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Auch im zweiten Teil ihrer Trilogie entführt uns Chitra Banerjee Divakaruni in die exotische, magische Welt der guten und bösen Mächte des Himalaja. Anand und Nisha sind die jüngsten Mitglieder der geheimnisvollen Bruderschaft der Heiler und Zauberer im Himalaja. Vor wenigen Tagen erst haben sie zusammen mit dem Meisterheiler Abhaydatta die heilige Muschel ins Silbertal zurückgebracht. Nun sollen sie eigentlich erst einmal mit den anderen Novizen die Grundlagen der Heil- und Zauberkunst erlernen. Als jedoch Abhaydatta in Gefahr gerät, halt Anand es im Silbertal nicht mehr aus. Zusammen mit Nisha und der Muschel reist er dem Meisterheiler nach in die Vergangenheit. Doch als er am prächtigen Hof des Nawab Nazir ankommt, ist er von Nisha und der Muschel getrennt. Anand ist ganz auf sich allein gestellt.
Citation preview
Anand und dER MAGISCHE SPIEGEL
Die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Schriftstellerin
und Dichterin Chitra Banerjee Divakaruni wurde 1957 in
Indien geboren. Sie promovierte in Berkeley über Englische
Literatur. Ihr literarisches Werk, darunter die Romane Die
Hüterin der Gewürze und Der Duft der Mangoblüten , wurde
in zwanzig Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrem Mann
und ihren beiden Söhnen in Houston.
Anand und Nisha sind die jüngsten Mitglieder der geheim-
nisvollen Bruderschaft der Heiler und Zauberer im Hima-
laja. Vor wenigen Tagen erst haben sie zusammen mit dem
Meisterheiler Abhaydatta die heilige Muschel ins Silbertal
zurückgebracht. Nun sollen sie eigentlich erst einmal mit
den anderen Novizen die Grundlagen der Heil- und Zau-
berkunst erlernen. Als jedoch Abhaydatta in Gefahr gerät,
hält Anand es im Silbertal nicht mehr aus. Zusammen mit
Nisha und der Muschel reist er dem Meisterheiler nach in
die Vergangenheit. Doch als er am prächtigen Hof des Na-
wab Nazir ankommt, ist er von Nisha und der Muschel ge-
trennt. Anand ist ganz auf sich allein gestellt. Und die Zeit
drängt, die bösen Mächte sind ihm in die Vergangenheit ge-
folgt und bereiten sich darauf vor, den Lauf der Geschichte
zu ändern …
Chitra Banerjee Divakaruni
ANAND UND
DER MAGISCHE
SPIEGEL
Deutsch von Christiane Schott- Hagedorn
BLOOMS BURY
Kinderbücher & Jugendbücher
Februar 2010
Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel The Mirror of Fire
and Dreaming bei Roaring Book Press, Brookfield Connecticut | © 2005
Chitra Banerjee Divakaruni | Für die deutsche Ausgabe | © 2005 Berlin
Verlag GmbH, Berlin | Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher |
Alle Rechte vorbehalten | Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Ham-
burg | Gesetzt aus der Stempel Garamond und der ExoceT durch Offizin
Götz Gorissen, Berlin | Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
| Printed in Germany | isbn 978- 3- 8270- 5402- 9 | www. berlinverlage. de
InhalT
11 Anand in Nöten – 7
12 Im Saal der Visionen – 26
13 Der Ratsbeschluss – 38
14 Die Vision am Wasserfall – 48
15 Das Dorf – 63
16 Anand und der Fremde – 78
17 Das blaue Feuer – 95
18 Das Tor in die Zeit – 108
19 Im Palast des Nawab – 119
10 Im Darbar – 132
11 Abstecher zum See – 148
12 Überraschende Abendgesellschaft – 161
13 Haider Alis Plan – 175
14 Bei den Elefanten – 188
15 Schatzsuche – 201
16 Der Blick in den Spiegel – 218
17 Zauberkünste – 246
18 Der Vorschlag des Nawab – 271
19 Das Holika- Feuer – 286
20 Die Rückkehr – 306
Glossar – 323
1 ANAND IN NÖTEN
Es war ein wunderschöner Tag im Silbertal. Die warme Luft
duftete nach einer Blume, die Anand nicht kannte, und zau-
berte ein Gefühl von Frühling auf seine Haut. Aber ein
Blick auf die vereisten Gipfel, die das Tal umringten und
frostig in der klaren Bergluft glitzerten, genügte, um ihn da-
ran zu erinnern, dass draußen ein grausamer Winter die
Welt mit einem Leichentuch bedeckte. Er betrachtete seine
sonnenwarmen Arme und dachte: So muss Zauberei sein!
Würde die Magie jetzt wirklich zu seinem Leben gehören?
Ihm wurde ein wenig schwindlig bei dieser Vorstellung.
Als er heute in aller Frühe aufgewacht war, hatte er einen
Augenblick lang nicht gewusst, wo er sich befand. Dann
war sein Blick im fahlen Dämmerlicht, das blassrosa durchs
Fenster sickerte, auf die schlafenden Jungen gefallen, und
mit klopfendem Herzen erinnerte er sich wieder an alles. Er
war in Purav, in dem Schlafsaal am östlichen Rande des Ge-
ländes, das die Bruderschaft beherbergte. Meister Abhay-
datta hatte ihn gestern Abend hierher gebracht.
