „Gemein!" „Der Lehrer hat dem Pfarrer aber beim nächsten

Stammtischtreffen ins Gewissen geredet, danach schlug er uns nur noch den Podex

voll." „Dann war der Lehrer doch ein gerechter Mensch." „Ja schon", Vater blies ein

wenig Tabakrauch in die Luft, „aber Oskar arbeitete ja auch bei ihm so als ‘Mädchen

für alles’ - und mit einer geschwollenen Hand geht das schlecht." „Aber den

Hosenboden vollzukriegen, tut doch auch weh." „Ach weißt du, wir haben uns

geholfen, so gut es ging. Wir polsterten die Hosen aus. Papier war nicht sehr gut,

das merkte er; weiches Leder war besser, aber das war schwerer zu bekommen.

Außerdem haben wir die Rute, wenn es uns gelang, sie in die Hände zu kriegen, mit

frischer Zwiebel eingerieben. Sie wurde brüchig, und wenn er zuschlug, zerbrach

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sie." „Konntet ihr ihn denn nicht auch behexen, so daß er Durchfall bekommen hätte,

möglichst dann, wenn kein Klo in der Nähe ist?" Jetzt lachte Vater: „Bei einem

Pfarrer wirkt sowas nicht. Wir hatten eine bessere Idee. In der Silvesternacht war

mehr Trubel als sonst in der Stadt. Auch wir Jungs waren unterwegs. Wir trafen uns

in einem stillen, abgelegenen Seitenweg hinterm Pfarrhaus, genau dort, wo der

Pfarrer sein Büro hatte." „Was wolltet ihr da?" „Na was wohl? Unserem

Schießvergnügen nachgehen! Du weißt schon, ein Nasenloch zuhalten und Schuß.

Das Fenster unseres Pfarrers war bald bis zur Mitte voll und bei dem Frost eine recht

haltbare Angelegenheit." „Aber er hat euch doch sofort in Verdacht gehabt, als er

das bemerkte." „Er wußte nicht so recht, was er denken sollte, der Gendarm stellte

fest, daß das nur Erwachsene getan haben konnten; Kinder würden nicht an das

Fenster heranreichen und hätten auch nicht so große Füße. Er wußte ja nicht, daß

wir die Schlorren [Holzpantinen] von unseren großen Brüdern angezogen und die

Spuren vom mitgebrachten Schemel sorgfältig verwischt hatten." „Na, so klein ward

ihr doch nicht mehr." „Aber auch noch nicht so groß." „Ist es denn nicht

rausgekommen, daß ihr das gewesen seid?" „Nein, aber geahnt haben es alle, und

die Mütter machten vor dem Sonntagsgottesdienst mit Vergnügen einen kurzen

Spaziergang durch den kleinen Seitenweg hinterm Pfarrhaus, denn seine

Haushälterin hatte es, trotz aller Mühe und Anrufung aller Heiligen nicht geschafft,

das Fenster zu säubern." „Warum nicht?" „Nun, mit einem scharfen Gegenstand

konnte sie da nichts runterkratzen, sonst hätte sie das Glas ruiniert. Es

abzuwaschen, war bei dem starken Frost auch nicht möglich; lauwarmes Wasser

gefror an den Scheiben, und von heißem Wasser wäre das Glas zerplatzt." „Dann

hat er also den ganzen Winter über da raufgucken müssen?" „Hat er; und es hat ihn

beim Ausarbeiten seiner Predigten wohl so geärgert, daß er jeden Sonntag seinen

Gläubigen ankündigte, sie würden mit Sicherheit bald in der Hölle schmoren, bis es

den Leuten zuviel wurde und immer weniger zur Kirche gingen.“ „Was tat er dann?"

„Er hat seine Stammtischbrüder befragt, die ihm erzählten, daß die Leute der

Überzeugung seien, daß viel eher er in der Hölle schmoren würde als sie und daß er

wohl gar kein echter Gottesdiener sei. Danach wurde er etwas friedlicher." Mutter rief

zum Essen. Es gab Schwarzsauer mit Wickelpoten [ostpr. Spezialität: Gänsemagen

wird auf eine Pfote gesteckt und mit Gänsedarm umwickelt, nachdem vorher alles

sorgfältig in warmem Wasser gereinigt und mit Salz eingerieben war.] und

Salzkartoffeln. „Klöße hätten auch gut dazu geschmeckt", bemerkte Vater und

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zwinkerte mir zu. Mutter sagte nichts, und mir fiel ein, daß morgen am Dreikönigstag

die „Heiligen Nächte" zu Ende gingen. Der Dreikönigstag war ein Tag wie jeder

andere, so schien es mir jedenfalls, bis der Abend kam. Wir saßen gemütlich im

Wohnzimmer, als es im Flur plötzlich laut wurde und eine seltsame Musik erklang.

Vater ging hinaus, Mutter und ich schauten neugierig hinterher. Drei sonderbare

Gestalten stolperten in die Küche. Der Kleinste von ihnen war in Schaffelle gehüllt

und sah aus wie ein Bär. Er hatte eine aufgeblasene getrocknete Schweinsblase in

der Hand, die wie ein Luftballon aus Pergamentpapier aussah. Er strich mit den

Fingerspitzen drauf hin und her, so daß ein eigenartig krächzender, brummender

Ton entstand, der den Rhythmus der ganzen Musik bestimmte. Die zweite Gestalt

war vollkommen in Stroh eingepackt und fiedelte auf einem Instrument herum, das

mich sehr faszinierte. Es war ein Vierkantholz von gut einem halben Meter Länge.

Am Ende und in etwa dreiviertel der Länge waren je ein Nagel eingeschlagen und

dazwischen ein dünner Draht gespannt. Der Bogen bestand aus einer gekrümmten

Weidenrute mit einer Saite aus Schweinedarm. Wie mir Vater später erklärte,

handelte es sich um eine Teufelsgeige. Ich hätte mir eigentlich gleich denken

können, daß das so ein Unterweltsgerät war, denn die Töne, die es hervorbrachte,

klangen höllisch. Die dritte, in viele bunte Flicken gehüllte Gestalt hatte einen mit

bunten Bändern geschmückten Zylinderhut auf dem Kopf, im Gesicht eine überlange

spitze Nase und in der Hand eine Blattsäge, aus der sie eine Melodie zauberte, die

meine Phantasie beflügelte. Sie klang wie jubelnder Gesang, dann wieder wie das

jammervolle Klagen einer Moorhexe. Alle drei wiegten sich im Takt der Musik und

sprachen kein Wort. Vater amüsierte sich, nur Mutter hielt sich die Ohren zu. Sie

verschwand und kehrte nach kurzer Zeit mit einer Flasche Schnaps und einigen

Gläsern zurück. Sie bedauerte, keinen Anhaltskuchen dabeizuhaben. -

Anhaltskuchen wurde immer dann angeboten, wenn Anhalter (überraschende Gäste)

für kurze Zeit vorbeischauten. - Sofort hörten die drei mit ihrer Musik auf, sprangen

um die Stühle, hüpften im Kreis, zupften Mutter an der Kleidung, so daß sie sich

schleunigst ins Wohnzimmer verzog. Als Vater ihnen den Schnaps servierte,

verneigten sie sich tief, tranken ihn mit einiger Mühe und verschwanden, wie sie

gekommen waren, ohne ein Wort. Die Szene hatte vielleicht eine Viertelstunde

gedauert, und ich war ziemlich verblüfft über diesen unerwarteten Mummenschanz.

„Das waren doch nicht etwa die heiligen drei Könige?" „Ach wo, die sehen anders

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aus, das weißt du doch." „Aber wer waren sie denn? Was wollten die gerade heute

hier?" „Ja, die tauchen ganz überraschend immer wieder mal am Dreikönigstag auf",

erklärte Vater. „Das sind Naturgeister, die uns Segen wünschen." Er nannte sie auch

einzeln beim Namen, aber ich konnte sie mir nicht merken, sie klangen so fremd. In

der Nacht schlief ich schlecht. Ich hörte immer noch die Musik der drei

Spukgestalten. Es war mir, als hätte jemand alle Geräusche dieser Welt, gute und

böse, frohe und traurige für mich in einen Topf getan und mich beauftragt, sie zu

sortieren. Am nächsten Tag gab es Erbsensuppe zu Mittag. Mutter hatte ihren

Waschtag, und wir Kinder gingen zur Schule. Es war wieder wie immer.

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Im Winter

In der Erinnerung ist Schönes immer viel schöner. Das Unangenehme hat man meist

vergessen. So kann ich mich nicht an verregnete Sommer oder naßkalte Winter

erinnern, sondern nur an Sommer voller Sonnenschein, Blumen und

Vogelgezwitscher und an Winter voller Schnee und klarer Tage. Und wie sauber war

der Schnee! Nicht so ein schwarzgrauer Matsch wie heute in der Stadt. Man legte

sich oben an den Hang und ließ sich herunterkullern, stand unten auf und klopfte

sich ein wenig ab. Wir brauchten unsere ganze Zeit, um aus der Schanze, die jeden

Winter an Reschkes Zaun wuchs, eine Schneeburg zu bauen mit langen Gängen

und Schießscharten. Dann waren wir an einem Tag Wegelagerer und anderntags

edle Ritter. Burgfräulein gab es selbstverständlich auch. Doch selbst in der ärgsten

Schneeballschlacht achteten wir darauf, daß unsere Burg nicht in Trümmer fiel. Sie

sollte den ganzen Winter halten, und weil wir sie recht bald nach ihrer Fertigstellung -

bei frostklarem Wetter - mit Wasser besprüht hatten, war sie auch sehr stabil. Aber

Wegelagerer und Ritter konnten sich nicht den ganzen Winter über nur bekämpfen,

sie schlossen auch gelegentlich Burgfrieden und besiegelten ihn mit einem

Karusselvergnügen auf dem Dorfteich. Dazu wurde in die Mitte des Teiches ein Loch

geschlagen und ein Pfahl hineingestellt, der über Nacht festfror. Am nächsten Tag

hängte man eine lange Stange, die am dickeren Ende eine Eisenschlaufe hatte, über

den Bolzen, der oben in den Pfahl geschlagen war, so daß man die Stange immer im

Kreis bewegen konnte. Ans Ende wurde ein Schlitten gehängt, und fertig war das

Schlittenkarussel. Wir Kleinen - und besonders wir kleinen Mädchen - mußten dabei

sehr auf der Hut sein, daß keine größeren Jungs sich als Anschieber betätigten; sie

machten sich ein Vergnügen daraus, uns so schnell im Kreis sausen zu lassen, daß

wir uns vor lauter Angst, wer weiß wohin, bloß nicht auf diesen Schlitten gewünscht

haben. Wir paßten also auf. Sobald sich größere Jungs zeigten, verzogen wir uns

und gingen lieber rodeln. Den Abhang vom Turnplatz zur Straße nahmen wir aber

nicht; er war erstens viel zu glatt, weil dort nach Schulschluß fast alle Kinder erst

einmal auf ihren Tornistern oder Schlorren schurgelten, und zweitens konnten uns

die großen Jungs beobachten. Wir rodelten also den Weg hinab, der an Böhms

Grundstück vorbeiführte; nur, das sahen die Erwachsenen nicht so gerne, weil Wege

nicht glatt werden durften. Also gingen wir nach Hause, setzten uns ans Fenster und

beobachteten, wie sich die Spatzen und Meisen am Vogelhäuschen stritten.

