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Das intelligente Raumschiff

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ATLAN 113 – Die Abenteuer der SOL

Nr. 612

Das intelligente Raumschiff von Peter Terrid

Die Verwirklichung von Atlans Ziel, das schon viele Strapazen und Opfer gekostet hat – das Ziel nämlich, in den Sektor Varnhagher-Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen – scheint nun außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu lie-gen. Denn beim entscheidenden Kampf gegen Hidden-X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bewußtsein, sich die verlorenen Koordinaten wieder zu be-sorgen, folgt der Arkonide einer vagen Spur, die in die Randgebiete der Galaxis Xiinx-Markant führt, wo die SOL in erbitterte Kämpfe verwickelt wird, die auf das unheilvolle Wir-ken der sogenannten »Mental-Relais« zurückzuführen sind. Inzwischen herrscht durch die Ausschaltung einiger Relais im Umfeld der SOL Ruhe. Da-für aber ist in der SOL selbst der hoffnungslos anmutende Kampf gegen das Manifest C entbrannt, das das Schiff völlig zu übernehmen und in die Vernichtung zu führen droht. Um sich die Handlungsfähigkeit und die Chance zur Rettung der SOL zu bewahren, ver-läßt Atlan nebst einer Anzahl von Getreuen mit zwei Beibooten das Schiff. Auf ihrem Flug nimmt ein Geheimnisvoller Kontakt zu ihnen auf. Dieser Geheimnisvolle ist TAUPRIN, DAS INTELLIGENTE RAUMSCHIFF ...

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Die Hauptpersonen des Romans: Tauprin – Ein Manifest läßt bitten. Urselphyn und Gamselmartyn – Raum-fahrer aus dem Volk der Ardslys. Grrolph – Ein Haawer. Ta Ch’u – Ein Findelwesen. Atlan – Der Arkonide nimmt eine Heraus-forderung an.

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1.

Auch der Blaue Mond über Gashatapito-

mayn vermochte in Urselphyn nicht jene Stimmung zu erzeugen, die er sich gewünscht hätte. Der Wind fegte in eisdurchklirrten hef-tigen Stößen über das Land, warf riesige Schneemassen in die Täler und ließ die Schol-len auf dem nahen Meer gefährlich klingen.

Urselphyn verhärtete seine Außenhaut ein wenig mehr, um diesem Ansturm gewachsen zu sein. Er wartete darauf, daß Gamselmartyn endlich erschien, um ihn abzuholen. Die Nachricht hatte Urselphyn vor etwas mehr als einer Stunde erreicht und ihn in eine Erregung versetzt, wie er sie nie zuvor erlebt hatte. Un-geheuerliche Dinge schienen sich abzuzeich-nen.

Wolken drifteten über die Scheibe des Blauen Mondes und tauchten das Land in tiefes Dunkel. Der Boden unter Urselphyn war hartgefroren, und er konnte spüren, wie die Kälte seinen Körper immer mehr durch-drang und seine Gedanken verlangsamte.

Urselphyn war nahe daran, die Geduld zu verlieren und in das Sporennest zurückzukeh-ren, als endlich der Eisgleiter am Rand des Sichtfelds auftauchte. Gamselmartyn war ein vorzüglicher Pilot, selbst unter diesen Bedin-gungen verfehlte er sein Ziel niemals.

»Steig ein«, gab er durch, als er den Gleiter neben Urselphyn zum Stehen gebracht hatte. »Beeile dich, wir haben wenig Zeit.«

Das Thermoelement, das die Sitzbank des Gleiters aufheizte, ließ rasch die Lebensgeis-ter in Urselphyn zurückkehren. Die Säfte flos-sen rascher, die Hautstruktur weichte auf, und die Gedanken kamen schneller. »Quäle mich nicht länger«, forderte Urselphyn den Stammgefährten auf. »Was treibt dich bei diesem Wetter an die Oberfläche?«

»Du wirst es erleben, warte ab«, erklärte Gamselmartyn. »Ich sage nur soviel – Unge-heuerliches.«

»Ungeheuer schlecht oder ungeheuer ange-nehm?« erkundigte sich Urselphyn.

»Das wird sich uns noch erweisen müssen«, gab ihm Gamselmartyn Bescheid.

Er lenkte den Eisgleiter auf die Bucht. Die-se Abkürzung war zwar sehr schnell, aber keineswegs ungefährlich. Immer wieder gab

es Risse im Eis, und wenn der Gleiter in einer der Spalten verschwand, war es mit den In-sassen für die nächsten Jahrtausende vorbei, vielleicht sogar für immer. Die Kälte auf Ur-selphyns Haut allerdings sagte ihm, daß das Eis kompakt sein mußte und tragfähig.

Die Segel des Gleiters blähten sich im Wind, mit hoher Fahrt raste das Kufengefährt über den Eispanzer hinweg, der die Bucht bedeckte, von der seit Urzeiten niemand mehr etwas gesehen hatte. Es gab sie nur in uralten Bilderdarstellungen und in der Erinnerung der Bevölkerung in der Nähe. Ob es dort jemals wieder eine reichbestandene Bucht mit lo-ckend warmem Wasser geben würde, war mehr als zweifelhaft, solange es nicht gelang, dem Feind einen endgültigen Schlag zu ver-setzen, der ihn niemals mehr zurückkommen ließ. Und selbst dann würden wohl Jahrtau-sende vergehen müssen, bis das Eis endlich geschmolzen war.

»Was macht Orhaturnix?« wollte Ur-selphyn wissen. »Noch im Dienst?«

Gamselmartyn machte eine verneinende Geste.

»Er ist krank«, gab er zu verstehen. »Wur-zelbrand, es sieht sehr böse aus.«

Urselphyn verstummte. Früher war Wur-zelbrand auf Ardsly-Fandahar fast unbekannt gewesen, jetzt gehörte er zum lebensgefährli-chen Alltag.

»Wohin geht die Reise?« wollte Urselphyn wissen.

»Zum Blütenpalast«, verkündete Gamsel-martyn und ließ Urselphyn nun endgültig ver-stummen.

In dessen Hirn überschlugen sich die Ge-danken. Niemals zuvor hatte er den Blütenpa-last betreten, ein Ardsly seiner Größe hatte nicht einmal in Notfällen eine Möglichkeit, so nahe an den Kernstamm heranzukommen. Gamselmartyn schien mit seiner Behauptung recht zu haben, daß sich Ungeheures zutrug – ein Ardsly seiner Größenklasse im Blütenpa-last. Wahrhaftig, es waren bemerkenswerte Zeiten – fraglich war nur, wie sie enden wür-den.

Es galt als offenes Geheimnis, daß der Kampf höchstens noch ein paar Jahrtausende dauern konnte – dann war die Entscheidung gefallen, so oder so, Leben oder Tod. Und die

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Aussichten auf einen Sieg der Ardslys wurden von Jahrhundert zu Jahrhundert schlechter.

Gamselmartyn ließ den Eisgleiter auslau-fen. Knapp tausend Schritt vom offenen Meer entfernt kam das Gefährt zum Stillstand, un-mittelbar neben einem Tragluftboot, das mit laufendem Motor dort stand und offenbar auf die beiden Ankömmlinge gewartet hatte. Das kurze Stück Weg durch die Kälte ließ die Bewegungen zwar wieder langsam werden, aber im Innern des Tragluftboots war es dann wieder wundervoll warm, so daß Urselphyn fast in eine euphorische Stimmung verfallen wäre.

Er musterte die anderen Fahrgäste, aus-nahmslos Raumfahrer der unterschiedlichsten Größenklassen, die meisten entschieden rang-höher als Urselphyn, einige mit deutlichen Spuren von den letzten Kämpfen. In der Fahrgastzelle breitete sich ein leichter Harz-geruch aus, ein sicheres Zeichen dafür, daß keinem der Passagiere recht wohl war.

Das Boot setzte sich in Bewegung und schwebte hinaus auf das Meer. Weiß tanzte die Gischt auf grau rollenden Wogen, das Tragluftboot wiegte sich sacht.

Schwarz drängte sich die Silhouette des rie-sigen Berges durch den Nebel über dem Was-ser. Es war nicht das erste Mal, daß Ur-selphyn den Zentralberg zu sehen bekam, und jedesmal war er von der Wucht und Größe dieses steil aufragenden abgebrochenen Ke-gels beeindruckt. Eine würdigere Unterkunft für den Herrscher des Volkes als diesen Ke-gelberg konnte es kaum geben.

Das Tragluftboot schob sich auf die Küste und suchte dann einen Weg zur halben Gip-felhöhe hinauf. Mit großer Mühe war ein Weg so angelegt worden, daß das Boot ihn ver-wenden konnte. Die Steigfähigkeit dieser Konstruktion ließ stark zu wünschen übrig.

Der Zentralberg – er besaß keinen eigenen Namen, wann immer vom Berg die Rede war, war dieser gemeint – ragte fast viertausend Meter in die sturmzerwühlte Luft. Oben gab es einen drei Kilometer durchmessenden Kra-ter, dessen Wände fast lotrecht abfielen.

Dieser Kessel war das Ziel der Fahrt. Dort lag der Blütenpalast – so genannt, weil seine Gestalt einer Blüte nachempfunden war. Da-bei stellten die Kelchblätter Versorgungsge-

bäude dar, die Staubgefäße wurden durch in den Himmel ragende Energiegeschütze ver-sinnbildlicht und eine goldfarbene, siebzehn Meter hohe Metallkonstruktion diente als Stempel. Dort konnte der Palast betreten wer-den, der hauptsächlich aus unterirdisch ange-legten Räumen bestand.

Das Tragluftboot kam mit leiser werdenden Maschinen zum Stillstand.

»Ihr könnt aussteigen«, sagte Gamselmar-tyn.

Urselphyn und die anderen betraten den Boden des Blütenpalasts. So nahe dem Zent-rum der Macht hatte sich Urselphyn noch nie aufgehalten.

Seltsam war die Ruhe, die über dem Land lag – die hohen Wände des Kraters schirmten die Fläche gegen fast alle Winde ab. Es war ein seltsames Gefühl, sich mit dem Körper nicht mehr gegen irgendeine Sturmbö legen zu müssen, wie man es auf dem Planeten sonst gewohnheitsgemäß machte.

»Dorthin!« Gamselmartyn, sonst ein eher gesprächiger

Geselle, war außerordentlich wortkarg ge-worden, vielleicht lag das an der Aura der Macht, von der diese Orte so spürbar umge-ben waren.

Nacheinander betraten die Ardslys den Eingang zum Blütenpalast. Ein Fahrstuhl nahm sie auf und ließ sie sanft hinabsinken in die Tiefe.