»Du wirst hier mit den anderen Novizen zusammen-
wohnen«, hatte der alte Heiler gesagt. »Den größten Teil des
Tages wirst du mit ihnen die Hausarbeiten und den Unter-
richt teilen.« Dann hatte er den zögernden Anand sanft zu
7
einer freien Schlafmatte geschoben. »Mach es dir bequem.
Morgen ist ein großer Tag für dich, da beginnt dein Studium
der Magie.«
Jetzt liefen die Schüler in ihren gelben Kitteln hinter Gi-
ridatta, dem an diesem Morgen diensthabenden Lehrer, her,
einen schmalen Pfad zwischen zwei hellgrünen Reisfeldern
entlang. Dahinter lagen Felder von dunklerem Grün. Wahr-
scheinlich Gemüse, dachte Anand. Weiter hinten konnte er
die Mango- und Guavengärten sehen. Das Grün der Bäume
war gesprenkelt mit orange- und goldfarbenen Früchten.
Und noch weiter hinten, das wusste er, obwohl er es nicht
sehen konnte, wurden Kräuter mit besonderen Eigenschaf-
ten angebaut. Dorthin – wie auch an andere Orte der Kraft –
durften Schüler nur in Begleitung eines Meisterheilers.
»Wir wollen das schöne Wetter nutzen und den Unter-
richt draußen abhalten, ja?«, hatte Giridatta gesagt, als er,
den Stab in der Hand, vor ihnen hergeschritten war, wobei
sein rasierter Schädel in der Sonne glänzte und die weißen
Gewänder energisch raschelten. Der Vorschlag hatte Anand
überrascht. Seit er vor einer Woche im Silbertal eingetroffen
war, war das Wetter stets schön und mild gewesen, und er
hatte angenommen, die Wettermeister würden es immer so
einrichten.
Die Schüler lachten und scherzten, während sie sich be-
eilten, mit Giridatta Schritt zu halten. Ihren Bemerkungen
entnahm Anand, dass er ihr Lieblingslehrer war, jünger und
weniger streng als mancher der anderen Heiler. Er hatte
nichts dagegen, wenn sie vor dem Unterricht ein bisschen
herumalberten. Anand hörte ihrem Geschwätz aufmerk-
sam zu. Es faszinierte ihn, worüber sie sich unterhielten:
der Zauberspruch, den sie gestern in Mohandattas Stunde
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gelernt hatten und mit dem man den Körper schwerelos ma-
chen konnte, oder die Abschiedszeremonie für einen älteren
Schüler, der nach Tibet ging, um dort bei einer anderen Hei-
lergemeinschaft zu leben, die sich auf die Rückführung in
frühere Leben spezialisiert hatte.
Er sehnte sich nach dem Gefühl, zu ihnen zu gehören,
aber er war zu schüchtern, um sich einfach in ihre Unterhal-
tung einzumischen. Und obwohl sie nicht unfreundlich zu
ihm waren und jede seiner Fragen beantworteten, sprachen
sie ihn doch kaum von sich aus an. Vielleicht, dachte Anand,
trauten sie sich nicht, weil er der Hüter der Muschel war,
des mächtigsten magischen Instruments im Silbertal, von
dem die Heiler ihre Kräfte bezogen. Er konnte es ihnen
nicht verdenken. Ihm wurde ja selber fast schwindlig vor
ehrfürchtigem Staunen, wenn er daran dachte – und an die
Abenteuer, die ihn an diesen Ort verschlagen hatten, der so
anders war als das schäbige Loch in den Slums von Kolkata,
in dem er einst gehaust hatte, dass es ihm inzwischen so vor-
kam, als könne unmöglich beides derselben Welt angehören.
Diese Abenteuer schienen viel zu verrückt, um wahr zu
sein. Wie er dem Heiler Abhaydatta geholfen hatte, die ge-
stohlene Muschel an ihren rechtmäßigen Ort zurückzu-
bringen, wie sich Nisha, die kleine Straßenkehrerin, ihrer
Expedition angeschlossen hatte und sie von dem wütenden
Zauberer Surabhanu verfolgt wurden, der all seine schwar-
zen Künste aufbot, um die Muschel zurückzuerlangen. Wie
Abhaydatta in einer Höhle in den Bergen plötzlich ver-
schwunden war und Anand mit der Verantwortung für die
Muschel allein gelassen hatte. Manchmal träumte er nachts
noch immer von den Herausforderungen, die er und Nisha
auf dem Weg ins Silbertal zu bestehen hatten – die bittere
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Eiseskälte; die kreischenden Affen, Surabhanus Häscher,
die sie gefangen nahmen; der Wächter im Fluss, der sie fast
ertränkt hätte; die Gerölllawine, die Nisha auf einem engen
Bergpass das Bein gebrochen hatte; die riesige rote Schlange
mit ihrer verführerisch zischelnden Stimme. Dann wachte
er in Angstschweiß gebadet auf, und sein Bein zuckte, als
würde es gerade von einem Fangarm umschlungen. Selbst
hier, im warmen Sonnenschein, lief es ihm noch kalt den
Rücken hinunter, wenn er daran dachte.
