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CLAUDIUS SEIDL Schöne, jungeWelt

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Page 1: CLAUDIUS SEIDL Schöne,jungeWelt

CLAUDIUS SEIDL

Schöne, jungeWelt

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Buch

Innerhalb von nur einer Generation hat sich die Gesellschaft revo-lutioniert:Wir werden immer jünger, werden immer später erwach-sen. Das ist einerseits eine gute Nachricht.Andererseits weiß keiner,der heute zwischen 30 und 50 Jahre alt ist, wie er mit diesem Phäno-men umgehen soll.Wo liegen die Ursachen dieser Entwicklung, wassind die Folgen? Scharfsinnig, elegant und unterhaltsam geht Clau-dius Seidl den Fragen nach, die der offenkundig verzögerte Alte-rungs- und Reifungsprozess aufwirft. Sind wir, die wir unsere Ju-gend so weit verlängert haben, überhaupt in der Lage, in Würde zualtern? Anschaulich und voller Esprit zeigt er, was in der Generationvorgeht, die heute den Ton angibt und unser Land, unser Leben

und unsere Kultur entscheidend prägt.

»Glaubt man den Publizisten Frank Schirrmacher (›Das Methusa-lem-Komplott‹) und Claudius Seidl (›Schöne junge Welt‹), wird inZukunft die gefühlte Zwölfjährigkeit bis ins hohe Rentenalter ver-längert. Insofern sind Horden von weißbärtigen Boardern nur eine

Frage der Zeit.« Welt am Sonntag

Autor

Claudius Seidl wurde 1959 in Würzburg geboren. Er studierte inMünchen Theater, Kommunikation, Politik und, als Gegengift,Volkswirtschaftslehre. Und im Münchner Filmmuseum bei EnnoPatalas: Filmgeschichte. Seit 1983 verfaßte er Filmkritiken, erst fürdie Süddeutsche Zeitung, dann auch für die Zeit und Tempo. Von1990 bis 1996 war Claudius Seidl Kulturredakteur beim SPIEGEL,die meiste Zeit davon als Ressortchef.Von 1996 bis 2001 war er stell-vertretender Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung. Seit 2001 istSeidl Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

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Claudius SeidlSchöne junge

WeltWarum wir nicht mehr

älter werden

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Dank an

Michael Althen, Maxim Biller, Nina Grosse,Amelie von Heydebreck, Niklas Maak,

Eva Marz, Nils Minkmar, Carsten Niemitz,Frank Schirrmacher, Moritz von Uslar,

HeinrichWefing.

Und natürlich: an Christine.

Umwelthinweis:Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches

sind chlorfrei und umweltschonend.

1. AuflageTaschenbuchausgabe Januar 2007

Wilhelm GoldmannVerlag, München,in derVerlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Originalausgabe 2005by Goldmann Verlag, München,

in derVerlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: DesignTeam München

Umschlagfoto: Getty Images/Harvie (200342691-001)KF · Herstellung: Str.

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN-10: 3-442-15425-1ISBN-13: 978-3-442-15425-8

www.goldmann-verlag.de

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»When we are young we are a jungle of complications.As we get older we simplify.«

Graham Greene, »The Quiet American«

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Geburtstage

I.

An dem Tag, an dem ich vierzig wurde, wachte ich, weil ichhineingefeiert hatte, mit einem Kater auf, trank, als Ge-gengift, eine halbe Flasche Wasser und vier Tassen starken,schwarzen Kaffees, zog einen grauen Sommeranzug, aberkeine Strümpfe an, krempelte die Hosen hoch, fuhr mit demRad zur Arbeit, beschimpfte unterwegs ein paar Autofahrer,die den Radweg blockierten, fing auf der ersten Konferenzdes Tages einen Streit mit meinem Vorgesetzten an, machtespäter, als der Personalchef mit einer Flasche Champagnerkam, die ich, so sein Vorschlag, abends trinken sollte, ein paarScherze auf seine Kosten und öffnete den Champagner gleich,ging mittags essen mit Kollegen, die ich Jungs nannte, lachteüber ihre Scherze, die auf meine Kosten gingen, schaute aufdem Rückweg, weil es Sommer war, den kurzen Sommerklei-dern hinterher, legte meine Füße auf den Schreibtisch undblieb, weil es soviel zu tun gab und die Arbeit eigentlich einVergnügen war, viel zu lange im Büro, legte mich abends aufsSofa und hörte sehr laute Soulmusik, sagte allen, die anrie-fen und mir gratulierten, es gehe mir gut, trank einen klei-nen Whisky und küßte meine Frau und sagte zu ihr: Ich habeein gutes Leben. Warum macht es mich trotzdem traurig?Warum werde ich das Gefühl nicht los, daß ich zehn Jahre zualt für dieses Leben bin?

