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Chronifizierende Faktoren bei Patienten mit Schmerzen durch einen lumbalen Bandscheibenvorfall

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Page 1: Chronifizierende Faktoren bei Patienten mit Schmerzen durch einen lumbalen Bandscheibenvorfall

ORIGINALI N DerSchmerz Konzepte, Klinik und Forschung ~1

Chronifizierende Faktoren bei Patienten mit Schmerzen durch einen lumbalen Bandscheibenvorfall M. Hasenbring x, G. Marienfeld x, S. Ahrens z und D. Soyka 3 1 Abteilung Medizinische Psychologie, Zentrum Nervenheilkunde, Universit/it Kiel 2 Abteilung Psychosomatik und Psychotherapie, Universitfit Hamburg 3 Neurologische Universit~itsklinik Kiel

Chronic pain factor in patients with lumbar disc herniation

Abstract. Using a biopsychosocial model of chronic radi- cular pain, we conducted a prospective study on the predictability of the therapy outcome in 41 lumbar disc patients from the Department of Neurology, University of Kiel. Before therapy, all patients had an extensive neurological and psychological examination. The criteria for the therapy outcome were persistent pain and the duration of hospital stay in days. As for the psychological predictors, we examined the amount of depression as a state variable (Beck Depression Inventory BDI), de- pression as a trait variable (GieBen test), several pain- coping modes (Hoppe scale) and the general health locus of control. As.somatic predictors, we assessed the dura- tion of pain before treatment, the number of previous operations, motoric paresis and the patient's age. The results indicated that the BDI was the best predictor of persistent pain and of the duration of hospital stay as well. The sensitivity and specificity were more than 90%. Patients with a BDI score >9 remained 8 days longer in the hospital than patients with lower BDI scores. In contrast to this, depression as a personality dimension allowed no correct prediction of patients with persistent pain. Thus, only the situational aspect of a depressive state is a relevant risk factor for chronicity. Overt pain behavior, avoidance behavior and fatalistic control expectations are the best predictors of persistent pain besides the BDI. Patients with persistent pain when discharged from the hospital had significantly more overt pain behavior preoperatively than patients without pain. They admitted that they changed their posture more often; they groaned, grimaced, or rubbed the pain- ful area more often. Thus, these data confirm the oper- ant conditioning theory of Fordyce within a prospective design. Furthermore, patients with strong avoidance be- havior in pain situations and with fatalistic health expec- tations remained 8 to 10 days longer in the hospital. Regarding the somatic factors, only paresis is a signifi- cant predictor of these criteria. Patients with clear pare-

sis showed more pain and a longer duration of hospital stay. In general, there was no significant correlation be- tween the organic and psychological predictors, so inde- pendent psychological screening and the prospect of psy- chological interventions are necessary measures to pre- vent persistent pain in lumbar disc patients.

Zusammenfassung. Basierend auf einem biopsychosozia- len Modell der Chronifizierung bandscheibenbedingter Lumboischialgien fiihrten wir eilae prospektive Untersu- chung zur Vorhersage des Genesungsverlaufes konserva- tiv und operativ behandelter Bandscheibenpatienten durch. 41 Patienten mit nachgewiesenem lumbalem Bandscheibenvorfall (Abteilung Neurologie der Univer- sit/it Kiel; Direktor: Prof.Dr. D. Soyka) wurden vor Behandlungsbeginn einer eingehenden neurologischen und psychologischen Diagnostik unterzogen. Kriterien des Genesungsverlaufes waren das Vorliegen persistie- render Schmerzen bei Behandlungsende sowie die Dauer des stationdren Aufenthaltes in Tagen. Das Beck-Depres- sionsinventar BDI erwies sich wie bereits in einer voran- gegangenen Untersuchung als bester Pr/idiktor persistie- render Schmerzen. Dariiber hinaus untersuchten wir erstmals die Vorhersagekraft verschiedener Schmerzbe- w/iltigungsformen und gesundheitsbezogener Kontroll- iiberzeugungen. Nichtverbales Ausdrucksverhalten (nach Fordyce) und fatalistische Kontrollerwartungen erwiesen sich neben dem BDI in einer Diskriminanzanalyse als beste Pr/idiktoren ffir das Kriterium persistierender Schmerzen. Patienten mit ausgepr/igtem Vermeidungs- verhalten bei Schmerzen, geringen internalen und hohen externalen Kontrolliiberzeugungen verblieben durch- schnittlich 8-10 Tage 1/inger im Krankenhaus als Patien- ten mit jeweils entgegengesetzten Merkmalsauspr/igun- gen. Unter den somatischen Faktoren erwies sich das Vorliegen motorischer Paresen als signifikanter Pr/idik- tor ffir beide Kriterien.

Fiinzig Jahre nach der bahnbrechenden Arbeit von Mix- ter und Barr [37], die erstmals bei einer grrBeren Patien- tenzahl eine bandscheibenbedingte Lumboischialgie ope-

Der Schmerz (1990) 4:138-150 �9 Springer-Verlag 1990

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rativ behandelten und so eine Ara fortlaufend verfei- nerter Operationstechniken einleiteten, machte Wilkin- son [60] mit dem Begriff des ,,failed back syndrome" auf das Problem chronisch persistierender und rezidivie- render Schmerzen nach einer Bandscheibenoperation aufmerksam. Die Angaben zur H/iufigkeit von Rezidiv- beschwerden schwanken zwischen 20 und 60% [59]. Der Begriff des ,,failed back syndrome" ist dabei nicht mit einer Diagnose zu verwechseln. Er soil andeuten, dab mit einer Vielzahl von schmerzverursachenden Faktoren zu rechnen ist, von denen viele schon vor einer Operation bestanden haben und die durch einen solchen Eingriff nicht oder gar ungfinstig beeinfluBt werden.

Aus der neurochirurgischen Abteilung des Johns Hop- kins Hospital in Baltimore berichtet Long [34], dab von 1 541 chronischen Schmerzpatienten 878 Personen mit der Diagnose eines ,,failed back syndrome" eingewiesen wurden. Im Rahmen einer umfangreichen interdiszipli- n/iren Diagnostik einer Teilpopulation kommt der Autor zu dem Ergebnis, dab bei 34% der Patienten die Be- schwerden auf identifizierbare organische Befunde (u.a. Narbenbildung, Rezidive, entz/indliche Prozesse) zu- rfickgefiihrt werden k6nnen. In 13% der F/ille wurden Hinweise fiir offene psychiatrische Erkrankungen gefun- den, ohne dab organische Befunde objektivierbar waren. In der gr613ten Gruppe mit 44% zeigten sich fiber test- psychologische Untersuchungen psychische Auff/illigkei- ten, die Long sehr nnspezifisch als ,,pr/imorbide PersSn- lichkeitsstSrungen" zusammenfaBt. In der neurolo- gischen und orthop/idischen Diagnostik zeigten sich un- terschiedliche Befunde, die jeweils ffir sich genommen nicht das Ausmal3 der subjektiven Beschwerden erkl/iren konnten. Die Befunde deuten vielmehr darauf hin, dab in den meisten F/illen mit komplexen Wechselwirkungen psychischer und organischer Faktoren zu rechnen ist, die jede ffir sich eine objektivierende Diagnostik und darauf aufbauende Behandlung erfordern.

Seit 1983 fiihren wir in unserer Kieler Arbeitsgruppe prospektive Untersuchungen zur Vorhersage des Gene- sungsverlaufes konservativ und operativ behandelter Bandscheibenpatienten durch 1. Die Studien erfolgen da- bei unter zwei Gesichtspunkten, einem klinisch-pragma- tischen und einem grundlagenwissenschaftlichen.

In klinisch-pragmatischer Hinsicht geht es darum, mSg- lichst frfihzeitig zu erkennen, welche Patienten von einer jeweils indizierten medizinischen Behandlung profitieren werden und welche nicht, d.h., welche Patienten mit ho- her Wahrscheinlichkeit chronische Beschwerden entwik- keln oder beibehalten werden. Hier besteht die Aufgabe, geeignete Screeninginstrumente zu entwickeln, mit deren Hilfe eine frfihzeitige Diagnostik einsetzen kann. Ange- sichts der hohen Wahrscheinlichkeit psychobiologischer und biopsychologischer Wechselwirkungen gilt es, zur Beurteilung psychologischer Einflfisse von der bisher fib- lichen reinen Ausschlugdiagnostik wegzukommen und fiir ihre Identifizierung eine eigenst/indige Diagnostik zu entwickeln.

1 Wir mSchten an dieser Stelle den Mitarbeitern der Abteilung Neurologie der Universifiit Kiel fiir ihre engagierte Unterstiitzung unserer Studie herzlich danken.

Der grundlagenwissenschaftliche Aspekt betrifft vor al- lem bisher ungelSste Probleme der psychologischen StreB- und Copingforschung, in der es um den Zusam- menhang zwischen Alltagsbelastungen, ihrer Verarbei- tung und k6rperlichen Beschwerden geht. Ein zentraler Aspekt ist bier die Frage der Adaptivit/it, d.h. die Frage, ob spezifische Bew/iltigungsstrategien, die Personen im Umgang mit Belastungen zeigen, fiir die Chronifizierung beispielsweise bandscheibenbedingter Besehwerden als gfinstig oder ungiinstig angesehen werden mfissen [4, 18]. Eine eindeutige K1/irung dieser Fragen setzt voraus, dab verschiedene Adaptationskriterien (u.a. wahrgenom- mene Schmerzintensit/it, Schmerzschwelle und -toleranz, Mage der funktionellen Beeintr/ichtigung, physiologi- sche MaBe wie u.a. Verspannung der paravertebralen Muskulatur, VerhaltensmaBe wie Mediakmentenein- nahme, Dauer der Krankschreibung oder Stellen eines Rentenantrages) getrennt untersucht werden.