Aber das ist jetzt alles vorbei, sagte er energisch zu sich
selbst, klemmte sich das widerspenstige schwarze Haar hin-
ter die Ohren und strich den gelben Stoff glatt, wobei seine
Finger einen Moment lang auf der kleinen gestickten Mu-
schel verweilten, die ihn als ihren Hüter auswies. Die Mu-
schel ist wieder da, wo sie hingehört, Abhaydatta auch, und
Nisha und ich sind in die Gemeinschaft der Heiler aufge-
nommen worden.
Ein Strom freudiger Erregung durchfuhr ihn bei diesem
Gedanken. Sein Leben lang hatte er an Magie geglaubt und
gespürt, dass ihre verlockende Gegenwart zum Greifen nah
war. Doch er hatte seine Überzeugung tief in seinem Her-
zen verborgen halten müssen, denn niemand, den er kannte
– nicht einmal seine über alles geliebte Mutter, die er so sehr
vermisste –, hätte es verstanden. Nun aber war er bei jedem
Schritt von Magie umgeben!
»Anand!«, hörte er Giridatta rufen. »Wir warten auf
dich.«
Er schrak auf und merkte, dass die anderen bereits
im Schatten eines mit flammendroten Blüten übersäten
Krishna- chura- Baumes im Kreis um den Heiler herum sa-
ßen. Zwei der Jungen starrten kichernd zu ihm herüber.
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Anand setzte sich schnell mit rotem Kopf und wünschte
sich, er wäre unsichtbar. Aber sobald Giridatta mit dem
Unterricht begann, vergaß er alles und lauschte nur noch
fasziniert.
»Heute wollen wir etwas über den Schmerz lernen«, hob
der Lehrer an. »Als Heiler sehen wir unsere Aufgabe darin,
möglichst jeden, der zu uns kommt, von seinen Schmerzen
zu befreien. Aber das meine ich nicht. Diese Kunst werden
euch andere beibringen.
Ich meine euren eigenen Schmerz und wie ihr damit um-
gehen sollt. Er ist etwas, das eure Feinde benutzen können,
um euch ihrem Willen zu unterwerfen oder euch zu falschen
Entscheidungen zu zwingen. Wenn wir uns vom Schmerz
überwältigen lassen, erlischt die geistige Klarheit und wir
verlieren selbst die einfachsten magischen Fähigkeiten. Des-
halb muss man als Heiler lernen, körperlichen und seeli-
schen Schmerz zu ertragen. Wir fangen heute mit dem kör-
perlichen Schmerz an, denn das ist weniger kompliziert.«
Giridatta forderte die Jungen auf, die rechte Hand aus-
zustrecken. »Ihr wisst alle, dass dabei die Willenskraft sehr
wichtig ist. Aber mit Willenskraft allein kommt ihr nicht
sehr weit. Deshalb lernt ihr heute eine andere Technik.« Er
hob die Hand, und Anand verspürte kurz ein Brennen, als
hätte er die Handfläche über eine Flamme gehalten.
»Habt ihr das gemerkt?«, fragte Giridatta. »Ich mache
das jetzt noch einmal, und dann möchte ich, dass ihr in den
Schmerz hineingeht und ihn euch anseht. Das ist nämlich
der erste Schritt, um ihn zu besiegen.«
Das Brennen in Anands Hand kehrte zurück. Er schnapp-
te nach Luft und sah sich nach seinen Mitschülern um.
Einige kniffen die Augen fest zu. Andere schauten zu Bo-
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den und bissen sich auf die Lippe. Er wusste nicht, was der
Heiler mit in den Schmerz hineingehen und ihn sich ansehen
meinte. Zwar spürte er das Pochen in seinem Arm, aber er
sah lediglich, was um ihn herum war.
Plötzlich rief einer der Jungen aus: »Ich kann ihn sehen.
Er ist wie eine rote Welle, die über mir zusammenschlägt.«
»Bei mir ist er graublau«, keuchte ein anderer, »wie
Nebel.«
Wieder andere beschrieben ihren Schmerz als Regen aus
tausend Nadeln oder loderndes Feuer.
»Gut«, nickte Giridatta. »Und jetzt muss jeder von euch
eine geistige Kraft freisetzen, die den Schmerz abwehrt.
Wenn euer Schmerz wie eine Welle ist, könnt ihr zum Bei-
spiel einen Damm bauen, der ihn aufhält, oder ein Schiff,
mit dem ihr darüber hinwegfahren könnt. Um das Feuer
zu löschen, könntet ihr einen Wasserfall oder einen Fluss
heraufbeschwören. Habt ihr das alle verstanden?«
Die Jungen nickten. Ihre Gesichter waren noch ange-
spannt, aber Anand konnte sehen, dass ihre Aufmerksam-
keit nach innen gerichtet war und sie das von ihrem Schmerz
ablenkte. Wie machten sie das bloß? Sosehr er sich auch be-
mühte, es gelang ihm nicht, seinen Schmerz zu visualisieren,
geschweige denn, davon abzurücken. Sein Arm brannte von
oben bis unten, und es wurde immer schlimmer, bis er es
nicht mehr aushielt. Seine Haut fühlte sich an wie eine ein-
zige Brandblase. Er stöhnte auf.