Es wurde wärmer, Urselphyn konnte es deutlich spüren. Er weichte seinen Körper auf, um soviel von der köstlichen Wärme aufneh-men und speichern zu können wie nur irgend möglich. Den anderen erging es ähnlich, auch sie hatten die Körper aufnahmebereit gemacht – eine solche Flut von Wärme bekam ein Ardsly nicht alle Tage zu spüren.

Es tat unglaublich gut, die Energien durch den Körper fluten zu spüren. Nie zuvor hatten Urselphyns Kräfte sich derart bemerkbar ge-macht, war sein Wahrnehmungsvermögen so empfindlich gewesen wie in diesen Augenbli-cken.

Und es wurde noch wärmer – es war kaum zu glauben.

Urselphyn schwindelte fast, als er die Wärme durch den Leib pulsen fühlte. Rasende Ströme schienen in seinen Bahnen zu spru-

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deln und jede Faser einzeln mit ungeheurer Energie aufzuladen. Es war wie ein Rausch.

Eine Ordonnanz tauchte auf und übernahm es, die Gruppe durch die weiträumigen Bezir-ke des Blütenpalasts zu führen. Jeder Gang, selbst die kleinste Nische, war von der alles durchdringenden, so rauschhaften Wärme erfüllt. Der verschwenderische Umgang, der hier mit der lebensspendenden Wärme getrie-ben wurde, erschien Urselphyn fast schon frevelhaft, sobald man die Üppigkeit des Blü-tenpalasts mit der frostigen Armut der restli-chen Bevölkerung verglich. Urselphyn wun-derte sich nun nicht mehr darüber, daß im Volk angeblich Umsturzpläne zirkulierten.

In einem großen Raum endete die Führung. Zwei ältere Ardslys erwarteten die Ankömm-linge. Ihre Haut war schon recht borkig, den-noch machten die Älteren einen so frischen und lebendigen Eindruck, als seien sie erst vor wenigen Jahren gekeimt.

»Nehmt Platz«, sagte der ältere der beiden Palastbewohner. »Nennt mich Ühlandorgher. Ich bin es gewesen, der euch hat hierher rufen lassen.«

Urselphyn nahm Platz. Er war gespannt auf das, was sein Gegenüber vorzutragen hatte.

»Wie gefällt es euch hier?« fragte Ühlan-dorgher.

Er sah Urselphyn an, und er antwortete so-fort – und wie es seine Art war – wahrheits-gemäß.

»Die Wärme empfinde ich beinahe als Rausch, ich habe nie erlebt, daß damit so ver-schwenderisch umgegangen worden wäre.«

Ühlandorgher machte eine Geste der Erhei-terung.

»Du irrst dich«, sagte er halblaut. »Wir ge-hen mit der Wärme nicht verschwenderisch um, nur haushälterisch, du wirst es noch erle-ben. Ich vermute, daß die anderen im Raum ähnliche Gedanken haben? Irre ich? Nein. Nun seht euch diese Bilder an.«

Er schaltete ein Gerät ein. Der Raum wurde verdunkelt, auf einer Seite schob sich die Tä-felung in den Boden und gab den Blick auf einen Bildschirm frei.

»Diese Aufnahmen sind uralt«, erklärte Üh-landorgher.

Sie waren vor allem gefälscht, fand Ur-selphyn. Er erkannte die Szenerie sofort wie-

der – es war die Gegend um den Zentralberg herum. Allerdings fehlten auf diesen Auf-nahmen das Eis, der Nebel und die Kälte. Ein weißsandiger Strand war zu sehen, hellblaue Wasserflächen, Vögel, die in der Luft kreisten – und am Strand ein so pralles Leben, wie man es nur mit Trickaufnahmen darstellen konnte.

»Was soll das?« fragte Urselphyn leicht verärgert.

»So hat unsere Welt früher einmal ausgese-hen«, sagte Ühlandorgher. »Vor Tausenden von Jahren. Es war eine warme, fruchtbare Welt, auf der unser Volk entstanden ist und zu hoher Blüte kam.«

»So soll unsere Welt einmal ausgesehen haben?« fragte Gamselmartyn ungläubig.

»Genauso. Die Wärme, die ihr jetzt nur noch im Blütenpalast antreffen werdet, herrschte damals auf dem ganzen Planeten. Es ist nicht so, daß ihr in diesen Räumen einen wahren Wärmerausch erlebt – ihr wacht ledig-lich aus der abstumpfenden Betäubung der Kälte wieder auf. Hier ist es nicht verschwen-derisch warm – draußen ist es entsetzlich kalt.«

»Wie ist es dazu gekommen?« wollte Ur-selphyn wissen. Er konnte sich an den Bildern kaum satt sehen.

»Auch das werdet ihr sehen. Wir wurden angegriffen, von einem Feind, der aus den Tiefen des Raumes gekommen ist.«

Es waren Bilder des Grauens, die nun auf der Projektionsfläche erschienen.

Die Ardslys hatten damals schon eine recht beachtliche Raumfahrt entwickelt gehabt, aber ihre Schiffe waren den Konstruktionen der Fremden in jeder technischen Beziehung hoffnungslos unterlegen. Zum größten Teil wurden sie noch vor dem Start auf dem Bo-den zerstört.

»Weiß man, warum diese Feinde uns ange-griffen haben?«

Ühlandorgher machte eine Geste der Ver-neinung.

»Wir wissen es nicht«, sagte er dumpf. »Vielleicht werden wir den Grund niemals erfahren. Die Angreifer hatten jedenfalls nur ein Ziel – den Planeten unbewohnbar zu ma-chen.«

Auf der Projektionsfläche war zu sehen,

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wie die Fremden das bewerkstelligt hatten.

»Wir nennen diese Waffe Hypervereiser«, erklärte Ühlandorgher. »Sie bewirkt, das ha-ben wir herausfinden können, daß am Ziel alle Wärmeenergie abgezogen wird. Material gleich welcher Art kühlte sich nach Stärke des Beschusses bis fast auf den absoluten Null-punkt ab.«

Urselphyn konnte einen Treffer mit dieser Waffe sehen. In Bruchteilen von Sekunden verwandelte sich eine sonnenüberschienene Meeresbucht in eine sturmübertoste Eisfläche. Blitzschnell ließ der Hypervereiser das ganze Wasser zu einem kompakten Block gefrieren.

»So haben sie unsere Welt bearbeitet«, stieß Ühlandorgher hervor. Seine Stimme verriet eher Betroffenheit als Wut. »Viele Stunden lang haben sie ein wahres Trommel-feuer auf unseren Planeten durchgeführt – bis sie glaubten, genug getan zu haben. Als die erste Schlacht um Ardsly-Fandahar beendet war, lebten nur noch wenige der Unsrigen. Und die Oberfläche des Planeten war bis auf sieben Kilometer Tiefe vollständig durchge-froren, eine einzige kompakte Masse aus Eis, Schnee und kaltem Gestein.«

Ühlandorgher machte eine kleine Pause. »Unser Volk hat diese Katastrophe über-

standen. Es hat Jahrtausende gedauert, bis wieder einigermaßen erträgliche Lebensver-hältnisse geschaffen waren. Der glutflüssige Kern unseres Planeten hat den Boden langsam wieder aufgewärmt, das gleiche tat die Sonne. Und wieder erschien der Feind und nahm un-sere Welt unter Beschuß, wieder erstarrte fast alles Leben auf Ardsly-Fandahar.«

Die Aufnahmen aus dieser Zeit waren ent-setzlich anzusehen.

»Der Gegner hatte sich wohl ausgerechnet, daß die Wärme der Sonne allmählich den Eis-panzer erwärmen und auflösen würde. Also kehrten sie zurück, um den Frostpanzer zu erneuern. Das haben sie seither einige Male getan. Aber ihre Berechnungen haben einen entscheidenden Fehler – sie haben vergessen, daß Ardsly-Fandahar auch von innen erwärmt wird. So haben wir uns allmählich immer mehr Lebensraum verschaffen können, ohne daß der Feind davon etwas bemerkt hätte.«

Auf dem Bildschirm erschienen nun Auf-nahmen, die aus einem Raumschiff gemacht

worden waren. Urselphyn kannte diese Bilder, er hatte sie bereits etliche Male gesehen, wenn er vom Blauen Mond zurückgekehrt war.

»In einigen Jahrhunderten, so haben wir er-rechnet, wird es wieder soweit sein – der Gegner wird auftauchen und unsere Welt er-neut mit einem Eispanzer überziehen. Aber dieses Mal wird eines anders sein – bereits lange vorher wird das Eis geschmolzen sein, und wenn der Gegner kommt, wird er sofort erkennen, welchen Fehler er gemacht hat.«

Urselphyn schwieg. Die Schlußfolgerung, die sich aus diesen Ausführungen ergab, war eindeutig und naheliegend.

»Sie werden den damaligen Fehler kein zweites Mal begehen«, sagte Ühlandorgher. »Wenn wir nicht bis zu diesem Zeitpunkt eine Methode gefunden haben, dem Feind erfolg-reich entgegenzutreten und ihn zurückzu-schlagen, wird er sein Vernichtungswerk nun abschließen, und diesmal wird der Beschuß aus den Hypervereisern erst aufhören, wenn der Planet bis zum Zentrum durchgekühlt ist. Leben wird dann auf Ardsly-Fandahar nicht mehr möglich sein.«

Urselphyn war wie betäubt. Die Datenfülle, die über ihn und die anderen wie ein Sturz-bach hereingebrochen war, verwirrte ihn, und obwohl er sich geistig niemals beweglicher gefühlt hatte als in diesen Augenblicken, ver-kraftete er all das nicht. Es war zuviel.

Das Leben, das er und die anderen Ardsly bisher geführt hatten, war nicht der Normal-fall, sondern ein von einem unbekannten Feind bewirktes Leben. Normal waren Bedin-gungen, die jedem Ardsly als Traumland vor-kommen mußten. Ein paar Jahrzehnte lang, so sah es aus, würden die Ardslys wieder zu die-sem früheren Leben zurückkehren können, um dann aber für immer aus der Geschichte vertrieben zu werden.

»Warum erzählst du uns das alles?« fragte Gamselmartyn nach längerem Schweigen.

Ühlandorgher machte eine bedeutungsvolle Pause.

»Wir haben in den letzten Jahrhunderten viel getan«, sagte er. »In diesem Palast mit seiner gedankenfördernden Wärme haben wir nachgegrübelt, wie das Schicksal unseres Volkes gerettet werden könnte. Und wir ha-ben eine Lösung gefunden.«

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»Sie lautet?« »Kampf!« sagte Ühlandorgher.