Ausgangspunkt ist ein von Hasenbring in Anlehnung an Lazarus und Launier [33] entwickeltes theoretisches Modell der Chronifizierung k6rperlicher Erkrankungen, in dem zahlreiche Wechselwirkungen zwischen spezi- fischen biologischen, psychologischen und sozialen Fak- toren postuliert werden (s. Abb. I). Im folgenden solten die grundlegenden Annahmen und ihre jeweilige empiri- sche Fundierung kurz skizziert werden.

Chronifizierung unter dem EinfluJ3 stabiler und situativer Merkmale

Eine grundlegende Annahme des Modells ist, dab wir die Chronifizierung bandscheibenbedingter Beschwer- den als prozel3haftes Geschehen beschreiben, das dem EinfluB zeitstabiler und situativer, d.h. leicht ver/inder- licher Faktoren unterliegt. Sowohl die Art und Weise, wie Personen mit ihren bandscheibenbedingten Schmer- zen umgehen, als auch das AusmaB und die Verarbei- tung von Alltagsbelastungen (in Beruf, Familie etc.) stel- len wichtige situative Chronifizierungsfaktoren dar. Dies geschieht auf dem Boden zeitstabiler biologischer (u.a. konstitutionelle Bedingungen des Bindegewebes und der Muskulatur), psychologischer (PersSnlichkeitsfaktoren wie Neigung zu Depressivit/it) und sozialer (u.a. soziale Schichtzugeh6rigkeit) Faktoren.

Kognitive und emotionale Schmerzverarbeitung

Das in Abb. 1 dargestellte Modell sieht eine explizite Unterseheidung zwischen einer objektiven und einer sub- jektiven Situation vor. Die psychologischen StreB- forscher Lazarus und Launier [33] zeigten in umfangrei- then labor- und feldexperimentellen Untersuchungen, dab die psychischen und k6rperlichen Auswirkungen yon Strel3reizen nicht allein durch die objektiven Strel3- merkmale bedingt sind, sondern im wesentlichen durch die individuelle Art und Weise, wie Personen einen Stres-

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Personen- Variablen -Konstitufion: 8indegewebe, Muskulatur. -Depressivitiit, interpersonelles Vertrauen

Objektive Situation

/ o . . . . . o o - \ I Ko~tra,- \ 5chmerzen I attribution I I attribution

- ~ (u.a. bandscheiben- / ii ',

t AIItagsbelastungen

Subjektive Situation Verhaltensebene Ver•nderungenPhysi~176 I InstabiLitatBewegungssegmentim J

5amatische Ebene Schmerzen Sensibilit~ts-

i J Vermeidungsverhalten J Kognitlve Ebene [ Nichtverbales [ Katastrophieren ~[ Ausdrucksverhalten [ Hilf-/Hoffnungs- / Suche noch I losigkeit J sozialer UnterstQtzung

Durchha testrategien . ]

Emotionale Ebene Angst, Dep.ression Hal fnung. Arger. Heiterkeit.

Vorzeitige Berentung

UrngeDungs- Var/ablen -interaktional: Konsequenzen der Umgebung, -strukturefl: soziale Schichtmerkrnale .

Abb. 1. Biopsychosoziales Modell der Chronifizierung k6rperlicher Erkrankungen am Beispiel des bandscheibenbedingten Lumbalsyn- drams (Erl/iuterungen dazu im Text).

sor wahrnehmen; interpretieren und welche Bew/ilti- gungsm6glichkeiten sie ffir sich sehen. Im Rahmen ko- gnitiv-verhaltenstherapeutischer Arbeiten wies erstmals die Arbeitsgruppe um Meichenbaum und Turk derartige Zusammenh/inge fiir die Wirkung von Schmerzreizen nach [52]. In zahlreichen laborexperimentellen Studien zum akuten Schmerz zeigten sie, dab sich die Art und Weise, wie Personen einen Schmerzreiz interpretieren, d.h. welche konkreten Gedanken ihnen bei Konfronta- tion mit dem Schmerzreiz dutch den Sinn gehen, auf MaBe der Schmerztoleranz und der Schmerzschwelle auswirkt. Bagatellisierende Gedanken wie z.B. : ,,Ach, das ist v611ig harmlos" erh6hen deutlich Schmerz- schwelle wie -toleranz, wfihrend Gedanken des Katastro- phisierens oder der Hilf- und Hoffnungslosigkeit wie z.B. : ,,Was ist blaB, wenn das schlimmer wird?" oder ,,Ich weiB gar nicht, wie ich das aushalten soil !" Schwelle und Toleranz senken. F fir klinisch relevante Schmerz- probleme sind Zusammenh/inge dieser Art haupts/ichlich fiber prospektive Untersuchungsans/itze im L/ingsschnitt zu kl/iren, wobei davon ausgegangen werden sollte, dab die Adaptivit/it kognitiver Bewertungsformen fiir akute und ffir chronische Schmerzen sehr unterschiedlich aus- fallen kann. So zeigten z.B. Rosenstiel und Keefe [44] anhand eines selbst entwickelten Fragebogens zur Erfas- sung schmerzbezogener Kognitionen, dab Strategien des

Bagatellisierens mit einer gr6Beren funktionellen Be- eintr/ichtigung bei Rfickenschmerzpatienten einhergin- gen. Das heiBt, gedankliche Bewertungen, die Schmerz- schwelle und -toleranz erh6hen, k6nnen sich im Hinblick auf funktionelle Sch/iden als sehr ung/instig erweisen.

Mit der gedanklichen Bewertung eines Schmerzreizes eng gekoppelt sind die emotionalen, d.h. geffihlsm~iBigen Reaktionen einer Person. Neigt eine Person beispiels- weise zu katastrophisierenden Gedanken, wird sie bei Konfrontation mit Schmerzen mit st/irkerer Angst rea- gieren. Gentry und Bemal [16] beschreiben die Wirkung im Rahmen des klassischen und operanten Konditionie- rungsparadigmas: wenn bestimmte k6rperliche Bewe- gungen Schmerzen verursachen, wie es bei bandschei- benbedingten Schmerzen der Fall ist, bewirkt ein sehr /ingstliches Schmerzerleben, dab reflexhaft entspre- chende Bewegungen unterbrochen und 1/ingerfristig ver- mieden werden. Ung/instige Langzeitfolgen k6nnen so- wahl auf biologischer als auch auf psychologischer Ebene beschrieben werden. So kann ein ausgepr/igtes Vermeidungsverhalten eine zunehmende Atrophie der entsprechenden Muskulatur bedingen, die wiederum zu Sensibilisierungsprozessen an den Nozizeptoren und bei der zentralnerv6sen Schmerzverarbeitung ffihrt [46, 62], so dab in der Folge schon einfache mechanische Be- anspruchungen eines Muskels schmerzhaft werden k6n- nen. Auf psychologischer Ebene kann sich das Vermei- dungsverhalten zu allgemeiner Passivit/it und R/ickzugs- verhalten ausweiten. Nach der Verst/irker-Verlust-Theo- rie geht dieses Verhalten mit einem Verlust angenehmer, d.h. positiv verst/irkender Aktivit/iten einher (z.B. Zu-

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sammensein mit Freunden, Besuch einer Theaterveran- staltung), was wiederum langfristig zu einer depressiven Stimmungslage ffihren kann. Berficksichtigt man die be- kannten psychoendokrinologischen Zusammenh/inge zwischen Depressivitiit, der verringerten Freisetzung k6rpereigener Opiate (u.a. das Neuropeptid Endorphin) und der Erh6hung der Schmerzempfindlichkeit [1, 43], so ist hier ein weiterer Circulus vitiosus psychobiolo- gischer Zusammenhiinge geschlossen.

Zur Erfassung emotionaler Reaktionen auf Schmerzen liegen mit den bekannten Schmerzadjektivskalen (u.a. McGiU Pain Questionary MPQ [36]; im deutschsprachi- gen Bereich u.a. die Skala von Hoppe [24]) bisher ledig- lich indirekte MeBverfahren vor. Hier werden fiber schrnerzbeschreibende Adjektive verschiedene sensori- sche von eher affektiven Aspekten der Schmerzwahrneh- mung unterschieden. Bei [24] sind es die Aspekte ,,Schmerz-Angst" und ,,Schmerz-Leiden". In einer er- sten eigenen prospektiven Untersuchung zum Gene- sungsverlauf von Bandscheibenpatienten ist es fiber die- ses Instrument jedoch nicht gelungen, Patienten, die nach Behandlungsende fiber bleibende Schmerzen kla- gen, vor Behandlungsbeginn fiber ein starker affektives Schmerzerleben zu erkennen [22]. Instrumente, die das AusmaB emotionaler Reaktionen wie Angst, )krger oder Niedergeschlagenheit auf Schmerzen hin in direkter Weise erfassen, liegen unseres Wissens bisher nicht vor.