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Manches Mal flogen auch Dompfaffen an die Futterstellen. Dann, so sagten die

Bauern, wird es bald schneien. Das war oft ein Anlaß dafür, den Pferden einmal

ordentlich Bewegung an frischer Luft zu verschaffen. Man konnte ja nie wissen, ob

es nicht tagelang schneite und die Straßen unpassierbar wurden. Wenn also ein

Bauer den großen Kutschschlitten herausholte und säuberte, wußten wir, daß eine

Schlittenpartie bevorstand. Die Neuigkeit verbreitete sich unter den Kindern wie ein

Lauffeuer. Gleich nach dem Mittagessen fanden sich alle auf dem betreffenden

Bauernhof ein. Die Kinder mit den größten und stabilsten Schlitten durften zuerst an

den Pferdeschlitten anbinden. Die anderen wurden der Reihe nach aneinander

befestigt. Dabei achtete der Bauer darauf, daß alles ordentlich zuging und daß die

Bänder vorne an den Schlitten auch stark genug waren. Besaß ein Kind keinen

Schlitten, durfte es bei einem anderen mitfahren. Platz war genug da. Durchs Dorf

fuhr die Schlittenschlange noch recht langsam, aber kaum waren wir auf freier

Chaussee, fielen die Pferde in Trab. Man hörte die Glöckchen am Zaumzeug viel

deutlicher; sie bimmelten mit denen an den Schlitten um die Wette. Jedes

Glöckchen hatte einen etwas anderen Ton. Ich habe diese Schlittenmusik immer

noch im Ohr. Es machte Spaß, so ohne jede Anstrengung in flottem Tempo die

Straße entlangzufahren. Den Bauern auf dem Kutschbock freute es natürlich, wenn

er die Kindergesellschaft ein wenig ärgern konnte, und so fuhr er, statt in der

nächsten Kurve das Tempo zu verlangsamen, genauso flott um die Ecke wie auf der

geraden Strecke. Wir versuchten zwar gegenzubremsen, aber meistens lagen wir

doch alle im Schnee. Manches Mal begegnete uns eine Schlittenpartie aus dem

Nachbardorf. Dann gab es eine Schneeballschlacht. Die Bauern hatten das aber

nicht so gerne, denn die Pferde konnten es absolut nicht leiden, von einem

Schneeball getroffen zu werden. Meistens hatten wir auch im Nachbardorf

Gelegenheit dazu, wenn der Bauer dort zu einer kurzen Rast in die Wirtschaft

einkehrte. Bevor es weiterging, wurde die Kinderschar gezählt. So geschah es auch

im nächsten Dorf; alle sollten wohlbehalten zurückkehren. Ich erinnere mich nicht,

daß jemals ein Kind verlorengegangen wäre. Meistens kamen wir erst in der

Dämmerung heim, aber richtig dunkel wurde es auch am Abend nicht. Der Schnee

hielt die Nächte hell.

Es gab im Winter aber nicht nur Spaß und Zeitvertreib. Zur Schule gehen mußten wir

immer, zwar eine Stunde später, von 8.00 Uhr bis 1.00 Uhr mittags, aber für die

Kinder, die außerhalb des Dorfes wohnten, war es oft eine Strapaze, den Weg durch

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den hohen Schnee zu schaffen. Oftmals blieben sie zu Hause, denn es gab auch im

Winter arbeitsreiche Tage, an denen die Kinder ordentlich mithelfen mußten, wie

z.B. beim Dreschen. Das war eine sehr unangenehme Arbeit: schmutzig und kratzig.

Nicht jeder Bauer besaß eine eigene Dreschmaschine. So eine Anschaffung lohnte

sich nur für die "großen" Bauern. Die "kleinen" - wie wir - liehen sie sich aus. Es war

ein Gerät, etwa so groß wie ein VW-Transporter. Man stellte sie mitten auf die

Tenne, den Arbeitsplatz in der Scheune. Dort wurde Häcksel gemacht oder eben

auch gedroschen. Zu beiden Seiten der Tenne lagen die Getreidefächer. In ihnen

waren die Garben gestapelt; Roggen auf der einen Seite und Gerste und Hafer je zur

Hälfte auf der anderen Seite. Weizen baute man in Masuren eher selten an. Hafer

ließ sich am besten dreschen, denn der hatte keine Grannen Die Gerste dagegen

hatte besonders lange und kratzige Grannen, die durch alle Kleider krochen. Wenn

man einen ganzen Tag lang die Kratzerei aushalten mußte, war man heilfroh, sich

abends waschen und umziehen zu können. Die Kinder hatten beim Dreschen - wie

meist auch sonst - keine schwere Arbeit zu leisten, sie war nur unangenehm. Am

anstrengendsten war die Arbeit im Fach. Die dort dicht bei dicht gefleiten Garben

wurden mit einer Forke einzeln auf die Maschine gereicht, und zwar so, daß die

Ähren immer in der gleichen Richtung lagen. Meine Aufgabe - das war der

Arbeitsgang, für den man größere Kinder einsetzte - bestand darin, das Strohband

von der Garbe zu lösen und sie so zu plazieren, daß der Einlegende - meistens tat

das die Bäuerin - sie ohne Schwierigkeiten in die Maschine geben konnte. Unten an

der Maschine stand einer, der das Stroh auffing, wieder zu dicken Garben band und

diese einem anderen weiterreichte, der das Stroh in ein leeres Fach schichtete.

Zwischendurch mußte der unten an der Maschine Arbeitende auch noch auf die

Säcke achten, die auf der anderen Seite befestigt waren und in die das Korn lief.

Jeder einzelne mußte flott arbeiten, sonst geriet der ganze Ablauf ins Stocken. Ich

gestaltete mir die Angelegenheit ein wenig kurzweiliger, indem ich sang. Da die

Maschine ein Fabrikat der Marke „HUMMEL" war - in Großbuchstaben auf der

Stirnseite zu lesen -, kam ich auf ein Lied mit dem Refrain „Hummel, Hummel,

Hummel mit Humor". Ich kannte aber nur die Strophe „Wenn die Liebe nicht wär, wär

der Kinderwagen leer" usw., und so blieb mir nichts anderes übrig, als eigene Texte

zu erfinden. Das Dreschen dauerte meist nicht länger als drei Tage, während derer

ich von morgens bis abends „Hummel, Hummel, Hummel mit Humor" sang - mit allen

Texten, die meine Phantasie hergab. Ich sang, so laut ich konnte, denn die

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Maschine machte ordentlich Krach. Ich war überzeugt, daß mich niemand hörte,

zumal die Gesichter sich auf die Arbeit konzentrierten und kein Mensch von mir Notiz

nahm. Und doch kam ich nach ein paar Tagen dahinter, daß man sich nicht immer

auf den eigenen Eindruck verlassen kann. Meine Freundin sprach mich an: „Du hast

es gut, du hast es hinter dir. Eigentlich sollten wir ja zuerst dran sein, aber wir

brauchen den Krause zum Mithelfen, und der wollte zuerst zu euch, weil, wie er

sagte, die Anneröschen immer so schön singt." Nun war es raus! Das hätte ich nicht

gedacht. Ich weiß nicht mehr, ob ich im nächsten Winter wieder beim Dreschen

gesungen habe.

Der Winter war schön. In keiner anderen Jahreszeit hatten die Familien so viel Zeit

füreinander. Morgens wurde zuerst der Kachelofen im Wohnzimmer angeheizt. Nach

dem Frühstück gingen die Kinder zur Schule, und die Erwachsenen erledigten im

Laufe des Vormittags die meiste Arbeit, die getan werden mußte. Am Nachmittag

trafen die Männer sich in der Gastwirtschaft auf einen Plausch. Wer von ihnen

keinen Schnaps trinken mochte, pilgerte in die Dorfschmiede. Manche brachten ihre

Arbeitsgeräte oder Sielen [ostpr.: Pferdegeschirr] zum Ausbessern mit. Die Frauen

machten Handarbeiten oder besuchten die Nachbarin. Am schönsten aber waren die

Abende. Da saß man - meist bei Dämmerlicht - zusammen, aß Bratäpfel und

erzählte sich Geschichten. Auf diese Weise blieb die Familiengeschichte lebendig.

Jedes Kind kannte die Lebensläufe und Eigenheiten seiner Vorfahren. An manchen

Abenden wurde auch bloß gesungen, mehrstimmig und oft ziemlich daneben. Aber

immerhin habe ich noch manches alte Volkslied und auch manches Magd- und

Küchenlied im Kopf. Natürlich wurde auch Radio gehört und "Mensch ärgere dich

nicht" gespielt, aber das fand ich viel langweiliger.

In der Vorweihnachtszeit übten wir in der Schule ein Theaterstück ein - meist ein

Märchenspiel -, bei dem ich fast immer eine Hauptrolle hatte. War es gut gelungen,

zeigten wir es nicht nur in unserem Dorf, sondern auch in den Nachbardörfern. Es ist

ein aufregendes Gefühl, vom Publikum beklatscht zu werden. Damals nahm ich mir

vor, Schauspielerin zu werden, d.h. irgendwann kam ich zu der Erkenntnis, daß man

dafür in erster Linie schön und erst in zweiter Linie talentiert sein muß. Schließlich

hängte ich den Berufswunsch doch an den Nagel, denn schön fand ich mich nicht.

Wenn es draußen schneite, saß ich gerne am Fenster und beobachtete die Flocken,

die auf das Sims fielen. Ich setzte die weißen Sterne in Gedanken auf das Moos,

das zwischen den Doppelfenstern eingelegt war. Sicher, das Moos war auch ohne

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Schneesterne hübsch anzusehen. Wir hatten ja, als wir es im Spätherbst aus dem

Wald holten, das hübscheste ausgesucht. Das silbergraue gefiel uns am besten,

aber das grüne war wichtiger; das feine, dichte Moos sog die Feuchtigkeit am

intensivsten auf, und im locker-gröberen kamen die Strohblumen besonders zur

Geltung. Je verschiedener das Material war, desto abwechslungsreicher ließen sich

die Muster fügen. Im Frühjahr nahm man die Doppelfenster wieder heraus und

brachte sie auf den Boden. Dann hatten auch die Moospolster ausgedient. Die

Fensterbretter darunter waren sauber und trocken geblieben.

