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1 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandradio-Literatur 12.8.08 19.30-20 Uhr "Jene Erschütterung im August" 1968 in der DDR-Literatur Von Dunja Welke Redaktion: Sigried Wesener ---------------------------------------------------------------------------------------------------- Oktoberclub "Sag mir, wo Du stehst" mit Biermann konterkarieren: "Warte nicht auf bessere Zeiten" von CD "aah-ja" Sprecherin: Das Jahr 1968 war ein entscheidendes Jahr - in West wie in Ost. In Westdeutschland und Westberlin gingen Studenten und linke Intellektuelle auf die Straße - gegen den Vietnamkrieg und gegen das Verdrängen der Nazivergangenheit -, in der DDR erhofften viele mit dem "Prager Frühling" einen menschlichen Sozialismus. Auf die Straße gingen dafür nur wenige. Der Protest, als die Militärinvasion der Warschauer Vertragsarmeen am 21.August die Hoffnungen zunichte machte, wurde kaum öffentlich. Der damals fünfunddreißigjährige Lyriker und Prosaist Reiner Kunze beobachtete die Liberalisierung im Nachbarland mit großer Anteilnahme, aber auch skeptisch. Wendungen wie "Sozialismus COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden.

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COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden.

Deutschlandradio-Literatur 12.8.08 19.30-20 Uhr "Jene Erschütterung im August" 1968 in der DDR-Literatur Von Dunja Welke Redaktion: Sigried Wesener ----------------------------------------------------------------------------------------------------

Oktoberclub "Sag mir, wo Du stehst" mit Biermann ko nterkarieren:

"Warte nicht auf bessere Zeiten" von CD "aah-ja" Sprecherin:

Das Jahr 1968 war ein entscheidendes Jahr - in West wie in Ost. In

Westdeutschland und Westberlin gingen Studenten und linke

Intellektuelle auf die Straße - gegen den Vietnamkrieg und gegen

das Verdrängen der Nazivergangenheit -, in der DDR erhofften

viele mit dem "Prager Frühling" einen menschlichen Sozialismus.

Auf die Straße gingen dafür nur wenige. Der Protest, als die

Militärinvasion der Warschauer Vertragsarmeen am 21.August die

Hoffnungen zunichte machte, wurde kaum öffentlich. Der damals

fünfunddreißigjährige Lyriker und Prosaist Reiner Kunze

beobachtete die Liberalisierung im Nachbarland mit großer

Anteilnahme, aber auch skeptisch. Wendungen wie "Sozialismus

COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne

Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere da rf es nicht ganz oder

teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in son stiger Weise

vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das M anuskript nur mit

Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werd en.

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mit menschlichem Antlitz" oder "demokratischer Sozialismus"

gebraucht er bis heute nicht:

O-Ton 1: (Kunze) In diesen Begriffen werden Wunschvorstellungen artikuliert, und es wird suggeriert, sie seien unter bestimmten Umständen verwirklichbar. Auf diesen Begriff lass ich mich ein, "Prager Frühling". Es war wirklich ein Frühling. Diese Metapher ist nur insofern nicht ganz durchführbar, weil nach dem Frühling gleich der Winter kam. (0'25'')

Sprecherin:

1963 hatte die Kafka-Konferenz auf Schloss Liblice bei Prag eine

geistige Befreiung eingeleitet und auch in die DDR hineingewirkt. Heftig

hatten die Konferenzteilnehmer darüber gestritten, ob menschliche

Entfremdung auch im Sozialismus weiterwirke und ob sie mit modernen,

nicht mehr nur sozialistisch-realistischen Methoden darstellbar sei. Für

Reiner Kunze, der 1968 mit dem Übersetzerpreis des

tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes ausgezeichnet worden

war, keine Frage. Von der Besetzung der ČSSR am 21.August erfuhr er

im grenznahen Greiz - überwacht von der Staatssicherheit.

O-Ton 2: (Kunze) Irgendwann saßen wir, meine Frau und ich, am Radio und hörten tschechische Sender. Und wir hörten also Pilsen, und im Pilsner Rundfunk hatten wir einen Kollegen, Franticek, also Franta. Er erzählte am Mikrofon: "Jetzt kommt der erste Panzer auf das Funkhaus zugefahren, jetzt wendet er das Geschützrohr auf das Funkhaus. Wir werden gleich aufhören müssen mit Senden. Ich grüße Elisabeth und Reiner Kunze in Greiz." Ich kann das heut nicht ohne Emotion erzählen. (0'44'')

Sprecherin:

In Ostberlin erlebte der neununddreißigjährige Günter Kunert diese

Augustnacht ähnlich.