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Du bist fünfzehn Jahre zu alt, sagte sie, aber jedes andereLeben würde dich noch trauriger machen.

Als sie schlief, lag ich noch sehr lange wach und nahmmir vor, demnächst einmal konzentriert über mein Alter unddas angemessene Verhalten nachzudenken. Morgen, über-morgen, an einem Tag, an dem ich endlich mal ausgeschlafenhaben würde.

II.

Durch einen Nebel von Zigarettenrauch, Alkohol und Mü-digkeit sah ich, als ich mir die Augen rieb, daß es draußen hellgeworden war.Vom Balkon her roch es nach Kaffee, und ichstellte mein Glas weg, drehte die Stereoanlage, die zum sieb-ten Mal hintereinander dieselbe Quincy-Jones-Platte spielte,ganz leise, und mit unsicheren Schritten ging ich in die Rich-tung, aus der das Licht und der Kaffeegeruch kamen.

N. hatte seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert, auf eineArt, die diesem Datum angemessen war. Er hatte so vieleLeute eingeladen, daß man zwischen elf Uhr nachts und einUhr morgens in der Wohnung nur hatte stehen können. Ge-gen halb zwei, als die ersten gegangen waren, hatten ein paarMädchen im Arbeitszimmer zu tanzen angefangen, gegenhalb drei schauten zwei freundliche Polizisten vorbei, batenum Ruhe und mehr Rücksicht den Nachbarn gegenüber. Umvier lagen zwei Jungs, die eingeschlafen waren, auf dem gro-ßen Sofa, und im Flur führte ein sehr junger Mann mit einersehr hübschen Frau ein äußerst ernstes Flirtgespräch; in dendunkleren Ecken der Wohnung war man schon weiter, hierwurde intensiv geknutscht. Und jetzt war es halb sechs, einfreundlicher Sonntag im späten Sommer, und als ich hinaus-

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trat auf den Balkon, sah ich, was enorm erleichternd auf michwirkte, daß außer dem Geburtstagskind, seiner Freundin undein paar anderen Dreißigjährigen, auch mein Freund M. solange ausgehalten hatte, M., der so alt wie ich war: zehn Jahrezu alt, wie ich an diesem Morgen fürchtete.

Findest du angemessen, was wir hier tun, fragte ich. Oderist es nicht ein bißchen lächerlich, die Nächte durchzuma-chen unter diesen jungen Menschen?

Jetzt ist es hell, sagte M. Jetzt ist daran sowieso nichts mehrzu ändern.

Was hat es uns aber gebracht? Wir sind zu verheiratet,um hier hinter den Mädchen herzusein, und zu vernünftig,uns hemmungslos zu betrinken. Von den anderen Drogen,für die wir zu alt sind, will ich gar nicht erst anfangen. Undder heutige Tag ist ja auch für jede sinnvolle Tätigkeit verlo-ren. Parties wie diese laufen letztlich darauf hinaus, daß wirden Rausch den Jüngeren überlassen. Nur den Kater teilenwir mit ihnen.

Ach was, sagte M.Wenn ich nach Hause gehe, werde ich al-lerbeste Laune haben. Ich werde zu mir selber sagen:Was füreine schöne Party. Es gab Sex, es gab Drogen, es gab etwas zutrinken. Nicht für mich natürlich, mit Ausnahme von ein paarGläsern Whisky. Aber immerhin: Es war da. Darum geht esdoch. Um die Möglichkeit. Ich muß nicht mitmachen, ummich daran zu freuen, daß es die Möglichkeit einer solchenParty gibt. Ich werde wissen, daß ich alt bin, wenn mich kei-ner mehr einlädt zu so einer Party. Oder wenn ich keine Lustmehr habe hinzugehen.

Ich holte einen Becher aus der Küche und goß mir heißenschwarzen Kaffee ein.Vielleicht war es ja richtig, gute Launezu haben.

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Liebling, ich werde jünger

I.