Auch im Frühjahr war es faszinierend, aus dem Fenster zu blicken. Die Landschaft

war schwarz-weiß-grün-gefleckt; weiß, wo in den Mulden der Schnee noch nicht

weggetaut war; schwarz, wo der Acker schon freilag und grün, wo die Roggenfelder

oder die Wiesen zu sehen waren. Die Luft roch nach Erde und Feuchtigkeit, wir

Kinder konnten die wärmeren Tage kaum mehr erwarten.

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Unter der Dorfglocke

Für uns Kinder brachte der Sommer nicht nur Arbeit, wir hatten auch oft Gelegenheit

zum gemeinsamen Spiel. Der Turnplatz, der mitten im Dorf lag und auf dem es eine

Sandgrube und Turngeräte gab, war als Treffpunkt sehr beliebt. Das Besondere an

ihm aber war, daß er an Lipkas Garten grenzte, in dem alles gedieh, was die Natur

zwischen knorrigen, alten Obstbäumen und Sträuchern jeglicher Art wachsen läßt.

Der alte Garten war ein Paradies für alles mögliche Getier und für neugierige Kinder,

die sich nicht vor Brennesseln, Wespen, zerkratzten Beinen und einer Strafpredigt

über ein zerrissenes Kleidungsstück fürchteten. Man entdeckte dort Früchte, die

sonst nirgendwo mehr zu finden waren, Rosaletten zum Beispiel, rosafarbene,

mittelgroße Birnen, die wunderbar schmeckten. Niemals sahen wir Erwachsene in

den Garten gehen. Sie waren wohl der Überzeugung, daß in dieser Wildnis nichts zu

holen sei. Die alten Bäume und Sträucher trugen nicht mehr viel, aber was sie

hergaben, war köstlich: Bieräpfel und Gerstenbirnen, Eierpflaumen und schwarze

Kirschen, gelbe Johannisbeeren und rote Stachelbeeren, und für die ersten

Himbeeren und Brombeeren nahmen wir manchen Kratzer in Kauf. Der Turnplatz

war gegen Lipkas Garten eine Einöde, aber zum Versteckspielen doch recht gut

geeignet, denn ohne einen gewissen freien Rundblick hätte wohl der Suchende nie

eine Chance gehabt, seinen ungeliebten Posten in diesem Spiel loszuwerden. Doch

ehe er den Ausguck nutzen durfte, mußte er erst einmal bis hundert zählen, und

zwar mit verdecktem Gesicht, das er in die Hände nahm und an eine Tür des kleinen

Glockenhauses lehnte. Weil ihn aber niemand so genau beobachtete, gelang es ihm

oft, die Suche seiner Mitspieler nach einem guten Versteck zu verfolgen. Das war

sehr wichtig, denn das Vertrackte an der Sache war, daß man den Mitspieler aus

seinem Versteck herausholen oder gut sehen und erkennen mußte, um dann so

schnell wie möglich zum Ausgangspunkt, also zur Tür zu laufen, dort anzuschlagen

und laut den Namen des Gefundenen zu rufen. Wenn der Entdeckte das Manöver

aber rechtzeitig bemerkte, ebenfalls losrannte, die Tür schneller erreichte und

„Berliner Anschlag" rief, war er frei und konnte sich in der nächsten Runde wieder

verstecken. So mußte man also auf der Hut sein, daß man sich nicht zu weit von der

Tür entfernte, um den anderen nicht die Möglichkeit zu geben, sich anzuschleichen

und mit einem laut gerufenen „Berliner Anschlag" freizuschlagen. Wenn das allen

Mitspielern gelang, war das höchst ärgerlich. Man mußte dann noch mal suchen.

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Das Gemeine an der Sache war, daß die Älteren immer, bevor das Spiel begann,

abzählen wollten, und irgendwie kriegten sie es jedesmal hin, daß einer von uns

Kleinen suchen mußte. Dann versteckten sie sich hinter Schwesigs Bienenhaus oder

kletterten die rückwärtige Wand des Glockenhäuschens hoch und verschwanden

durch die Luke im Inneren, und wenn man dann gerade an Reschkes Hecke war,

kamen sie raus und schlugen sich frei. Nein! Alles konnten wir Kleinen uns auch

nicht bieten lassen! Wenn uns die Lust verging, setzten wir uns unter den

Ahornbaum und klebten uns die Samenwedel, die darunter lagen, auf die Nase. Wer

den Wedel am längsten drauf behielt, war Sieger.

Wenn es noch keine Wedel gab, spielten wir mit den Fruchtstengeln des Wegerichs.

Jeder suchte sich z.B. fünf kräftige Stengel und dann versuchten wir, den Fruchtkopf

des gegnerischen Stengels mit dem eigenen abzuschlagen. Wer die meisten Stengel

mit Köpfen übrig behielt, war der Sieger. Die Älteren hatten sich inzwischen auf den

Schneepflug verzogen, der unten am Hang den Sommer über abgestellt war. Sie

redeten über ihre Probleme, und wehe uns, wenn wir mal lauschen wollten. Dabei

war das, was sich Vierzehnjährige so zu erzählen hatten, für uns überaus interessant

und wichtig. Auch unsere Klagen bei den Erwachsenen halfen nichts. Sie fanden das

Verhalten der Jugendlichen richtig: „Was die wissen, sind doch alles Halbwahrheiten,

und eine Halbwahrheit ist nichts Gutes. Warte ab! Das Leben läuft dir nicht davon.

Du wirst schon noch rechtzeitig erfahren, was du wissen mußt." Na ja! Zumindest

glaubten wir, daß das, was uns nach der Entlassung „ins Leben“erwartete, eine recht

spannende Sache sein müsse. Wie eine Wundertüte auf Raten. Jeder Morgen

bescherte uns einen unbekannten Tag. "Unsinn! Du verstrunzt [ostpr.: verbummeln]

mit solchen Gedanken nur deine Zeit. Meistens weißt du morgens schon sehr genau,

was der Tag dir bringt." Die Erwachsenen können einem auch alles vermiesen.

Jedenfalls können sie immer tun, was sie wollen, und niemand kommandiert sie

herum. Und wer will schon wissen, ob einem das Leben nicht doch davonläuft?

Vorigen Monat erst ist die Christel gestorben, sie war erst zehn Jahre alt. Drei Tage

lang morgens, mittags und abends wurde die Glocke in dem kleinen Häuschen auf

dem Turnplatz geläutet. Am Beerdigungstag gingen wir Schulkinder gemeinsam ins

Trauerhaus, um von Christel Abschied zu nehmen. Sie sah wunderschön aus, wie

sie da im Sarg lag in einem weißen Kleid und bunten Blumen im Haar - wie

Schneewittchen. Auf dem Friedhof predigte der Pfarrer etwas von Auferstehung und

alle sangen „Jesus meine Zuversicht". Entsetzen packte uns aber, als das Grab

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zugeschaufelt wurde. Unser schönes Schneewittchen! Wenn sie nun vielleicht doch

noch aufwacht? Nachts träumten wir schlecht, aber trotzdem mußten wir, wie jeden

Tag, zur Schule. Der Lehrer schaute in unsere Gesichter und erzählte uns, wie man

sich oft mit einfachen Mitteln vor dieser oder jener Krankheit schützen kann. Er sagte

auch, daß der Tod zum Leben gehört. Am Nachmittag hatten wir wieder wie jeder

andere in der Familie unsere Arbeit zu tun. Niemand fragte danach, ob wir uns nicht

lieber in einen Winkel zum Nachdenken verzogen hätten. Die Hühner und die Gänse

wollten versorgt und die Feuerung für den Herd mußte in die Küche gebracht

werden; die Blumen brauchten Wasser, und das Strümpfestopfen war schon lange

fällig. Mit solchen leichten Arbeiten befaßten die Erwachsenen sich höchstens im

Winter. Im Sommer hatten sie ganz andere Dinge zu tun. So waren wir abends

müde, schliefen wieder gut, bis eines Nachts, mitten in die Stille hinein, die

Dorfglocke läutete; nicht gleichmäßig ruhig wie sonst, wenn jemand gestorben war,

sondern unregelmäßig, aufgeregt und voller Angst. Alle Hunde fingen an zu bellen.

Ich hörte, wie Vater aus dem Bett sprang und sich im Laufen anzog; ich sah, wie die

Männer mit Helmen auf dem Kopf über die Straße rannten, die Feuerspritze zum

Teich schoben, Wasser einfüllten, die Pferde spannten und im Galopp davonfuhren.

Sie waren zu spät gekommen; der Hof war abgebrannt. Der Bauer hatte seine

Familie und das Vieh retten können. Eigentlich wußte ich nicht mehr so genau, ob

ich „ins Leben" entlassen werden wollte. Irgendwo hatte irgendwer eine Türe

aufgelassen, und Kater Jakob, durch die Unruhe aufgeschreckt, kroch zu mir ins

Bett; er suchte einen warmen Platz.

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Schutze - Rutze

Es war nicht immer so wie heute, daß man, wenn man krank wurde, einfach einen

Krankenschein ausfüllen und damit zum Arzt gehen bzw. den Arzt ins Haus bestellen

konnte. Die Bauern im Dorf waren nicht krankenversichert. Sie mußten, wenn sie

einen Arzt brauchten, diesen privat bezahlen, und zwar gleich nach seinem

Krankenbesuch. Da die Bauern zwar Pferde, Kühe, Schweine, Hühner und Gänse

besaßen, auch genug zu essen hatten, dafür aber wenig Geld im Portemonnaie, und

weil sie eher das Geld für eine Anschaffung sparten, überlegten sie jedesmal sehr

genau, ob sie einen Arzt holen sollten, wenn in der Familie jemand krank wurde.

Außerdem gab es damals längst nicht so viele und wirksame Medikamente und

Heilverfahren wie heute. Jeder versuchte, sich und seine Angehörigen mit allerlei

Kräutern, Hausmitteln und überlieferten Methoden zu kurieren, was oftmals auch

gelang. Trotzdem starben damals die Menschen viel früher als in heutiger Zeit: vor

allem alte Leute und Kinder und manches Mal auch Eltern, ehe die Kinder

erwachsen waren. Diesen Kindern ging es dann gar nicht gut. Wenn sie Glück

hatten, konnten sie bei Oma und Opa oder auch bei einer Tante bleiben. Aber die

Tante hatte meistens genug eigene Kinder und oft einen verständnislosen Ehemann,

der die „unnötigen Esser" nicht mit ernähren wollte. Sie wurden deshalb, sobald sie

kräftig genug waren, in andere, fremde Familien - meistens zu Bauern - gegeben; die

Jungs arbeiteten zumeist als Hütejungen und auf dem Hof, die Mädchen als Hilfe im

Haushalt. Auch dann brauchten diese Kinder viel Glück, um ein gutes, neues

Zuhause zu finden. Manches Mal durften sie sogar regelmäßig die Schule besuchen.