Generalisierte Ursachen- und Kontrollerwartungen

Von den konkreten Gedanken, die einer Person bei Schmerzkonfrontation teilweise in Bruchteilen von Se- kunden durch den Sinn gehen, mfissen allgemeinere Er- wartungshaltungen abgegrenzt werden, die auf einer h6- heren Abstraktionsebene anzusiedeln sind [20]. Mfissen sich Menschen mit k6rperlichen Beschwerden bzw. einer Krankheit auseinandersetzen, stellen sie eine Reihe von Reflexionen darfiber an, wie es zu diesen Beschwerden kommen konnte, wie sie aufrechterhalten werden und wie sie am besten beeinfluBt werden k6nnen. Die sozial- psychologische Attributionsforschung [15, 23] zeigte an unterschiedlichen Krankheitsbildern (u.a. Krebserkran- kungen, unfallbedingte Querschnittliihmung), dab spezi- fische Formen der Ursachen- und der Kontrollerwar- tung ganz generell in engem Zusammenhang mit der Chronifizierung k6rperlicher Beschwerden stehen k6n- nen. Nach Wallston und Wallston [57] k6nnen 3 Dimen- sionen gesundheitsbezogener Kontrollerwartungen un- terschieden werden. Die Dimension internale Kontrolle spiegelt den Glauben einer Person wieder, sie selbst habe EinfluB auf den Verlauf ihrer Erkrankung - ganz unab- hiingig davon, auf welche Weise. Bei Vorherrschen der Dimension ,,external powerful others" glaubt eine Per- son, dab primfir anderen, wichtigen Personen (Arzten, Angeh6rigen) dieser EinfluB zukommt. Der dritten Di- mension (,,external chance") zufolge ist eine Person da- von fiberzeugt, daB ihre Gesundheit wesentlich von un- beeinfluBbaren Sehieksalsfaktoren abh~ingt. Im Rahmen

prospektiver Lfingsschnittuntersuchungen an Krebspa- tienten [49, 63] und Unfallpatienten [15] zeigte sich, dab internalen Attributionen eine gfinstige Wirkung zu- kommt. Wenn Patienten sich dagegen primfir dem Ein- fluB von Schicksalsfaktoren ausgesetzt sahen, wirkte sich dies sowohl auf die psychische als auch auf die k6rper- liche Befindlichkeit ungfinstig aus. Auch hier gelten Ge- ffihle des Kontrollverlustes als vermittelnde Variable. In einer eigenen Studie fanden wir ausgeprfigte negative Be- ziehungen zwischen der ausschlaggebenden Dimension ,,external powerful others" und dem AusmaB an Depres- sivitfit bei einer Gruppe operierter Bandscheibenpatien- ten [19]. Diese Befunde k6nnen besagen, daB ein Geffihl des Ausgeliefertseins an die behandelnden ,~rzte fiber Kognitionen der Hilflosigkeit und des Kontrollverlustes mit einer depressiven Stimmungslage in enger Beziehung steht. Nach Rotter [45] ist davon auszugehen, dab diese Zusammenhfinge in Abh~ingigkeit von dem Pers6n- lichkeitsmerkmal ,,interpersonelles Vertrauen" beson- ders ausgepr~igt sind (s. Abschnitt ,,Pers6nlichkeitsmerk- male").

Schmerzbewdltigung

Eng verknfipft mit der Art und Weise, wie Schmerzen subjektiv wahrgenommen und erlebt werden, sind Versu- che, sie zu bewfiltigen. Dies k6nnen bewuBte und zielge- richtete Versuche sein, Schmerzen zu lindern, es kann sich jedoch auch um Verhaltensweisen handeln, die von einer Person nicht zielgerichtet eingesetzt werden, son- dern die sozusagen als automatische Handlungen im Verhaltensrepertoire einer Person vorhanden sind. Unter den zielgerichteten Strategien wurden bisher vor allem verschiedene Formen gedanklicher Ablenkung unter- sucht. Wie schon die weiter oben erw~ihnten Formen der Bagatellisierung fiihrten diese Strategien der Schmerzbew~iltigung in zahlreichen laborexperimentel- len Untersuchungen zum akuten Schmerz zu einer Erh6- hung von Schmerzschwelle und -toleranz [51]. Die wich- tigsten Ablenkungsstrategien sind angenehme, schmerz- inkompatible Vorstellungen wie z.B. ,,in der Sonne am Strand liegen" sowie die Konzentration auf Umgebungs- reize (z.B. Fernsehen) oder auf gedankliche Oberlegun- gen (Planen der kommenden Woche). Um kognitive Um- bewertungen des Schmerzreizes handelt es sich, wenn er als willkommene oder sinnvolle Erfahrung interpretiert wird (der Schmerz wird als hilfreiches Signal ffir eine ~berforderungssituation angesehen) oder wenn die Um- gebung (z.B. Zahnarzt) nicht mehr als bedrohlich einge- schfitzt wird, sondern in einen positiven Kontext einge- baut wird (Zahnarzt als Heilender oder als Cowboy in einem Film).

Um eher automatische, d.h. nicht zielgerichtete Hand- lungen handelt es sich bei dem bereits erw~ihnten Vermei- dungsverhalten (schmerzbedingtes Vermeiden bestimm- ter k6rperlicher oder sozialer Aktivitfiten) sowie dem nichtverbalen Ausdrucksverhalten. Insbesondere Fordyce [12] und die Arbeitsgruppe um Keefe [27] haben die un- gfinstige Wirkung zahlreicher indirekter, nichtverbaler Verhaltensweisen beschrieben, mit denen Personen ihrer

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Umgebung zeigen, dab sie Schmerzen haben. Typisches Ausdrucksverhalten von Rfickenschmerzpatienten um- fal3t beispielsweise die Ver/inderung der K6rperhaltung, das Benutzen eines Stockes, das Reiben der schmerzen- den Stelle, ein Verziehen des Gesichts etc. Diese Verhal- tensweisen werden im Alltag hfiufig gefolgt von besonde- rer emotionaler Zuwendung naher Angeh6riger, von dem Angebot instrumenteller Hilfen im Alltag (z.B. im Haushalt) oder yon der M6glichkeit, unangenehme so- ziale Kontakte zu beenden. Das lerntheoretische Para- digma der operanten Konditionierung beschreibt, wie es fiber Prozesse der positiven Verst/irkung (Zuwendung, Hilfen) sowie der negativen Verst/irkung (Beendigung unangenehmer Aktivit/iten) zu einer Aufrechterhaltung dieser Verhaltensweisen und damit zu einer Chronifizie- rung des Schmerzproblems kommen kann.

Die Bedeutung yon Alltagsbelastungen

Abbildung 1 zeigt, dab neben der Art und Weise der individuellen Schmerzverarbeitung auch das Vorliegen von Belastungen im beruflichen oder privaten Alltag zu einer Chronifizierung bandscheidenbedingter Beschwer- den ffihren kann. Eine empirische Best/itigung dieser These findet sich bisher in den Ergebnissen sowohl la- borexperimenteller als auch epidemiologischer und kli- nischer Felduntersuchungen an chronischen Riicken- schmerzpatienten. So zeigten Flor et al. [11] in einer ex- perimentellen Kontrollgruppenstudie, dal3 die Konfron- tation mit belastenden Situationen aus dem Alltag bei Rfickenschmerzpatienten mit einer Erh6hung der para- vertebralen Muskelspannung einherging. Sternbach [48] wies in einem epidemiologischen Untersuchungsansatz an einer ffir die Bev61kerung der USA repr/isentativen Erhebung erstmals den Zusammenhang zwischen chro- nisch belastenden Alltagssituationen und dem Auftreten von Rfickenschmerzepisoden nach. Feuerstein et al. [9] zeigten dies an einer Gruppe von 33 ambulanten Rfik- kenschmerzpatienten mit unterschiedlichen Diagnosen. Als vermittelnde Variable wird vor allem ein sog. Schmerz-Spannungs-Schmerz-Zirkel angenommen. All- tagsstressoren gehen mit einer Erh6hung der Anspan- nung lumbaler Rfickenstreckermuskeln einher. Bei einer anhaltenden Verspannung kommt es fiber eine chroni- sche Irritation der Nozizeptoren der ~-Schleife zu einer weiteren Erh6hung des Muskeltonus, einem vermehrten Anfall von Metaboliten sowie einer verschlechterten Durchblutung und auf diesem Wege zu einer weiteren Sensibilisierung und Aktivierung von Nozizeptoren in Muskeln und Sehnen (u.a. [30, 46]). Im Falle bandschei- benbedingter Schmerzen ist nach den Ergebnissen von Nachemson [39] damit zu rechnen, dab es darfiber hin- aus zu einer Erh6hung des intradiskalen Druckes, einer weiteren Verschiebung des Bandscheibengewebes und damit zu einer Bedr/ingung der Nervenwurzel kommen kann. So wird der pr/ioperativ durch akuten Bandschei- benvorfall bedingte radikulare Schmerz von einem psy- chisch getriggerten muskul/iren Schmerz begleitet. Im Rahmen einer operativen Therapie bleibt der muskul~ire Schmerz unbehandelt und tr/igt nach Behandlungsende wesentlich zu der Chronifizierung des Schmerzbildes bei.

Die Bedeutung yon Pers6nlichkeitsfaktoren

Zum Einflul3 zeitstabiler Personenmerkmale auf den Ge- nesungsverlauf operierter Bandscheibenpatienten liegen bisher die meisten empirischen Studien vor. Nicht zuletzt aus Praktikabilit/itsgrfinden wurde dabei fiberwiegend der bekannte Pers6nlichkeitsfragebogen MMPI einge- setzt. Die deutlichsten Unterschiede zwischen erfolgreich und erfolglos operierten Patienten zeigten sich in den Skalen ,,Depressivit/it" und ,,Hypochondrie". Personen, die in dem Test schon vor der Operation eine Neigung zu depressiver Stimmung und zu einem besonders angst- vollen Beobachten k6rperlicher Reaktionen erkennen liel3en, gaben postoperativ eher bleibende Schmerzen an. Die Befunde sind jedoch bisher sehr widersprfichlich, es gibt eine Reihe best/itigender Studien [6, 8, 32, 54, 55] neben einer Reihe widersprechender [42, 58]. Dar- fiber hinaus ist anzumerken, dab die Gruppen mit gutem und schlechtem Behandlungserfolg sich zwar im Mittel in den betreffenden MMPI-Skalen unterschieden, es gab jedoch so massive Oberschneidungsbereiche, dab eine Vorhersage im Einzelfall nicht gesichert ist. Die berichte- ten Studien machen zudem keinerlei Angaben zu Mal3en der Sensitivit/it und Spezifitht ihrer Vorhersage. Einen Grund ffir die Vagheit der Befunde vermuten wir in fol- gendem Umstand: mit einem Pers6nlichkeitsfragebogen erfassen wir lediglich die grundsatzliche Neigung einer Person zu bestimmten Reaktionsweisen (Depressivit/it oder Hypochondrie). Bei Vorlie~en normabweichender Befunde wissen wir noch nicht, ob sich eine Person bei- spielsweise vor Behandlungsbeginn tats/ichlich in einem depressiven Zustand befindet oder ob sie ihre momenta- nen Schmerzen tats/ichlich sehr angstvoll oder niederge- schlagen erlebt. Die konkreten Reaktionsweisen sind nut fiber situative Instrumente (u.a. Fragebogen) zu erfas- sen, die sich unmittelbar auf den aktuellen Zustand be- ziehen.