Gegen Mittag rief endlich Leo an, um mir alles zu erzählen –seine Botschaft war, daß es nichts zu erzählen gab. »Es warein Flop«, sagte Leo, »du hast nichts versäumt, sei froh, daßdu nicht mitgegangen bist.«

Leo hatte mir die Party des Monats versprochen, am Nach-mittag davor, als er seinen Abend plante: »Komm mit«, hatteer gesagt, »wir werden schöne Menschen sehen, vor allemFrauen, wunderbare Frauen.« Eine neue Zeitschrift wurdevorgestellt, die Einladungskarten waren schwarz und schick,ich konnte aber nicht, ich durfte nicht mit, ich mußte frühaufstehen am nächsten Morgen. »Die Frauen«, sagte trotzdemLeo, der damals keine Freundin hatte, »die großen, schlankenFrauen in ihren spitzen Prada-Pumps. Du mußt wissen, wasdu dir entgehen läßt.«

»Waren sie da, die schönen Frauen?« fragte ich Leo amTelephon.

»Sie waren da. Das glaube ich jedenfalls. Es war so dun-kel auf dieser Party, daß ich sie nicht richtig sehen konnte.Und so laut war es, daß ich sie nicht ansprechen konnte. Idio-tenparty. Wie soll ich denn einen Witz erzählen oder irgendetwas Nettes sagen bei dem Lärm?« Er sei, sagte Leo, wie alleanderen dumm herumgestanden, er habe ein bißchen ge-trunken, ein bißchen die Leute taxiert, alle Angebote zu ille-

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galen Drogen ausgeschlagen – und dann habe er doch nochmit Heike geknutscht, der blonden Drehbuchschreiberin, dieer aber schon seit Monaten kenne und die dann doch nichtmit zu ihm gegangen sei, was aber, wie Leo schwor, ihm letzt-lich auch egal gewesen sei.Verliebt sei er ja eh nicht in sie, undnachts müsse er noch immer an Sabine denken, die schöne,arrogante Sabine, die ihn vor einem Monat verlassen hatteund zu ihrem festen Freund zurückgekehrt war.

Um halb zwei sei er schon zu Hause gewesen, schimpfteLeo, und bis drei Uhr habe er noch ferngesehen, einen ver-schwatzten französischen Softpornofilm, der den Abend aberauch nicht mehr retten konnte. Das war also die Nacht, die ichverschlafen hatte: eine ganz normale Freitagnacht, eine Party-und Flirtnacht, eine Whiskynacht, eine Scheißnacht, genaudas, was einer am Ende der Woche eben braucht – wenn erneunzehn oder fünfundzwanzig ist.

Leo ist aber keine fünfundzwanzig mehr, Leo ist im Herbstdreiundvierzig geworden, und er hält, was er so in seiner Frei-zeit tut, für seinem Alter absolut angemessen. Seine Freundeleben ja auch nicht viel anders, er kennt kaum jemanden,der sich für eine solche Nacht zu alt und zu erwachsen fühlte.Und wie neu und ungeheuerlich das ist, wie revolutionärund wundersam: Das erkennt man womöglich erst dann,wenn man die Zeit kurz zurückspult, ein halbes Jahrhundertungefähr, ins Jahr 1952, als ein sehr komischer Film vonHoward Hawks in die Kinos kam – eine Komödie, derenvisionäre Kraft sich erst heute offenbart. »Monkey Business«hieß der Film im Original (und auf die Affen werden wirnoch zurückkommen müssen); der deutscheTitel war »Lieb-ling, ich werde jünger«, und Cary Grant spielte darin denMann, der die Formel für die ewige Jugend entdeckt: ein Se-rum, das jeden jünger werden läßt.

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Grant war hier ein sehr seriöser Herr, ein erwachsenerMann von Anfang Vierzig, verheiratet und zufrieden damit,bebrillt und immer korrekt gekleidet – bis er, aus Versehen,von dem Serum trank. Erst spürte er bloß so ein albernesGefühl. Dann ließ er sich die Haare zur Bürste schneiden.Er besorgte sich ein Sakko mit sehr großen Karos, er kaufteeinen Sportwagen mit offenem Verdeck. Und dann setzte erdie junge Marilyn Monroe auf den Beifahrersitz, drückte mitvoller Kraft aufs Gaspedal, und Marilyn Monroe kreischtevor Vergnügen.