»Anand, bündle deine Aufmerksamkeit in dir!«, rief
Giridatta. Er runzelte die Stirn, und Anand wusste nicht,
ob er erstaunt oder verärgert war. »Versuch mal, in dich
hineinzukriechen, in den großen Raum deines Herzens. Da
findest du deinen Schmerz.« Aber der Schmerz fuhr ihm so
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heftig in die Glieder, dass er sich krümmte. Er konnte sich
auf nichts anderes konzentrieren.
Giridatta wedelte mit der Hand, und der Schmerz ver-
schwand. Anand ließ den Kopf hängen, er schämte sich,
gleich bei der ersten Aufgabe versagt zu haben. Aber Giri-
datta sagte nur geduldig: »Du darfst dich nicht auf den
Schmerz konzentrieren, das gibt ihm zusätzliche Kraft.
Mach dir keine Vorwürfe, weil es nicht gleich geklappt hat.
Man braucht Übung, um zu sehen, was für das Auge un-
sichtbar ist. Die anderen arbeiten schon seit Wochen daran,
und für dich ist es heute der erste Tag.«
Anand hielt den Atem an, in der Hoffnung, dass Giri-
datta noch mehr sagen würde, vielleicht so etwas wie keine
Sorge, du lernst es ganz bestimmt auch. Aber der Meister
ging jetzt zu einem anderen Jungen und befragte ihn über
seine Technik.
~
Als Anand im Speisesaal Schlange stand, kam Nisha auf ihn
zugerannt, ihr Gesicht glühte vor Begeisterung. Mit dem
kurzen Haar und dem gelben Kittel sah sie eigentlich wie
die anderen Novizen aus, obwohl sie im Unterschied zu ih-
nen das einzige Mädchen war, das man jemals in die Bru-
derschaft aufgenommen hatte.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für einen herr-
lichen Vormittag ich hatte!«, schmetterte sie ihm entgegen.
»Wir waren mit Meister Ayurdatta, dem Botaniker, unter-
wegs. Er hat uns den geheimen Garten gezeigt – es ist wun-
derschön dort. Ich weiß nicht mal genau, wo er liegt. Wir
mussten uns die Augen verbinden. Dann haben wir uns alle
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hintereinander aufgestellt und bei den Händen gefasst, und
Ayurdatta hat den Ersten bei der Hand genommen und ihn
einen versteckten Pfad entlanggeführt. Nach einer Weile hat
er gesagt, wir könnten die Augenbinden abnehmen – und da
standen wir in dem wunderschönen Garten! Es war auf
einer Waldlichtung. Ringsherum standen so dicke Bäume,
dass wir nicht einmal mehr den Pfad sehen konnten, auf
dem wir gekommen waren. Du kannst dir nicht vorstellen,
wie viele verschiedene Pflanzen dort wachsen und was man
alles damit anfangen kann! Vom Heilen körperlicher Krank-
heiten und kranker Seelen bis zum Schutz gegen böse Geis-
ter. Heute hat uns Ayurdatta die zehn Kräuter beschrieben,
aus denen man Dashmultee macht, ein gebräuchliches Ener-
giemittel. Dann wollte er, dass wir im Garten danach su-
chen. Ich war die Einzige, die alle Wurzeln erkannt hat!
Meister Ayurdatta sagt, ich wäre die geborene Kräuterhexe,
vielleicht soll ich in eine fortgeschrittene Gruppe versetzt
werden!« Sie vollführte einen kleinen Luftsprung, dann bat
sie den Essensausteiler, ihr von allem eine doppelte Portion
zu geben. »Ich bin halb verhungert«, fügte sie hinzu. »Du
etwa nicht? Riecht das nicht köstlich?«
Die Speisen rochen wirklich verlockend, und es gab eine
große Auswahl. Duftenden, dampfenden Reis, weiche Wei-
zen- Chapatis frisch vom Blech, noch aufgeplustert, dicken
Linseneintopf in Edelsteinfarben, in würziger Yoghurt-
sauce gegarte Auberginen, winzige, knusprig gebackene
Kartoffeln und scharfe smaragdgrüne Chutneys mit Minze
und Koriander. Außerdem gab es einen ganzen Tisch voller
Desserts, von milchweißem Sandesh über blassgrüne Burfis
aus Pistazien bis zu orangefarbenen Jilebis, aus denen der
Saft spritzte, wenn man hineinbiss.
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Im Speisesaal saßen sie auf gewebten Matten und stellten
ihre Teller auf langen, niedrigen Holztischen ab. Eine Glo-
cke läutete zum stillen Dankgebet, dann begann die Mahl-
zeit. Bald war der Saal erfüllt von Unterhaltungen und Ge-
lächter. Soweit Anand es mitbekam, hatten alle außer ihm
einen großartigen Vormittag erlebt.