2. »Eine Weisheit, die der Wind schon

kennt«, stieß Urselphyn hervor. »Natürlich werden wir kämpfen – aber wie? Und wo-mit?«

Die Bilder auf der Projektionsfläche wech-selten.

»Seht genau hin«, sagte Ühlandorgher. »Der Vorfall liegt etliche Jahrtausende zu-rück.«

Es waren die Schiffe der Vereiser zu erken-nen. Da sie aus den Tiefen des Raumes ka-men, mußten sie eine Technologie haben, die der der Ardslys entsetzlich überlegen war. Niemand wußte besser als Urselphyn, welcher Aufwand nötig war, um nur den vergleichs-weise lächerlichen Sprung von Ardsly-Fandahar zu seinem Blauen Mond zurückzu-legen.

»Ein Schiff der Vereiser, ein Beiboot, das zu Erkundungszwecken ausgeschickt worden war, geriet versehentlich in den Beschuß der eigenen Einheiten. Ihr könnt sehen, wie es abstürzt.«

Offenbar hatten kleine versteckte Kameras den Vorgang aufgezeichnet. Die Bilder waren von schlechter Qualität, aber sie waren zu erkennen. Deutlich zeichnete sich das Wrack auf den vereisten Boden ab.

»Wir haben dieses Wrack dort gelassen«, sagte Ühlandorgher. »Wir – das heißt, der Stamm, der damals über Ardsly-Fandahar regiert hat – haben diesen Zufall als das er-kannt, was er war: als Falle.«

»Eine Falle?« »Seht euch diese Bilder an. Sie entstanden

Jahrhunderte nach dem Absturz. Ein Raum-schiff des Gegners überfliegt den Planeten – und auch das Wrack. Es hat insgesamt sieben solcher Kontrollflüge gegeben, und jedesmal konnten die Vereiser dabei ihr Wrack deutlich erkennen. Wir haben nichts daran geändert. Wir haben sogar den nächsten großen Angriff des Feindes abgewartet, bevor wir uns mit dem Wrack befaßt haben.«

»Und?« Urselphyn erhob sich ein wenig von seinem

Sitz. Eine ungeheure Spannung hatte ihn er-griffen.

»Es war vieles zerstört, manches aber funk-tionierte noch. Unsere Wissenschaftler haben sich viel Mühe gegeben, alle technischen Ge-heimnisse der Fremden zu enträtseln, und es ist uns gelungen.«

Jetzt hielt es keinen der Ardslys mehr auf seinem Sitz.

»Heißt das, daß wir über Raumschiffe ver-fügen? Richtige überlichtschnelle Schiffe, wie sie die Vereiser verwenden?«

Ühlandorgher machte eine Geste, die eine stille Erheiterung verriet. Er schien den En-thusiasmus der jungen Leute gut verstehen zu können.

»Wir haben solche Schiffe«, sagte er, als sich der Lärm ein wenig gelegt hatte. »Insge-samt vierunddreißig Einheiten unterschiedli-cher Größe.«

»Das ist nicht genug«, sagte Gamselmartyn sofort. »Wenn die Vereiser uns mit Hunderten von Schiffen angreifen, haben wir mit vier-unddreißig Einheiten keinerlei Aussicht auf Sieg.«

»Unsere Pläne sehen ein wenig anders aus«, setzte der Ältere seinen Bericht fort. »Für unser Volk ist jetzt die Zeit zum Han-deln gekommen. In spätestens achtzig Jahren wird der Eispanzer um unsere Welt weitge-hend geschmolzen sein – und von da an kön-nen wir wieder Städte bauen, Industrieanlagen errichten und uns in den Stand versetzen, un-sere Heimat gegen jeden Angriff zu verteidi-gen. Für dieses Rettungsprogramm haben wir zweihundertfünfzig Jahre veranschlagt, und selbst dann wird die Entscheidung sehr knapp ausfallen. Ihr und ich, wir werden dann längst nicht mehr leben, aber unsere Schößlinge werden sich an uns erinnern – so wie wir uns unserer Vorfahren erinnern, deren Hartnä-ckigkeit und Zähigkeit wir es zu verdanken haben, daß es überhaupt noch Wesen unserer Art gibt.«

»Ich habe begriffen«, stieß Urselphyn her-vor. »Was aber hat dieser Langzeitplan damit zu tun, daß wir ausgerechnet hier und heute zusammensitzen?«

»In den nächsten Stunden werden die Raumschiffe der Ardslys ihren ersten wirkli-chen Einsatz erleben. Ihr werdet damit star-

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ten.«

Urselphyn spürte sofort, daß etwas nicht stimmte.

»Was für einen Grund gibt es, ausgerechnet diesen Tag dafür auszuwählen?«

Ühlandorgher machte eine bedeutungs-schwere Pause.

»Dank der Ortungssysteme der Feinde vermögen wir nicht nur den Bereich unseres eigenen Sonnensystems zu erfassen, sondern auch einen großen Raumbezirk in unserer astronomischen Nachbarschaft.«

»Der Feind kommt?« fragte Gamselmartyn entsetzt.

»Nicht der Feind«, antwortete Ühlandorg-her sofort. »Aber ein fremdes Schiff.«

»Noch ein Feind«, murmelte Urselphyn verbittert.

»Das kann man nicht sagen«, berichtigte ihn Ühlandorgher. »Euer Auftrag wird darin bestehen, Näheres über dieses Schiff heraus-zufinden. Die Vermutung ist gegeben, daß es sich dabei nicht um ein Schiff unserer Feinde handelt.«

»Und woher will man das wissen?« »Das Schiff hat es selbst gesagt. Es hat

nämlich einen Namen.« »Dergleichen soll vorkommen«, murmelte

Urselphyn. Die Fährschiffe, die zwischen Ardsly-Fandahar und dem Blauen Mond ver-kehrten, waren in der Regel von ihren Piloten mit Kosenamen versehen worden.

»Dieses Schiff hat zwar einen Namen – aber keine Besatzung«, erklärte Ühlandorg-her.

»Und wie heißt das herrenlose Schiff?« »Es nennt sich TAUPRIN.«

* »TAUPRIN ruft, melde dich! TAUPRIN

ruft, melde dich!« »Dies ist der erste Funkspruch, den wir auf-

fangen konnten«, erklärte Ühlandorgher. »Das Schiff namens TAUPRIN steht am Rand der Dunkelzone. Es ist vor siebzehn Tagen dort aufgetaucht, und vor wenigen Stunden hat es zu funken begonnen.«

»Der Spruch hört sich an, als erwarte TAUPRIN, daß sich jemand bei ihm meldet – und zwar ein ganz bestimmter Jemand.«

»Das gleiche sagen andere Positroniken. Unser Ziel muß daher sein, diesem Unbe-kannten zuvorzukommen.«

»Wir könnten uns damit einen neuen Feind einhandeln«, gab Gamselmartyn zu bedenken.

»Unsere Aussichten sind alles in allem so schlecht, daß wir diese Möglichkeit nicht un-genutzt verstreichen lassen dürfen. Unsere Hoffnung ist, daß dieses Schiff TAUPRIN technische Geheimnisse enthält, die uns einen entscheidenden Vorsprung gegenüber den Vereisern verschaffen.«

»Das läuft auf ein Spiel Alles oder Nichts hinaus«, gab Urselphyn zu bedenken.

»Wir haben alle Möglichkeiten durchkalku-liert«, sagte Ühlandorgher. »Das Ergebnis ist schrecklich und eindeutig – nur eine Ver-zweiflungstat kann unser Volk vor dem Schicksal bewahren, das ihm durch die Verei-ser droht. Wir müssen handeln – und zwar jetzt.«

»Dann werden wir es tun«, sagte Ur-selphyn.

Er bemerkte, daß er sich inzwischen an die Wärme im Innern des Blütenpalasts gewöhnt hatte. Aus dem rauschhaften Eindruck war nun ein Gefühl ruhiger Sicherheit geworden, das Bewußtsein, jedes nur denkbare Problem angehen und lösen zu können. Soviel Zuver-sicht war Urselphyn bisher fremd gewesen.

»Folgt mir«, sagte Ühlandorgher. »Ich wer-de euch den Startplatz zeigen.«

Sie verließen den Konferenzraum. Aus an-deren Räumen in der Nähe, in denen vermut-lich ähnliche Zusammenkünfte stattgefunden hatten, schlossen sich weitere Ardslys dem Zug an. Urselphyn kannte ein paar davon, und ihm wurde erneut klar, wie wichtig dieser Tag für das ganze Volk der Ardslys war – die ge-samte technische Elite des Planeten war ver-sammelt, die fähigsten Maschinenwarte, die geübtesten Navigatoren und die erfahrensten Raumkapitäne. Urselphyn konnte es als Aus-zeichnung betrachten, zu diesem Kreis ge-rechnet zu werden, er hatte nicht mehr als ein paar Routineflüge zum Blauen Mond aufzu-weisen.

Insgesamt waren es fünfhundert Ardslys, die sich durch die langen Korridore des Blü-tenpalasts bewegten, dem Startplatz des ge-heimnisvollen neuen Raumschiffs entgegen.

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»Schon gehört?« fragte ein Navigator ne-

ben Urselphyn. »Wir bekommen neue Schiffe – überlichtschnell, heißt es.«

»Ich glaube das erst; wenn ich es sehe und erlebe«, antwortete Urselphyn.

Er hatte sich zusammengereimt, daß die Neukonstruktionen der Ardslys noch nie wirklich geflogen waren – dies würde der erste praktische Einsatz sein, der zu allem Überfluß auch ohne seine technische Kompo-nente zu einem Wagnis geraten war, wie es in der Geschichte der Ardslys wahrscheinlich kein zweites gab.

»Wir werden bei diesem Start nur vier Schiffe verwenden«, gab Ühlandorgher be-kannt. »Sie sind in diesem Hangar statio-niert.«

Die Beleuchtung flammte auf. Die Ardslys drängten sich in den Raum. Schweigen legte sich über die Gruppe.

Sie sahen prachtvoll aus – mattschwarze Diskusschiffe auf sechzehn filigran wirken-den Stützbeinen, die Haut glatt und fugenlos, ohne irgendwelche Auswüchse, Antennen oder dergleichen. Auch Waffen waren nicht zu erkennen.

Sie sahen wundervoll aus, perfekt, stark, unwiderstehlich. Aber das war nur der äußere Eindruck.

Urselphyn gehörte zu der Gruppe, die als erste eines der Schiffe betreten durfte.