Die Leute im Dorf dachten natürlich, daß der Pfarrer sowie der Bürgermeister und

der Lehrer darauf achteten, daß es die armen Waisen gut in ihren neuen Familien

hatten. Der Pfarrer, der Bürgermeister und der Lehrer dachten wohl auch, daß sie

sich genug kümmerten, aber sie dachten es auch nur, genauso wie die meisten

Leute auch heute immer nur das Beste von sich denken und meinen, sie täten

immer ihre Pflicht.

Eines Morgens, als wir in die Schule kamen, stand neben der Treppe ein Junge mit

einem rasierten Glatzkopf. Er war älter als wir Achtjährigen und wirkte recht scheu.

Er hatte geflickte Kleidung und Schlorren an, keinen Tornister auf dem Rücken und

nichts in der Hand. Wir guckten interessiert, gingen in die Klasse und setzten uns auf

unsere Plätze. Punkt sieben Uhr kam der Lehrer mit dem Jungen zur Tür hinein. Er

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stellte ihn uns vor - ich glaube er hieß Fritz - und wies ihm einen Platz an. Fritz war

als Hütejunge zu einem Bauern gekommen, der seinen Hof außerhalb des Dorfes

hatte. Wir sollten etwas schreiben. Da Fritz weder eine Tafel noch Hefte oder Stifte

besaß, gab der Lehrer ihm ein schon teilweise benutztes Heft und einen Bleistift, und

er bat uns, zu Hause mal nachzuschauen, ob wir nicht irgendwo noch einen alten

Tornister, vielleicht auch eine Tafel oder ein gebrauchtes Lesebuch herumliegen

hätten, um es Fritz zu schenken. Wir wußten aber ganz genau, daß nicht viel

zusammenkommen würde, denn ein Tornister zum Beispiel - besonders wenn er aus

Leder war - wurde in den Familien sehr geschont und solange vererbt, bis keine

kleinen Geschwister, Cousinen, Nichten oder Neffen mehr da waren, die ihn

brauchten. War er dann noch einigermaßen gut erhalten, wurde er gereinigt, in

Packpapier gewickelt und für die nächste Generation verwahrt. Lohnte sich der

Aufwand nicht mehr, wurden die Rückenriemen abgenommen, ein Griff oben an der

Klappe angebracht und so eine Tasche für alle möglichen Zwecke angefertigt. Die

alten Tafeln hingen meist im Stall, als "Notizblatt" für alle Fälle. Am nächsten Morgen

war, erstaunlicherweise, doch etwas für Fritz da: eine leicht zerkratzte Tafel, ein

hölzerner Griffelkasten, einige halbe Griffel. Als ganz besondere Kostbarkeit opferte

ein Mädchen einige Stücke bunter Malkreide. Fritz war glücklich, und wir stellten fest,

daß es sehr viel Freude macht, jemanden zu beschenken. Auf etwas waren wir aber

sehr gespannt. Wie würde er wohl die Sachen den weiten Weg ohne Tornister nach

Hause tragen? Aber Fritz war ein pfiffiger Junge. Er holte einen Bindfaden aus der

Hosentasche, band alles zu einem Paket zusammen, machte aus dem Ende des

Fadens eine Schlaufe, hing sich das Bündel über die Schulter und marschierte wie

ein Wanderbursche nach Hause.

Da wir die Freude des Schenkens noch einmal erleben wollten, suchten wir zu

Hause nochmals nach geeigneten Sachen, und es kam auch erneut einiges

zusammen. Ein Mädchen hatte eine gute Idee. Es schnorrte bei ihrem Vater einen

kaputten Kartoffelsack (Die Bauern warfen solche Teile nicht fort und verwandten sie

als Flickmaterial für andere, nur leicht beschädigte Säcke.). Diesen wusch sie und

nähte aus den brauchbaren Stücken eine Tragetasche. Vielleicht machte auch ihre

Mama diese Tasche, ich weiß es nicht mehr so genau. Jedenfalls sah sie sehr schön

aus. Auf jeder Seite war aus bunten Stoffresten eine Blume aufgenäht. Wir Mädels

waren ganz stolz auf unsere Mitschülerin und auch ein ganz klitzekleines bißchen

neidisch.

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Fritz lebte sich bei uns ganz gut ein. Eines Tages fragte uns der Lehrer, ob einer von

uns eigentlich schon das „Deutschlandlied“ kenne. Es könnte ja sein, daß wir es in

absehbarer Zeit dann und wann mal singen müßten. Wer also hätte das Lied schon

mal gesungen und vielleicht auch einen Teil des Textes behalten. Zwei Kinder

steckten den Zeigefinger ein wenig zögerlich in die Höhe. Alle anderen saßen still

und warteten ab; nur Fritz meldete sich unbekümmert. Als er jedoch sah, daß die

anderen Kinder es nicht konnten oder nicht wollten, zog er seinen Arm schnell

wieder zurück. „Na Fritz", klang es vom Lehrerpult, „ich glaube, du kannst den Text.

Also!?" Und Fritz begann: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der

Welt. Wenn es steht zum Schutze-Rutze"... Die Klasse wollte sich ausschütten vor

Lachen. „Mann", schrie Horst, „du Dämlack [ostpr.: Dummkopf]! Es heißt doch nicht

Schutze-Rutze, es heißt Schutzentrutze." „Ruhe", brüllte der Lehrer ebenso laut und

schlug mit der flachen Hand auf das Pult, daß es knallte. Es wurde augenblicklich

still in der Klasse. „Horst! Steh' auf, wenn ich mit dir rede!" Horst flitzte hoch. „Mit den

Kühen auf deinem Hof kannst du brüllen, wie es dir Spaß macht, aber hier hast du

nur zu reden, wenn du gefragt wirst. Verstanden? - Setzen! Übrigens heißt es weder

Schutze-Rutze noch Schutzentrutze." Es folgte eine ausführliche Erklärung der

Begriffe Schutz und Trutz, schützen, Trotz und trotzen. Der Lehrer erzählte uns

Geschichten über Trutzburgen und Ritterkämpfe, über Trotzköpfe und berühmte

Männer, und wir hörten gespannt zu. Am Ende der Stunde fragte er Fritz, ob er den

Text des „Deutschlandliedes“ vielleicht doch könne. Fritz sagte alle drei Strophen

fehlerfrei auf. Als Belohnung erhielt er vom Lehrer zwanzig Pfennig, und wir

bewunderten ihn ungemein. Seinen Spitznamen aber hatte er trotzdem weg. Fritz

indessen blieb bescheiden und freundlich. Er kümmerte sich weder um unsere

Bewunderung noch um seinen Spitznamen. Als es Winter wurde, kam er nicht mehr

zur Schule. Man sagte uns, er lebe jetzt in einem Nachbardorf.

Einige Jahre später. Meine Freundin Ida und ich warteten in der Halle des

Hohensteiner Bahnhofes, um mit dem nächsten Zug nach Osterode zum

Jugendappell zu fahren - eine Zusammenkunft aller Jungen und Mädchen, die zur

Hitlerjugend gehörten, ein bestimmtes Alter hatten und aus einem bestimmten

Gebiet stammten. Ich kannte niemanden, der nicht dabei war -. Wir mußten

stundenlang in Dreierreihen strammstehen und uns irgendwelche Reden anhören.

Das war ziemlich anstrengend. Vielen von uns wurde schlecht. Sie kippten um und

man trug sie fort. Am nächsten Tag stöhnten alle über Muskelkater im rechten Arm,

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weil sie ihn so lange in ungewohnter Stellung hatten schräg hochhalten müssen. -

Ida und ich saßen also in der Hohensteiner Bahnhofshalle und warteten auf unseren

Zug. Ein junger Soldat schlenderte in die Halle und blickte sich suchend nach einem

Sitzplatz um. Ida schubste mich in die Seite: „Weißt du, wer das ist?" „Nein." „Das ist

Fritz." „Wer ist Fritz?" „Na Schutze-Rutze! Erinnerst du dich nicht?" „Was?" Der

junge Soldat hatte uns entdeckt und kam auf uns zu. Er war groß, schlank, wirkte

selbstbewußt und bescheiden zugleich. Ida hatte über eine Verwandte im

Nachbardorf immer noch losen Kontakt zu ihm gehabt. Fritz sagte uns, er müsse an

die Front. Sein Zug nach Allenstein ginge in einer halben Stunde. Unser Zug nach

Osterode fuhr in einer Viertelstunde ab. Ida bemerkte meinen Blick zur Bahnhofsuhr

und stieß mich unterm Tisch leicht mit dem Fuß an. Ich verstand. Fritz fragte uns, wo

wir denn hin wollten. Ida erzählte ihm, daß wir auf jemanden warten würden, der erst

in einer Stunde käme. Unseren Stadtbummel hätten wir schon frühzeitig beendet

und nun säßen wir hier herum. Fritz freute sich darüber, wie mir schien. Wir

unterhielten uns angeregt, und mir fiel auf, daß man Fritz vieles fragen konnte. Er

wußte anscheinend mehr als viele andere in seinem Alter. Er wirkte traurig und

trotzdem irgendwie gelassen. Wir fragten nicht, warum ihn denn niemand zum Zug

begleitet hatte. Unser Zug nach Osterode war längst abgefahren. Der Zug nach

Allenstein lief ein. Wir waren verlegen. Ich hatte das Gefühl, daß Fritz uns wohl

gerne in den Arm genommen hätte, und wir wollten es wohl auch, aber wir trauten

uns nicht. Er hielt unsere Hände fest und hätte sie, so kam es mir vor, am liebsten

nicht losgelassen. Auf dem Nachhauseweg sprachen wir wenig.

Einige Monate später. Ich kam am Elternhaus meiner Freundin vorbei. Ida arbeitete

auf dem Hof. „Weißt du, wer gefallen ist?" rief sie mir zu. „Mein Gott", dachte ich,

„schon wieder einer. In unserem Dorf gibt es bald keine jungen Männer mehr.“

„Nein", rief ich zurück. „Wer?" „Schutze-Rutze" lautete die Antwort. Als ich den

elterlichen Hof erreichte, war unser Franzose (ein Kriegsgefangener, der - wie viele

andere - als Arbeitskraft beim Bauern eingesetzt wurde) beim Holzhacken.“Du

traurig?" Er sah mich prüfend an. „Es ist wieder einer gefallen", antwortete ich. Er

haute die Axt mit aller Kraft in das Holz. „Scheiß-Krieg! Verfluchter Scheiß-Krieg!"