O-Ton 3: (Kunert) Ich war zufälliger Weise bei einem Freund, einem Regisseur, wir sahen fern, kam dann der Schock. Und es war uns klar, dass damit selbst diese zaghaften Versuche, in der DDR ein bisschen Liberalität zu erwecken, auch beendet waren. Das war 'ne ganz, ganz trostlose Geschichte, eine ziemliche Katastrophe. Ein Teil

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von Schriftstellern und Intellektuellen in der DDR hatte ja wider alle Vernunft die Illusion, es würde ein bisschen etwas vom "Prager Frühling" auch nach Ost-Berlin dringen. Wir hatten angenommen, dass es ein bisschen toleranter würde in der DDR, bedingt durch das Beispiel der Tschechoslowakei. Und wir hatten nicht damit gerechnet, dass auf eine so barbarische Art diese Reformbewegung abgewürgt würde. (1'06'')

Sprecherin:

1968 brachte der Ostberliner Verlag "Neues Leben" sowohl von Reiner

Kunze als auch von Günter Kunert Lyrikhefte in der populären

monatlichen Reihe "Poesiealbum" heraus. Ausgerechnet im August

erschien das Heft 11 vom Kritiker der Militärinvasion Reiner Kunze. Darin

auch das Gedicht "Sensible Wege".

Es gab jenem Lyrikband den Titel, der im folgenden Jahr in der DDR

verboten und vom westdeutschen Rowohlt Verlag ediert wurde.

Zitator: sensible wege Sensibel ist die erde über den quellen: kein baum darf gefällt, keine wurzel gerodet werden Es sei bei strafe des versiegens Wie viel bäume werden gefällt, wie viele wurzeln gerodet in uns

Sprecherin:

Günter Kunerts "Poesiealbum" verhalf eine Würdigung Johannes R.

Bechers zur Druckgenehmigung. Becher war zwar schon zehn Jahr tot,

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hatte aber in den 50er Jahren den jungen Kunert gefördert. Im Vorsatz

des Heftes wird Kunert gelobt als talentierter deutscher Dichter, auf den

das Volk stolz sein könne. Unter den dreiundzwanzig abgedruckten auch

eines, das parabelhaft die aufgeheizte Klassenkampfatmosphäre in der

DDR thematisiert.

O-Ton 4: (Kunert) "Tücke des Feindes" Nichts erfuhr auf der Insel Ioa eine japanische Kompanie vom Ende des Krieges, vom Stillstehn Der Waffen, von der Verwundeten Austausch, Befreiung der Gefangenen, dem beginnenden Aufbau zerstörter Häuser und Hirne, sondern zog morgens auf Wache, spürte hinter jedem Gesträuch nach, erschreckt vom Ruf wilder Hirsche, misstrauisch gegenüber der Nachtigall, ob sie nicht etwa ein getarntes Signal, vor Wachsamkeit schlaflos und völlig zermürbt und hielt, dass kein Feind kam, für eine besondere Tücke des Feindes. Die japanischen Verhältnisse interessierten mich herzlich wenig. Anlass war vielleicht die Tatsache, dass auf einer der einsamen Inseln bei Ivochima ein alter japanischer Soldat entdeckt wurde, der nichts vom Krieg erfahren hatte und der dann in Tokio ausgestellt wurde wie ein Museumsstück. Aber diese Zeitungsmeldung war eigentlich die Initialzündung für diese Parabel. Sie wissen ja, dass diese Agentenfurcht und diese manische Besessenheit vor feindlichen Aktivitäten eine endemische Krankheit der gehobenen Funktionärsschicht in der DDR gewesen ist. (1'42'')

Sprecherin:

Die Parabelform hatte in der Literatur der DDR Ende der 60er Jahre

Hochkonjunktur, half sie doch, die Zensur zu unterlaufen und

unbequeme Gedanken an die Leser zu bringen.

Dieses Spiel spielte auch Günter Kunert. Nach Johannes R. Bechers

autobiografischem Roman "Abschied" hatte er für die DEFA ein

Drehbuch geschrieben. Im Herbst 1968 - bald nach der feierlichen

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Uraufführung in Berlin - wurde der Film, für den Egon Günther Regie

geführt hatte, verboten.

O-Ton 5:

(Kunert) Der Film wurde ja einerseits von der Generalität der Nationalen Volksarmee begutachtet und abgelehnt als pazifistisch, andererseits hat ihn die liebe Lotte in Wandlitz sich angeschaut. Lotte Ulbricht hat ja einen Teil dieser Kulturpolitik mitbestimmt über ihren Mann Walter Ulbricht. Und sie hat dann bei der Witwe Becher angerufen und hat ihr ihren Unwillen mitgeteilt. Sekundär war dann bei Lotte Ulbricht, dass die Hauptdarstellerin unbekleidet in dem Film auftrat oder doch nur halbbekleidet, also das ging überhaupt nicht. (0'48'')

Sprecherin:

Und noch etwas rief Kulturpolitiker auf den Plan: Die Filmemacher hatten

die Sohn-Vater-Revolte aus Johannes R. Bechers Jugendzeit vor dem

Ersten Weltkrieg überhöht dargestellt, gewissermaßen zeitlos und

übertragbar auf die Gegenwart. Das störte die angebliche

Generationenharmonie, die DDR-Jugendliche mit ihrer Kulturrevolte

längst widerlegt hatten. Mit ihrem Protest gegen die Invasionspolitik der

Warschauer Vertragsstaaten kündigten junge Künstler nun ihre Loyalität

gegenüber der alten Funktionärsriege um Walter Ulbricht endgültig auf.