Niemals zuvor hatte Urselphyn soviel tech-nische Perfektion erlebt. Kein Stäubchen lag auf den Instrumenten, nirgendwo war auch nur der geringfügigste Kratzer zu sehen, es gab keine Rostflecken, keine Teppiche mit Löchern von Säure darin, keine von Sauer-stoff ausgebleichten Wandbehänge. Es fehlten all die teils schlampigen, teils gemütlichen Kleinigkeiten, wie sie charakteristisch waren für die Fähren, die Urselphyn normalerweise lenkte.

Er setzte sich auf den breiten Sessel des Pi-loten.

»Wir haben an nichts gespart«, erläuterte Ühlandorgher. »Unsere Absicht war es, jedem Besatzungsmitglied beim ersten Anblick klar-zumachen, daß es das Beste an technischem Gerät zur Verfügung gestellt bekommt, was unser Volk zu liefern imstande ist. Diese Schiffe sind in Abständen von wenigen Jah-

ren immer wieder umgebaut worden – sobald wir für irgendein Problem eine bessere Lö-sung gefunden hatten, haben wir diese Lösung technisch verwirklicht und eingebaut. Diese Schiffe stellen den Gipfel unserer Technolo-gie dar – wir haben in keinem Teilbereich etwas Besseres anzubieten.«

»Fast zu schön, um damit herumzufliegen«, sagte Gamselmartyn. »Seid ihr euch darüber klar, daß das Schiff bei weitem nicht mehr so hübsch aussehen wird, wenn es von seiner ersten Fahrt zurückkehrt?«

»Das wissen wir«, gab Ühlandorgher zu-rück. »Wir haben dieses Schiff auf den Na-men Thesbaqu Pymd’l getauft – in Erinnerung an einen der größten Wissenschaftler unseres Volkes.«

Urselphyn hatte nie von einem Ardsly die-ses Namens gehört, und er wußte jetzt auch warum – die eisige Kälte draußen, die alle Lebensvorgänge der Ardslys auf Minimalwer-te absinken ließ, hatte es einfach unmöglich gemacht, ein breitangelegtes Bildungspro-gramm durchzuführen. Die Mehrzahl der Ardslys wäre gar nicht in der Lage gewesen, so vielschichtige Gedankenkonstruktionen nachvollziehen zu können. Das hatte augen-scheinlich sogar für den größten Teil der technisch versierten Ardslys gegolten. Die Zahl der wirklich Eingeweihten mußte stets verschwindend gering gewesen sein.

»Woher stammt eigentlich die Wärme, die wir jetzt spüren?« fragte Urselphyn.

»Im Innern des Schiffes wird sie künstlich erzeugt, im Blütenpalast verdanken wir sie der Tätigkeit eines Vulkans, der an der Ober-fläche erloschen ist, aber in einigen tausend Metern Tiefe noch ungeheure Hitzemengen abgibt, die wir technisch auswerten können.«

»Und in diesem eng umgrenzten Gebiet wurde dies alles geschaffen?« fragte Ur-selphyn.

»So ist es. Es hat Jahrhunderte gedauert, schon wegen der umfassenden Geheimhal-tung.«

Urselphyn hatte den seltsamen Gedanken, daß Ühlandorgher und die anderen Geheim-nisträger entweder Verbrecher oder Märtyrer sein mußten. Es lag auf der Hand, daß die Wärme des Blütenpalasts immer nur für ein paar hundert Ardslys ausgereicht hatte, für

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eine verschwindend kleine Elite, während der Rest des Volkes im Energieelend hatte leben müssen. Wie mochte sich diese Elite gefühlt haben, wenn sie im Überfluß lebte, während der Rest zu darben hatte?

Die Ardslys hatten sich unterdessen auf die vier Schiffe verteilt. Die Luken wurden ge-schlossen.

»Urselphyn, du bist als Kommandant dieses Schiffes ausgewählt worden«, gab Ühlan-dorgher bekannt.

Urselphyn schrak zusammen. Er wäre stolz gewesen, diesen historischen Flug mitmachen zu dürfen – aber dafür Verantwortung zu tra-gen, wäre ihm nicht eingefallen. Hilfesuchend sah er sich um, aber die Gestik der anderen verriet ihm deutlich, daß keiner daran dachte, ihm diese Aufgabe streitig zu machen.

»Gamselmartyn wird dein Stellvertreter sein«, setzte Ühlandorgher fort. »Den Oberbe-fehl über die ganze Aktion habe ich. Und ich ordne nun den Start an.«

Urselphyn schnallte sich auf den Sitz des Piloten fest. Technisch betrat er in diesem Augenblick kein Neuland – Schaltungen und Kontrollen waren weitgehend mit denen einer normalen Mondfähre identisch. Allerdings waren alle Anlagen von einer Perfektion, die Urselphyn noch nicht erlebt hatte.

Die Besatzungsmitglieder suchten ihre Sta-tionen auf. Im Innern liefen die Reaktoren an und lieferten die Energie für die Triebwerks-systeme. Vergeblich wartete Urselphyn auf das Vibrieren der gesamten Schiffszelle, aber es kam nichts. Nur das allmähliche Wachsen eines Anzeigenwerts bewies ihm, daß die Triebwerke anliefen.

»Das große Luk öffnete sich automatisch, sobald der Druck auf den Boden nachläßt«, erklärte Ühlandorgher.

Gehalten von einem Antischwerefeld, stieg das Schiff langsam in die Höhe. Urselphyn erschrak ein wenig, als es sich nach hinten legte und dann ziemlich steil in die Höhe zu steigen begann. Bei einem von oben kreisrun-den Schiff gab es naturgemäß kein Heck und keinen Bug, er wurde lediglich durch die ent-sprechende Fahrtbeschleunigung bestimmt.

Der Diskus schoß in die Höhe, glatt und sauber, vibrationsfrei und mit einer unglaubli-chen Geschwindigkeit. Und im Innern war es

so warm wie im Blütenpalast – es war ein völlig anderes Flugerlebnis als das mühselige Hantieren mit den altersschwachen und küh-len Mondfähren. Der Unterschied entsprach ziemlich genau dem des Lebensgefühls, wenn man das kalte Land und die Wärme des Blü-tenpalasts miteinander verglich.

Auch die Ortungssysteme waren hervorra-gend. Auf den Kontrollschirmen zeichneten sich zwei langsame Körper ab – die Tastpunk-te der beiden Fähren, die Erz und Mineralien vom Blauen Mond hinunterbrachten nach Ardsly-Fandahar. So genau war die Ortung, daß sie sofort die zu erwartenden Kursdaten der näheren Zukunft für diese Einheiten be-rechnete.

»Es funktioniert hervorragend«, sagte Ur-selphyn. Am liebsten hätte er die Kontrollen gestreichelt; es war ein wundervolles Schiff.

»Beschleunige weiter«, wies Ühlandorgher an. »Das Schiff kann viel mehr leisten.«

Urselphyn traute seinen Ohren kaum, aber er gehorchte.

In der Tat nahm die Beschleunigung des Diskusschiffes zu.

»In spätestens einer halben Stunde müssen wir nahe der Lichtgeschwindigkeit sein«, gab Urselphyn bekannt.

»Wir werden noch schneller sein«, sagte Ühlandorgher.

Im gesamten Triebwerkssystem gab es nicht die geringste Panne oder Störung. Die Wissenschaftler hatten im geheimen tatsäch-lich ein kleines Wunderwerk vollbracht.

»Haben wir eigentlich auch Waffen?« frag-te Gamselmartyn plötzlich.

Ühlandorgher machte eine Geste der Über-legenheit.

»Mehr als das«, gab er bekannt. »Wir kön-nen uns sogar verteidigen. Unsere Wissen-schaftler haben eine Abwehr gegen die Waffe der Vereiser gefunden, eine sehr komplizierte Angelegenheit, bei der der Energiezapfstrahl der Vereiser derart mit Billionen Einheiten Wärme aufgeladen wird, daß die Empfangs-station zusammenschmilzt. Wir überfordern ganz einfach die Saugkapazität des wärme-entziehenden Feldes, das der Hypervereiser erzeugt. So sind wir vor der Wirkung sicher.«

»Wurde das erprobt?« »Bislang nicht, uns stand keine Vereiser-

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Waffe zur Verfügung – aber die Berechnun-gen müßten eigentlich stimmen.«

»Wenn nicht, sind wir verloren«, murmelte Gamselmartyn.

»Laß das Orakeln«, bestimmte Urselphyn. »Noch ist kein Anlaß zum Übelwähnen vor-handen – das Schiff fliegt einfach prächtig.«

Unterdessen hatte sich die Thesbaqu Pymd’l der Lichtgeschwindigkeit immer mehr genähert, es wurde Zeit, ein Manöver einzu-leiten, das keiner an Bord jemals zuvor durchgeführt hatte.

»Du brauchst nicht mehr zu tun, als die Grundsatzdaten des Bordrechners entspre-chend zu variieren, alles andere erledigt der Rechner.«

Urselphyn hielt in der Hand eine Datenkar-te, die von der Ortung auf dem Planeten Ards-ly-Fandahar erstellt worden war. Die Koordi-naten waren die des seltsamen TAUPRIN-Schiffs.

Mit diesen Werten fütterte Urselphyn nun den Zentralcomputer der Thesbaqu Pymd’l, und sofort änderte das Schiff ein wenig den Kurs.

Ein paar Augenblicke danach zeigte eine heftig flackernde Lampe an, daß der Flug durch ein Etwas beginnen konnte, daß sich wohl niemand an Bord so recht vorzustellen vermochte – den Hyperraum.

Für ein paar Augenblicke machte sich die Fahrt bemerkbar – auf dem Kontrollschirm zogen die Sterne der näheren Umgebung leuchtende Spuren, als das Schiff an ihnen vorbeiraste.

Dann fiel das Ardsly-Schiff in den Normal-raum zurück.

»Das war alles?« fragte Urselphyn erstaunt. Er wußte selbst nicht, was er erwartet hatte

– irgend etwas Spektakuläres, aber nichts der-gleichen war geschehen. Im Gegenteil, die Spannung hatte die Besatzung derart ergriffen gehabt, daß niemand an Bord auch nur ein Wort über dieses historische Ereignis verlor. Erstmals in der jahrzehntausendealten Ge-schichte des Volkes der Ardslys hatten es Wesen aus diesem Volk geschafft, die Licht-mauer zu überwinden und in die Reihen der wahrhaft raumfahrenden Völker einzudringen.

Vielleicht lag der Mangel an allgemeiner Begeisterung daran, daß die Ortungssysteme

einen sehr deutlichen Nachweis lieferten, daß die Ardslys trotz ihres jüngsten Erfolges im-mer noch die jüngsten und letzten Eroberer des Weltraums waren.