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Das Schützenfest

In der Zeit zwischen Saat und Ernte gab es immer mal wieder Tage, an denen die

Bauern eine kleine Verschnaufpause in ihren Arbeitsalltag einlegen konnten und die

sie nutzten, um der Lebensfreude zu ihrem Recht zu verhelfen. Eine der

erholsamen Unterbrechungen der alltäglichen Plackerei war das Schützenfest. Etwa

zwei Kilometer außerhalb des Dorfes in Schulzens Wald standen die Schießanlagen.

Einige Tage bevor das Fest stattfand, wurden der Schießstand in Ordnung gebracht

und die Tische und Bänke gesäubert. Die Mädchen des Dorfes versuchten, einen

unbeobachteten Zeitpunkt zu erwischen, um sich in einem verschwiegenen Winkel

des Sees einer ausgiebigen Reinigungsprozedur zu unterziehen, nur die Dorfjungen

wußten das, und wenn die Mädchen auf ihrem Weg zum See auch noch so

verschlungene Pfade suchten und Seife und Handtuch versteckten, die Jungs

bemerkten es trotzdem. Der Wald um den See bot zudem genügend Möglichkeiten,

unentdeckt einen Beobachtungsposten zu beziehen. Hatte ein Mädchen einen

Verehrer, war die Sache ein wenig einfacher; der sorgte bestimmt dafür, daß keine

anderen Zaungäste das Geschehen verfolgen konnten; und hatte dieser Verehrer

einige Chancen, durfte er sie sogar nach Hause begleiten. Natürlich zeigte er sich

erst, wenn sie angezogen war. Lieber Leser, verkneife dir dein Lächeln. Die jungen

Leute in jener Zeit waren wirklich sehr gesittet und moralisch, meistens.

Am Morgen des Festes waren die Dörfler schon früh auf den Beinen. Es mußte für

die Fütterung der Tiere Vorsorge getroffen und manches vorbereitet und erledigt

werden, für das später keine Zeit mehr blieb. Nach dem Mittagessen versammelten

sich die Schützen im Gasthof. Man nutzte die Gelegenheit, sich mal wieder so richtig

als Mann unter Männern zu fühlen - solange die Knüppelmusik noch nicht

eingetroffen war. Die Knüppelmusik war eine überwiegend aus Jugendlichen

bestehende Kapelle, die Marschmusik auf Instrumenten spielte, die keineswegs

typisch waren. Der Großteil der Instrumente waren Blockflöten. Es waren auch noch

einige andere Flöten, z.B. Querflöten, und einige Trommeln dabei. Bevor sich der

Zug der Schützen mit der Knüppelmusik vorneweg in Richtung Schulzens Wald in

Bewegung setzte, spielte die Kapelle die ersten Märsche auf dem Dorfplatz, so daß

alle Leute, vor allem die Jugendlichen und die Kinder, Zeit hatten, sich zu

versammeln, um dann mitzumarschieren. Es war eine lustige Kolonne. Besonders

die Kinder waren voller Vorfreude auf das, was sie im Wald erwartete. Wann gab es

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sonst schon mal eine Gelegenheit, an einer der bunten Buden ein Jo-Jo oder einen

Luftballon oder noch etwas Feineres zu gewinnen. Die Jugendlichen, auch wenn sie

sonst kaum einen Blick für die Schönheit der Natur hatten, machten

Waldspaziergänge, und die Knüppelmusik sorgte für die Untermalung.

Der Höhepunkt des Festes war das Preisschießen. Es gab einen ersten, zweiten und

dritten Preis, und meistens waren die Vorjahressieger erfolgreich.

Unglücklicherweise war Vater der beste Schütze im Dorf und gewann fast immer den

ersten Preis. Mutter war darüber ganz und gar nicht glücklich: „Walter, kannst du

nicht wenigstens einmal danebenschießen, ich meine, nicht genau die ‘Zwölf’? Die

Frau Schwesig hatte im vorigen Jahr so eine schöne Glasschale bekommen und die

Frau Weißberg einen handgeklöppelten Spitzenkragen. Was kann man denn mit so

einem dämlichen Hitlerkopf anfangen. Außerdem haben wir schon zwei auf dem

Boden rumliegen. Ich könnte auch mal was Nützliches gebrauchen." Vater versprach

ihr hoch und heilig, dieses Mal in jedem Durchgang nur eine „Zehn" zu schießen. In

Masuren wurde das Schützenfest ein wenig anders gefeiert als z.B. in

Niedersachsen. Einen Schützenkönig, der nach seinem Sieg die gesamte

Festgesellschaft bewirtete, gab es bei uns nicht. Nachdem die besten Schützen in

drei Durchgängen ermittelt und die Preise verliehen waren, löste sich der Trubel

nach und nach auf. Dafür füllte sich der Saal des Gasthofes. Dort wurde bis nach

Mitternacht getanzt. Der Eröffnungstanz war natürlich dem ersten Preisträger

vorbehalten. Wer würde es in diesem Jahr sein? Als Vater im ersten Durchgang

nicht die „Zwölf" schoß, war das Erstaunen groß; aber die anderen, ob gewollt oder

nicht, trafen auch nicht besser. Uns Kinder interessierte das Geschehen am

Schießstand am allerwenigsten, und so habe ich Vaters Pech erst bei der

Preisverleihung mitbekommen. Anscheinend hatte er trotz aller Bemühungen nicht

den zweiten oder dritten, sondern wieder den ersten Preis gewonnen. Ich bedauerte

ihn zutiefst, denn wenn Mutter schlecht gelaunt war, war mit ihr nicht gut Kirschen

essen. Ich bemerkte, daß er sich, den Preiskopf unterm Arm, suchend umsah. Als er

mich erblickte, kam er auf mich zu: „Sag mal, kannst du den hier nicht jemandem

andrehen? Vielleicht will ihn einer haben. Versuch' es mal." Und richtig, ich fand bald

einen Interessenten. Aber nach kurzer Zeit war er wieder da: „Der Papa erlaubt es

nicht. Er sagt, es ginge gegen seine Ehre, einen Preis in seinem Haus zu haben, den

ein anderer errungen hat." Ich versuchte es noch mehrmals, aber immer ohne Glück.

Am Ende einigten Vater und ich uns, den Kopf einfach im Wald zu vergessen. Vater

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kaufte meiner Mutter etwas Hübsches, und das Fest und der Familienfrieden waren

gerettet. Nach einer Woche - Mutter ging gerade mit einer Schürze voller Eier auf

das Haus zu - kam ein Mädchen aus dem Nachbardorf mit einer dicken Tasche auf

den Hof. Sie ging auf Mutter zu: „Das soll ich hier abgeben." Sie holte etwas aus

ihrer Tasche und stellte es auf den Klotz, auf dem sonst das Holz gehackt wurde. Es

war der Hitlerkopf. „Du lieber Himmel", dachte ich, „hoffentlich hält Mutter den

Schürzenzipfel fest", denn wenn jetzt noch zwanzig Eier zu Bruch gehen, ist unser

Feierabend erst einmal hin. Aber Mutter hielt die Schürze fest und sagte nichts. Sie

kam in die Küche, legte die Eier weg und beauftragte mich, den Kopf zu holen und

zu den beiden anderen auf den Boden zu bringen.

Es war das letzte Schützenfest, das wir in Gilgenau erlebten. Im Herbst begann der

Krieg. An die Hitlerköpfe, die auf dem Boden neben dem Lumpensack und einer

Gerätekiste verstaubten, dachte niemand mehr. Als wir hier, schon lange nach der

Flucht, unsere ehemalige Nachbarin, die erst viel später als wir aus Ostpreußen

herauskam, wiedertrafen, erzählte sie, daß die russischen Soldaten lange nach der

Familie gesucht hätten, der jenes auffällige Haus gehörte, in dem man drei

Hitlerbüsten fand. Sie waren überzeugt davon, daß da ein Nazibonze gelebt haben

mußte.

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Onkel Emil

Das ganze Jahr hindurch freute ich mich auf den Sommer, denn im Sommer kam

Onkel Emil zu Besuch. - Onkel Emil lebte in Berlin. Er war der Bruder meiner Mutter.

Mit ihm konnte ich über alles reden, was mich interessierte und bewegte. Wir

wanderten oft barfuß durch die Felder, und er erklärte mir, was der Schaum in den

Blattwinkeln des Wiesenschaumkrautes zu bedeuten habe und daß man die

Tollkirschen niemals in den Mund nehmen dürfe, ebensowenig wie das Mutterkorn,

das man manches Mal in einer Getreideähre fand. Er zeigte mir, wie man aus dem

Rotklee den Nektar saugt und wie man am besten den Kalmus reißt, um das zarte

Innere zu essen.

Bevor wird abends ins Haus gingen, mußten wir uns die Füße waschen. Wir saßen

auf dem etwas erhöhten Uferrand des Teiches und ließen die Füße ins Wasser

baumeln. Im Teich lag ein großer Stein, und auf dem Stein saß jeden Abend ein

dicker Frosch und blies die Backen auf wie ein Chorleiter, der vorsang. „Warum sitzt

der da auf dem Stein und bläst die Backen auf?" wollte ich wissen. „Vielleicht ist er

ein Politiker." „Warum?" „Ja nun, Politiker sitzen meist auch in erhöhter Position und

blasen die Backen auf." „Aber muß es nicht jemanden geben, der oben sitzt und den

anderen sagt, wie man es richtig macht?" „Manchmal schon, aber für jeden

Einzelnen ist etwas anderes richtig. Natürlich gibt es allgemein gültige

Verhaltensmuster, aber die sind nur wie ein Rahmen für ein Bild. Sein Lebensbild

muß schon jeder selbst hineinmalen." „Ob der Frosch auf dem Stein das weiß?"

„Kann sein. Aber manche kommandieren andere gerne herum, und sie genießen es,

wenn sie sehen, daß alle nach ihrer Pfeife tanzen." „Und wenn ich nun eine spitze

Nadel nähme und dem Frosch in seine Blase piksen würde?" „Das wäre vielleicht

eine Lösung, aber das Problem ist, wie man so einen Kerl fängt. Auch wenn es dir

gelingen sollte; die Biester sind aalglatt; die glitschen dir durch die Finger und

tauchen unter. Außerdem säße da wohl bald ein anderer und würde ebenso große

Reden schwingen." „Und der eine?" „Der würde sich nicht mehr zeigen. Mit so einem

ramponierten Erscheinungsbild würde er bei den anderen Fröschen überhaupt nicht

mehr ankommen."