Ein Mann in seinenVierzigern, der sich so aufführt, als blie-ben ihm bis zum Erwachsenwerden noch mindestens zehnJahre Zeit, ein alter Sack, der sich so benimmt, als wäre er ge-stern noch ein Teenager gewesen: Das war vor fünfzig Jah-ren absurd und lächerlich, und bis in die achtziger Jahre hin-ein blieb Howard Hawks’ Komödie ein Renner im Sonntag-nachmittagsfernsehprogramm. Heute allerdings bekommtman den Film kaum noch zu sehen – was wohl vor allem daranliegt, daß seinen Gags die Grundlage längst entzogen wurde.Was damals lustig wirkte, ist heute der Normalzustand. Wirsollten uns »Liebling, ich werde jünger« nicht bloß als Komö-die, sondern vor allem als Science-fiction vorstellen – in derZukunft, wie sie dieser Film beschreibt, sind wir inzwischenangekommen.

Der Vierzigjährige, der sich noch immer halbstark fühltund kleidet und benimmt, ist alles andere als eine lächerlicheFigur. Er ist der repräsentative Bewohner unserer Gegen-wart. Er begegnet uns in der U-Bahn und in der Fernseh-werbung, in der Bankfiliale und im »Bericht aus Berlin«, amArbeitsplatz, im Stammlokal und natürlich auf allen Lein-wänden. Er fällt nicht auf, weil es fast nur noch seinesgleichengibt. Und daß er eine absolut neuartige Erscheinung ist, wird

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ihm aus genau diesem Grund nur sehr selten bewußt. An-ders als Cary Grant vor einem halben Jahrhundert will erniemanden provozieren, und wenn es die Lage erfordert,schlüpft auch er in den Habitus des Erwachsenseins, mit An-zug, Krawatte und den dazugehörigen Manieren. Es nütztihm aber nichts. Man merkt ihm immer die Distanz an. Mansieht zu deutlich, daß er noch nicht erwachsen sein will.

Und natürlich ist dieser repräsentative Zeitgenosse in fünf-zig Prozent aller Fälle eine Frau – und was sich da, in nureinem halben Jahrhundert, verändert, ja welche Revolutiondie Verhältnisse erschüttert hat: Das zeigt sich überdeutlich,wenn wir noch einmal zurückblenden in den Film. NachCary Grant kostet auch seine Frau vom Jugendlichkeits-serum, und diese Frau spielte Ginger Rogers, die zur Zeitder Dreharbeiten vierzig Jahre alt war. Sie war in den drei-ßiger Jahren der größte Star des Filmmusicals gewesen, eineschöne, starke Frau mit schmalen Hüften, einem breitenMund und strahlenden Augen, eine atemberaubende Tänze-rin, die Partnerin von Fred Astaire, die Hälfte eines Traum-paars, über das man damals sagte: »She gave him sex, he gaveher class.« Aber das war seit mindestens zehn Jahren vor-bei, Ginger Rogers war älter geworden, was man ihr deutlichansah. Sie war ideal besetzt als seriöse Ehefrau, sie trugRöcke, die das Knie bedeckten, und sah aus, als könnte sieden perfekten Truthahn zubereiten. Nur jung sah sie über-haupt nicht aus – und wenn sie im Film das Wundermittelnimmt und anfängt, sich wie ein Mädchen zu benehmen,albern, sexy und sehr kokett: Da wird der Film ein bißchenpeinlich, und Ginger Rogers tut einem eher leid, als daß manüber sie lachen möchte. Ihr Gesicht wirkt überfordert, wennsie eine Schnute zieht, ihre Figur paßt nicht recht in die Mäd-chenkleider. Sie sieht alt und auch ein bißchen unglücklich

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aus, wenn sie sich wie eine Jugendliche gibt. Und wenn dieWirkung des Serums endlich verflogen ist, möchte man sichausdrücklich bei dem Film bedanken, vor allem im Namenvon Ginger Rogers.