»Du solltest ordentlich zulangen«, sagte Nisha unter
sorgfältigem Kauen. »Ich habe gehört, dass es nicht immer
so lecker ist. Ein Heiler muss mit jeder Situation gleich gut
fertig werden, es kann vorkommen, dass es nur Reis und
Dal gibt oder auch gar nichts, so dass wir auf den Feldern
herumstöbern und mit dem auskommen müssen, was wir
finden.«
Aber Anand schob sein Essen lustlos auf dem Teller hin
und her. Nishas Erzählung hatte ihn noch zusätzlich depri-
miert. Ihr Erfolg ließ ihn sich noch unfähiger fühlen. Er
hatte Angst, seine Einsilbigkeit könnte ihr jeden Augen-
blick auffallen und sie könnte ihn fragen, wie es ihm ergan-
gen sei. Und dann würde er zugeben müssen, dass er der
schlechteste Schüler in der ganzen Klasse gewesen war, zu
dumm, zu verstehen, was sein Lehrer meinte, wenn er sagte
geht in euch hinein.
Glücklicherweise war Nisha aber viel zu aufgekratzt, um
Anands schlechte Laune zu bemerken. Sie plapperte bereits
weiter über ihren Schlafplatz. Sie wohnte in einem kleinen
Haus am Rande des Geländes bei einer weisen Frau, die
man extra aus dem Dorf heraufgeholt hatte. »Ich habe ein
Zimmer mit einem Westfenster, von dem aus man den drei-
zackigen Berg sehen kann! Es riecht dort ganz herrlich –
Mutter Amita hat eine Schale mit Sandelholzpulver neben
meine Schlafmatte gestellt. Weißt du noch, wie ich in Kol-
15
kata immer in dem winzigen Hohlraum unter dem Straßen-
stand geschlafen habe? Ich kann’s noch gar nicht glauben,
dass ich jetzt ein eigenes Zimmer habe! Ist das Leben nicht
himmlisch?«
Die Glocke läutete und ersparte Anand die Suche nach
einer passenden Antwort. Nisha rannte wieder zu ihrer
Gruppe, und er trottete hinter seinen Mitschülern her zu
den Gemüsebeeten, wo sie den Nachmittag mit Unkraut
jäten und gießen verbrachten. Es war schwere Arbeit, aber
Anand fand es tröstlich, dass er wenigstens hier etwas leis-
ten konnte. Als der Nachmittag herum war, schmerzten
seine Muskeln vom Wasserholen aus dem Brunnen, aber er
war ruhiger und bereit für die Begegnung mit dem nächsten
Lehrer.
Es war Vayudatta, der Meister der Windwächter. Ein
kleiner Mann von enormem Körperumfang und mit einem
weißen Bart, der ihm bis zur Taille fiel. Er wartete am Fuß
des Turmes, in dem, wie er ihnen erklärte, die Wächter
einen großen Teil des Tages – und auch der Nacht – ver-
brachten, auf seine Schüler und wies sie an, zur dritten
Ebene hinaufzusteigen.
»Du bist der Neue, nicht wahr?«, sagte er zu Anand und
musterte ihn aufmerksam unter seinen buschigen weißen
Augenbrauen hervor. Der Junge dachte, er würde ihn etwas
fragen, aber dann sagte Vayudatta nur: »Nimm dich in Acht,
hier oben ist es immer sehr windig.«
Der Turm war ein wundersames Gebilde von unregelmä-
ßiger zylindrischer Form, das aussah wie aus poliertem
Holz gemacht, aber als Anand näher kam, merkte er, dass es
in Wirklichkeit ein riesiger Baum mit einem glatten glän-
zenden Stamm war. Er musste sehr alt sein, denn der Stamm
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war ungeheuer dick. Dreißig Jungen, die sich bei den Hän-
den hielten, würden ihn nicht umspannen können. Eine
extra angefertigte Treppe wand sich außen um den Baum
herum, der Anand bis zum Himmel hinaufzureichen schien.
Die Treppe sah ziemlich wacklig aus und hatte nur ein
schmales Geländer, an das sich Anand beim Aufstieg ängst-
lich klammerte. Bei jedem Schritt heulte der Wind um ihn
her und zerrte an seinen Kleidern. Der Baumturm hatte
diverse Plattformen aus miteinander verwobenen Ästen
und Ranken. Jede befand sich auf einer anderen Höhe und
zeigte in eine andere Himmelsrichtung. Auf jeder saß ein
Heiler mit überkreuzten Beinen und einem dicken Buch auf
dem Schoß, in das er von Zeit zu Zeit etwas notierte.
»Er schreibt auf, was ihm die Winde erzählen«, erklärte
Vayudatta, als sie an einer der Plattformen vorbeikamen.
»Es gibt viele Winde, und sie kommen aus ganz unterschied-
lichen Richtungen und bringen uns Kunde von der Welt.