Wolf Biermann, dessen Lyrikband "Mit Marx- und Engelszungen" 1968

nur im Westen herauskam, hatte "An die alten Genossen" gewandt

gedichtet:

Zitator:

"Setzt Eurem Werk ein gutes Ende

Indem ihr uns

Den Anfang lasst!"

Sprecherin:

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Westliche Rockmusik, lässiges Outfit und freie Lebensformen werteten

die politisch Mächtigen als persönlichen Affront. Voller Abscheu nannten

sie die aufmüpfige Oberschülerin Bärbel Fühmann, Tochter des

bekannten Dichters Franz Fühmann, als sie gegen die Besetzung der

CSSR auftrat, eine "Kuttenträgerin". In der Regierung um den

Kulturpolitiker Alexander Abusch spürten die Genossen, wie wütend oder

resigniert viele Intellektuelle hinter vorgehaltener Hand diskutierten. In

dieser Situation mussten Kunerts Film und der porträtierte Becher

herhalten für eine demagogische Argumentation:

O-Ton 6:

(Abusch) Wir haben gesehen, wie sie einen neuen "Sozialismus mit einem menschlichen Gesicht" angeblich propagierten, aber gleichzeitig durch ihre provinzielle Nachäffung der spätbürgerlich westlichen Dekadenz in Filmen und Kunstwerken, Filmen und Theaterstücken das Gesicht der Menschen ihres sozialistischen Vaterlandes verunstalteten und deformierten. Becher, der als Dichter des sozialistischen Humanismus auch mit den großen sozialistischen Traditionen und Dichtern der tschechoslowakischen Literatur freundschaftlich verbunden war, wäre als Internationalist den freiwilligen und unfreiwilligen Helfern der psychologischen Kriegführung der Imperialisten genau so konsequent entgegen getreten, wie er es 1928 und 1956 gegenüber ähnlichen Erscheinungen getan hat. (0'56'')

Musikzäsur (Biermann "In Prag ist Pariser Kommune" od. "Ermutigung", ab

0'55'' von CD aah-ja!)

Sprecherin:

Den Dichter Franz Fühmann trafen die Ereignisse des Sommers 68 mit

existentieller Wucht. Er fühlte sich durch seine böhmische Herkunft eng

verbunden mit dem Nachbarland. Vier Jahre zuvor hatte er gemeinsam

mit seinem tschechischen Freund Ludvig Kundera beim Ostberliner

Verlag "Volk und Welt" die Anthologie "Die Glasträne" herausgegeben

und damit dem ostdeutschen Publikum erstmals bedeutende

tschechische Lyriker vorgestellt. Den geplanten Titel "Vogel Freiheit"

hatten die Zensoren nicht akzeptiert. Um sich selbst ein Urteil zu bilden,

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war der selbststrenge und wandlungsfähige Schriftsteller im August 1968

nach Prag gefahren. In seinem Kalender machte er am 21.August zwei

schwarze Kreuze. Später notierte er:

Zitator:

"Gut wird's nicht werden. Die Hauptsache, man kann arbeiten."

Sprecherin:

Der offiziellen Unterschriftenkampagne des Schriftstellerverbandes und

der Nationaldemokratischen Partei, deren Mitglied er war, verweigerte er

sich. Tochter Bärbel fügte sich an der Ostberliner Andreas-Oberschule

ebenso wenig. Ihr drohte, weil sie mit Frank Havemann und Wolf

Biermann befreundet war, der Schulausschluss. Franz Fühmann

verteidigte seine Tochter und sich selbst als "Suchende" und begründete

laut internem Partei-Bericht:

Zitator:

"dass es zur Zeit drei Arten des Kommunismus gäbe, wo da die

Wahrheit finden?"

Sprecherin:

Daraufhin stufte man Franz Fühmann als "Gegner" ein. Und ein Jahr

später lehnte der Parteivorstand es ab, ihn mit dem Nationalpreis der

DDR auszuzeichnen, habe er sich doch "in die innere Emigration

geflüchtet". In Wahrheit reifte in ihm 1968 die schmerzliche Erkenntnis,

mit dem Projekt eines Reisebuches "Auf den Spuren Fontanes"

gescheitert zu sein.

Zitator:

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"Ich bin von der Theorie eines Heimatfindens ausgegangen. Sie hat sich

als eine Fiktion erwiesen. ... Ich weiß jetzt mehr denn je, dass Böhmen

meine Heimat ist. ...Die Reisen in Preußens Schoß haben mir deutlich

gemacht, was ich eigentlich bin: ein österreichischer Schriftsteller in

einem Land, dem dankbar zu sein ich genaue politisch-historische

Gründe habe. Aber damit werde ich nun einmal kein Eingesessener."