Offenbar wirkt das Serum, das uns Zeitgenossen injiziertworden ist, viel stärker und viel nachhaltiger. Es hat nichtbloß das Befinden verjüngt, es verändert auch die Körper.Eine Frau, die so aussieht wie Ginger Rogers in dem Film,würden wir heute auf Anfang Fünfzig schätzen. Eine Frauvon vierzig dagegen, die sich mit den Insignien der Jugend-lichkeit schmückt und sich manchmal ein bißchen mädchen-haft gibt, fällt im schlimmsten Fall überhaupt nicht auf. Undim besten eher angenehm. Sie ist die Regel, nicht die Aus-nahme – wir haben uns angewöhnt, Frauen unter dreißigohnehin als halbe Kinder zu betrachten und Männer in die-sem Alter als Grünschnäbel; man muß die Fünfunddreißigschon überschritten haben, wenn man überhaupt ernstge-nommen werden will, und mit welchem Alter die Jugendendet, war noch nie so ungewiß wie heute. Sicher ist nur, daßunsere Gesellschaft, wenn sie in den Spiegel guckt, wenn sieihr Selbstporträt anfertigt und wenn sie nach der perfektenVerkörperung ihrer Vorstellung von Jugend und Gesundheitsucht, das Schönheitsideal, das Sexsymbol: daß sie dann anFrauen wie Nicole Kidman oder Julianne Moore denkt, anMänner wie George Clooney, Brad Pitt oder Hugh Grant –an Menschen also, die mindestens Ende Dreißig und mei-stens älter als vierzig sind. Und da unser Schönheitsideal, wiejeder Blick auf alte Filme oder Bilder beweist, nicht gealtertist, bleibt nur eine Folgerung: Jene, die es verkörpern, sindjünger geworden, jünger als es Menschen jenseits der Dreißigjemals waren. Und es sieht ganz so aus, als würde es jederspüren – und keinem fällt es auf.

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Manchmal merkt, irgendwo an einem abgelegenen Schreib-tisch oder in einem einsamen Fernsehsessel, noch ein altmo-discher Mensch, daß irgend etwas hier nicht stimmen kann.Jener Schreiber eines britischen Filmmagazins zum Bei-spiel, der neulich ein Pamphlet verfaßte, das auf die Forde-rung hinauslief: »Mädels, werdet endlich erwachsen!« DemMann war aufgefallen, daß Schauspielerinnen in ihren spä-ten Zwanzigern und frühen Dreißigern, weibliche Stars wieWynona Rider oder Kate Winslet, einfach nicht aufhörenkönnen, die Mädchen zu spielen, unreife Personen, die sichzwar das Nasebohren schon ab- und den Sex seit einiger Zeitangewöhnt haben, die aber immer noch vorwiegend mit sichselber beschäftigt sind, mit ihren kleinen, gymnasiastinnen-haften Liebesgeschichten und den pubertären Zweifeln amSinn einer bürgerlichen Existenz, statt endlich mal Verant-wortung zu übernehmen oder wenigstens so würdig zu lei-den, wie das erwachsene Frauen tun. In eurem Alter, so riefder Kritiker den Mädchen zu, in eurem Alter, Mädels, habeneure Mütter und Großmütter, Frauen wie Lauren Bacall oderMarlene Dietrich, ganz andere Rollen gespielt: Frauen, dieeine Vergangenheit hatten und ein Schicksal und vielleichtauch eineTragik, Frauen, die sich kaum noch daran erinnernkonnten, daß sie mal junge Mädchen waren.

Der Mann, der da so zornig war, hatte recht – bloß hatte erdas Wichtigste übersehen. Die Rollen, welche Lauren Bacallmit neunundzwanzig spielte, sind ja nicht verschwunden. Siewerden nur heute mit Frauen besetzt, die zehn bis zwanzigJahre älter sind, mit Julianne Moore, mit Sharon Stone oderRene Russo – mit Frauen also, die vorne eine Vier undmanchmal sogar eine Fünf stehen haben und denen man mitder Mahnung, sie sollten sich an den Karrieren der Schau-spielerinnen ihrer Müttergeneration orientieren, nicht mal

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mehr ein mitleidiges Lächeln entlockte. Für die Mütter gab esjenseits der Vierzig bloß noch die grauhaarigen Rollen, dieTante des Helden oder seine Chefin, die von ihm Respektwollte, einen Blumenstrauß vielleicht auch, aber ganz sicherkeinen Sex – während, nur zum Beispiel, Quentin Tarantinoin seinem Filmzweiteiler »Kill Bill« die Rolle einer professio-nellen Killerin, die zwar vorwiegend mit Schwertern undPistolen ihren Job erledigt, die aber im entscheidenden Mo-ment ihren Sex als die allerschärfste Waffe entsichert, mit derdreiundvierzigjährigen Daryl Hannah besetzt, einer langbei-nigen, blonden Schönheit, die zum Filmstart, um ihre Eig-nung für die Rolle zu beweisen, noch ein paar hübsche Pho-tos von sich im »Playboy« plazierte. Da trägt sie keine Waffe,da trägt sie eigentlich überhaupt nichts außer ihrer Haut.

II.