Später vergleichen die Heiler von den verschiedenen Platt-
formen ihre Aufzeichnungen und überprüfen sie auf Wider-
sprüche – denn die Winde sind häufig launisch und boshaft,
und man kann sie leicht missverstehen. Dann bringen sie
alles vor den Rat, so dass wir erfahren, was draußen vor sich
geht und was wir gegebenenfalls dagegen unternehmen
müssen.«
Er führte die Schüler auf die dritte Plattform hinaus, die
sie jetzt erreicht hatten. Der junge Mann, der dort saß und
in sein Notizbuch aus Palmblättern schrieb, erhob sich.
Vayudatta klopfte ihm auf die Schulter. »Na, Raj- bhanu, im-
mer noch hier? War deine Schicht nicht schon vor einer
Stunde zu Ende?«
»Jawohl, Meister Vayudatta«, sagte der Angesprochene
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und verneigte sich ehrerbietig. »Die Winde sind gerade so
faszinierend und erzählen mir so viel über ferne Länder.
Manchmal kann ich mich einfach nicht davon losreißen.«
Vayudatta lächelte nachsichtig. Es war offensichtlich,
dass auch er die Winde liebte und sich hier oben wohl fühlte,
während seine Gewänder um ihn herumflatterten wie große
Vogelschwingen. »Sieht fast so aus, als würdest du bald in
den Rang eines Windwächtermeisters aufsteigen, Raj- bha-
nu!«, sagte er zu dem jungen Mann, der erfreut lächelte.
»Das wäre großartig! Wir sind zu wenig.« Den Jungen er-
klärte er: »Den meisten Novizen ist unsere Arbeit zu an-
strengend. Man muss stets aufmerksam sein, selbst wenn es
manchmal Wochen dauert, bis die Winde einem etwas Wich-
tiges mitteilen. Kommt, setzt euch, damit wir anfangen kön-
nen.«
Die anderen gingen mit sicherem Schritt über die Platt-
form, doch Anand trat nur zögernd auf das federnde Ge-
flecht. Er hatte Angst, seine Füße könnten durch das lo-
ckere Gewirk hindurchrutschen. Die Folge war, dass er nur
noch einen Platz ganz am Rand bekam. Hier gab es kein Ge-
länder, nichts, wonach er greifen konnte, falls er das Gleich-
gewicht verlor und hinabzufallen drohte. Er riskierte einen
Blick nach unten. Es sah furchtbar tief aus. Vorsichtig ließ er
sich nieder und streckte ängstlich die Hand nach einer der
Ranken aus, die sich durch den Boden zogen. Zu seinem
Entsetzen schlüpfte sie daraufhin unter seiner Hand hin-
durch – wie eine Schlange, dachte er –, und ein grüner Aus-
läufer schoss empor und wand sich um sein Handgelenk.
Unwillkürlich stieß er einen Schreckensschrei aus, so dass
sich der Junge neben ihm umdrehte und ihn anstarrte.
Vayudatta lächelte. »Keine Angst, Anand. Der Wach-
18
turmbaum spürt nur, dass du dich fürchtest, und will dich
beruhigen. Er lässt dich nicht fallen.«
Aber die Vorstellung eines lebendigen Baumes, der den-
ken und nach ihm greifen konnte, wirkte auf Anand alles
andere als beruhigend. Sobald er konnte, zog er heimlich
die Hand aus der Umklammerung und hatte anschließend
ein schlechtes Gewissen.
»Es gibt acht Hauptwinde und achtundachtzig Neben-
winde«, erklärte ihm Vayudatta. »Bei mir lernst du ihre Na-
men und Wesensmerkmale und wie man sich als Heiler ihre
Kräfte zunutze machen kann. Wenn du auf diesem Gebiet
besondere Fähigkeiten hast, wie Raj- bhanu, der einer unse-
rer älteren Novizen ist, dann kannst du fleißig üben und ein
Windwächter werden. Zusätzlich zur Aufnahme von Mittei-
lungen können Windwächtermeister Windstärke und Wind-
richtung beeinflussen und die Winde dazu benutzen, Nach-
richten zu senden. Sie tun auch noch andere Dinge, über die
ich aber nicht mit euch reden kann, weil sie geheim sind. Je-
der Meister entwickelt eine Beziehung zu einem bestimm-
ten Wind, der ihn mit Nachrichten und Anleitungen ver-
sorgt. Manchmal verhilft der Wind einem Heiler dazu,
Dinge zu sehen, die sich in weiter Ferne zutragen. Aber das
erfordert jahrelange Übung – und auch ein bisschen Glück.
Heute wollen wir einfach nur üben, den Winden zu lau-
schen. Und auch, sie zu sehen.« Er wandte sich zu den an-
deren Schülern um. »Wer erinnert sich noch, was ich letztes
Mal darüber gesagt habe?«
Einer der Jungen hob die Hand. »Jeder Wind hat eine
Farbe, an der wir sein Wesen ablesen können und wie weit
man ihm trauen kann. Ein Wind mit einer warmen Farbe,
zum Beispiel Rot oder Gelb, ist geradeheraus und wird uns
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eindeutige Mitteilungen machen. Ein grüner oder dunkel-
blauer Wind wird immer in Rätseln sprechen, deren Bedeu-
tung wir erst entschlüsseln müssen.«
Vayudatta nickte. »Wer kann die Beschwörungsformel
aufsagen, mit der man die Winde anruft?«
Ein anderer Junge stand auf. Mit hoher Singsangstimme
rezitierte er:
Aus Ost und West, aus Nord und Süd,
Marut, Windgeist, sing dein Lied.