Eigene, weiter oben berichtete Befunde zurn Zusammen- hang zwischen externalen Kontrollfiberzeugungen und dem Ausmal3 an Depressivit/it [19] legten die Vermutung nahe, dab im Hinblick auf die Chronifizierung band- scheibenbedingter Beschwerden das AusmaB zwisehen- mensehlichen Vertrauens als ein weiteres Pers6nlichkeits- merkmal relevant sein k6nnte. Der Sozialpsychologe Rotter [45] nahrn an, dab der Glaube, der Krankheits- verlauf liege prim/ir in den H~inden anderer, wichtiger Personen, besonders bei Menschen, die fiber ein geringes interpersonelles Vertrauen verffigen, mit KontroUverlust und Depressivit~it einhergehen k6nne. Die Bedeutung dieses Pers6nlichkeitsmerkmals wurde jedoch bisher un- seres Wissens in diesem Zusammenhang nicht unter- sucht.

Depressives Zustandbild

Die Bedeutung eines depressiven Zustandbildes wurde bisher nahezu ausschlieBlich im Zusammenhang mit or- ganisch nicht begrfindbaren Schmerzproblemen disku- tiert. Da die Prftvalenz depressionstypischer Beschwer- den (z.B. Schlafst6rungen, Antriebsverlust, Vitalitfitsver-

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lust) unter chronischen Schmerzpatienten sehr hoch ist - Long [34] berichtet beispielsweise eine Pr/ivalenz von 85% depressiver Symptome in einer Stichprobe von 494 Patienten mit einem ,,failed back syndrome" -, ging man v.a. bei organisch nicht begrfindbaren Schmerzen davon aus, dab es sich um eine spezifische Form einer depressiven St6rung handle (,,masked depression" [13]; ,,pain prone disorder" [5], die auf organischer Ebene u.a. fiber eine verz6gerte REM-Latenz sowie eine unvoll- st/indige Supprimierbarkeit yon Cortisol durch Dexame- thason (DST) nachgewiesen wurde. In einer sehr gut kontrollierten Studie an 80 chronischen Rfickenschmerz- patienten zeigten France und Krishnan [14] nun jedoch, da6 mit einer abnormen Supprimierbarkeit yon Cortisol im DST-Test auch bei organisch begrfindbaren Schmer- zen zu rechnen ist. Ausschlaggebend sei in jedem Fall das gleichzeitige Vorliegen einer depressiven St6rung.

Im Rahmen einer ersten prospektiven Untersuchung zum Genesungsverlauf konservativ und operativ behan- delter Bandscheibenpatienten konnten wir zeigen, dab Patienten, die bei Behandlungsende fiber bleibende Schmerzen klagten, vor Behandlungsbeginn schon ein erh6htes depressives Zustandbild gezeigt hatten. Ober das Beck-Depressionsinventar (BDI) [2] war in 86% der F/ille eine richtige Vorhersage m6glich, Sensitivit/it und Spezifitfit lagen bei fiber 80% [22]. Wichtig ist dabei, dab bei allen Patienten (n = 38) vor Behandlungsbeginn ein lumbaler Bandscheibenprolaps nachgewiesen worden war (fiber den klinisch-neurologischen Befund, eine Myelographie, teilweise fiber CT).

Wir beurteilten in dieser Studie darfiberhinaus den Schweregrad des bei den Problempatienten festgestellten depressiven Zustandsbildes. Mit einem Mittelwert von 11,6 Gesamtpunkten lag diese Gruppe in der von Beck et al. [2] entwickelten Kategorie ,,milde Depression". Bei einem Vergleich mit 2 psychiatrischen Gruppen depressi- ver Patienten lag sie deutlich unter den als endogen dia- gnostizierten Patienten (Mittelwert von 21 Gesamtpunk- ten) und den als neurotisch depressiv diagnostizierten (Mittelwert von 26). Somit handelt es sich bei dem de- pressiven Erleben der Bandscheibenpatienten in der Re- gel nicht um eine klinisch manifeste Erkrankungsform (vgl. ,,major depression" nach DSM-III).

Im Rahmen unseres Krankheitsverarbeitungsmodells ge- hen wir nun davon aus, dab ein derartig ,,mildes" de- pressives Zustandsbild sowohl fiber eine ungfinstige Form der Schmerzverarbeitung (u.a. Kognitionen der Hilf- und Hoffnungslosigkeit oder des Katastrophisie- rens, Vorherrschen von Vermeidungsverhalten) als auch fiber das Konfrontiertsein mit chronischen Alltagsbela- stungen in Beruf oder Familie entstehen kann. Psycho- biologische Wechselwirkungen, die zu einer Chronifizie- rung des Beschwerdebildes beitragen, sind auf mehreren Ebenen denkbar: u.a, fiber bereits erw~ihnte psychoen- dokrinologische Zusammenh/inge, fiber Zusammen- h~inge zwischen mit Depressivit/it einhergehender Inakti- vit/it und folgender Muskelatrophie, aber auch fiber eine Erh6hung der Muskelspannung im lumbalen Wirbels/iu-

lenabschnitt und dem dadurch ausgel6sten Schmerz- Spannungs-Schmerz-Zirkel.

Die Bedeutung somatischer Prfidiktoren

Schon in den Anf'angen routinem/iBig durchgeffihrter Operationen wiesen u.a. Kuhlendahl [31] und Jensen [25] auf eine grundsfitzliche Problematik hin, die erst in j/ing- ster Zeit wieder verst/irkt beachtet wird [38]: die Opera- tion des Bandscheibenvorfalles hat die Befreiung der Nervenwurzel mit einer Beseitigung neurologischer Aus- fallserscheinungen sowie der radikulfiren Schmerzsymp- tomatik zum Ziel. Das Problem der eigentlichen Band- scheibenerkrankung mit muskul/irer Verspannung, Ver- /inderungen an den Wirbelgelenken sowie Zeichen der Instabilit/it wird damit nicht behandelt. Diese Faktoren gehen in der Regel mit lokalen lumbalen oder sog. pseu- doradikul/iren Schmerzen einher, die in die proximalen Extremit/iten ausstrahlen. Es muB damit gerechnet wet- den, dab diese Schmerzen den durch akuten Bandschei- benvorfall bedingten Schmerz begleiten, von diesem fiberdeckt und unbehandelt bleiben, so dab sie spfiter einen wesentlichen Anteil an der Chronifizierung des Schmerzbildes darstellen.

Als Pr/idiktoren wurden bisher lediglich solche Faktoren untersucht, die indirekt mit diesen Prozessen zusammen- h/ingen: das Alter der Patienten sowie die Dauer der Schmerzanamnese (u.a. [28, 35]). Die Autoren gehen da- von aus, dab mit zunehmendem Alter sowie bei l/ingerer Schmerzanamnese eher mit einer Beteiligung muskul/irer und degenerativer Ver/inderungen am Beschwerdebild zu rechnen ist.

Als weiterer Pr/idiktor, der ebenfalls ffir eine Reihe von schmerzverursachenden Faktoren steht, ist die Anzahl an Voroperationen anzusehen. Eine Reihe an retrospekti- ven Katamneseuntersuchungen hat ergeben, dab die Rate an chronischen Beschwerden mit zunehmender An- zahl an Voroperationen drastisch ansteigt (u.a. [56]). Nicht nur die unbehandelt gebliebenen muskul~iren und degenerativen Ver/inderungen gelten als verantwortlich daffir, sondern vor allem die immer gr6Ber werdende Wahrscheinlichkeit von unterschiedlichsten postoperati- ven Komplikationen wie Narbenbildungen, Spondylo- diszitiden und Segmentlockerungen mit nachfolgender Instabilitgt im Bewegungssegment, um nur die wichtig- sten zu nennen (vgl. [17]). Echte Rezidive stellen dabei mit 2 5% aller Erstoperationen zahlenmfiBig ein eher geringes Problem (u.a. [50]). Inwieweit Narbenbildungen oder Rezidive aber tatsfichlich urs/ichlich ffir ein chroni- sches Schmerzbild verantwortlich sind, 1/iBt sich bisher nicht sicher entscheiden. Computertomographisch kon- trollierte Nachuntersuchungen nach konservativen Be- handlungen haben erst k/irzlich gezeigt, dab es zu einer v611igen Reduktion des Schmerzbildes kommen kann, obwohl ein Bandscheibenvorfall weiterhin besteht [10, 47].

Im folgenden sollen die Ergebnisse einer eigenen pro- spektiven Studie dargestellt werden, in der einzelne psy-

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144 Originctlien

chologisehe und somatische Aspekte unseres Chronifi- zierungsmodells daraufhin untersucht werden, inwieweit sie bei station/Jr behandelten Bandscheibenpatienten eine Vorhersage des Genesungsverlaufes erlauben. Teile der Studie dienen der Replikation einer vorangegangenen Erstuntersuchung [22].

F fir die soziodemographischen Variablen Geschlecht und soziale Schichtzugeh6rigkeit wird kein Zusammen- hang mit dem Genesungsverlauf angenommen.

