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Shoah (hebräisch für Vernichtung) ist der Titel des neuneinhalb-stündigen Filmes, den Claude Lanzmann, einer der engsten Mitarbeiter Jean Paul Sartres, in mehr als zehn-jähriger Arbeit über die Judenvernichtung während des Zweiten Weltkrieges gedreht hat. (Rezension von Arno Widmann 1986)
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Talking Heads vor Landschaften
Claude Lanzmanns Shoah - von Arno Widmann / taz 19.2.86Shoah (hebräisch für Vernichtung) ist der Titel des neuneinhalb-stündigen Filmes, den
Claude Lanzmann, einer der engsten Mitarbeiter Jean Paul Sartres, in mehr als zehn-
jähriger Arbeit über die Judenvernichtung während des Zweiten Weltkrieges gedreht
hat.
Lanzmann verwendet keine historischen Aufnahmen. Es fehlen die Ghettobilder, die
Uniformen, die Leichenberge. Stattdessen die Gesichter der Überlebenden — Opfer und
Täter — und die Orte so wie sie heute aussehen. Talking heads vor Landschaften.
Zum Beispiel der Anfang: Zuallererst ein Text. Der Kinozuschauer liest die wichtigsten
Daten über die Massenvernichtung der Juden. Dann das erste Bild: blühende Wiesen mit
einem kleinen Fluß und einem Kahn. Am Kopfende des Kahns sitzt ein etwa 50jähriger
Mann, am Heck steht der Schiffer, der den Kahn mit einer langen Stange abstößt. Eine
brüchige Männerstimme singt. Die Kamera geht näher heran. Es ist der Mann im Kahn
der singt. Das sanfte Grün der Wiesen, die milden Frühlingsfarben der Natur kontra-
stierten so stark mit dem schwarz/weiß des Textes, den ich zuvor gesehen hatte, daß
ich übersah, wie stark die Charon-Symbolik seinen Inhalt unterstrich.
Die Überfahrt ins Totenreich ist aber nicht nur Symbolik, sondern der Mann, der da
heute im Kahn singt, ist als 13jähriger die gleiche Strecke gefahren, durch die gleiche
blühende Landschaft. Freilich mit Ketten an den Füßen und als KZ-Häftling von Treb-
linka; singen tat er damals auch. Der ihn bewachende SS-Mann brachte ihm Wehr-
machtslieder bei, die der Junge auf seinen täglichen Fahrten zum Arbeitsplatz und
wieder zurück sang. Er tat das so laut und klar, daß die Bauern ihn härten und sich
heute noch an den singenden Judenjungen aus dem KZ erinnern.
Die Intensität dieses Anfangs erreicht Lanzmann an keiner Stelle seines Filmes wieder.
Es gibt erschütternde Geschichten darin, eine sicher ebenso unvergeßliche Szene, aber
die haben alle mit der Inszenierung, mit der ästhetischen Durcharbeitung des Materials
nichts zu tun, sondern verdanken ihre Eindringlichkeit, mit der sie unsere Ruhe stören,
dem, was sie erzählen oder zeigen, nicht dem, wie sie es tun. Da ist zum Beispiel am
Ende des ersten Teiles das Gespräch vor der katholischen Kirche. Der nach Chelmno
zurückgekehrte Junge steht — heute ein fünfzigjähriger Mann — wie zu einem Familien-
foto aufgestellt, mit dreißig, vierzig Frauen und Männern vor der Kirche, in der gerade
der Festgottesdienst zu Mariae Geburt abgehalten wird. Alle freuen sich, daß er überlebt
hat. Lachen ihn an. „Warum wurden die Juden umgebracht?", fragt Lanzmann. Ein Mann
tritt vor, der Rabbi habe damals den Juden erzählt, sie würden umgebracht, weil sie vor
zweitausend Jahren Jesus getötet hätten. Ober er das denn glaube, fragt Lanzmann.
Nein, er halte das für Unsinn, aber der Rabbi habe es erzählt. Plötzlich springt eine Frau
aus der zweiten Reihe des Familienfotos nach vorn vor Lanzmann und redet auf ihn ein:
Sie keucht die Wörter heraus. Sie ist fertig, wendet sich ab. Lanzmann fragt nach der
Übersetzung: „Pilatus hat sich die Hände in Unschuld gewaschen, aber die Juden haben
geschrien: 'Kreuziget ihn, kreuziget ihn'."
Als dann das Kirchenportal aufgeht und die Monstranz herausgetragen wird, alles Platz
macht und in die Knie geht, weiß ich: nichts ist vorbei. Auch das Schrecklichste wird
wiederauferstehen.
Natürlich bestimmen nicht solche Szenen den Film, sondern Blicke auf Wälder und Land-
schaften. Da ist ein besonders schönes Wäldchen. 1944 legten es die Deutschen vor
ihrem Rückzug über einem sechs Meter tiefen Leichenfeld an. Nach zwei Stunden Film
kann man die schönen Wälder und Wiesen nicht mehr sehen. Unter jedem Baum scheint
sich das Fürchterlichste zu verbergen, die Schönheit scheint das Ende des Schrecklichen
und dieses noch zu verstärken.
Aber der reflektierte, kluge ehemalige Mitarbeiter der 'Temps Modernes', Claude Lanz-
mann, zerstört diesen Effekt. In einer Szene steht er mit einem Überlebenden vor einem
Wald, beide betrachten lange die Bäume, dann meint Lanzmann: „Wir sind hier nicht am
Wald von Treblinka, sondern in Israel."
Mit dieser Bemerkung zerstört er die für mich eindrücklichste Botschaft seines Filmes:
die der Omnipräsenz der Vernichtung.
Gleichgültig, was seine Texte sagen: Seine Bilder machen klar, daß unter dem Pflaster
vielleicht der Strand, aber unter dem Strand ganz sicher die Gaskammern liegen.