Sprecherin:

Der Sommer wurde zum Wendepunkt seines Schreibens:

Zitator:

"Wäre ich, sagen wir, 1968 gestorben, wäre ich in die Grube gefahren

als der, der ich ja noch heute in der Literaturgeschichtsschreibung

meines Landes fortlebe: als der Vergangenheitsbewältiger mit der

schönen Sprache und den lieben Kinderbüchern und den treffenden

Nachdichtungen - hätte es nicht eben jene Erschütterung vom August

1968 gegeben, mit dem Willen: jetzt möchte ich sehen, was ist, um mit

Rosa Luxemburg zu sprechen. Damit fing das Eigentliche an."

Sprecherin:

Im Georg-Trakl-Essay wird er 1982 seine Situation rigoros analysieren.

Er spricht davon, wie die politische und persönliche Krise, auch seine

Suchtkrankheit, ihn an "die Grenze des Zerbrechens" und zur

Beschäftigung mit dem eigensinnigen österreichischen Dichter Trakl

gebracht habe. Hatte die Invasion den sechsundvierzigjährigen Franz

Fühmann schwer erschüttert, so veranlasste sie Autoren um die Zwanzig

zum riskanten Protest. Die brutale Aktion der Warschauer

Vertragstruppen machte ihre letzte Hoffnung zunichte, der Sozialismus

sei "das Andere". Von nun an, so wird es Heiner Müller später

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zusammenfassen, erlebten sie diese Gesellschaft nur noch als

"deformierte Realität". Die meisten der früh Ernüchterten werden deshalb

in den 70er und 80erJahren die DDR verlassen. Nach dem 21. August

1968 äußerten sie ihre Wut in öffentlichen Aktionen. Eine Gruppe um

den Funktionärssohn und Student der Filmwissenschaft Thomas Brasch,

zu der Erika Berthold, Florian und Frank Havemann und Sanda Weigl

gehörten, malte in Ostberlin Pro- Dubček-Losungen an Wände

und verteilte selbstgemalte Flugblätter. Andere veranstalteten nach dem

Beispiel der westdeutschen Studenten Sitzblockaden. Wegen

sogenannter "staatsfeindlichen Hetze" wurden sie von der DDR-Justiz zu

Freiheitsentzug und anschließender Arbeit in der Produktion verurteilt.

Auch im Ostberliner Lyrikclub Pankow um Michael Meinicke, Peter Will

und Bettina Wegener regte sich Widerstand. Das verbotene "Manifest

der 2000 Worte", eine Erklärung tschechoslowakischer Intellektueller

vom 27.Juni 1968, beflügelte sie:

Zitator:

In diesem Frühling haben wir von neuem, wie nach dem Kriege, eine

große Chance bekommen. .... Von neuem haben wir die Möglichkeit,

unsere gemeinschaftliche Sache, die den Arbeitstitel SOZIALISMUS

trägt, in die eigenen Hände zu nehmen."

Sprecherin:

Der literarisch talentierte, im Lyrikclub engagierte Peter Will dichtete, wie

andere ebenso, gezwungener Maßen für die Schublade:

Zitator:

ZUVERSICHT

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Höher wachsen die

Mauern der Intoleranz,

Dem weiten Himmel

Den Atem nehmend

Lauter strömen die

Wasser von Halbwahrheiten,

So den Rufern

Die Stimme nehmend -

So hoch können Mauern,

So laut kann Wasser nicht sein,

Dass nicht wenigstens

Ein Wort Mauern und Wasser

Überwinden kann.

Sprecherin:

Die Gedichte des zweiundzwanzigjährigen Thüringers Günter Ullmann

kursierten ebenfalls nur im Untergrund. Wegen seiner Kritik am

Einmarsch in die ČSSR wurde auch er inhaftiert. 1976/77 protestierte er

erneut - nun gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns und gegen die

Abschiebung Reiner Kunzes.

Zitator:

niemals bleiben revolutionen

jung

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und niemals

ihre jünger

niemals werden wir

sieger sein

GENOSSE

DUBČEK

darum

verlieren wir nicht

Sprecherin:

Einen Stückentwurf von Georg Seidel, der ebenfalls ungedruckt blieb,

bewahrt das Archiv der Akademie der Künste in Berlin auf. Der damals

Dreiundzwanzigjährige wurde 1987 Dramaturg am "Deutschen Theater",

1990 starb er. Unter dem Eindruck der Prager Ereignisse schrieb Georg

Seidel folgende Szene:

Zitatorin: Wenn wir doch die freiesten Menschen sein könnten.

Zitator: Einmal, weißt du es noch, wir haben an der Moldau geschlafen,

weißt du es noch, und dann kamen die Panzer.

Zitatorin: Schieb's nicht auf die Panzer.

Zitator: Man muss es auf die Panzer schieben. Alles drauf auf die Panzer

bis es sie breit quetscht. Vorher die Pilzköpfe aus Liverpool, weißt

du es noch. Die Pilzköpfe, alles vereist. Gletscher.

Zitatorin: Aber du bist zurückgekehrt.

Zitator: Die Hoffnung ist draußen.

Zitatorin: Nur die Resignation schafft schöne Werke, hast du gesagt.

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Zitator:: Was sind die schönen Werke gegen die Panzer.

Zitatorin: Zerstöre du nicht das ganze kurze Glück.