Die Bewußtseinsindustrie, die Bilder- und Geschichtenpro-duzenten in Hollywood, London oder München haben aufdiese revolutionären Veränderungen längst reagiert – undwahrscheinlich ist ihnen gar nicht bewußt, was sie da tun.Während kritische Geister noch warnen vor dem Jugend-wahn und vor dem, was sie den »Schönheitsterror« nennen,hat sich das Publikum längst darauf geeinigt, daß die schön-sten und begehrenswertesten Frauen unserer Epoche, nurzum Beispiel, Nicole Kidman oder Julia Roberts seien,Salma Hayek, Sarah Jessica Parker oder Monica Bellucci, lau-ter Frauen also, die vom dreißigsten Geburtstag viel weiterentfernt sind als vom vierzigsten. In der Fernsehserie »Sexand the City« spielte Kim Catrall, eine Frau in den spätenVierzigern, die sexhungrige Männerverschlingerin und kam

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damit davon, ohne sich lächerlich zu machen. Und SharonStone, die sich, kurz nach ihrem vierzigsten Geburtstag, lautdarüber beschwerte, daß es in Hollywood keine guten Rollenmehr für Frauen über vierzig gebe, hatte damals wohl eherschlechte Laune als einen Geistesblitz.

Im Jahr 1968 kam ein Film in die Kinos, der dem Publi-kum all das bot, was damals für jung und schick und erstre-benswert galt. Es gab Schauplätze in Boston und am Strandzum Cape Cod, es gab Wohnungen, die so ultracool einge-richtet waren, daß man sofort einziehen und seine fünfzig be-sten Freunde (oder besser: nur die Freundinnen) mitbringenwollte, es gab Kleider, die waren so knapp geschnitten, daßman sich fragte: Wie sind die Leute da hineingekommen,und, vor allem, wie kommen sie wieder heraus? Es gab eineGeschichte, die eher ambitioniert als spannend war; sie er-zählte, sehr beiläufig, vom perfekten Raub, und sehr konzen-triert erzählte sie von einem Mann und einer Frau, die ein-ander unwiderstehlich finden, obwohl sie eigentlich gegen-einander arbeiten – und natürlich konnte diese Story nurfunktionieren, wenn man die Hauptrollen mit Schauspielernbesetzte, deren Sex-Appeal unabweisbar und unwiderlegbarwar. Den Mann spielte Steve McQueen, die Frau spielte FayeDunaway, und als sie einander endlich kriegten, sah das un-serer Vorstellung vom Glück des Augenblicks viel ähnlicherals zum Beispiel der Zug, der knapp zehn Jahre zuvor, inHitchcocks »Unsichtbarem Dritten«, in einen Tunnel einfah-ren mußte, um diskret darauf zu deuten, daß es jetzt zurSache ging.

Der Film hieß »The Thomas Crown Affair«, und im Jahr1999, also einunddreißig Jahre danach, war die Zeit endlichreif für eine aktualisierte Version. Diesmal spielte die Hand-lung in Manhattan und auf einer heißen Palmeninsel, wie-

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der sah man exquisiteWohnungen, teure Garderoben, lässigeGesten, und wieder erzählte der Film davon, wie ein attrak-tiver Mann den perfekten Kunstraub plant und wie eineschöne Frau ihn daran hindern will – und wieder ging es baldnur noch darum, daß die beiden ihren Zweikampf dort fort-setzen, wo ein Unentschieden schon in Ordnung geht, imBett. Die Hauptrollen spielten Rene Russo und Pierce Bros-nan – und was in diesem Film so neu war, das offenbart einBlick auf die Geburtsdaten dieser Kinohelden. Im Jahr 1968war Faye Dunaway 27 Jahre alt, Steve McQueen war 38. ImJahr 1999 war Rene Russo 45 Jahre alt, Pierce Brosnan war46. Und daß Mrs. Russo in den Szenen auf der Palmeninselnicht mehr anhatte als ein Bikinihöschen, war fürs Verständ-nis der Handlung vielleicht nicht unbedingt nötig, es belegteaber, wie ernst es ihr mit dieser Rolle war.