Un tersuchungsansatz

Fragestellungen

Wir formulierten folgende Fragestellungen:

1. Lassen sich die Befunde zu Depressivitdt und Sehmerz- erleben der ersten Studie replizieren? 2. Zeigen sich die Befunde zur Depressivit/it aul3er im BDI auch in einem anderen Zustandsinstrument? 3. Wie ist die Vorhersagekraft der Schmerzbew/iltigungs- formen Vermeidungsverhalten, niehtverbales Ausdrueks- verhalten und Ablenkung zu beurteilen ? 4. Wie ist die Vorhersagekraft der generalisierten Erwar- tungen zur Beeinflussung des Krankheitsgeschehens zu beurteilen? Kommt speziell den beiden externalen Di- mensionen (,,external powerful others" und ,,external"- Schieksal) eine ungiinstige Bedeutung ffir den Gene- sungsverlauf zu ? 5. Wie ist die Vorhersagekraft des Pers6nliehkeitsmerk- mals interpersonelles Vertrauen zu beurteilen? 6. Welche Vorhersagekraft kommt den somatischen Va- riablen Anzahl an Voroperationen, Dauer der Schmerza- namnese und Vorliegen einer motorisehen Parese zu? 7. Welehe Vorhersagekraft kommt den soziodemogra- phischen Variablen Alter, Gesehleeht und soziale Schicht- zugeh6rigkeit zu ?

Unsere Hypothesen

Patienten, die nach abgeschlossener Behandlung (kon- servativ oder operativ) noch fiber bleibende Sehmerzen klagen, zeiehnen sieh schon vor Behandlungsbeginn durch ein h6heres Mal3 an depressiver Verstimmung aus, darfiber hinaus durch ein h6heres Mal3 an Vermeidungs- und niehtverbalem Ausdrueksverhalten im Umgang mit den Schmerzen, dureh st/irker externale Kontrollfiber- zeugungen sowie dureh ein geringeres MaB an ,,interper- sonellem Vertrauen". Zur Rolle der Ablenkungsstrate- gien im Umgang mit den Schmerzen formulieren wir keine gerichtete Hypothese, da sich dies aus den bisheri- gen Befunden nicht eindeutig ablesen 1/il3t. Ffir das fiber Sehmerzadjektivskalen erfal3te affektive Schmerzerleben nehmen wir an, dab es, wie in der ersten Studie, keinen Beitrag zur Vorhersage bleibender Schmerzen leistet.

Patienten, bei denen vor Behandlungsbeginn eine moto- risehe Parese vorliegt, zeigen einen ungiinstigeren Gene- sungsverlauf als Patienten ohne motorische St6rungen, da dies als Zeichen fiir eine stfirkere Besch/idigung der Nervenwurzel angesehen wird, die l/ingere Zeit zur Rege- nerierung ben6tigt. Mit zunehmendem Alter und Dauer der Schmerzanamnese wird eher mit einem ung/instigen Genesungsverlauf gerechnet, da die Wahrscheinlichkeit degenerativer Ver~inderungen ansteigt.

Da die Untersuchung eine Replikation der vorangegangenen pro- spektiven Studie [22] beinhalten sollte, haben wit das Design wei- testgehend angeglichen. Der erste Erhebungszeitpuukt (T1) lag kurz nach station/irer Aufnahme der Patienten, jedoeh vor Beginn der Behandlung. Der zweite Erhebungszeitpunkt (T2) lag 3 Wo- chen spfiter. In diesem Zeitraum waren alle Behandlungen abge- schlossen.

Zur Beurteilung des Genesungsvertaufes wurden 2 Kriterien heran- gezogen:

1. Wie in der vorangegangenen Studie wurde zum Zeitpunkt T2 fiber den klinisch-neurologischen Befund das Vorliegen bleibender Schmerzen erfaBt. 2. Darfiber hinaus erhoben wir in der zweiten Studie als objektivier- bares Kriterium die Dauer des stationiiren Aufenthaltes in Tagen.

Die statistische Auswertung der Daten nahmen wir mit dem Pro- grammsystem SPSS [41] vor. Die Gruppenunterschiede wurden fiber das Verfahren der Diskriminanzanalyse geprfift, Zusammen- hfinge zwischen den einzelnen Prfidiktoren und dem Kriterium ,,station/ire Aufenthaltsdauer in Tagen" wurde fiber das Verfahren der Regressionsanalyse berechnet 2 [7, 40].

Kliniseh-neurologische Untersuchung

Wie in Studie 1 bildeten die Befunde der klinisch-neurologisehen Untersuchung und der Myelographie (teilweise mit CT) die Grund- lage fiir die Zuweisung der Patienten zu unserer Stichprobe. Im Rahmen der klinisch-neurologischen Untersuchuug wurden fol- gende Parameter gebildet:

o Schmerzen (0 = kein Schmerz, 1 = lokaler Schmerz, 2 = Schmerz mit Ausstrahlung ins Bein) o Sensibilit/itsst6rungen (0 = keine St6rungen, 1 = Par/isthesien, 2 = Hyp- bzw. An/isthesien) o Reflexdifferenzen (0 = keine, 1 = Abschw/ichung, 2 = Ausfall) o Paresen (0 = keine, 1 = leichte Sehw/iche, 2 = deutliche Schw/iche, 3 = Paralyse).

Zur Messung des depressiven Zustandbildes

Als erstes Instrument zur Erfassung des depressiven Zustandsbildes wurde das Beck-Depressionsinventar (BDI) [2] eingesetzt. Zum ei- nen aus Replikationsgrfinden, zum anderen, weil sich das BDI in angloamerikanischen Vergleichsuntersuchungen als bestes Selbst- beurteilungsverfahren zur Erkennung einer ,,major depression' (nach DSM-III) in einer Gruppe chronischer Rfickenschmerzpa- tienten erwiesen hat [56]. Wir verwendeten eine deutsche ~bertra- gung des BDI, die sich im Wortlaut stark an das amerikanische Original anlehnt [26]. Nach einer Faktorenanalyse der Autorin er- laubt die deutschsprachige Version eine Aufsehliisselung in einen kognitiven, einen affektiven und einen somatischen Aspekt. Als Vergleiehsinstrument wfihlten wir die Depressions-Skala DS yon Zerssen [61], die mit 16 Selbstbeurteilungsitems prim/ir den affekti- yen Anteil depressiven Erlebens erfaBt.

2 Wir danken Frau cand. phil. Beate Rother ffir die statistische Auswertung der Daten.

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O r i g i n a l i e n 145

Messung von Schmerzerleben und Sehmerzbewdltigung

Zur Erfassung des sensorischen und affektiven Schmerzerlebens gaben wir aus Replikationsgrfinden die von Hoppe [24] entwickel- ten Schmerzadjektiv-Skala vor. Ingesamt 40 Adjektive werden hin- sichtlich ihres Zutreffens auf je einer 7stufigen Skala (0= stimmt gar nicht, 6 = stimmt v611ig) beurteilt. Das Instrument umfagt die faktorenanalytisch gewonnenen Skalen ,,Schmerzleiden" und ,,Schmerzangst" als affektive Dimensionen und die Skalen ,,Schiirfe" und ,,Rhythmus" als sensorische Aspekte.

Zur Erfassung der 3 Schmerzbewiiltigungsformen Vermeidungsver- halten, nichtverbales Ausdrucksverhalten und Ablenkung gaben wir eine andere, von Hoppe [24] entwickelte Skala zur Erfassung des Schmerzverhaltens vor. Sie umfaBt 23 Schmerzverhaltensweisen, deren Auftreten auf je einer 6stufigen Antwortskala von ,,nie" bis ,,immer" zu beurteilen ist. Wir verwendeten die faktorenanalytisch gewonnenen Skalen ,,Meiden", , ,Motorik" und ,,Ablenkung".

Messung generalisierter Kontrolliiberzeugungen

Zur Erfassung gesundheitsbezogener Kontrollfiberzeugungen wurde das yon Hasenbring [21] entwickelte Selbstbeurteilungsin- strument , ,GKU" eingesetzt. Dabei handelt es sich um einen Kurz- fragebogen, der fiber 9 Items die faktorenanalytisch gesicherten Di- mensionen ,,Internale Kontrolle", ,,external powerful others" und ,,External-Schicksal" erfaBt. Die Mage der internen Konsistenz liegen zwisehen 0,70 und 0,78.

41 Fallen. Ein Patient wurde vonder weiteren Analyse ausgeschlos- sen. Tabelle 1 gibt Lokalisation und Ausmag des Bandscheibenbe- fundes nach den Ergebnissen der Myelographie und teilweise des intraoperativen Befundes wieder.

Das Alter der Patienten betrug im Mittel 44 Jahre, der jfingste Patient war 22 Jahre, der ~ilteste 73 Jahre alt. Die Stichprobe be- stand aus 18 Frauen und 23 M~innern. Sieben Personen waren le- dig, 30 verheiratet, jeweils zwei Personen waren verwitwet oder ge- schieden. Der unteren und mittleren Mittelschicht geh6rten 19 Pa- tienten an, 22 Patienten der Unterschicht, die Kategorie ,,Ober- schicht" war nicht besetzt (nach [29]).

Von den insgesamt 41 Patienten wurden 27 einer operativen Thera- pie unterzogen, 14 einer konservativen Behandlung. Die Schmerz- dauer, bezogen auf den gegenw~irtig behandelten Prolaps, betrug im Mittel 9 Wochen (Minimum: 3 Tage, Maximum: 50 Wochen). Die Gesamtdauer lumbaler Schmerzzust~inde (radikuliir oder dif- fus) betrug im Mittel 8 Jahre (Minimum: 7 Jahre, Maximum: 35 Jahre). Insgesamt waren 13 Patienten voroperiert, drei Personen hatten eine Operation hinter sich, vier Personen waren mehr als zweimal voroperiert.