Zitator: Blase noch eine Kerze aus.

Zitatorin: Die Dunkelheit soll nicht zunehmen.

Zitator: Sie nimmt zu.

Zitatorin: Wenn es uns tötet, sind wir nur Schlachtvieh.

Zitator: Knöpf dir die Bluse wieder zu

Zitatorin: Wie du willst

Zitator: Prag hat mein Gedächtnis zerstört und Paris hat mein Gedächtnis

zerstört. ...

Zitatorin: Darum sind wir ja in diesem Zimmer.

Zitator: Das Erste, was mich an dir gereizt hat, du hast Rudi Dutschke

gekannt.

Zitatorin: Wir selber haben wohl keine Namen.

Zitator: Komm, trinken wir Cognac.

Zitatorin: Vielleicht werden wir nie wieder aufhören zu denken.

Zitator: Weil wir zum Lieben zu schwach sind.

Zitatorin: Darum schieben wir die Panzer in unser Gedächtnis.

Zitator: Vietnam war schlimmer als die Panzer in Prag.

Zitatorin: Nicht für uns. Weinen müsste man können.

Zitator: Komm, trink noch einen Cognac.

Sprecherin:

Den fünfundsechzigjährigen Erich Arendt traf die Nachricht von der

brutalen Militäraktion während seines Urlaubs an der polnischen

Ostseeküste. Er sei - so schrieb er an seinen Dichterfreund Georg

Maurer nach Leipzig - "übernervös wegen völliger Uninformiertheit". Der

ehemalige Spanienkämpfer und kolumbianische Exilant war 1950 in die

DDR gekommen. Sein Spätwerk, die seit den 60er Jahren entstehenden

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Ägäis-Gedichte, sprachlich äußerst verknappt, sind voller Trauer,

Melancholie und Resignation. Von den Kulturoberen wurden sie deshalb

beargwöhnt. Unter dem Druck der politischen Ereignisse radikalisierte

sich Erich Arendts ästhetischer Ausdruck. Unmittelbar nach dem 21.

August begann er ein Gedicht zu schreiben, das er nach dem Ort seines

Aufenthalts "Łeba" nennen wird.

In der im Archiv der Akademie der Künste dokumentierten Erstfassung

heißt es:

Zitator:

Es läutet, prag-fern,

auch hier in den Dünen

Tod. Seit Tagen die

Ätherwellen, sie nisten

ins Hirn ein von Lug und Macht

das schreckliche Rollen. Das Ohr

lauscht am Sande, als sei er

Baugrund aller Geschichte.

Er ists. Weiß und böse vor uns

Das Licht überm Meer, so

nordsternah.

Sprecherin:

Wut und Enttäuschung über die Niederschlagung des "Prager Frühlings"

- anfangs noch deutlich ausgedrückt, verallgemeinerte der Dichter

später. Selbst den Titel änderte er mehrfach: von "Er wars er ists", über

"Entträumt" bis zu "Łeba". Nur so konnte Erich Arendt das Gedicht 1976

in seinen Band "Momento und Bild" aufnehmen, mit folgendem Auftakt:

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Zitator:

Mit toten Glocken

auch hier!

Läuten, es

läutet und -

das Ohr lauscht:

kein Staubmund-

Gesang

nur tiefer im

Sand-

Innen

die mahlenden

Ketten,

blindrollend

Türme.

Nachts träumt

im Hof

mit zugewachsenem Lid

die Angst:

Stirnblut-gezeichnet

die Herde:

hält den Fliehenden nicht.

Kurze Musikzäsur (Refrain: At mir dal zustava s tou to krajinou - Marta Kubišová "Das Gebet"="Modlitba")

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Sprecherin:

"Friede sei diesem Land, Ärger, Neid und Streit seien verbannt," sang

Marta Kubišová in ihrem Lied "Modlitba", "Das Gebet". Es wurde zur

Hymne des "Prager Frühlings" und kostete die junge Popsängerin die

Karriere. Riskant war es auch, in Deutschland öffentlich zu protestieren.