Von Himmel und Erde, von nah und fern
lass mich deine Botschaft hör’n.
»Ihr könnt jetzt anfangen«, sagte der Heiler.
Die Jungen verteilten sich auf verschiedene Stellen der
Rankenplattform, saßen ganz still und richteten den Blick
auf den Horizont. Ein paar von ihnen holten kleine Notiz-
bücher hervor und begannen zu schreiben. Wie zur Ant-
wort frischte der Wind um die Plattform herum auf. Auch
Anand starrte hinaus, aber das Einzige, was er sah, waren
die Vorgänge unten im Tal: Heiler, die auf Veranden ihren
Unterricht abhielten, Dienstnovizen, die hinter dem Speise-
saal an den großen Feuerstellen im Freien in Töpfen rührten,
Kühe, die auf den Weiden grasten, alles auf Spielzeuggröße
verkleinert. Es war interessant, aber er wusste, dass es nicht
das war, was man von ihm erwartete. Aber was genau er-
wartete man eigentlich von ihm? Gab ihm Vayudatta keine
Anweisungen? Anand sank der Mut, und er fragte sich, ob
wohl jede Stunde so sein würde, mit Lehrern, die erwarte-
ten, dass er intuitiv verstehen und ohne Worte befolgen
würde, was sie sagten. Zum ersten Mal nagten Zweifel an
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ihm. Was, wenn ich nun die Gaben der anderen nicht habe?
Wenn ich gar nicht hierher gehöre?
Er zuckte zusammen, als er spürte, wie ihn etwas an der
Schulter berührte. Aber es war nur Raj- bhanu, der sanft die
Hand nach ihm ausstreckte. »Schau nicht auf die Dinge«,
flüsterte ihm der Ältere zu. »Entspann deinen Blick und
schau in die Luft.«
Anand versuchte, seine Anweisung zu befolgen, aber er
war nicht sicher, ob er es richtig machte. Um ihn herum ver-
kündeten einige, was sie sahen.
»Der Wind, den ich sehe, ist gelb und prachtvoll und
kommt von Süden«, sagte einer. »Vielleicht ist es der Moloy
– ich weiß nicht genau. Er sagt, dass der Frühling Einzug
hält, dass auf dem Swarna Sarovar die Lotosblüten blühen
und dass eine Herde Yaks aus dem Tal heraufkommt, wo sie
an den Berghängen überwintert haben.«
»Ich sehe einen grünen Wind, einen untergeordneten,
seinen Namen weiß ich nicht«, erzählte ein anderer. »Er hat
mir zugeflüstert, in einem Dorf im Südwesten habe es ge-
brannt, bevor er davongeflitzt ist, aber ich glaube, das
stimmt nicht ganz.« Er sah Vayudatta fragend an.
Der lächelte. »Du hast Recht. Das war einer der boshaf-
ten Gandharva-Winde. Was er eigentlich sagen wollte, ist,
dass heute in einem Dorf im Südwesten Markt ist. Ich
glaube, er meint Motipur. Um diese Zeit halten sie dort oft
Markt ab.«
Jetzt schilderten noch weitere Schüler ihre Wahrnehmun-
gen. Anand versuchte, ihre Stimmen auszublenden. In die
Luft schauen, in die Luft schauen, sagte er immer wieder
vor sich hin. Aber er wusste nicht, wie er es anstellen sollte.
Er sah nur den blauen Himmel mit Schäfchenwolken und
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ein paar Falken, die durch die Lüfte segelten. Verzweifelt
schloss er die Augen. Gleich würde ihn Vayudatta fragen,
und er würde vor der ganzen Klasse eingestehen müssen,
dass er schon wieder versagt hatte.
Dann sah er etwas vor seinen geschlossenen Augen-
lidern. Zuerst schien es grau zu sein, aber als es näher kam,
merkte er, dass es schwarz war. Wie ein Tornado kam es von
Südosten auf ihn zugewirbelt, und dann wisperte es immer
wieder zwei Wörter. Es hing jetzt riesengroß über dem
Wachturmbaum und würde ihn jeden Augenblick mit sei-
nem schwarzen Maul aufsaugen.
Anand schnappte nach Luft und zwang sich mit einem
Ruck, die Augen zu öffnen. Er lag am äußersten Rand der
Plattform flach auf dem Rücken, und alle starrten ihn an.
Vorsichtig warf er einen Blick gen Himmel. Er war von kla-
rem, freundlichem Blau.
»Was ist passiert?«, fragte er Vayudatta, der ihm aufhalf.
»Das wollte ich dich auch gerade fragen«, gab der Heiler
zurück. Er sah besorgt aus. »Du hast auf einmal gestöhnt
und bist umgekippt. Du wolltest immer wieder etwas sagen,
aber keiner von uns konnte dich verstehen.«
Jetzt fielen Anand die Wörter wieder ein. Das Böse regt
sich. Das hatte der schwarze Wind gesagt. Aber das konnte
ja nicht sein. Bestimmt hatte er sich verhört.