Denn auf den Ortungsschirmen zeichnete sich ab, daß es nicht allein die Ardslys zu dem seltsamen Schiff TAUPRIN gezogen hatte.

Es waren auch andere da. Und die Ardslys erkannten sie sofort. Der Feind, die Vereiser.

3. »Angreifen!« sagte Ühlandorgher sofort.

»Es sind nur zwei, wir haben vier Einheiten.« »Aber sie haben uns doch überhaupt nichts

getan!« stieß Urselphyn hervor. »Diese vielleicht nicht, aber ihre Vorväter.« Urselphyn erkannte sehr rasch, daß er mit

seiner Auffassung allein stand; die anderen in seinem Schiff und auch die Kommandanten der drei anderen Schiffe brannten vor Kampf-begier – und das, obwohl sie überhaupt nicht wissen konnten, ob die Waffenentwicklung der Ardslys in der Praxis den Systemen der Vereiser etwas entgegenzusetzen hatten. Es war ein Wahnsinnsunternehmen, fand Ur-selphyn.

Er brachte sein Schiff langsam näher an die gegnerischen heran. Auf den Kontrollschir-men sprang das Bild plötzlich um. Die leuch-tenden Punkte, die bislang das Vorhandensein anderer Schiffe kenntlich gemacht hatten, wichen präziseren Darstellungen.

»Das muß TAUPRIN sein«, sagte Ur-selphyn sofort.

Er hätte sich niemals vorstellen können, daß ein technischer Gegenstand wie bei-spielsweise ein Raumschiff von so erlesener Schönheit sein konnte. Die äußere Form von TAUPRIN leitete sich wohl von einem Lebe-wesen ab; es waren Rundungen und Wölbun-gen zu sehen, ein langgestreckter Hals schien sich weit über einen flachen gewölbten Leib hinaus in den Raum zu strecken. Es gab Ver-zierungen und Schnörkel, die über diese Ent-fernung nicht sehr genau auszumachen waren und dem ganzen Schiff eher den Anstrich eines Kunstwerks als den eines kampftüchti-gen Raumers gaben. Der Rechner spuckte die groben Daten aus: Länge 348 Meter, Breite

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122 Meter, Dicke 52 Meter. Schutzschirmsys-teme, mehrfach gestaffelt, waren angemessen worden.

Unverkennbar aber auch die anderen Raumschiffe – Walzen mit einer Standardlän-ge von 360 Metern und einer Dicke von 110 Metern, unverkennbar Bauten jener Wesen, die Vereiser genannt wurden. Offenbar hatten auch sie Wind von dem Auftauchen TAUPRINS bekommen und wollten sich die erlesene Beute sichern.

»TAUPRIN ruft, bitte melden!« Der Funkverkehr des schönen Schiffes war

an Bord des Ardsly-Raumers deutlich zu hö-ren.

»Wir haben dich erreicht, TAUPRIN!« gab Urselphyn durch.

TAUPRIN reagierte auf den Anruf nicht, auch nicht auf die Versuche der Vereiser, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Offenbar wartete TAUPRIN nach wie vor darauf, daß sich ein ganz bestimmter Gesprächspartner meldete.

»Atlan an Bord der CHYBRAIN«, klang plötzlich eine andere Stimme aus den Laut-sprechern.

»TAUPRIN an Atlan, ich verstehe dich gut und klar. Melde dich bei mir!«

»Warum sollte ich.« »Ich will es so. Und es ist in deinem Inte-

resse.« »Das bezweifle ich«, antwortete das unbe-

kannte Wesen Atlan. »Die Endung deines Namens läßt mich vermuten, daß es sich bei dir um ein Manifest handelt.«

»Der Verdacht ist richtig. Ich bin TAUPRIN und warte hier auf dich.«

»Dann warte. Was für einen Grund sollte ich haben, dich aufzuspüren?«

»Ich könnte dir helfen«, lautete TAUPRINS Antwort.

Aus dem Lautsprecher, der die seltsame Unterhaltung in die Zentrale übertrug, erklang Gelächter. Die Translatoren jedenfalls über-mittelten die Geräusche so, daß sie wie Ge-lächter klangen. Urselphyn sah auf die In-strumente und stellte fest, daß sowohl TAUPRIN als auch der unbekannte Atlan sich im Bereich des Infraschalls unterhielten, in Schwingungen, die viel zu langwellig waren, um von einem Ardsly verstanden zu werden.

»Helfen? Du mir? Ein Manifest?«

»Wir sind nicht alle gleich«, antwortete TAUPRIN. »Mein Angebot besteht. Überlege es dir – aber warte nicht zu lange.«

»Was sollte mich zur Eile bewegen?« »Es sind schon andere zur Stelle, um sich

meiner Hilfe zu bedienen.« »Er meint uns«, stieß Ühlandorgher hervor.

»TAUPRIN hat uns geortet.« »Wenn wir ihn sehen können, wird er wohl

auch in der Lage sein, uns erkennen zu kön-nen«, sagte Gamselmartyn gelassen. »Was unternehmen wir nun?«

»Hin zu TAUPRIN«, bestimmte Ühlan-dorgher. »Wir entern das Schiff.«

»Das wird mit Sicherheit zum Kampf füh-ren«, gab Urselphyn zu bedenken.

»Schreckt dich das?« fragte Ühlandorgher scharf. »Eine einmalige Gelegenheit, uns zu bewähren.«

»Bewähren?« »Nur die Tapfersten, die Umsichtigsten und

Klügsten werden aus diesem Kampf als Sie-ger hervorgehen«, verkündete Ühlandorgher. »Und das Volk dieser besten aller Kämpfer wird eines Tages die Macht über diese Ster-neninsel ausüben.«

Urselphyn glaubte nicht recht gehört zu ha-ben. Nun, vielleicht war die Aufregung des Augenblicks dem Alten aufs Gemüt geschla-gen.

»Also heran an die TAUPRIN, bevor es zu spät ist«, bestimmte Ühlandorgher. »Die an-deren werden ebenfalls nicht zögern.«

Urselphyn hatte einen ganz bestimmten Verdacht, den er nicht auszusprechen wagte – die furchtbare Ahnung nämlich, daß dieses Abenteuer mit einer verheerenden Katastro-phe enden würde, möglicherweise für beide Parteien. Vielleicht mußten die Überlebenden des Weltraumgemetzels später feststellen, daß es sich bei dem Wunderschiff TAUPRIN um nichts anderes handelte als eine funkfähige Ansammlung von Raumschrott. Vielleicht wurde das Schiff bei dem Getümmel auch so beschädigt, daß niemand mehr etwas damit anfangen konnte. Und es gab auch noch die Möglichkeit, daß plötzlich einige andere TAUPRINS auf den Plan traten, technisch weit überlegen und sicherlich verärgert über die Beutegier der Ardslys und Vereiser. Dann drohte beiden Völkern Kampf mit den

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TAUPRINS oder ihren Erbauern.

Wie man es drehte und wendete – es gab viel zu verlieren und verdammt wenig zu ge-winnen.

»Voran, Leute. Unsere Enkelsprossen wer-den es uns einmal danken«, trompetete Üh-landorgher.

Während Urselphyn gehorsam die Manöver ausführte, die Ühlandorgher anordnete, ver-spottete er insgeheim den Alten.

Die meisten an Bord waren noch gar nicht im sproßfähigen Alter; ihnen von der künfti-gen Wohlfahrt der Enkelkeime zu reden, ent-behrte nicht einer gewissen Boshaftigkeit. Und selbst für den Fall daß – erfahrungsge-mäß war die Wahrscheinlichkeit groß, daß es den Enkeln der Befehlshaber in der Zukunft weit besser ergehen würde als den Enkeln derer, die die Befehle ausführten und dabei ums Leben kamen.

Sprüche, dachte Urselphyn, nichts als durchschaubar dumme Sprüche.

Das Schiff trieb langsam an TAUPRIN heran. Das ranke, schlanke Fremdschiff mit den organischen Formen trieb beschleuni-gungsfrei im Raum.

»TAUPRIN scheint ein Wrack zu sein«, bemerkte Gamselmartyn.

Der zwangsläufig nächste Gedanke mußte sein, ob es verlohne, sich wegen eines flugun-fähigen Schiffes im Weltraum zu raufen – aber niemand wagte es, diesen Gedanken aus-zusprechen.

»Das Vereiserschiff kommt ebenfalls nä-her.«

Urselphyn spürte, wie seine Säfte schneller zu fließen begannen. Die Situation war aufre-gend.

Es sah so aus, als wüßten die Vereiser nicht recht, wer ihnen da die prächtige Beute strei-tig zu machen gedachte – und über welche Waffen der mögliche Feind verfügen konnte.

Unwillkürlich stießen viele in der Zentrale einen Schrei des Erschreckens aus, als plötz-lich ein Strahlschuß grellweiß das Schwarz des Raumes durchblitzte.

»Ein Warnschuß«, sagte Ühlandorgher. Nervenstark war der Alte, das gab Urselphyn neidlos zu. »Bewahrt die Ruhe.«

»Schießen wir zurück?« »Noch nicht«, bestimmte Ühlandorgher.

»Wir warten ab.« Immer näher rückten die beiden Schiffe an

TAUPRIN heran. Auf den Funkkanälen war zu hören, wie sich TAUPRIN mit dem Wesen Atlan unterhielt. Worum es dabei ging, blieb Urselphyn verborgen. Versuche der Vereiser, sich per Funk an TAUPRIN heranzumachen, schlugen fehl – TAUPRIN antwortete auf diese Lockrufe nicht.

Immerhin nahm TAUPRIN die heranna-henden Fremdschiffe zur Kenntnis. Wie der Kopf einer sonnensuchenden Blüte bewegte sich die Verdickung am Schwanzende – oder war es die Blüte? – hin und her, vom Diskus der Ardslys zu dem Walzenraumer der Verei-ser, die sich selbst Haawer nannten, wie Ur-selphyn dem Sprechfunk entnommen hatte.

Was mochte sich jetzt in den Räumen des Walzenraumers abspielen? Hatten die Haawer Angst vor den Insassen der Diskusschiffe? Die Vorsicht, mit der sich beide Beutesu-chenden an das Objekt ihrer Begierde heran-pirschten, sprach dafür. Es waren zugleich Angst- und Drohgebärden, die sie vollführten – ein schwerbewaffneter Narrentanz.

Während der ganzen Aktion ging das Funkpalaver zwischen Atlan und TAUPRIN weiter. Der Translator gab der Stimme des etlichen Lichtjahre entfernten Atlan einen Ton ruhiger Entschlossenheit, TAUPRINS Stim-me hingegen verriet sehr viel Ruhe und Ge-lassenheit, sie klang dunkel und auf seltsame Weise abgeklärt und weise.