Während in der Bundesrepublik die linken Schriftsteller in der mit

politischen Agitationstexten auf die Straße gingen, Enzensberger das

Ende der bürgerlichen Literatur ausrief, verfeinerten sich in der DDR die

literarischen Methoden. Dort politische Bewegung, hier mit ästhetischen

Mitteln vorgetragene Kritik an Stillstand und Stagnation. 1968 ist trotz der

DDR-Zensurpraktiken ein opulenter Literaturjahrgang. Günter de Bruyns

"Buridans Esel", Jurek Beckers "Jakob der Lügner", Irmtraud Morgners

"Hochzeit in Konstantinopel", Alfred Wells "Pause für Wanzka", darüber

hinaus Essays von Georg Maurer und Christa Wolf waren erschienen,

Stücke von Karl Mickel, Paul Gratzig wurden aufgeführt, die "Faust I"-

Inszenierung von Adolf Dresen/Wolfgang Heinz am Deutschen Theater

kontrovers diskutiert. In ihren Texten meldete besonders die zweite

Generation der um 1930 Geborenen den Anspruch auf individuelle

Selbstverwirklichung an. Die "Ankunft im Sozialismus" war vollzogen und

nach ihr eine ganze Literaturperiode benannt worden. Nun galt es, die

Gesellschaft auszugestalten und ihren menschlichen Anspruch ernst zu

nehmen. Volker Braun, Heinz Czechowski, Karl Mickel, Brigitte Reimann

oder Irmtraud Morgner spitzten Ende der 60er Jahre die Konflikte zu,

indem sie ihre Protagonisten in Widerspruch zum gesellschaftlich

Vorgegebenen stellten. Der Begriff der "Anspruchsliteratur" hatte schon

1966 in der Literaturzeitschrift "Sinn und Form" heftige Diskussionen

ausgelöst, die fortwirken sollten. Volker Braun antwortete mit dem Notat

"Wohngefühl", das so endet:

Zitator:

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Die Gesellschaft ist kein Hotel, das was bietet, wenn auch nur zum

Schein. Wir leben hier nicht wie Gäste, sondern als Hausherrn: wir

brauchen uns nichts vorzumachen. Wir bauen die Wohnung aus: dazu

müssen wir ihren Aufriss kennen, ihren Baugrund, ihr Material. Das

müssen wir schon ganz genau ansehn.

Sprecherin:

Auf dem VI. Deutschen Schriftstellerkongress im Mai 1969 wies der neue

Vizepräsident des DDR-Schriftstellerverbandes Fritz Selbmann die

"Anspruchsliteratur" als antisozialistisch zurück.

O-Ton 7: (Selbmann) So kommt es dann in den nach dieser Theorie konzipierten Werken am Ende zu einer neuen, zu einer diesmal tragischen "Ankunft": Der Weg des Helden endet in Melancholie und Traurigkeit und Pessimismus oder in Trunksucht oder in Selbstbespiegelung und Selbstbemitleidung, in der Frustration des modernen Helden oder in der Resignation auf die sozialistische Innerlichkeit und Kontemplation. Gesellschaftliche Widersprüche werden reduziert auf private Konflikte, Sigmund Freud drängt an die Stelle von Karl Marx. Ich glaube, es ist im wesentlichen eine irrtümliche Auffassung vom Wesen und Charakter des Sozialismus. Ich habe so einen fatalen Satz im Ohr von Pavel Kohout, der in seiner Rede am 1.Mai in Hildesheim erzählte, die harmlosen "Reformer" in der ČSSR hätten nichts anderes angestrebt als die "Vermenschlichung des Sozialismus" oder, wie die alten Rosstäuscher vom RIAS sagten, dass sie nichts weiter wollten, als "dem Sozialismus ein menschliches Gesicht" zu geben. Der Sozialismus wird nach diesen "Reform"-Ideen also nicht als die allgemein menschliche und menschenwürdige Ordnung der Dinge dieser Welt angesehen, sondern als der Gesellschaftszustand, der erst vermenschlicht werden muss. (1'30'')

Sprecherin:

Ähnliche Einwände fegten Volker Brauns "Hans Faust"-Stück 1968 von

der Bühne des Weimarer Theaters. Unmittelbar nach der Besetzung der

ČSSR schrieb der Neunundzwanzigjährige sein "Soldatenlied":

Zitator:

Wir ziehen in den Böhmerwald

Mit Kugeln im Tornister

Und tränken lieber euer Bier

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Mit euch, liebe Geschwister.

In zwei Welten eingekeilt

Wird Heftpflaster aufgeschlagen

Und wenn es nicht die Beulen heilt

Hoffen wir keine vonzutragen.

Das ist die Welt? Wohin sich da bewegen!

Zirkus ist reine Logik dagegen.

Sprecherin:

Christa Wolf, zehn Jahre älter als Braun, wurde nach dem Hexenkessel

des Kulturplenums 1965 ein weiteres Mal attackiert. Heute erinnert sie

sich, wie sie ihre Erzählung "Nachdenken über Christa T." gegen große

Widerstände durchsetzte.

O-Ton 8:

(Wolf) 67 war das Manuskript fertig, und das ganze Jahr 68 über war ich damit befasst, dieses Buch zu verteidigen gegen alle möglichen staatlichen und halbstaatlichen Organe. Wenn ich dieses Buch wieder mal lese, wird mir ganz klar, dass es fast eine gegenläufige Bewegung war, wenn ich in dieser selben Zeit über Subjektivität schreibe und über die Individualität, die Erlaubnis zur Individualität, so hat man's dann verstanden. Und man hat mir vorgeworfen, dass das Buch so traurig ist und so melancholisch und kein einziger tüchtiger Mensch dort drin ist, was übrigens stimmt, wenn man die Art der Tüchtigkeit, die man verlangte, anlegt als Maßstab. Und das ist eben interessant, dass in derselben Zeit, in der im Westen alles öffentlich wurde, immer öffentlicher, immer öffentlicher und mit Recht, denn da waren ganz bestimmte Krisen und Widersprüche, die genau das erforderten, so waren bei uns andere, nicht weniger tiefe Widersprüche, die eine Besinnung darauf erforderten, was ist überhaupt menschlich? Was ist überhaupt human? Wozu machen wir das eigentlich alles? Und das war so die Zeit, in der diese Fragen uns sehr dringlich beschäftigten. Und ich hab die in dem Buch also gestellt. Es wurde dadurch ein politisches Buch. (1'34'')