Die Stichprobe dieser Studie entspricht somit in allen soziodemo- graphischen Variablen der Erstuntersuchung. Bis auf die Dauer der akuten Schmerzanamnese, die in der Replikationsstudie gerin- ger ausf'~illt (9 Wochen gegenfiber 8 Monaten in der Erstuntersu- chung) sind auch die klinischen Daten entsprechend.

Ergebnisse

Messung der Pers6nlichkeitsrnerkmale ,,Depressivitdt" und ,,interpersonelles Vertrauen"

Die beiden Pers6nlichkeitsdimensionen Depressivitdt und interper- sonelles Vertrauen haben wir fiber den Giegen-Test erhoben [3]. Das Instrument erfaBt fiber 40 Items, die anhand einer 2poligen Antwortskala von v611iger Zustimmung bis zu Ablehnung beurteilt werden, insgesamt 6 faktorenanalytisch gewonnene Skalen. Wir wfihlten die Skalen 4 ,,Grundstimmung" und 5 ,,Durchliissigkeit".

Die Tabellen 2 und 3 geben die Ergebnisse der klinisch- neurologischen Untersuchung zu beiden Erhebungszeit- punkten wieder. Es zeigt sich, dab noch vier (9,6%) Pa- tienten nach abgeschlossener Behandlung fiber Schmer- zen klagen, die bei allen Betroffenen eine Ausstrahlung in die proximalen Extremitiiten zeigten (sog. pseudoradi- kuliire Schmerzen).

Stichprobe

Wir untersuchten 42 Patienten, die innerhalb eines definierten Zeit- raumes in der Abteilung Neurologie des Zentrums Nervenheil- kunde der Universitgt Kiel (Direktor: Prof. Dr. D. Soyka) mit der Diagnose des lumbalen Bandscheibenvorfalles aufgenommen worden waren. Die Bestfitigung dieser Diagnose durch den kli- nisch-neurologisehen und myelographischen Befund erfolgte in

Zur Vorhersage bleibender Schmerzen

F fir die nachfolgenden Auswertungsschritte bildeten diese vier Patienten ,,Gruppe A", die restlichen 37 Pa- tienten, die keine bleibenden Schmerzen angegeben hat- ten, bildeten ,,Gruppe B". In Tabelle 4 sind ffir beide Gruppen im Uberblick Mittelwerte und Standardabweichungen ftir alle Pr/idiktoren auBer der

Tabelle 1. Lokalisation und AusmaB der Bandscheibenverlagerung in der Gesamtgruppe: abso- lute (n) und prozentuale (%) H/iufigkeiten

Protrusion Prolaps Sequestrierter Freier Gesamt Prolaps Sequester

n % n % n % n % n %

Gesamt 8 19,5 20 48,8 11 26,8 2 4,8 41 100,0

L3/4 1 2,4 1 2,4 0 0,0 0 0,0 2 4,9 L4/5 3 7,3 9 21,9 6 14,6 1 2,4 19 46,4 L5/S1 3 7~3 9 21,9 5 12,2 1 2,4 18 43,9 L3/4 + L4/5 1 2,4 0 0,0 0 0,0 0 0,0 1 2,4 L4/5 + S1 0 0,0 1 2,4 0 0,0 0 0,0 1 2,4

Page 9: Chronifizierende Faktoren bei Patienten mit Schmerzen durch einen lumbalen Bandscheibenvorfall

146 .Originalien

Tabelle 2. Klinisch-neurologischer Befund: radikul/ire Schmerzen, Sensibilit/itsst6rungen und Reflexdifferenzen zu den einzelnen Er- hebungszeitpunkten

n Radikul/ire Sensibilit/its- Reflex- Schmerzen st6rungen differenzen

n % n % n %

T1 41 41 100,0 26 63,4 29 70,7 T2 41 4 9,6 15 36,6 25 60,1

T1 : vor Beginn der Behandlung; T2: am Tag der Entlassung aus der Klinik.

Tabelle 3. Klinisch-neurologischer Befund: Paresen und positiver Lasegue zu den einzelnen Erhebungszeitpunkten

n Paresen Positiver Lasegue

Leichte Deutliche < 45 > 45

n % n % n % n %

T1 41 8 19,5 12 51,2 13 31,7 19 46,3 T2 41 9 21,9 4 9,8 2 4,8 I0 24,4

T1 : vor Beginn der Behandlung; T2: am Tag der Entlassung aus der Klinik.

Tabelle 4. Mittelwert (x) und Standardabweichung (s) der einzelnen Pr/idiktoren in Gruppe A (Patienten mit Schmerzen bei Entlas- sung) und in Gruppe B (Patienten ohne Schmerzen bei Entlassung)

Gruppe A Gruppe B

X S X S

BDI" - 13,00 4,32 3,34 2,31 DS b 6,75 2,62 4,46 1,77 Meiden 1,73 0,64 1,37 0,25 Motorik b 3,02 0,70 2,03 0,82 Ablenkung 1,58 0,61 1,27 0,51 Schmerz-Angst 1,63 1,37 1,50 0,40 Schmerz-Leiden 3,47 1,37 2,80 1,07 Schmerz-Sch/irfe 2,15 0,89 1,60 0,76 Schmerz-Rhythmus 1,55 0,76 0,97 0,54 GT-4 c 27,25 4,11 21,00 6,11 GT-5 19,88 5,88 22,85 6,89 GKf0-lnternal 12,33 4,74 12,00 10,02 GKO-External-PO 13,83 3,83 15,62 3,28 GK(J-Fatalismus c 13,63 6,23 8,33 5,14

Paresen ~ 1,75 0,55 0,38 0,75 Voroperationen 1,20 0,78 0,89 0,76 Anamnese-akut 11,38 11,03 4,37 4,19 Anamnese-chronisch 7,41 7,23 9,65 7,07

Alter 54,00 9,83 43,63 12,31

BDI: Beck-Depressionsinventar, DS: Depressionsskala nach Zers- sen, Meiden: Hoppe-Skala ,,Meiden", Motorik: Hoppe-Schmerz- verhaltensskala ,,Motorisches Ausdrucksverhalten", Ablenkung: Hoppe-Skala ,,Ablenkung", GT-4: Giegen-Testskala ,,Depressivi- t/it", GT-5: GieBen-Testskala ,,Durchl/issigkeit", GKU: Gesund- heitsbezogene K ontrolliiberzeugungen.

t-Test signifikant bei p < 0,01 ; b t-Test signifikant bei p < 0,05; c t-Test signifikant bei p < 0,10.

Variable Geschlecht und soziale Schichtzugeh6rigkeit wiedergegeben.

Statistisch signifikante Gruppenunterschiede zeigen sich in den Variablen depressives Zustandsbild, sowohl im BDI als auch in der Skala DS, darfiberhinaus ffir das nichtverbale Ausdrucksverhalten im Umgang mit Schmerzen (Hoppe-Skala , ,Motorik") und das AusmaB and motorischen St6rungen im klinisch-neurologischen Befund. Patienten mit einer erh6hten Depressivit/it im BDI oder DS, mit einem ausgepr/igt nichtverbalen Aus- drucksverhalten und einer deutlichen motorischen Schw/iche zeigten nach abgeschlossener Behandlung eher bleibende Schmerzen als Patienten mit geringem depressiven Zustandsbild, geringerem Ausdrucksverhal- ten und geringen motorischen St6rungen. Ein tendenziel- ler Gruppenunterschied (auf 10%-Signifikanzniveau) zeigte sich zudem in dem Merkmalfatalistisehe Kontroll- iiberzeugung (GKLI-Skala ,,external"-Schicksal) und der Pers6nlichkeitsdimension Depressivitiit (GT-Skala , ,Grundst immung") . Die Gruppe der Patienten mit blei- benden Schmerzen hatte schon vor Behandlungsbeginn eine eher fatalistische Erwartungshal tung bezfiglich ihres weiteren Krankheitsverlaufes sowie st/irkere Auspr/igun- gen in dem Pers6nlichkeitsmerkmal Depressivit/it. Da- mit konnten wir unsere diesbezfiglichen Hypothesen an- nehmen. Entgegen unserer Erwartungen trugen jedoch die Schmerzbew/iltigungsformen Vermeidungsverhalten und Ablenkung, die KontrollfiJoerzeugungsdimension ,,external powerful others" sowie die Pers6nlichkeitsdi- mension Interpersonelles Vertrauen nicht zur Vorhersage des Kri teriums ,,bleibende Schmerzen" bei. Ebenso zeigte sich kein signikanter Gruppenunterschied ffir die somatischen Fak toren Dauer der Sehmerzanamnese, An- zahl an Voroperationen und die soziodemographischen Variablen Alter, Gesehleeht und soziale Sehichtzugeh6- rigkeit.