»In ein paar Minuten werden wir TAUPRIN erreicht haben«, verkündete Ur-selphyn.

Erst jetzt machte sich das geheimnisvolle Schiff bemerkbar.

»Entfernt euch bitte«, funkte es die Ardsly an. Die Kontrolle über den sorgfältig über-wachten Funkverkehr der Haawer bewies, daß dort die gleiche Botschaft ankam.

Zur Bekräftigung seiner Aufforderung ließ TAUPRIN nun seine Abwehrschirme auf-flammen. Auf der normaloptischen Anzeige leuchteten sie in vier unterschiedlichen Far-ben auf – blau, grün, gelb und weiß. Eine Energieanalyse ergab, daß sie von unter-schiedlicher Struktur und Funktion waren, wobei der weiße Schirm offenbar das wirk-samste Abwehrmittel war, wie seine Feldstär-

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ke bei der Messung zeigte.

»Jetzt wird die Lage komplizierter«, stieß Ühlandorgher hervor. »Wenn wir nun nach TAUPRIN greifen, setzen wir uns der Gefahr aus, sowohl von TAUPRIN als auch von den Haawern beschossen zu werden.«

»Von dem fremden Wesen Atlan einmal abgesehen«, gab Gamselmartyn bekannt, der fortlaufend den Funkverkehr abhören ließ. »Es hört sich ganz danach an, als würde Atlan hierherkommen – und er scheint TAUPRIN zu kennen, er bezeichnet ihn als Manifest.«

»Was immer das sein mag, wir werden es in unseren Besitz bringen. Frage an die Funk-auswertung: Besteht nach wie vor kein Zwei-fel daran, daß es sich bei der TAUPRIN um ein Wesen handelt? Das Schiff TAUPRIN ist also, von dem gleichnamigen Besatzungsmit-glied abgesehen, leer?«

»TAUPRIN sagt es. Es fragt sich, ob man ihm glauben kann.«

Urselphyn versuchte sich vorzustellen, wie es im Innern des Schiffes aussah. Was für ein Wesen mochte sich dort einsam herumtrei-ben? War TAUPRIN ein Robot, vielleicht nur der Name einer verrückt gewordenen Positro-nik, die nach Jahrtausenden des Wartens den Namen des Schiffes für sich übernommen hatte? Vielleicht war die Besatzung längst tot, gestorben an einer Weltraumpest, während die Positronik allmählich verrückt geworden war.

Vielleicht trieb sich dort auch ein fahlwei-ßes Ungeheuer herum, das nur auf unvorsich-tige Opfer wartete, um ihnen die Körpersäfte auszusaugen oder die Lebensenergie zu ent-ziehen. Vielleicht war TAUPRIN eine flie-gende Bombe, vielleicht ein Räuberkomman-do, das auf Opfer für eine Entführung wartete.

Es gab Tausende von Schreckensmöglich-keiten, die sich hinter dem Namen TAUPRIN verbergen konnten, und bis jemand an Bord gegangen war, wußte keiner, welche dieser Visionen zutraf – oder die stillschweigende Hoffnung, der sich sowohl Ardslys wie Haa-wer hingaben: daß dort die Lösung für eine ganze Reihe von Rätseln zu finden war, dazu die Machtmittel, die gebraucht wurden, um einer der Parteien den endgültigen Sieg zu schenken.

»Verschwindet, alle sieben!« TAUPRINS Stimme klang nun erheblich

ernsthafter als zuvor, fast drohend. »Ortung?« Ühlandorghers Ruf ließ den Ortungstechni-

ker hochschrecken. Er machte eine Geste des Erschreckens.

»Es sind neue Schiffe aufgetaucht, eine ganze Menge, unheimlich viele.«

»Ich brauche keine Gefühlsäußerungen, ich will Zahlen hören!«

»Sechsundachtzig Einheiten. Und gerade jetzt kommen weitere einhundertsiebzehn Schiffe dazu.«

»Da haben wir den Ärger. Wir sind zu spät gekommen«, murrte Ühlandorgher. »Jetzt wird es wirklich hart.«

Er deutete auf eine Reihe von Besatzungs-mitgliedern.

»Du, du, du und du, ihr werdet die Raum-anzüge anziehen und hinüberdriften zu TAUPRIN. Ihr werdet das Schiff entern und für uns in Besitz nehmen. Wenn sich euch jemand in den Weg zu stellen versucht, wer-det ihr ihn beseitigen. Das Vertrauen unseres Volkes liegt auf euren Wurzeln.«

»Wir wissen das zu schätzen«, sagte Gam-selmartyn, dessen Blüte eine stumpfgraue Farbe bekommen hatte. Er schien von der Ehre nicht besonders angetan – zumal sich die Ehre von Minute zu Minute steigerte. Weitere sechshundertsiebenundvierzig Schiffe purzel-ten aus dem Hyperraum. Die Ortung ergab bei näherer Betrachtung, daß es sich dabei um insgesamt zweiundsiebzig verschiedene Ty-pen handelte. Alles in allem hatten sich Abge-sandte von vierundsiebzig verschiedenen raumfahrenden Völkern eingefunden – und das alles, um ein Wrack mit wohlklingendem Namen zu bergen, das im Klartext um Besuch funkte. Nun hatte TAUPRIN, wonach er, sie oder es verlangt hatte – der Raum wimmelte von Schiffen. Ob wohl das Wesen Atlan dar-unter war? Urselphyn stellte sich vor, daß Atlan vielleicht auch ein Raumschiff war, vielleicht ein gestreifter Würfel mit siebenza-ckigen Verzierungen. Möglicherweise war Atlan ein verschollener Weltraumgefährte von TAUPRIN, ein anderes Manifest, das einsam war und sich nach Gesellschaft sehnte.

Einen Augenblick lang erwog Urselphyn – der mitunter über eine sehr ausschweifende Phantasie verfügte, die ihm ab und an sogar

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durchging – die Vorstellung, Atlan und TAUPRIN zusammen einzufangen und gleichsam zu Studienzwecken zu verwenden.

Dergleichen Anwandlungen wurden rasch müßig, als sich der Bildschirm der Ortung mit Leuchtpunkten zu füllen begann.

»Schert euch in die nächste Ultranova, ihr Weltraumvagabunden«, dröhnte es aus den Lautsprechern. »TAUPRIN gehört uns.«

»Wir werden uns TAUPRIN sichern«, quäkte ein entsetzlich mißtönendes Organ dazwischen. »Uns gebührt der Vorrang, vor allen anderen.«

»Das könnt ihr haben, kosmische Wichte. Wir werden euch als erste aus dem Weltraum blasen.«

»Nun höre sich einer diese Großsprecher an. Haben eine lächerliche Raumschlacht ge-wonnen und tun so, als wären sie eine Groß-macht. Lernt erst einmal Anstand und Sitte, bevor ihr hier das Maul so weit aufreißt. Eure Manieren sind schlichtweg ... Lernt erst ein-mal, euch diplomatisch auszudrücken, ihr ...«

Die beiden Krächzer in der synchronen Übersetzung wurden auf einem Bildschirm als nicht translatierbare idiomatische Ausdrücke altertümlich kraftvoller Bedeutung klassifi-ziert.

»Ich verstehe das alles nicht«, stammelte Ühlandorgher. »Was hat das zu bedeuten?«

»Die halbe Galaxis versammelt sich hier, um sich dieses Manifest TAUPRIN zu si-chern. Wir haben inzwischen einhundertsie-ben verschiedene Völker registriert – aber wir waren die ersten.«

»Ich glaube, darauf kommt es jetzt nicht mehr an«, murmelte Urselphyn.

»Schnelligkeit ist jetzt oberstes Gebot«, sagte Ühlandorgher. »Los, von Bord mit euch, Leute. Wenn TAUPRIN erst uns gehört, wer-den wir weitersehen.«

»Vielleicht möchte TAUPRIN aber nicht ...«

»Der wird nicht gefragt. Los, von Bord«, brüllte Ühlandorgher. »Und sobald diese Leu-te ausgeschleust sind, fliegt unser Geschwa-der ...«

»Unser was?« »Geschwader, man kann auch Armada sa-

gen. Wir werfen uns dem zahlenmäßig stärks-ten Gegner entgegen. Haben wir ihn erst ver-

nichtet, werden die anderen schon ruhiger werden.«

»Vernichten? Wir? Wen den – die größte Flotte besteht aus zweihundertsieben Schif-fen, von denen jedes größer und stärker ist als unseres.«

Ühlandorgher machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Das wissen wir«, sagte er leichthin. »Aber wissen es auch die anderen?«

»Aber ...«, stammelte Urselphyn. »Das wä-re ein ungeheures Täuschungsmanöver, das glaubt uns niemand.«

»Eben deshalb wird man es uns glauben«, verkündete Ühlandorgher. »Ich weiß, daß wir siegen werden. Wir haben die wichtigste aller Waffen.«

»Und die wäre?« Ühlandorgher machte eine weitausholende

Geste. »Frechheit«, verkündete er. »Ich habe

schon immer mit Stärke geprahlt. Schon als junger Schößling, und jeder ist darauf herein-gefallen.«

»Und wenn nicht?« Ühlandorgher machte eine wegwerfende

Geste. »Dann werden wir siegreich untergehen.

Der Ruhm unserer Taten wird den Glanz der Sterne verdunkeln, unsere Nachfahren werden ihn ...«

»Wir werden dann keine Nachfahren ha-ben«, erinnerte Urselphyn sanft, aber Ühlan-dorgher hatte sich in einen solchen Rausch hineingesteigert, daß er gar nicht mehr zuhör-te.

Auf einem der Bildschirme konnte Ur-selphyn sehen, wie sich das Enterkommando von der Thesbaqu Pymd’l löste und zu TAUPRIN hinüberschwebte. Deutlich waren die kleinen Feuerstöße aus den Korrekturdü-sen zu erkennen, mit denen die Enterer ihre Flugrichtung anpaßten.

Es waren dies aber nicht die einzigen, die sich an TAUPRIN heranmachten. Aus ähnli-cher Entfernung schwebte ein Pulk der verhaßten Vereiser heran.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Waf-fen sprechen würden.

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4.

»Ergebt euch!« »Wir denken nicht daran.« »Dann müssen wir euch vernichten.« Der Funkverkehr nahm allmählich wahn-

witzige Züge an. Fast alle Beteiligten funkten auf der gleichen Frequenz, und es war wohl niemandem mehr völlig klar, wer da wen zur Übergabe aufforderte, mit Vernichtung drohte oder nur wüst schimpfte.