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Sprecherin: Christa Wolf liest aus "Nachdenken über Christa T.":

O-Ton 9:

(Wolf-Lesung) Sie hat nicht versucht, sich davon zu machen, womit gerade in jenen Jahren so mancher begonnen hat. Wenn sie ihren Namen aufrufen hörte:" Christa T.!", dann stand sie auf und ging hin und tat, was von ihr erwartet wurde, aber wem soll sie sagen, dass sie lange dem Namensaufruf nachlauschen muss: Bin wirklich ich gemeint? Oder sollte es nur mein Name sein, der gebraucht wird? Zu anderen Namen gezählt, emsig addiert vor dem Gleichheitszeichen? Und ich könnte ebenso gut abwesend sein, keiner würde es bemerken. Sie sah auch, wie man anfing zu entschlüpfen, die bloße Hülle, den Namen zurückzulassen. Das hat sie nicht gekonnt. Aber auch die Fähigkeit, in einem Rausch zu leben, ist ihr abgegangen. Die heftigen, sich überschlagenden Worte, die geschwungenen Fahnen, die überlauten Lieder, die hoch über unserem Köpfen im Takt klatschenden Hände. Sie hat gefühlt, wie die Worte sich zu verwandeln beginnen, wenn nicht mehr guter Glaube und Ungeschick und Übereifer sie hervorschleudern, sondern Berechnung, Schläue, Anpassungstrieb. Unsere Worte, nicht einmal falsch - wie leicht wäre es sonst! -, nur der sie ausspricht, ist ein anderer. Verändert das alles? ... (ca. 1'30'')

Sprecherin:

"Nachdenken über Christa T." wurde zum Politikum. Für den

Zeithistoriker Stefan Wolle ein verallgemeinerbares Beispiel:

O-Ton 10:

(Wolle) Christa Wolf ist das sehr charakteristisch. Sie hat eben, indem sie eine Geschichte erzählte aus ihrer eigenen subjektiven Erfahrung heraus, eben doch die offizielle Parteidoktrin massiv in Frage gestellt. Das wird man schon so sagen können. Also hier ist kein unmittelbarer politischer Protest vorhanden. Der hat ja nicht stattgefunden. Polnische Kollegen haben das getan im Jahre 1968. Aber das war nicht die Haltung der DDR-Schriftsteller. Sie haben also ihre Weltbilder, ihre politischen Botschaften, wenn überhaupt, dann nur auf eine sehr subtile Art und Weise vermittelt. (0'37'')

Sprecherin:

Die damals einundvierzigjährige Christa Wolf verfasste nach der

Invasion am 21.August 1968 eine persönliche Stellungnahme, mit der sie

nicht protestierte, wohl aber taktierte. Sie drückte ihre Hoffnung aus,

dass politische Vernunft sich durchsetzen würde. In ihrem Tagebuch

äußerte sie sich unverstellt:

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Zitatorin:

"Die Zeitungen holen die Begründung für den Einmarsch in die ČSSR

vornehmlich aus den Äußerungen der Westpresse (dass die Dubček-

Leute einen 'Systemwechsel' vorbereitet hätten), wir kommentieren

abends, tauschen Informationen aus, suchen vor allem den 'produktiven

Punkt', von dem aus man noch arbeiten kann. Gemeinsam ist uns das

Bestreben, sich nicht vollkommen ins Abseits drängen zu lassen."

Sprecherin:

Und Brigitte Reimann, die sich nach eigenen Worten den "sensiblen

Luxus" geleistet und ihrem Gewissen folgend die Ergebenheitsadresse

des Schriftstellerverbandes nicht unterschrieben hatte, notierte ins

Diarium:

Zitatorin:

"Habe den ganzen Tag am Radio gesessen und die Nachrichte gehört.

DDR-Sender berichten nichts, verlasen immer nur die TASS-Erklärung

und den SED-Aufruf an die Bürger - verlogenes Geschwätz von

Freundschaftsbund und Bruderhand und Liebe zum tschechischen Volk -

während in Prag und Pilsen und allen Städten der ČSSR die Panzer

rollen. Und welche Hoffnungen haben wir auf das "Modell ČSSR"

gesetzt!

Angeblich gibt es in der DDR eine 'Flut von Zustimmungserklärungen'.

Wir sind so erbittert - kein Vertrauen mehr. Bin wie gelähmt."