Die in Tabelle 4 gew/ihlte Darstellung, in der die Grup- penunterschiede ffir jeden Prfidiktor einzeln berechnet wurden, diente der besseren Obersicht und Orientierung. Das Untersuchungsdesign mit mehreren Pr/idiktoren und einem Kri ter ium (,,bleibende Schrnerzen") erfordert jedoch eine mult ivariate Auswertungsstrategie, da die Pr/idiktoren untereinander mit groBer Wahrschein- lichkeit korrelieren. Die Berechnung vieler bivariater Zu- sammenh/inge birgt die Gefahr von Scheinkorrelationen in sich, durch die eine Absch/itzung des ~- bzw. fl-Fehlers nicht mehr kalkulierbar wird (vgl. [7, 40]). Die ffir das Kri ter ium ,,bleibende Schmerzen" (Ja/nein) indizierte Diskriminanzanalyse erlaubt es nun, diejenigen Prfidik- torvariablen zu bestimmen, die zu einer maximalen Trennung der Gruppen A und B beitragen, d.h. anhand derer schon zum Zei tpunkt T1 (vor Behandlungsbeginn) optimal vorhergesagt werden kann, zu welcher Gruppe ein Patient nach Behandlungsende geh6ren wird. In der vorliegenden Untersuchung ergab die Analyse einen auf dem 0,01%-Niveau signifikanten Diskriminanzfaktor , auf dem das BDI, die Kontroll i iberzeugungs-Dimension ,,external"Schicksal sowie die Variable Paresen die h6chsten Ladungen aufwiesen. Das heil3t, eine optimale Trennung der Gruppen A und B ist fiber eine Kombina -

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Originalien 147

Tabelle 5. Sensitivitiit und Spezifitfit zur Trennung der Gruppe A (bleibende Schmerzen bei Entlassung) und B (keine bleibenden Schmerzen bei Entlassung) durch die einzetnen Pr/idiktoren

Sensitivit/it Spezifitfit Prozentsatz % % richtiger

Zuordnungen %

BDI 100 96 96 DS 75 87 85 Motorik 75 77 76 GT-4 75 50 53 GKO- 75 79 78 Fatalismus

Paresen 75 79 77

BDI: BECK-Depressionsinventar, DS: Depressionsskala nach Zerssen, Motorik: Hoppe-Schmerzverhaltensskala ,,Motorisches Ausdrucksverhalten", GT-4: GieBen-Testskala Depressivit/it, GKO-Fatalismus: Gesundheitsbezogene Kontrolliiberzeugungen Skala ,,External-Fatalismus".

Tabelle 6. Ergebnis zur multiplen Regression. Kriterium: Dauer des station/iren Aufenthaltes in Tagen

Prfidiktoren B Beta t p

BDI 0,85 0,39 2,73 0,00 Meiden 4,78 0,37 3,04 0,00 GT-5 0,45 0,35 2,71 0,01 GKO-I - 0,47 -0,27 - 2,19 0,02

R2:0,63 (Multiples R=0,79) F=10,47, df4/37, p<0,00

BDI: Beck-Depressionsinventar, Meiden: Hoppe-Schmerzverhal- tensskala ,,Vermeidun.g.sverhalten", GT-5 : GieBen-Testskala ,,Durchlfissigkeit", GKU-I: Gesundheitsbezogene Kontrolliiber- zeugungen Skala ,,Internal". B: Regressionskoeffizient, Beta: stan- dardisierter Partialregressionskoeffizient, t: Signifikanztest f/Jr die Prfidiktorvariablen, R2: Anteil gemeinsamer Varianz zwischen Kriterium und Pr/idiktoren, Multiples R: Multipler Korrelations- koeffizient, F: Signifikanztest ftir den multiplen Korrelationskoef- fizienten, df: Anzahl an Freiheitsgraden, p: Signifikanzniveau.

tion zweier psychologischer (depressives Zustandsbild fiber BDI und die fatalistische Kontrollerwartung) mit einem somatischen Faktor (Vorliegen deutlicher moto- rischer Schw/iche) m6glich. Sensitivit/it und Spezifit/it betragen fiber die Kombinat ion 100%, d.h. die vier Pa- tienten mit bleibenden Schmerzen k6nnen schon vor Be- handlungsbeginn richtig vorhergesagt werden wie auch die 37 Patienten, die keine bleibenden Schmerzen zu T2 angeben.

Demgegenfiber hat sich in dem multivariaten Auswer- tungsschritt die Information der Depressions-Skala von Zerssen, der GieBen-Testskala ,,depressive Grundstim- mung" sowie der Scl~nerzverhaltensskala , ,Motorik" als redundant erwiesen, da einige der Variablen hohe Korre- lationen mit dem BDI zeigten (DS mit BDI: r=0 ,50 , GT-4 mit BDI: r = 0,40), die Hoppe-Skala , ,Motorik" zeigte eine signifikante Korrelat ion zur somatischen Va- riable ,,Parese" ( r = 32), d.h. je stfirker die Auspr/igung einer motorischen Schw/iche war, desto eher gaben die Patienten nichtverbales Ausdrucksverhalten im Umgang mit ihren Schmerzen an.

In TabeUe 5 sind Angaben zur Vorhersagegenauigkeit ffir jeden der signifikanten Pr/idiktoren aufgefiihrt. Es zeigt sich, dab das BDI mit einem Gesamtprozentsatz richtiger Zuordnungen von 96% die h6chste Vorhersa- gegenauigkeit aufweist, gefolgt von dem zweiten MaB eines depressiven Zustandbildes, der Depressionsskala [61]. Anhand der Pers6nlichkeitsdimension ,,depressive Grundst immung" (Giegen-Testskala 4) k fnnen dem- gegenfiber keine fiberzuffillig richtigen Vorhersagen im Einzelfall getroffen werden.

Zur Vorhersage der Dauer des stationiiren Aufenthaltes

Als ein objektivierbares Kriterium des Genesungsver- laufes wurde die Dauer des station/iren Aufenthaltes in

Tagen herangezogen. Auch hier ist zur Vorhersage an- hand mehrerer Pr/idiktoren ein multivariates Verfahren angezeigt, entsprechend dem Skalenniveau des Krite- riums die Regressionsanalyse. Tabelle 6 zeigt das Ergeb- nis der multiplen Regression, in der wieder ein Pr/idikto- rensatz gefunden wurde, der untereinander weitgehend unabh/ingig das Kriterium optimal vorhersagt.

Es zeigt sich, dab die station/ire Aufenthaltsdauer sehr wesentlich fiber psychologische Parameter vorhergesagt werden kann. Vier Pr/idiktoren kl/iren gemeinsam 63% der Kriteriumsvarianz auf. Es handelt sich dabei um das mit dem BDI gemessene depressive Zustandsbild, die Hoppe-Skala , ,Meiden" sowie die Kontrollfiberzeu- gungsdimension ,,Internal". Je ausgepr/igter vor Be- handlungsbeginn depressives Zustandsbild und Vermei- dungsverhalten im Umgang mit den Schmerzen waren und je weniger die Patienten eigene EinfluBm6glichkei- ten auf den Krankheitsverlauf sahen, desto 1/inger war der station/ire Krankenhausaufenthalt .

Signifikante positive Einzelkorrelationen mit dem Krite- rium bestanden darfiberhinaus • r die Skala DS von Zerssen (r = 0,42, p < 0,05), die GieBen-Testskala ,,de- pressive Grundst immung" ( r= 0,41, p <0,05), die Kon- trollfiberzeugungsdimension ,,external"-Schicksal ( r= 0,32, p < 0,05) sowie die Variable ,,Parese" (r-- 0,37, p < 0,05). Die Information dieser Parameter erwies sich je- doch in dem multivariaten Auswertungsschritt als re- dundant, da sie mit den oben genannten Pr/idiktoren interkorrelierten.

Ffir jeden in der multiplen Regression best/itigten Pr/i- diktor bildeten wir einen ,,Cut off score", fiber den wir die Patienten in 2 Gruppen mit niedriger und hoher Aus- pr/igung je Merkmal teilten. Abbildung 2 zeigt, dab Pa- tienten mit einem BDI-Wert >9 , einem Wert > 1 in der Hoppe-Skala ,,Meiden" und einem Wert > 18 in der GieBen-Testskala 5 durchschnittlich 8 10 Tage 1/in- ger im Krankenhaus verbrachten als Patienten mit Ska- lenwerten unterhalb der jeweiligen Grenze.

Page 11: Chronifizierende Faktoren bei Patienten mit Schmerzen durch einen lumbalen Bandscheibenvorfall

148 . O r i g i n a l i e n

Faktoren und Grenzwerle

BDI ) 9

BDI ( 9

Melden } 1

Meiden ( 1

~ 3 2 . 4

~ ~ t U m U 2~

~ 2 6 , 5

GT-5 ) 18 " ~ 28,2

GT-5 ( 18 ~ 18,4

0 l0 20 30 Stat ionarer Aufentha l t in Taken

Abb. 2. Zusammenhang zwischen den psychologischen Faktoren Depressivit~it (BDI), Vermeidungsverhalten im Umgang mit Schrnerzen (Meiden) und dem Pers6nlichkeitsmerkmal ,,interperso- nelles Vertrauen" (GT-5) und der Dauer des station~iren Aufenthal- tes in Tagen. Personen, die vor Behandlungsbeginn fiber einem fiir jeden Faktor definierten Grenzwert lagen, blieben im Schnitt 7- 10 Tage 1/inger im Krankenhaus. (BDI Beck-Depressionsinventar; Meiden Hoppe-Skala ,,Meiden"; GT-5 GieBen-Testskala ,,Durch- l~issigkeit").

40

Diskussion

Die Ergebnisse einer prospektiven Erstuntersuchung zur Vorhersage des Genesungsverlaufes konservativ und operativ behandelter Bandscheibenpatienten anhand psychologischer Parameter konnte vollst/indig repliziert werden. Das mi~dem Beck-Depressionsinventar BDI er- faBte depressive Zustandsbild erwies sich als wichtigster Pr/idiktor, dies sowohl ffir das Kriterium bleibende Sehmerzen nach Behandlungsende als auch ffir die Dauer des stationiiren Aufenthaltes. Sensitivit~it und Spezifit/it lagen bei fiber 90%. Patienten mit einem BDI-Gesamt- wert > 9 hielten sich durchschnittlich 8 Tage 1/inger in der Klinik auf als Patienten mit geringeren Werten. Demgegenfiber fiel die Vorhersage anhand der Pers6n- lichkeitsdimension Depressivitiit (fiber GieBen-Test- skala 4) trotz signifikanter Mittelwertsunterschiede nicht fiberzufiillig richtig aus (50% richtige Vorhersagen), ein Befund, der mit den zahlreichen MMPI-Untersuchungen vergleichbar ist [8; 54; 55]. Wir gehen davon aus, dab dieser Unterschied in der Vorhersagegenauigkeit den Unterschied zwischen einem zeitstabilen und einem si- tuativen DepressionsmaB wiederspiegelt. Ffir den weite- ren Genesungsverlauf ist es offenbar weniger aussschlag- gebend, ob eine Person grundsiitzlieh zu einer erh6hten Depressivit/it tendiert als vielmehr der Umstand, ob sie vor Behandlungsbeginn tatsiiehlieh eine erh6hte depres- sive Stimmungslage aufweist.