»Das glaubt uns keiner, sollten wir jemals wieder nach Hause kommen«, sagte Ur-selphyn halblaut.

In der Zentrale seines Schiffes ging es ebenfalls zu wie in einem Tollhaus, alle rede-ten durcheinander, und keiner wußte mehr, worum es überhaupt ging.

»Schert euch von Bord, ihr Gesindel!« hör-te Urselphyn Gamselmartyn ins Mikrophon brüllen. »Nein, nicht ihr, die anderen!«

In der allgemeinen Besitzgier, deren Mit-telpunkt TAUPRIN war – in majestätischer Ruhe hing das Wunderschiff im Raum –, hat-ten es die streitenden Parteien versäumt, sich gebührend vorzustellen, so daß der gesamte Funkverkehr unter der Schwierigkeit zu lei-den hatte, daß sich ein jeder angesprochen fühlen konnte, wenn ein »He, ihr da!« aus den Lautsprechern schallte.

Urselphyn hätte sich nie träumen lassen, daß es so viele verschiedene Völker auf so begrenztem Raum geben konnte. Die wenigen allein, die sich vorgestellt hatten, überstiegen sein Begriffsvermögen, Altygiden, Komso-riskynen, Apharturen, Muskameter, Horren-zorrs, Phrymmphe und Pöterbaren und wie sie alle hießen; schleimige Kreaturen mit hervor-quellenden Optikorganen waren zu sehen, dürre Vogelwesen, Zirpgeschöpfe mit knar-renden Kniegelenken, ein undefinierbares Etwas, das leise Blubberlaute ausstieß und seine Oberherrschaft über die gesamte Gala-xis verkündete, ab und zu auch ein Geschöpf, das mit kunstvoll verschlungenen Luftwur-zeln und harzreicher Rinde einen halbwegs erträglichen Anblick bot. Urselphyn war ein wenig erschrocken, als er feststellen mußte, daß es sich bei den Kontrahenten in der Hauptsache um irgendwelche weichhäutigen Geschöpfe handelte, die vermutlich ihresglei-

chen auffraßen, lebende Junge zur Welt brachten und allerlei andere unappetitliche Gewohnheiten dieser Art besaßen.

Bislang war es noch nicht zur Schlacht ge-kommen, dafür war das Durcheinander noch zu groß. Da es sich aber bei den verfeindeten Mächten um Angehörige hochintelligenter raumfahrender Völker handelte, würde es wohl früher oder später zu einer geordneten kriegerischen Auseinandersetzung kommen – und spätestens dann war für die Ardslys das Ende aller Blütenträume gekommen.

Anders als die meisten seiner Art, die sich in kriegerischem Eifer überboten, verspürte Urselphyn ein nur sehr geringes Verlangen zu sterben, folglich sann er darüber nach, wie er dieses Schicksal möglicherweise verhindern konnte.

Das leichteste wäre es gewesen, sich ein-fach herauszuhalten, nach Möglichkeit gar zu verschwinden – dem aber stand das blutgieri-ge Gebaren seiner Besatzungsfreunde entge-gen, die für Fluchtgedanken nicht zu gewin-nen waren. Ihre Überlegungen kreisten nur um die Frage, welchen Flottenverband des Gegners sie zuerst aufreiben sollten. Zum Glück standen die fraglichen Gegner vor ähn-lichen Problemen, so daß sich die Schlacht um TAUPRIN wohl noch ein paar Stunden lang würde vermeiden lassen.

Urselphyn griff, ohne daß einer der Ardslys es merkte, in die Steuerung.

Das Schiff entfernte sich langsam von der TAUPRIN.

Auch das Walzenschiff der Vereiser driftete ab. Von den Enterkommandos war nun nichts mehr zu sehen. Wahrscheinlich hatten sie die Oberfläche von TAUPRIN unterdessen er-reicht, wenn die Schutzschirme sie nicht zu-rückgewiesen hatten, schnitten Löcher in die Bordwand und versuchten, ins Innere zu ge-langen.

Urselphyn wurde den Verdacht nicht los, daß es TAUPRIN nicht annähernd so freund-lich meinte, wie es aus den Funkbotschaften klang. Vor allem irritierte Urselphyn die Tat-sache, daß sich das Raumschiff nicht einfach in Bewegung setzte, davonflog und sich ir-gendwo in der Weite des Raumes mit Atlan traf – vielleicht lag es daran, daß TAUPRIN flugunfähig war, aber dann war es wohl nicht

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der Mühe wert, sich darum zu streiten.

Ein Blick in die Zentrale bewies, daß er für solche Überlegungen in seiner Besatzung kei-nen Gesprächspartner finden würde.

Auf dem großen Panoramaschirm war die Flotte der Streitenden zu sehen, ein nunmehr fast kreisförmiges Gebilde von mehr als zwei-tausend Raumschiffen unterschiedlicher Kon-struktion. Dieser Kreis rotierte langsam um sein Zentrum herum, das von TAUPRIN ge-bildet wurde, dabei zog er sich ein wenig zu-sammen.

»Ühlandorgher!« Der Oberbefehlshaber hörte nicht zu. Er er-

örterte mit seinen Offizieren das strategische Problem, ob man den Kreis der Gegner nach rechts oder links aufrollen sollte – oder aber mit einem Sprung über TAUPRIN hinweg auf der gegenüberliegenden Seite des Kreises, was naturgemäß beim Gegner zu großer Ver-blüffung führen mußte.

»Pah, dann nicht.« Unversehens fand sich Urselphyn in die

Lage versetzt, das Schiff völlig nach eigenem Ermessen kommandieren zu dürfen – und er wollte von dieser Möglichkeit Gebrauch ma-chen.

Bis das allgemeine Gezänk zu offenem Kampf eskalieren konnte, würde noch allerlei Zeit vergehen – in diesen Stunden ließ sich vielleicht einiges in Erfahrung bringen.

Urselphyn kam das kriegerische Gebaren seiner Freunde einigermaßen seltsam vor, noch absonderlicher erschien es ihm aber, daß es in der ganzen Völkerfamilie, die sich hier eingefunden hatte, nicht ein einziges friedfer-tiges Wesen geben sollte.

Auch die Texte, die durch den Weltraum flogen, kamen Urselphyn auf beängstigende Weise bekannt vor – es ging fast immer um Begriffe wie Bewährung, Sieg der Überlege-nen, Vorherrschaft der Stärkeren und ähnliche Dinge. Am schlimmsten war, daß die meisten Sprecher diesen Unsinn nicht nur ausspra-chen, sondern offenbar wohl auch selbst glaubten.

Auf dem Panoramaschirm sah Urselphyn das Schiff der Vereiser. Ob es vielleicht mög-lich war, mit diesen Wesen Kontakt aufzu-nehmen? Beschießen konnte man sich nach-her immer noch, aber vorher war es ratsam,

ein paar Verständigungsversuche zu wagen. Urselphyn brachte sein Schiff näher an das

Vereiserschiff heran. »He, Bursche, verschwinde aus unserer

Bahn!« grollte eine Stimme aus dem Laut-sprecher. Wenig später wurde auf dem Schirm das Abbild eines Vereisers sichtbar.

Wie Urselphyn schon gefürchtet hatte, ge-hörte der Vereiser zu der Art der fleischfres-senden Lebendgebärer, die die Ardslys grund-sätzlich so unappetitlich fanden. Zum Glück wurde der häßliche Körper des Vereisers we-nigstens von dunklen Haarauswüchsen be-deckt, so daß man glauben konnte, er trüge eine besonders feingeschuppte Borke. Das machte den Anblick ein wenig erträglich, selbst als Urselphyn die Nahrungsaufnahme-öffnung des Vereisers sah – einem Wesen mit solcher Leibesöffnung und solchem Reiß- und Mahlgebein war es durchaus zuzutrauen, daß es Ardslys verschlang.

»Nicht so ruppig«, gab Urselphyn zurück. »Es wird halt ein wenig eng.«

»Sieh zu, daß du mir aus dem Weg kommst, sonst werde ich dich rammen«, drohte der Vereiser. Seltsam, daß die Stimme vom Grundklang her sehr angenehm war, ein krasser Gegensatz zu den rüden Worten.

»Nur zu«, antwortete Urselphyn. »Wir be-kommen ohnehin ein neues Schiff.«

»Das wird sich zeigen«, grollte der Verei-ser. »Du kannst es ja darauf ankommen las-sen.«

Urselphyn spürte, wie auch er in den Bann-kreis des Kriegerischen gezogen wurde – ließ man sich erst einmal auf die furchtbaren Re-geln dieses Spieles ein, war kaum noch etwas dagegen zu machen.

Urselphyn schaltete das Bild des Vereisers vom Schirm. Die Schiffe waren nun auf we-nige hundert Schritte herangekommen. Der Pulk, der TAUPRIN umtanzte wie Insekten eine pollenvolle Ardsly-Blüte, schloß sich immer enger zusammen.

Währenddessen ging im Funkverkehr zum einen das Zetern und Zanken der Habgierigen weiter, zum anderen debattierte TAUPRIN mit dem Fremden Atlan. Es ging um mathe-matisch-logische Probleme und war ein paar Bewußtseinsebenen zu hoch für den simplen Verstand eines Ardslys; klar war nur, daß

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TAUPRIN noch immer Atlan zu sich locken wollte und Atlan sich zierte. Mochte der nur – bekommen würde er TAUPRIN nicht, dafür würde die Armada der Beutegierigen in TAUPRINS Nähe schon sorgen.

Urselphyn überließ die Steuerung seines Schiffes nun dem Autopiloten; die Besatzung war zu sehr damit beschäftigt, ein Gespräch über Krieg und Kriegsgeschrei zu führen, als daß sie sich um Urselphyn gekümmert hätte.

Er suchte die kleine Schleuse auf. In der Nachbarkammer fand er einen einsatzfertigen Raumanzug, den er mit bedächtigen Bewe-gungen überstreifte. Jede noch so kleine Un-vorsichtigkeit konnte den Tod bedeuten, das lernte jeder Raumfahrer als erstes.

Die Verschlüsse rasteten ein; sie taten dies recht geräuschvoll, damit dem Träger eine Kontrollmöglichkeit mehr geboten wurde. Batterien und Tanks waren gefüllt. Urselphyn überlegte, ob er eine Handwaffe mitnehmen sollte, entschied sich aber dafür, sie zurückzu-lassen – mit einem Strahler allein konnte er ohnehin nichts ausrichten, höchstens Wut hervorrufen.

Kräftige Pumpen saugten die Luft aus der Schleuse, die Anzeige auf dem Kombiinstru-ment ging auf Null zurück. Urselphyn öffnete die Schleuse, ein Schritt trug ihn hinaus.