Sprecherin:

Die meisten Schriftsteller fügten sich im Unterschied zu Brigitte Reimann

bereitwillig oder resigniert. Sie unterschrieben die offizielle

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Zustimmungserklärung des DDR-Schriftstellerverbandes, die über die

SED-Zeitung "Neues Deutschland" publik gemacht wurde. "Unsichere

Kantonisten" wie Günter Kunert ließen die Funktionäre bei ihrer

bürokratischen und demütigenden Unterschriftenaktion unbehelligt:

O-Ton 11:

(Kunert) Ein offener Protest wäre weiß Gott unmöglich gewesen, das heißt ich hätte mich dann mit anderen in Bautzen wiedergefunden, zum Beispiel mit Thomas Brasch. Das Risiko war einfach zu groß und hätte keinem genutzt. Es hätte sich ja nichts verändert und mir nur geschadet. Man hat mich freundlicherweise in Ruhe gelassen, und das war schon mehr als man verlangen konnte. (0'32'')

Sprecherin :

Reiner Kunze trat aus der SED aus. Andere entzogen sich dem

geforderten Gehorsam, schoben Krankheit vor oder verreisten eilig. Viele

taktierten, um wenigstens vor sich selbst bestehen zu können:

O-Ton 12: (Wolle) Die DDR-Schriftsteller sind zu keinem Zeitpunkt der Entwicklung der DDR so wie in Polen, in der Tschechoslowakei und in anderen osteuropäischen Ländern Sprecher der Freiheitsbewegung gewesen. Die mussten sich natürlich auch überlegen, was sie mit ihren öffentlichen Protesten erreichen, wie Publikationsverbot, Auftrittsverbot, Westreiseverbot usw. Und es war eher ein Taktieren angesagt im Großen und Ganzen. Man kann andererseits wohl sagen, dass eine gewisse Mehrheit der führenden Intellektuellen der DDR diese Veränderungen vom Januar bis zum August 1968 in Prag durchaus mit Sympathien gesehen hat, nicht ohne Sorge vielleicht. Das kann man für Volker Braun, für Stefan Heym, auch für Christa Wolf und für viele andere sagen. Bloß sie mussten auch irgendwie leben. Dieser Impetus oder dieser Gestus des öffentlichen Protestes, des Dissidenten, der war nun relativ selten, beschränkt sich eben auf Biermann und wenige andere, weil einfach die Situation der Schriftsteller auch die Situation der breiten Bevölkerung der DDR widerspiegelte. Da war das ja genau so. (1'18'')

Sprecherin:

Eine Ersatzöffentlichkeit konnte die Literatur der DDR den Lesern in der

brisanten politischen Situation, als der "Prager Frühling" gewaltsam

beendet wurde, nicht bieten. Auch in späteren Jahren werden die

Ereignisse des Jahres 1968 selten thematisiert: von Joachim Walther in

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"Sechs Tage Sylvester", von Uwe Johnson im vierten Band der

"Jahrestage" und von Christoph Hein in "Der Tangospieler". Vierzig

Jahre danach schlägt Volker Braun in der Akademie der Künste die

Brücke zur Gegenwart und verbindet West- und Ost:

O-Ton 13:

(Braun) Heute, 2008, sieht man Guevara-Poster: Guerilla-Preise/Endphase im Kampf gegen die Listenpreise (das Möbelgeschäft " Who is perfect" Berlin-Tiergarten). Die Revolte endet in der Rasterfahndung. Sarkozy wenige Tage vor der Wahl: Ab Montag ist Schluss mit 68. Das Pflaster, unter dem der Strand liegt, deckt der Asphalt. Aber eine Rudi-Dutschke- nimmt der Springerstraße die Vorfahrt. Clownsarmeen sind zugange an den Zäunen der G8 und verständigen sich mit fünf Fingern: streuen! Es sind stumme Demonstranten, die auch erst sprechen lernen. ... Das Rätselraten um den Nährwert von Revolten ist ein Zeitvertreib in den Wartezimmern der Jobcenter, und der Große Bahnhof für die politischen Literatur eröffnet keine Strecken und Ziele. Es wird noch immer ein Hunger sein, ein elementares Verlangen, das die Schranken zerbricht. Nicht das im engen Sinn politische Thema macht den Text unabweisbar, im Gegenteil, sein universaler Anspruch wird zum Politikum. Die Fantasie an die Macht war keine belletristische Losung, und die Poesie zielt auf das Ende aller Politik, wenn sie ans Ende geht. (ca.1'20'')

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Anmodvorschlag.: "Lernt Tschechisch!", so forderte Uwe Johnson in seinem Romanzyklus "Jahrestage" symbolisch. Die Menschen sollten 1968 vom "Prager Frühling" lernen, von der Liberalisierung in der ČSSR, die von der KPČ-Führung unter Alexander Dubček getragen worden war. Erstmals in der Geschichte Europas wurde gleichzeitig von oben wie von unten versucht, die Gesellschaft umfassend und demokratisch umzugestalten. Die Zensur wurde abgeschafft und Reisefreiheit gewährt, Wirtschaftsveränderungen in Richtung eines freien Marktes angestrebt. Die Militärintervention des Warschauer Paktes vom 21. August beendete diese Öffnung radikal. Wie die Schriftsteller in der DDR auf die brisanten politischen Ereignisse reagierten, hat Dunja Welke erkundet. Franz Fühmanns Ausspruch "Jene Erschütterung im August" gibt dem Literaturreport den Titel.