Vom nahen Haus hörten wir Mutter rufen: „Abendbrot!" Wir trockneten schnell

unsere Füße, schlüpften in die Schlorren, nahmen die Seife in die Hand, warfen das

Handtuch über die Schulter und gingen ins Haus.

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Onkel Emil war ein leidenschaftlicher Angler. Fast jeden Tag stand er in aller Frühe

um vier Uhr auf, um zu einem sehr einsam gelegenen Waldsee zu wandern, wo es

besonders viele dicke Fische gab. Vorher aber grub er im Garten nach

Regenwürmern, die er in einer Dose sammelte, um sie nachher als Köder zu

gebrauchen. Als ich etwas älter war, durfte ich gelegentlich mit. Ich mußte ihm dann

helfen, die Regenwürmer zu sammeln. Manchmal gingen wir auch zum Teich, um

Sprocks, die eingepuppten Larven eines Wasserinsektes zu holen. Der Sprock ist

etwa 2 cm lang und 1 cm breit. Man findet ihn zwischen dem Schilf auf dem Wasser

schwimmend. Er ist aus vielen, bis zu einem Zentimeter langen Schilfstücken

zusammengefügt. Die Larve des Sprocks ist für manche Fische ein besonderer

Leckerbissen.

Wir gingen durch das Dorf. In den Bauerngehöften war schon reges Leben. Die

Kühe mußten gemolken werden, damit die gefüllten Milchkannen rechtzeitig auf die

am Straßenrand stehenden Milchbänke gestellt werden konnten, um dann von dem

vorbeifahrenden Milchwagen mitgenommen und in die Molkerei nach Hohenstein

gebracht zu werden. Die Schweine in den Ställen grunzten und wollten gefüttert

werden; die Hühner und Gänse wurden aus dem Stall gelassen. In manchen

Häusern, zu denen kein Bauernhof gehörte, waren die Fenster noch verhängt. Die

Bewohner schliefen noch. Nur die Frau des Nachtwächters, die sowieso nicht

schlafen konnte und immer alles mitkriegen wollte, was im Dorf geschah, arbeitete

im Garten. Als sie uns erblickte, kam sie an den Zaun. „Ach, guten Morgen Emil!

Machst du wieder Urlaub?" „Wie du siehst." „Wie geht es der Grete?" „Woher soll ich

das denn wissen; ich bin doch hier. Wahrscheinlich schläft sie noch." „Ach du! Du

mußt einem doch immer in die Quere reden." Sie ging wieder an ihre Arbeit, und wir

marschierten weiter. Ich schimpfte auch mit dem Onkel: „Du warst aber gar nicht

höflich zu ihr." „Ach weißt du, Anuschka, wenn man so alt ist wie ich, dann weiß man

schon ziemlich genau zwischen Anteilnahme und Neugier zu unterscheiden." „Und

sie war neugierig?" „Ich denke schon. Man merkt es daran, wie und wann man

jemand fragt. Wenn ich ihr jetzt erzählt hätte, daß Tante Grete einen Schnupfen hat,

würde sie bei nächster Gelegenheit der Nachbarin erzählen, daß der Emil hier in

Urlaub ist und die Grete krank zu Hause gelassen hat. Die Nachbarin würde ihrer

Freundin erzählen, daß der Emil Urlaub macht, obwohl seine Frau im Krankenhaus

liegt. Die wiederum würde ihrer Cousine erzählen, daß der Emil gekommen ist und

seine Frau sterbenskrank in Berlin zurückgelassen hat, und diese Cousine würde

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deine Mutti fragen: ‘Sag mal, ist es wahr, daß Emils Frau gestorben ist?’“ Wir lachten

beide.

Wenn man aus dem Dorf herauskommt, könnte man ohne weiteres mit

geschlossenen Augen durch die Gegend gehen und wüßte trotzdem, wo man sich

aufhält, und welch eine Tageszeit gerade ist. Die Geräusche und die Düfte sind

überall anders. Jedes Stück Landschaft beherbergt andere Tiere, die zu ganz

verschiedenen Tageszeiten ihren Lebensgewohnheiten nachgehen. Ich habe z.B.

noch nie eine Schwalbe durch den Wald fliegen sehen oder einen Kuckuck vom

Ahornbaum auf unserem Dorfplatz rufen hören. Die Insekten fliegen zu bestimmten

Zeiten, und die Luft riecht morgens anders als um die Mittagszeit. Keines der

Dorfkinder besaß damals eine Armbanduhr, und wir waren trotzdem immer pünktlich

zu Hause oder wo wir auch immer sein sollten.

Onkel Emil und ich genossen die Wanderung durch den frühen Morgen. Es

zwitscherte und raschelte überall, und doch war alles voller Ruhe. Wir hatten keine

Lust zu reden. Wir beobachteten die aufgehende Sonne; wir atmeten den

Ackergeruch, der morgens, wenn die Luft noch feucht ist von der Nacht, viel

intensiver ist als sonst am Tage. Am See suchten wir uns ein Plätzchen, das günstig

zur Sonne lag. Onkel Emil machte seine Angelrute fertig, denn gerade morgens,

wenn die Fische noch hungrig sind, beißen sie am besten. Beim Angeln muß man

sich ruhig verhalten, und um den Onkel nicht zu stören, ging ich auf Pilzsuche. Zum

Frühstück war ich wieder am See. Onkel Emil hatte inzwischen schon einige Fische

in seinem Eimer und ich einen Korb voller Pilze. Wir saßen in der Sonne und

beobachteten eine Eidechse, die sich unweit auf einem Stein niedergelassen hatte.

Es duftete nach Tannennadeln, nach Harz und Modder [ostpr.: Moder]. Die Libellen

schwirrten in der Luft, und langbeinige Insekten huschten über das Wasser. Nach

dem Frühstück angelte Onkel Emil wieder, und ich legte mich in den warmen Sand

und ließ mich von der Sonne bescheinen. Zwischendurch beobachtete ich, wie er

seine Glatze mit einer Speckschwarte einrieb. Auf dem Nachhauseweg fragte ich ihn

danach: „Sag mal Onkel, du hast doch Nivea-Creme gegen den Sonnenbrand

eingepackt. Warum reibst du dir deine Glatze dann mit einer Speckschwarte ein?"

„Das ist mein Geheimtip, Anuschka. Mit einer frischen Speckschwarte - sie darf nie

gesalzen sein - erreichst du eine sehr gleichmäßige schöne Bräune, ohne daß die

Haut abpellt. Wenn ich zurückkomme nach Berlin, hat keiner meiner Kollegen im

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Amt so eine herrlich gebräunte Glatze wie ich." Das sah ich ein. Ich selbst aber

nahm trotzdem lieber Creme für mein Gesicht, schon wegen des Duftes.

Onkel Emil hatte eine schöne Stimme. Er summte leise vor sich hin, und ich forderte

ihn auf, laut zu singen. „Nur wenn du mitsingst, Anuschka." Und so gingen wir beide

durch den Wald und sangen:

Wer das Scheiden hat erfunden,

hat ans Lieben nie gedacht,

sonst hätt’ er die schönsten Stunden

bei der Liebsten zugebracht.

Hätt’ ich Tinte, hätt’ ich Feder

hätt’ ich Zeit und Schreibpapier,

würde ich die Zeit aufschreiben,

die ich gern geweilt bei dir.

Liebes Mädchen denke meiner,

hab’ mich lieb, vergiß mich nie,

lausch der Nachtigall im Garten.

Sie singt meine Melodie.

Es war das letzte Mal, daß Onkel Emil bei uns seinen Urlaub verlebte. Im Herbst

1943 schrieb er uns einen Brief, in dem er uns mitteilte, daß er der Partei beigetreten

sei. Dahinter stand in Klammern das polnische Wort „Okryjbieda". Ich fragte meine

Eltern, was es bedeute. Sie übersetzten es mit „Notbehang" und erklärten mir, daß

diese Bezeichnung früher mal im Volksmund für einen damals sehr modern

gewesenen ärmellosen Herrenmantel gebraucht wurde, weil man unter diesem

Mantel die abgetragenen Anzüge, also die eigene Not so schön verstecken konnte.

Auf meine Frage, was der Onkel denn mit seinem Parteibeitritt bemänteln wollte,

wirkten meine Eltern sehr zugeknöpft. Sie erklärten, daß er seinen Urlaub jetzt für

andere Zwecke nutzen müsse und uns erst wieder besuchen könne, wenn der Krieg

zuende sei. Ich habe ihn nicht wiedergesehen. Er starb kurz nach dem Krieg.

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Mädchen, Mädchen

Sie saß am Wegesrand mit wirrem Haar und irrem Blick; sie pflückte Blumen und

schrie jedem, den sie sah, irgend etwas Unverständliches nach. Man erzählte sich,

daß sie, als sie noch klar denken konnte, das klügste und hübscheste Mädchen im

Dorf gewesen sei: klüger sogar als alle Männer in ihrer Nähe, und das kann

außerordentlich ungünstig für ein Mädchen sein. Ein Mädchen hatte das Kochen zu

erlernen, Strümpfe zu stopfen, den Haushalt zu besorgen. Bücher lesen? Nein,

dabei kommt nichts Gutes heraus, es verdirbt Körper und Geist. Solche Mädchen

holt der Teufel und quält ihre Seelen. Eines Tages wurde sie abgeholt. Der

Ortsgruppenleiter war der Meinung, daß sie in einem Sanatorium besser betreut

werden könnte. Daß sie dort nach kurzer Zeit starb, bedauerte der Ortsgruppenleiter

sehr. „Arme Angelika", sagten die Leute im Dorf und dachten an andere Dinge. Sie

dachten daran, wie man möglichst billig an Arbeitskräfte zum Rübenhacken käme.

Männer? Nein! Deren Kreuz ist nicht so geschmeidig, die können sich nicht so lange

bücken. Maria, ja, die ist für jede Gelegenheit, etwas zu verdienen, dankbar, und

wenn sie dafür auch Abend für Abend mit Kreuzschmerzen ins Bett gehen muß. Sie

ist zwar klein und dürr, aber sie leistet was. Außerdem kann sie froh sein, daß man

sie beachtet, die Zuchthäuslerin. „Was, Maria saß im Zuchthaus? Warum?" „Die hat

ihr Kind umgebracht." „Ich wußte gar nicht, daß sie ein Kind hatte." „Das ist schon

lange her, damals war sie erst vierzehn Jahre alt." „Vierzehn, so alt wie die Helga

jetzt? Und was taten ihre Eltern?" „Sie hatte keine. Sie wuchs bei einem Bauern auf,

und als sie das Kind kriegen sollte, hat die Bäuerin sie aus dem Haus gejagt." „Und

wo ist sie geblieben?" „Als sie zwei Wochen verschwunden war, hat die Frieda von

gegenüber sie gesucht. Sie fand sie in einem Heuschober mit dem toten Kind."