»Hast du etwas gesehen?«, fragte Vayudatta.
»Ja, einen Wind, aber erst, nachdem ich die Augen zuge-
macht hatte. Er war schwarz –«
Er sah, wie der Heiler mit dem älteren Novizen einen
kurzen Blick tauschte.
»Ein schwarzer Wind? Bist du sicher?«, fragte Vayudatta
scharf. »Hat er etwas gesagt?«
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Anand zögerte. Um ihn her hatte sich der Wind gelegt,
und die Sonne stand tief am Himmel und tauchte die Land-
schaft in ihr warmes Licht. In dieser friedlichen Kulisse er-
schienen ihm die Wörter, die er gehört hatte, noch unwahr-
scheinlicher, seine ungeübten Ohren mussten sich getäuscht
haben. Aber schließlich, weil alle darauf warteten, mur-
melte er sie doch.
»Das Böse regt sich?« Vayudattas buschige Augenbrauen
zogen sich so zusammen, dass er unerwartet grimmig aus-
sah. »Eine solche Nachricht habe ich seit Jahrzehnten nicht
mehr gehört, nicht seit –« Kopfschüttelnd brach er ab.
»Wir wissen alle, wie leicht man sich in diesen Dingen
verhören kann«, warf Raj- bhanu rasch ein. »Vielleicht hat
der Wind etwas ganz anderes gesagt. Ich weiß noch, dass
mir so etwas auch passiert ist, als ich anfing –«
»Vielleicht kam der Wind gerade von den Gletschern und
gab nur seinen Eindruck wieder«, spekulierte ein Schüler.
»Vielleicht hat er gesagt: Öde Gegend.«
»Vielleicht hieß es ja auch Schöne Bescherung«, witzelte
ein anderer.
»Nein, nein«, meinte ein Dritter. »Ich weiß, was er ge-
sagt hat! Er kam bestimmt aus Motipur, wo gerade Markt
war. Da hat er gesehen, wie sich die Leute mit ihren Maul-
tieren herumplagten. Ihr wisst ja, wie störrisch Maultiere
sein können. Sicher hat er gesagt: Blöde Esel!«
Alles lachte. Anand wollte mitlachen, aber es gelang ihm
nur ein klägliches Lächeln. Er hatte sich wieder einmal zum
Narren gemacht.
»Genug für heute«, sagte Vayudatta. »Ihr müsst in den
Kristallsaal zur Abendandacht!« Aber als Anand hinter den
anderen die Leiter hinabstieg, blickte er sich um und sah,
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dass der Heiler tief in ein Gespräch mit Raj- bhanu versun-
ken war. Ihre Gesichter waren ernst im fahlen Abendlicht.
~
Der Kristallsaal war schon fast voll, als Anands Gruppe
dort ankam, und so musste er ganz hinten sitzen. An einem
anderen Tag hätte ihn das geärgert, denn er betrachtete so
gern die Muschel, die genau in der Mitte des Saales in ihrem
Schrein schimmerte. Aber nach all den Reinfällen des heuti-
gen Tages wollte er ihr lieber aus dem Weg gehen. Sie hatte
nämlich die Fähigkeit, Anand in die Seele zu schauen, und
er wollte ihr seine Selbstzweifel und Niederlagen nicht
offenbaren. Was, wenn sie zu dem Schluss gelangte, dass
Anands Ängste berechtigt waren, dass er keine magischen
Fähigkeiten besaß und also nicht ins Silbertal gehörte?
Würde sie ihn als Schwindler entlarven und dafür sorgen,
dass sie ihn fortschickten? Bei der Vorstellung krampfte sich
Anand das Herz zusammen. Er duckte sich tiefer auf seine
Matte. Vielleicht dachte die Muschel ja gar nicht an ihn, so-
lange sie ihn nicht sehen konnte.
Beim Abendessen sah er, wie ihm Nisha aufgeregt von
einem anderen Tisch aus zuwinkte, aber er tat so, als habe er
sie nicht bemerkt. Er hätte es nicht ertragen können, sich
ihre Erfolgsgeschichten anzuhören oder ihr gar von seiner
eigenen Blamage zu erzählen. Stattdessen saß er an der Ecke
eines Tisches mit älteren Mitschülern, die sich angeregt
unterhielten und keine Notiz von ihm nahmen. Sobald er
konnte, brach er auf zu seinem Schlafsaal, wo er sich die
Decke über den Kopf zog. Morgen wird alles besser, sagte
er sich so überzeugend, wie es nur ging. Morgen würde
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Abhaydatta im Saal der Visionen Unterricht geben. Abhay-
datta, den Anand kannte und liebte und dem er geholfen
hatte. Er würde ihm sicher alles so gut erklären, dass er ler-
nen konnte, was er brauchte, um im Silbertal zu bleiben.
Schlaf jetzt, redete er sich gut zu. Du musst ausgeruht sein,
damit du morgen einen guten Eindruck machst. Aber er
wälzte sich noch lange von einer Seite auf die andere, und als
er endlich doch einschlief, wimmelte es in seinen Träumen
von boshaften, wirres Zeug flüsternden Winden.
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