Daß das Kino meistens lüge, sagen die, die seineWahrheitnicht sehen wollen. Daß schöne Filme nur von der bösenWirklichkeit ablenken wollen, vermuten die, die keinen Blickhaben für die Wirklichkeit des Kinos. Natürlich sehen nichtbloß die Möbel und die Kleider, sondern vor allem die Men-schen im Kino sehr viel besser aus als in der Wohnung ne-benan. Aber gerade deshalb ist es ja eine solche Sensation,wenn zwei Mittvierziger in einem populären Film das Lie-bespaar spielen. Denn der Anfangsverdacht gegen die Bilder-und Geschichtenindustrie läuft ja eher darauf hinaus, daß inden Fiktionen aus Hollywood die Verhältnisse beschönigtwürden. Und insofern wäre es widersinnig, die Rolle dersuperattraktiven Frau mit einer 45jährigen zu besetzen, woman doch jederzeit und für die gleiche Gage auch eine 30jäh-rige kriegen könnte – es sei denn, es gäbe auf der anderenSeite der Leinwand genügend Menschen, die das genausowollen.

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Denn »TheThomas Crown Affair« war ja als Kassenerfolgangelegt – nicht etwa als Spartenprogramm für Senioren undsanfter Trost für die, die den vierzigsten Geburtstag schonhinter sich haben. Der Film mußte, wenn er sein Geld wiedereinspielen wollte, das gesamte Publikum für sich gewinnen,und das heißt, erstens, daß Rene Russo und Pierce Brosnaneine Entsprechung in derWirklichkeit gehabt haben müssen:Wenn es im Leben, in der unmittelbaren Realität des Publi-kums niemanden gegeben hätte, dem die Zuschauer zuge-traut hätten, was die Stars auf der Leinwand taten, dann wäreauch der Film nicht damit davongekommen. Und weil, zwei-tens, das amerikanische Kino nichts ist ohne die physischeAttraktivität seiner Stars, deshalb mußten Rene Russo undPierce Brosnan begehrenswert wirken – und zwar nicht bloßauf die Gleichaltrigen, sondern auf alle.

Der Film hat funktioniert – aber was das bedeutet, dashaben wir uns noch immer nicht richtig klargemacht. DieGrenzen der Jugend haben sich innerhalb von nur dreißigJahren, in jenem Zeitraum also, den man früher »eine Gene-ration« genannt hätte, um mehr als zehn Jahre nach hintenverschoben. Wenn eine Frau von 45 die Rolle spielen kann,die einst für eine 27jährige gedacht war, wenn zwei Mittvier-ziger zu den Helden einer Geschichte werden, die einst fürMenschen deutlich unter vierzig geschrieben wurde, danntaugen die alten Biographie-Baupläne nichts mehr, und dieLebenskalender müssen neu justiert werden.

Jungsein, das war mal etwas, das spätestens mit dem drei-ßigsten Geburtstag vorbei war, und spätestens kurz nachdem vierzigsten war die Zeit gekommen, da blieb man andem Ort, wo man war, verabschiedete allmählich die Kin-der, begrüßte die grauen Haare und fing schon mal damitan, sich ans Rückwärtszählen zu gewöhnen: noch zwanzig,

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neunzehn, achtzehn Jahre bis zum Ruhestand. Jungsein, dasist heute eine Möglichkeit, die anscheinend jedem offen steht,ganz egal, wie alt er ist.

III.

Es gibt natürlich Menschen, vorwiegend solche, die sichnoch an die alten Zeiten erinnern können, ältere Herren zu-meist, die finden Vierzigjährige, die sich wie Jugendliche auf-spielen, würdelos – und sie fangen nicht erst dann an, sich zuempören, wenn eine Frau über vierzig ihren nackten Körperzeigt. Nein, die ganze Richtung geht ihnen gegen den Strich,und besonders heftig hat im Frühjahr 2004 der PublizistJoseph Epstein protestiert, in einem Beitrag für das konser-vative Intelligenzblatt »Weekly Standard«, der den Titel hatte:»Der ewige Heranwachsende. Und der Triumph der Jugend-kultur«. Es sind vor allem ästhetische Einwände, die Epsteinvorbringt, er kann den Anblick nicht ertragen, wenn Män-ner, die ihre Pubertät längst hinter sich haben, noch immerin Jeans und offenen Hemden daherkommen; er sähe lieberMänner in Anzügen und Krawatten, und für die schlimm-sten Probleme Amerikas, die politischen und die wirtschaft-lichen, sagt Epstein, sind jene Männer und Frauen verant-wortlich, die einfach nicht erwachsen werden können. DasLeben müsse gefälligst, wie ein aristotelisches Drama, einenAnfang, eine Mitte und einen Schluß haben, und zwar genauin dieser Reihenfolge, und die Lebensmitte, die Hauptsachealso und der Höhepunkt, fehle jenen, die nicht begriffen, daßJugend bloß ein vorübergehender Zustand sein könne, daskurze Stadium zwischen Kindheit und Erwachsensein.