„Wovon hat sie denn gelebt?" „Es war Herbst, da gibt es Kartoffeln auf dem Feld und

Äpfel im Garten." „Wenn ich mir vorstelle, ich sollte ins Zuchthaus." „Im Zuchthaus

direkt war sie wohl nicht, aber irgendwo, wo eben Huren hinkommen, da hatte man

sie eingesperrt. Als sie wieder zurück war, hieß sie nur noch ‘die Zuchthäuslerin’."

„Sie hat so ein hübsches Gesicht." „O, ja, schon immer, wie eine Puppe."

„Du liest die Bibel?" „Ja, wenn ich alleine im Hause bin und nichts anderes zum

Lesen habe. Da steht zwar auch was von Huren drin und Sätze wie ‘und er erkannte

sie, und sie ward schwanger’, aber was das genau zu bedeuten hat, steht nicht

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dabei." „Das hat was mit Männern zu tun. Frag' die Emma, die kann es dir sagen."

„Die kommt doch seit ein paar Wochen nicht mehr zur Schule." „Weil sie auch ein

Kind kriegt." „Die ist doch erst dreizehn, so alt wie ich, und Männer gibt so weit

außerhalb des Dorfes nicht." „Na hör mal, ist ihr Vater denn kein Mann?" „Aber ich

meine doch - wieso - ich begreife überhaupt nichts." „Sei froh darüber. Irgendwann

wirst du es begreifen." „Im Nachbardorf hat auch mal ein Mädchen ein Kind

bekommen.“ „Was tat die Mutter des Mädchens?" „Sie legte das Baby jeden Tag,

auch wenn es kalt und regnerisch war, ins offene Fenster, weil es frische Luft

brauchte. Es hat aber die frische Luft wohl nicht so gut vertragen. Nach vier Wochen

war es tot." „Ich möchte lieber ein Junge sein." „Ach, die müssen in den Krieg und

werden erschossen."

Am besten, ich verziehe mich irgendwohin, wo ich allein bin. Meine Lieblingspuppe

hat lange schwarze Haare und Schlafaugen, einen Körper aus Leder und feine

Hände aus Porzellan. Ich werde sie immer behalten. Sie sieht Leokadia ähnlich, die

immer ihre kleinen Schwestern an der Hand hält, damit sie nicht weglaufen. Sie

sehen alle gleich aus, so fremd. Sie haben lange schwarze Zöpfe, schwarze Augen

und jeden Tag eine frische weiße Schürze um.

„Katholiken haben Niken [ostpr.: dumme Gedanken], wenn sie in die Bibel kieken",

schreien die Jungs. „Hör auf, Kalli! Sie können doch nichts dafür!" „Aber sie sind

doch katholisch! Und wie sie aussehen und wie sie heißen, gar nicht wie normale

Menschen."

„Mutter, sind Katholiken schlechtere Menschen als wir?" „Nein!" „Warum rufen die

Jungs denn sowas?" „Ach, die sind dumm!" „Ist Leokadia ein schöner Name?"

„Wenn man ihn schön findet, ja. Zumindest ist er selten, nicht so abgedroschen wie

Erna oder Lotte." „Mein Name ist auch selten." „Freu dich darüber."

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Lubainen

Lubainen war ein Dorf, das man eigentlich gar nicht als Dorf bezeichnen durfte. Es

bestand aus einem Gutshof und einigen Bauernhöfen, die, in ziemlichen Abständen,

an einer langgestreckten Straße lagen, kurz vor unserer Kreisstadt Osterode.

Lubainen besaß keinen Mittelpunkt wie andere Dörfer, aber es hatte eine Schule -

einklassig zwar, doch immerhin - und einen Kolonialwarenladen. Der Inhaber des

Geschäfts war mein Schwager. Warum man es Kolonialwarenladen nannte, konnte

ich mir nie so recht erklären, denn es gab alle möglichen Lebensmittel und

Gebrauchsgegenstände zu kaufen und nicht nur Waren, die aus irgendwelchen

Kolonien oder anderen fremden Ländern eingeführt werden mußten. Es war ein ganz

ansehnliches Geschäft im Gegensatz zu den Hökereien in vielen Dörfern. Eine

Hökerei war ein sehr kleiner Laden, der nur die Dinge in seinem Angebot hatte, die

man am nötigsten in einem Bauernhaushalt brauchte, wie z.B. Zucker, Salz,

Haarnadeln, Petroleum, Schmierseife und Frigeo-Brause. So ein Laden wurde meist

von einer Frau betrieben, deren Ehemann nur ein kleines Einkommen hatte. Mein

Schwager dagegen war ein gelernter „Heringsbändiger" wie es mir sein Bruder, der

„Krümelarchitekt" erklärte. Er mußte eine abgeschlossene Kaufmannslehre haben,

sonst hätte er sein Geschäft nicht führen dürfen. Natürlich gab es in einer Hökerei für

die Kinder nicht nur Frigeo-Brause, sondern auch Bonbons, aber keine in Papier

gewickelten wie heutzutage, sondern harte klebrige Glasbonbons, wie wir sie

nannten. Sie wurden in großen Gläsern aufbewahrt, aus denen sie mehr

herausgebrochen als herausgeschaufelt werden mußten. Für zehn Pfennige bekam

man eine kleine Tüte voll. Wir Kinder kauften aber viel lieber Frigeo-Brause oder

Pfefferminzstangen, die sogar eingewickelt waren; sie kosteten pro Stück nur zwei

Pfennige, und das Brausepulver konnte man so schön aus der Tüte schleckern oder

auch in einem Glas auflösen. Das Wasser wurde dann rot, gelb oder grün,

schmeckte leicht süßsäuerlich und kribbelte in der Nase. Mein Schwager hatte in

seinem Laden selbstverständlich auch solche Sachen, aber man konnte bei ihm

auch teure Pralinen kaufen, und die gab es nur in den „besseren" Läden.

Als der Krieg ausbrach, konnte man auch in seinem Laden nicht mehr so viele Dinge

kaufen; das meiste wurde rationiert. In dieser Zeit war ich oft in Lubainen, um die

Lebensmittelmarken, sortiert nach Mehl-, Zucker-, Brot- und Fleischmarken in einer

bestimmten Anzahl, d.h. 10 x 10 = 100, auf einen Papierbogen zu kleben. Diese

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reichte mein Schwager im Landratsamt in Osterode ein und erhielt dafür

Warenbezugsscheine. Mit Beginn des Rußlandfeldzuges wurde mein Schwager

Soldat. Meine Schwester gab den Laden auf. Ich blieb bei ihr, damit sie nicht so

alleine war. Das tat ich eigentlich mit einem gewissen Unbehagen, denn der Besuch

der Lubainer Dorfschule war für mich eine wenig erfreuliche Angelegenheit. Als

13jähriger Backfisch begann ich schon, zu manchen Fragen, die mich bewegten,

eine eigene Meinung zu entwickeln, die aber dem Lehrer selten gefiel. So hatte er

z.B. die Angewohnheit, die Kinder erst einmal in seinem Hof und Garten arbeiten zu

lassen, ehe er ihnen irgendwann das Einmaleins beibrachte. Ich dagegen war der

Auffassung, daß ich das Ausfegen der Tenne nicht mehr zu lernen brauchte, zumal

die Scheune voller Erdflöhe zu sein schien und man sich hinterher abmühen mußte,

die Plagegeister wieder loszuwerden. „Du ziehst dich zur Arbeit wie grüne Seife", war

des Lehrers Kommentar. Ich bekam eine saftige Strafarbeit auf, die mir meine

Schwester zu schreiben verbot. Da ich aber wußte, daß mein Schwager bei dem

Lehrer, der ein hervorragender Imker war, sehr delikaten Honig einzutauschen

pflegte, machte ich die Strafarbeit gegen den ausdrücklichen Rat meiner Schwester.

Ich dachte dabei auch an den Honigliebhaber und Jugendfreund meines Schwagers,

der immer eine schöne Portion erhielt und dessen ärztlicher Kunst ich es zu

verdanken habe, daß ich in meinem Leben nicht mit einer Glatze herumlaufen

mußte. Dr. Mallisons Vater war Jude, und deshalb hatte er nicht den Vorzug, sein

Leben auf dem „Felde der Ehre“ für „Volk und Vaterland“ einsetzen zu müssen. Ich

sehe noch, wie mein Schwager in einem Fronturlaub das Radio am liebsten aus dem

Fenster geschmissen hätte, nur weil das Lied „Es ist so schön Soldat zu sein" daraus

erklang und Dr. Mallison ihn an die Schulter boxte: „Mensch Gerd, der Kasten kann

doch nichts dafür."

Aber in Lubainen war es nicht nur der Lehrer, der mir - und nicht nur mir - das Leben

schwer machte. Auch der Pfarrer der evangelischen Kirche am Neuen Markt in

Osterode, bei dem ich Konfirmandenunterricht hatte, bevorzugte eine ganz eigene

Lehrmethode. Wir Kinder mußten uns wie Rekruten verhalten. Er trug immer eine

Haselnußrute bei sich, die er ohne Zögern einsetzte, wenn wir nicht so spurten, wie

er sich das vorstellte. Einmal jedoch konnten wir uns ein wenig rächen, wobei ich der

Auslöser war. Ich hatte schon immer ein „bewegtes Innenleben". Mein Magen

knurrte bei jeder Gelegenheit, wie es schien aus lauter Lebensfreude und nicht nur,

wenn ich Hunger hatte. Mit der Zeit lernte ich, durch rhythmische Bewegungen der

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Bauchmuskeln mein Magenknurren so zu kultivieren, daß ich laute und leise Töne

erzeugen und diese in einem bestimmten Takt erklingen lassen konnte. Während

einer Unterrichtsstunde, gerade als der Pfarrer uns anhand von Bibelstellen unser

sündhaftes Leben klarzumachen versuchte, meldete sich mein Magen. „Oha",

dachte ich, „das ist die Gelegenheit." Da ich hinter einem Pfeiler saß, konnte der

Pfarrer mich nicht beobachten, und da ich immer ein etwas unauffälliges Mädchen

war, traute mir niemand irgendeine Schlechtigkeit zu. Ich begann also mit meinem

Konzert. Die Kinder um mich herum, die soetwas Urkomisches noch nie gehört

hatten, brachen in ein unbeherrschtes Lachen aus, daß auch die übrigen Kinder, die

gar nicht wußten, worum es ging, schallend zu lachen anfingen. Und das in der

Kirche! Der Pfarrer war im ersten Moment perplex, dann fing er an zu toben. Er

brüllte uns an, schlug mit der Rute gegen die Bänke, so daß jeder seine Hände und

den Kopf einzog. Er konnte aber nicht die Ursache unserer Heiterkeit herausfinden,

und so beendete er den Unterricht, nicht ohne uns eine ordentliche Strafarbeit

verpaßt zu haben.