In der Erstuntersuchung hatte sich gezeigt, dab die mit dem BDI gemessene erh6hte depressive Stimmungslage prim/ir auf kognitiver und somatischer Ebene, kaum auf der affektiven Ebene zum Ausdruck kam. In der Diskus-

sion war demzufolge das Vorliegen einer sog. larvierten Depression vermutet worden. Zur Abkl/irung dieser An- nahme setzten wir in der vorliegenden Studie ein weiteres Zustandsinstrument ein, welches prim/it den affektiven Anteil eines depressiven Zustandsbildes erfaBt (DS- Skala von Zerssen). Die Daten erbrachten nun auch ffir dieses Instrument eine sehr hohe Vorhersagegenauigkeit (85% richtiger Zuordnungen), so dab die Interpretation der Befunde im Sinne einer larvierten Depression nicht aufrechterhalten werden kann.

Das fiber die Schmerzadjektivskala von Hoppe erhobene affektive Schmerzerleben trug demgegenfiber auch in der Folgestudie nichts zur Vorhersage bei. Vor allem das Leiden unter den Schmerzen war bei alien Patienten vor Behandlungsbeginn gleichermaBen hoch ausgepr~gt.

Die vorliegende Studie verfolgte neben dem pragma- tischen Ziel, einige Parameter des Genesungsverlaufes m6glichst 6konomisch und prS.zise vorherzusagen, ein grundlagenwissenschaftliches Interesse. Spezifische Schmerzbew/iltigungsformen, die bisher in laborexperi- mentellen Arbeiten zu akutem Schmerz untersucht wor- den waren, sowie allgemeine Krankheitsverarbeitungs- formen, die bislang an verschiedenen anderen Patienten- gruppen (Krebspatienten, Unfallpatienten) untersucht wurden, sollten im Hinblick auf ihre Adaptivit/it fiber- prfift werden. Unsere Erwartung, dab sich ein ausge- pr~igtes Vermeidungs- und nichtuerbales Ausdrucksver- halten im Umgang mit Schmerzen eine Chronifizierung des Schmerzbildes begfinstigt, dab demgegenfiber Ablen- kungsstrategien sich eher gfinsfig auswirken, hat sich nur ffir das niehtverbale Ausdrueksverhalten besfiitigt. Patien- ten, die schon vor Behandlungsbeginn in st/irkerem MaBe angegeben hatten, dab sie bei Schmerzen h/iufig st6hnen oder seufzen, sich an die schmerzende Stelle fas- sen und reiben oder dab sie ihre normale K6rperhaltung findern, zeigten nach Behandlungsende eher bleibende Schmerzen als Patienten ohne diese Verhaltensweisen. Damit 1/iBt sich die von Fordyce [12] vertretene An- nahme, nichtverbales Ausdrucksverhalten ffihre zu einer Aufrechterhaltung von Schmerzen, in einem prospekti- ven Design best/itigen. Often bleibt dabei jedoch einer- seits die Frage, ob dies tats/ichlich durch verst~irkte Zu- wendung der sozialen Umgebung vermittelt wird, ande- rerseits die Frage, welches gesunde Verhaltensalternati- ven sind, die in ein entsprechendes therapeutisches Kon- zept einbezogen werden mfiBten.

Ein Vermeidungsverhalten im Umgang mit Schmerzen stand in der vorliegenden Untersuchung lediglich mit der Dauer des station/iren Aufenthaltes in Zusammen- hang, nicht dagegen mit dem Verbleiben von Schmerzen. Patienten mit einem ausgepr/igten Vermeidungsverhal- ten hielten sich durchschnittlich 8 Tage 1/inger in der Kli- nik auf. Es ist anzunehmen, dab bei diesen Patienten eine verst/irkte Furcht besteht, sich wieder in den ge- wohnten Alltag zu begeben. Ob dies speziell die Furcht vor neuerlichen Schmerzen ist oder eher die Furcht vor unangenehmen sozialen Belastungen, l~iBt sich anhand der Befunde nicht entscheiden. Die entsprechende Hoppe-Skala ,,Meiden'" bezog sich sowohl auf k6rper-

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liche wie auf soziale Aktivit/iten. Ffir die Interpretat ion ist wichtig, dab kein Zusammenhang zwischen dem neu- rologischen Befund und dem AusmaB an Vermeidungs- verhalten bestand, so dab es nicht wahrscheinlich ist, dab beispielsweise ein massiverer Bandscheibenbefund zu dem st/irkeren Vermeidungsverhalten geffihrt hat.

Fiir die Variable Ablenkung im Umgang mit Schmerzen zeigte sich kein Zusammenhang mit den Verlaufskrite- rien. Das heiBt, dab sich demzufolge die Tendenz zur Ablenkung vom Schmerz l/ingerfristig weder giinstig noch ungiJnstig auf das Schmerzbild auswirkt. Ob diese Strategie ffir die Patienten jeweils im Augenblick hilf- reich war, l/iBt sich anhand der Hoppe-Skala nicht ent- scheiden, da hier lediglich das beobachtete Auftreten er- faBt wird, nicht jedoch der Grad subjektiv erlebter Schmerzlinderung. Der einzige signifikante Zusammen- hang bestand zur Dauer der aktuellen Schmerzanamnese (r = 0,57, p < 0,001), d.h. Patienten mit ausgepr/igten Ab- lenkungsstrategien zeigten eine deutlich l/ingere Schmerzanamnese, bevor sie sich in station~ire Behand- lung begeben hatten. Das bedeutet, dab Ablenkungsstra- tegien im Umgang mit klinisch relevanten Schmerzen m6glicherweise eher mit Verhaltensaspekten, wie der Compliance eines Patienten, in Beziehung steht als mit dem Schmerzbild als solchem. Letztendlich miissen diese Befunde zur Schmerzbew/iltigung jedoch erst repliziert werden, bevor eindeutige Interpretat ionen m6glich sind.

Die generalisierten Erwartungshaltungen zur Beeinflus- sung des Genesungsverlaufes als Aspekt allgemeiner Krankheitsverarbeitung zeigten folgendes Bild: Patienten mit einer fatalistisehen Erwartungshaltung tendierten im Sinne der Erwartungen eher zu bleibenden Schmerzen. Zusammen mit dem BDI und dem Vorliegen einer moto- rischen Parese erh6hte sich die Vorhersagegenauigkeit auf 100%. Patienten, die wenig eigene Einfluflm6gliehkei- ten sahen, die sich demgegeniiber prim/Jr dem Einflufl yon f(rzten und Angeh6rigen ausgesetzt sahen, verblieben dariiberhinaus l~inger im Krankenhaus als Patienten mit entgegengesetzten Erwartungshaltungen. Zudem trug die Pers6nlichkeitsdimension ,,interpersonelles Ver- t rauen" zur Vorhersage der Dauer des station~iren Auf- enthaltes bei. Personen mit einem eher geringen zwischenmenschlichen Vertrauen zeigten diesbeziiglich einen ungiinstigeren Verlauf. Diese Befunde best/itigten unsere Annahme, nach der Bandscheibenpatienten w/ih- rend des Klinikaufenthaltes, der wesentlich von wichti- gen anderen Personen (,~rzten, Pflegepersonal) best immt wird, KontroUverlust erleben (vgl. [19]). Dies gilt beson- ders bei einem niedrigen Vertrauen in zwischenmen- schlichen Beziehungen. Der Mangel an eigenen EinfluB- m6glichkeiten verst/irkt ein Gefiihl der Hilflosigkeit, das mittelbar zu einem verl/ingerten station~iren Aufenthalt beitragen kann.

Die somatischen Pr/idiktoren Dauer der Schmerzanam- nese, Alter und Anzahl an Voroperationen, die als m6g- liche Indikatoren fiir degenerative und operationsbe- dingte (bei den voroperierten Patienten) Sch/iden heran- gezogen wurden, trugen nicht zur Vorhersage der beiden Verlaufskriterien bei. Allein das AusmaB an motoriseher

Schw?iche (Variable ,,Parese") trug wesentlich zur Vor- hersage des Kriteriums bleibende Schmerzen bei. Patien- ten mit einer deutlichen motorischen Schwfiche gaben bei Entlassung eher auch bleibende Schmerzen an. Es ist zu vermuten, dab die deutlichen motorischen St6run- gen mit einer st~rkeren Nervenwurzelschfidigung einher- gehen, die nut langsamer wicder regeneriert.

Wichtig ffir die Interpretation der Befunde ist uns die mit Long [34] iibereinstimmende Beobachtung, dab zwi- schen diesem somatischen Befund und den psycholo- gischen Prfidiktoren kein Zusammenhang besteht, d.h. psychologische Faktoren k6nnen sich chronifiziercnd auf den Genesungsverlauf auswirken, prinzipiell unab- h~ingig vom AusmaB der organischen Schfidigung. Dar- aus ist u.E. sehr dringend die Forderung abzuleiten, Pa- tienten mit akutem lumbalen Bandscheibenvorfall vor Beginn einer station~iren Behandlung in jedem Fall einer kurzen psychologischen Screeningdiagnostik zu unter- ziehen. Bei Vorliegen von Risikofaktoren (vor allem ei- nem erh6hten depressiven Zustandsbild) sollten beglei- tend zur indizierten medizinischen Behandlung entspre- chende psychologische Interventionen angeboten wer- den.

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Dr. M. Hasenbring Abteilung Medizinische Psychologic Universit/its-Klinikum Niemannsweg 147 D-2300 Kiel