Erwachsen, sagt Epstein, ist einer, der einsieht, daß er nicht

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alles haben kann, was er will – und insofern seien jene Mana-ger, die mit ihrer Gier die Ölfirma Enron ins Desaster steuer-ten, genauso ein Beleg für seine These wie der Präsident BillClinton, der seine Zigarre dahin steckte, wo sie definitiv nichthingehörte, und auch noch dumm genug war, sich erwischenzu lassen: lauter Erwachsene, die sich wie verdammte Grün-schnäbel aufführen, weil sie zuviel Rock’n’Roll gehört, zuvielferngesehen und die falschen Bücher gelesen haben.

Denn die Kultur, sagt Epstein, ist die Urheberin diesesSkandals und zugleich dessen deutlichster Ausdruck: VonSalingers »Fänger im Roggen« bis zur Fernsehserie »Friends«,von der Popmusik bis zu den Rollen, die Anfangsvierzigerwie Hugh Grant oder Jim Carrey im Kino spielen – unserepopuläre Kultur predige die Jugend als Natur- und Idealzu-stand des Menschen und verdamme das Älterwerden als dieSünde der Selbstentfremdung.

Vom Jugendwahn besessen, perpetuierten die Erwachse-nen ihre eigene Jugendlichkeit bis an die Grenze zum Ren-tenalter; sie schwömmen (wie Kierkegaard das genannt hat)durchs »Meer des Möglichen« und weigerten sich, endlichan Land zu gehen.

Erschwerend komme hinzu, daß jene, die die Wirtschafts-krise der dreißiger Jahre oder den Zweiten Weltkrieg erlebthätten, langsam ausstürben. Wer aber ohne solche Krisenaufgewachsen sei, habe den Ernst des Lebens niemals ken-nengelernt; wer niemals die Angst ums nackte Überleben, dieAngst vor dem Tod gespürt und überwunden habe, wer denTod nur als abstrakte Nachricht kenne und gar nicht richtigwisse, was echte Sorge sei: So einem fehle absolut die Fähig-keit, das Ernste vom Unernsten, das Wichtige vom Überflüs-sigen zu unterscheiden.

Als ich das alles gelesen hatte, rief ich Leo an und fragte ihn,

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ob er vielleicht jemanden kenne, der erwachsen sei, jemandenzwischen vierzig und fünfzig vielleicht. Leo lachte und sagte:»Ich bin sehr erwachsen. Erwachsener als ich es bin, kann mangar nicht sein. Ich verdiene Geld und zahle meine Steuern. Icharbeite viel, trinke kaum und rauche manchmal abends eineZigarette. Ich führe ein gemäßigtes Leben. Und ich sorge fürmeine kleine Tochter.«

»Aber du lebst nicht mit ihrer Mutter zusammen. Duknutschst mit Frauen, in die du nicht verliebt bist, und ver-liebst dich in Frauen, die nicht bei dir bleiben. Du kaufst dirdie neuesten Schallplatten. Du sammelst alte Schallplatten.Du ziehst manchmal einen Anzug an, aber niemals eine Kra-watte. Du willst immer wissen, wo die schicken Parties sind.Das ist ein schönes Leben, aber erzähl mir doch nicht, daßdas erwachsen ist!«

»Was willst du eigentlich von mir?« fragte Leo. »Willst du,daß ich mit einer Frau, die ich nicht liebe, Kinder zeuge,die wir dann mit Fernsehverbot und Hausarrest erziehen?Willst du, daß ich dreißig Kilometer von der Stadtmitte ent-fernt in ein Reihenhaus ziehe, samstags meinenVolvo wascheund abends nach den Tagesthemen vor dem Fernseher ein-schlafe? Oder wünschst du dir vielleicht, daß ein Krieg kommtoder eine Hungersnot, damit wir endlich das wahre Lebenkennenlernen? Tut mir leid, ich will das nicht. Mir ist meinLeben auch so schon wahr genug.«

Leo, das muß hier gesagt werden, ist Künstler von Beruf,er wohnt in einer großen Stadt, er ist in jenem Milieu zuHause, das man noch immer die Boheme nennt, und dieVermutung, daß irgend etwas an seinem Lebensstil reprä-sentativ sei, würde Leo empört zurückweisen. Auch eineHollywoodschauspielerin, deren Tage mit Ayurveda begin-nen und mit Mineralwasser zu Ende gehen, hat ziemlich we-

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