Draußen vor der Kirche war ich der Held des Tages. Ich war ganz stolz darauf, daß

mich niemand verraten hatte. Für das Vergnügen, diesem bösen Menschen eins

ausgewischt zu haben, nahmen wir alle die Strafarbeit gerne in Kauf. Es war sowieso

das vorletzte Mal, daß ich hierher zum Konfirmandenunterricht gekommen war.

Meine Schwester gab ihre Wohnung in Lubainen auf. Wir zogen wieder zu unseren

Eltern nach Gilgenau. Am 3. Oktober 1943 ist mein Schwager in Rußland gefallen.

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Eduard

Während des Krieges waren nicht nur die Lebensmittel rationiert, sondern auch die

Textilien. Man erhielt pro Person für bestimmte Zeitabschnitte sogenannte „Punkte".

Für jeden Meter Stoff, jedes Paar Strümpfe oder jedes Stück Wäsche wurde eine

bestimmte Anzahl dieser Punkte von der Karte abgeschnitten. War sie leer, was sehr

schnell der Fall war, konnte man weder ein Hemd noch ein Handtuch kaufen. Man

mußte warten, bis man wieder eine neue Karte bekam. In besonders dringlichen

Fällen, wenn z.B. eine Frau ein Baby erwartete oder ein Kind aus seinem

Wintermantel herausgewachsen war, gab es für Kleidung wie für Schuhe einen

Berechtigungsschein. Kein Wunder also, wenn jeder versuchte, auf anderem Wege

zu Jacken, Kleidern, Schuhen zu kommen.

Oftmals half eine Tante aus, die im Laufe der Jahre etwas fülliger geworden war, ihre

schönen Kleider aus schlankeren Zeiten aber aufbewahrte und sehr pflegte. Eine

Altkleidersammlung gab es früher nicht. Ab und an erschien ein Lumpensammler auf

dem Hof, aber was er erhielt, waren echte Lumpen, d.h. nicht mehr brauchbare,

völlig zerrissene alte Kleidung, Flicken, Schneiderreste. Gute Kleidung aus teuren

Stoffen wurde jahrzehntelang geschont. Tante Minna besaß einige solcher Kleider

aus wunderbaren Stoffen, die sie mir nach und nach schenkte, als ich zum Backfisch

heranwuchs. Lisette nähte sie für mich um, und ich erntete die Bewunderung und

den Neid der anderen Mädels im Dorf. Sommerschuhe machten wir uns selbst.

Lambert, unser französischer Kriegsgefangener, schnitzte aus passendem Holz die

Sohlen - sogar mit Fußbett. Wir fertigten das Oberteil, das dann an die Sohlen

genagelt wurde.

Was uns fehlte, war Wolle. Also beschlossen wir, es anderen nachzumachen und

uns ein Schaf zu besorgen. Aus Schafwolle strickte man nicht nur Strümpfe,

Handschuhe und Schals, sondern auch schicke Pullover und Jacken. Da weibliche

Schafe bekanntlich sanft und umgänglich sind, männliche dagegen recht

kampfeslustig, waren weibliche Lämmer schwer zu finden. Wir Mädels drängten

aber, und so blieb Lambert nichts anderes übrig - Vater war inzwischen Soldat - als

ein männliches Lamm zu kaufen. Wir nannten es Eduard. Er wuchs schnell heran

und war bald in jugendlichem Alter. Ihm wuchsen die Hörner, und er wurde

übermütig. Sein Sommerdomizil war ein Weidegarten neben dem Hof. Eduard war

ein kluges Tier. - Den Begriff „dummes Schaf" können nur Menschen verwenden, die

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mit niemanden als mit ihresgleichen Umgang haben, aber dennoch über Dinge

reden wollen, von denen sie nichts verstehen. Ich jedenfalls machte mit Edard so

meine Erfahrungen. Wenn ich aus der Schule kam, nahm ich für gewöhnlich den

kürzesten Weg durch den Garten, seitlich am Haus vorbei, über den Hof zu dem auf

der Hofseite gelegenen Hauseingang. Eduard erwartete mich angriffslustig auf dem

Hof. Ich hatte aber nicht die geringste Lust, mich mit ihm auf einen Zweikampf

einzulassen, machte also schleunigst kehrt und lief ums Haus herum, um von der

anderen Seite hineinzugelangen. Enttäuscht rannte Eduard gegen die Pforte, durch

die ich eigentlich vom Garten aus auf den Hof hätte kommen müssen und verzog

sich dann. Am nächsten Tag war Eduard nicht zu sehen. Ich ging also, wie immer,

durch den an der rechten Seite des Hauses gelegenen Garten und betrat arglos den

Hof. Wie konnte ich denn auch mit so viel maskuliner Hinterlist rechnen? Eduard

stand versteckt hinter einem Holzstapel, um mich, wie ich den Eindruck hatte, zu

erwarten. Er verhielt sich aber, als er mich bemerkte, nicht leise genug, so daß ich,

reaktionsschnell, mit einem Supersprint um die Hausecke hoch zur Treppe und in die

Haustür flitzen konnte. Oben angelangt, wollte ich wissen, wie Eduard es schaffen

würde, die Treppe hochzukommen, und lugte neugierig aus der Tür. Was ich sah,

faszinierte mich. Eduard stand in Angriffshaltung etwa 1 ½ m vor dem von draußen

zu ebener Erde liegenden Waschküchenfenster, den Kopf gesenkt, die Hörner

vorgeschoben. Seltsamerweise schien er aber genau abzuwägen, was er tun sollte -

im Gegensatz zu seiner sonstigen Gepflogenheit, schnell zuzuboxen, wenn ihm

danach war. Er bewegte seinen Körper in einer Art Schaukelrhythmus vorwärts und

rückwärts. Endlich tat er einen Schritt vor und einen zurück, dann wieder einen vor

und drei Schritte zurück, rannte urplötzlich mit Karacho in das Fenster und war weg.

Ich lief, so schnell ich konnte, durch den Flur in die Wohnräume und schrie die

Familie zusammen. Lambert kam die Bodentreppe heruntergelaufen, Mutter und

Lisette stürzten aus den hinteren Zimmern. „Eduard ist durch das Fenster in die

Waschküche gefallen", berichtete ich aufgeregt. Mutter schlug die Hände

zusammen: „Mein Gott, und ich habe gerade Wäsche eingeweicht!" Die Wanne mit

der Wäsche zum Vorwaschen stand fast immer unter dem Fenster. Lambert ergriff

die Initiative. Leise stieg er, gefolgt von uns, die vom Flur in die Kellerräume

führende Treppe herunter. Die Tür vom Obstkeller zur Waschküche war nur

angelehnt,so daß Lambert sie vorsichtig öffnen konnte. Lisette und Mutter

versuchten, über Lamberts Schulter hinweg etwas zu erblicken, und ich konnte

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seitlich sehen, was los war. Eduard lag ziemlich verquer in der mit Wäsche gefüllten

Wanne. Er rührte sich nicht. Lambert drehte sich zu uns um und murmelte fragend:

„Bein kaputt?" In diesem Moment entdeckte uns Eduard. Er rappelte sich hoch und

war viel schneller aus der Wanne, als wir dachten. Vonwegen gebrochenes Bein! Er

war gesund und munter, aber sehr nervös. Lisettes entsetzter Ausruf: „Mein schönes

Hemd!" machte ihn vollends irre. Er schaute sich, hastig nach einem Ausgang

suchend, um, wobei er durch das an einem Horn quer überm rechten Auge

hängende Spitzenhemdchen behindert wurde. Er ruckte zwar seinen Kopf mal nach

rechts, mal nach links, aber das Hemd blieb wie angeklebt hängen. Zudem machte

ihm offenbar die aus dem Hemd ins Auge laufende Seifenlauge zu schaffen. Endlich

bemerkte er doch die zum Hof führende und nur angelehnte Ausgangstür. Er sauste

hinaus und stand mitten auf dem Hof. Durch seine Sehbehinderung und die erlittene

und noch nicht ausgestandene Aufregung wußte er nicht mehr genau, wo er war. Wir

mußten ihn also fangen. Erstens, um Lisettes Hemd zu retten, ein Spitzenhemd war

während der Kriegszeit für eine junge Frau ein seltener Besitz, zweitens, um ihn in

seinen Weidegarten zu bugsieren, damit er sich dort beruhigen konnte. Also

verteilten wir uns, nach Lamberts Anweisung, im Halbkreis um ihn und kamen

langsam auf ihn zu. Er witterte Gefahr und rannte plötzlich instinktiv in Richtung

Weidegarten los. Wir jagten hinterher. Er traf aber nicht die Pforte, sondern haute in

den Zaun. Wir stürzten uns auf ihn und retteten zuerst einmal das Hemd. Es war fast

heil geblieben. Dann wischte ihm meine Mutter das Auge aus, und Lambert schob

ihn in seinen Garten. Das Abenteuer bewirkte eine ungeahnte Veränderung bei ihm.

Er wurde lammfromm, kam nur noch selten auf den Hof und trieb, wie ich

beobachtete, philosophische Studien. Mutter behauptete zwar, er hätte sich die

Hörner abgestoßen, aber davon konnte ich nichts sehen.

_________________

Hier folgte der II. Teil des Buches, in dem meine Mutter unter dem Kapitel "Der

erfrorene Frühling" die Flucht in den Landkreis Verden (Niedersachsen) schildert. Im

III. Teil schildert sie die Ankunft in einer Gegend, die ihre neue Heimat werden soll.

Das Buch ist erschienen im Donat-Verlag Bremen und kostet 10,00 €. Siehe:

http://www.donat-verlag.de/buch-detail.php?buchid=38&katid=22

Freya Rosan Riede, 04.12.2020

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Der Regenbogen

Als ich klein war, wollte ich über den Regenbogen

gehen,

weil ich glaubte, er führe mich in die Unwirklichkeit,

dorthin, wo Träume real sind.

Als ich größer wurde, malte ich den Regenbogen auf

Papier,

um ihn in die Wirklichkeit zu holen,

und mit ihm meine Träume.

Als ich älter wurde, vergaß ich den Regenbogen,

denn ich glaubte,

meine Träume gefunden zu haben.

Als ich sah, daß meine Träume nicht meine Träume

waren,

erinnerte ich mich des Regenbogens,

aber ich suchte ihn vergebens.

Jetzt, da ich alt bin,

möchte ich wieder über den Regenbogen gehen,

um die Unwirklickeit zu suchen,

dort, wo meine Träume sind.

Annerose Rosan

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