Es war anders als sonst. Zweimal war Urselphyn bisher frei im

Raum gewesen. Das erste Mal zu Ausbil-dungszwecken, und er hatte sich entsetzlich unwohl dabei gefühlt, nicht zuletzt, weil ein als akribisch bekannter Ausbilder dabeigewe-sen war. Beim zweitenmal hatte ihn während eines Routineflugs ein Triebwerkdefekt zum Aussteigen gezwungen; damals hatte er unter höchstem Zeitdruck arbeiten müssen, um ei-nen Absturz zu verhindern, und auch dieser Weltraumspaziergang war nicht angenehm gewesen.

Er hatte noch gut im Gedächtnis, wie er damals ausgesehen hatte – über sich den Blauen Mond, unter sich weißglänzend die Oberfläche von Ardsly-Fandahar, ansonsten nur tiefe Stille, durchbrochen vom Zischen der Atemluft.

Diesmal war es anders. Ein Mond war nicht zu sehen, kein Planet, und die nächstgelegene Sonne war nicht mehr als ein strahlend heller

Punkt auf dem schwarzen Hintergrund. Aber zum Greifen nah das Vereiserschiff.

Es lag im Scheinwerferlicht der Thesbaqu Pymd’l, das Teile der Konstruktion wie scharfgemeißelt leuchtend hervorhob und den Rest übergangslos mit dem schwarzen Hin-tergrund verschmelzen ließ.

Hinter Urselphyn schloß sich automatisch die kleine Mannschleuse.

Jetzt war er allein. An Bord würde ihn niemand vermissen –

die Bordpositronik ausgenommen, die sein Verlassen selbstverständlich registriert hatte und von sich aus Alarm gab, wenn sich eine Atemluft bei normalem Umgang zu erschöp-fen begann und es Zeit wurde, ihn notfalls an Bord zu holen. Vorher aber würde niemand Urselphyn suchen, ein paar Stunden lang.

Eine Stunde war eine lange Zeit, sie in der Isolation des Raumes zu verbringen.

Niemals zuvor hatte Urselphyn so deutlich gespürt, was Leben war. Der Tod war in sei-ner Nähe, nur ein paar Wurzeldicken entfernt, überall. Er umhüllte Urselphyn vollkommen.

Ein par technische Notbehelfe, mehr nicht. Ein Tank voll Atemluft, eine batteriegespeiste Heizung – das trennte in diesen Augenblicken das Leben vom Tod.

Urselphyn drehte sich einmal um seine Achse.

Überall Schwärze, absolute Lebensfeind-lichkeit – falsch: das All war dem Leben nicht feindlich gesinnt, es ließ dort, wo es war, kein Leben zu. Eine buchstäblich ins Unendliche ausgedehnte Leblosigkeit – und mitten darin ein winziger Funke Leben. Es kam Urselphyn fast vermessen vor zu glauben, daß es ihn tatsächlich gab. Alle Wahrscheinlichkeit sprach dagegen, und wie verletzlich war die-ser Lebensfunke, auf wie viele Voraussetzun-gen angewiesen, um entstehen, um bestehen zu können – und wie absolut unerschütterlich, unverrückbar auf alle Zeiten war der Raum, das Urselphyn umgebende Nichts.

Er gab sich solchen Gedanken nur für kurze Zeit hin. Zum einen hatte er jetzt nicht die Muße, sich von solchen Überlegungen ablen-ken zu lassen, zum anderen wäre er dem An-sturm der Gefühle nicht gewachsen gewesen, die sich fast zwangsläufig daraus ergeben hätten.

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Urselphyn betätigte das kleine Düsentrieb-

werk, das ihn hinübertrieb zum Schiff der Vereiser. Mit weiteren kleinen Feuerstößen sorgte Urselphyn dafür, daß seine Landung auf der Hülle möglichst sanft ausfiel – unmit-telbar über der Hülle setzte nämlich das künstliche Schwerefeld des Schiffes ein.

Es gab ein leises Klacken, als Urselphyns Wurzeln die Oberfläche des Vereiserschiffs berührten.

Hatte man ihn bemerkt? Höchstwahrschein-lich, aber vermutlich waren die Vereiser da-mit beschäftigt, Kriegspläne zu schmieden, und achteten nicht weiter darauf.

Urselphyn begann nach einer Schleuse zu suchen. Es mußte eine Möglichkeit geben, in dieses Schiff hineinzukönnen – und schließ-lich fand er auch ein Schott. Jedenfalls deutete er die Beschriftung in der Nähe der Hebel so.

Konstruktionen von Schleusen und Schotte sahen vermutlich überall im Kosmos gleich aus. Innen mochten sie elektrisch gesteuert sein, von außen waren sie in der Regel von Hand in Gang zu setzen. Man mußte nur den richtigen Hebel finden.

Die Vereiser hatten es gemacht wie die Ardslys auch – sie hatten damit gerechnet, daß ein havarierter Raumfahrer keine Zeit mehr hatte, lange Betriebsanleitungen zu stu-dieren und daher eine Einhandbedienung ent-wickelt.

Ein Handgriff ließ den Hebel herum-schwingen – nach links übrigens, wie Ur-selphyn verwundert feststellte. In der ersten Raststufe blieb der Hebel hängen. Jetzt wur-den im Innern vermutlich Vakuumverhältnis-se hergestellt. Erst als das beendet war – recht schnell, wie Urselphyn anerkennend feststell-te –, ließ sich der Hebel weiterbewegen und öffnete nun das Schott. Im Innern war die Beleuchtung eingeschaltet. Urselphyn schlüpfte hinein.

Ein Handgriff genügte, um das Schott wie-der einrasten zu lassen, und ein paar Augen-blicke später zeigte das Kombiinstrument, daß sich die Schleuse mit Gasen zu füllen begann.

Urselphyn wartete, bis der Druck dem ent-sprach, was er gewöhnt war, dann unternahm er einen Versuch.

Da die Ardslys ohnehin niemals fremde Atmosphären aufgesucht hatten, besaßen ihre

Kombiinstrumente auch keinen Analysator für Fremdatmosphären. Urselphyn war daher auf eine lebensnahe Probe angewiesen, mit allen sich daraus ergebenden Risiken.

Nichts brannte auf der Rinde, als er den Helm ein wenig öffnete. Eine kurze Probe – kühle, reine Luft, vielleicht ein wenig anders zusammengesetzt als auf Ardsly-Fandahar, aber in jedem Fall atembar. Und es war ange-nehm warm an Bord des Schiffes – fast so warm wie im Blütenpalast.

»Wie geht es jetzt weiter«, murmelte Ur-selphyn.

Eines war klar – auf der Innenseite der Schleuse wartete man jetzt auf ihn. Höchst-wahrscheinlich war sein Eindringen längst vom Bordrechner entdeckt und an die Besat-zung weitergemeldet worden. Daher rechnete Urselphyn mit einem Empfangskommando, als er die innere Schleusentür aufschwingen ließ.

Er wurde enttäuscht. Da war niemand, nicht einmal eine bewaffnete Maschine.

»Die sind fast so übergeschnappt wie wir«, stellte Urselphyn fest.

Langsam bewegte er sich vorwärts. Im In-nern sah das Vereiserschiff seinem eigenen Raumer verblüffend ähnlich, aber vielleicht gab es für das technische Problem Raumschiff ohnehin nur eine begrenzte Zahl von Lö-sungsmöglichkeiten.

Urselphyn entdeckte Leuchtkörper an den Decken. Das Licht war heller, als er es von seiner heimatlichen Sonne gewohnt war, aber durchaus nicht unangenehm. Die Luft war ein wenig trocken für seinen Geschmack, aber das wurde durch die Wärme mehr als wett-gemacht.

Ein Geräusch ließ Urselphyn zusammen-schrecken. Er fuhr herum.

Der Vereiser war augenscheinlich mindes-tens so verblüfft wie Urselphyn selbst.

Die beiden so verschiedenartigen Lebewe-sen starrten sich an, rührten sich nicht von der Stelle. Urselphyn konnte sehen, daß der Ve-reiser einen Gürtel trug und darin eine Waffe; er selbst hatte nur einen Translator dabei.

Urselphyn räusperte sich, dann bewegte er langsam seine Greifwurzel zum Translator.

Sofort ging eine Hand des Vereisers an den Gürtel.

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»Keine Aufregung, ich will nur mit dir re-

den«, stieß Urselphyn hervor. Er war so ner-vös, daß er den Einschaltknopf für den Trans-lator nicht fand, und das ließ seine Unruhe noch wachsen. Endlich war das leise Klicken zu hören.

»Ich will mit dir reden«, sagte Urselphyn. Aus dem Translator erklang die Übersetzung in der Sprache des Vereisers – soweit man sie auf Ardsly-Fandahar hatte rekonstruieren können.

»Reden? Mit mir? Wer bist du?« Immerhin, ein Grundstein der Verständi-

gung war gelegt. »Urselphyn«, stellte er sich vor. »Ich bin

ein Ardsly.« »Grrolph«, sagte der Vereiser. »Ich bin ein

Putzer.« Es war immer das gleiche mit den Transla-

toren, dachte Urselphyn. Im Ernstfall waren sie nicht zu gebrauchen. Offenbar war die Gattungsbezeichnung der Vereiser identisch mit einem Begriff aus der Umgangssprache der Ardslys.

»Wir sollten miteinander reden, Grrolph«, sagte Urselphyn. »Bevor es zum Schlimmsten kommt.«

»Nicht verstehen.« »Wir müssen Mißverständnisse ausräu-

men.« »Ich guter Aufräumer«, antwortete Grrolph

sofort. Urselphyn hätte am liebsten laut geflucht. Dies war der erste friedliche Kontakt zwi-

schen einem Ardsly und einem Vereiser, und offenbar hatte sich Urselphyn für diesen Kon-takt das dümmste Besatzungsmitglied ausge-sucht, das nur zu finden war. Und es stand zu erwarten, daß dieser lächerliche Dialog eines Tages als historisches Ereignis in Unterrichts-stunden verwendet werden würde.

»Laß uns Frieden schließen«, sagte Ur-selphyn.

Der Vereiser verstand nur schießen und zog sofort seine Waffe. In seinen Augen stand eine Ratlosigkeit geschrieben, die in Verbin-dung mit der Waffe in seiner Hand einen ge-radezu lebensgefährlichen Anstrich bekam.

»Nein«, stieß Urselphyn hervor. »Nicht.« »Nicht?« Der Vereiser steckte die Waffe wieder in

den Gürtel. Urselphyn stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Der Vereiser rülpste sehr laut.

Immerhin – der Kontakt war hergestellt.

5. Das Vokabular von Grrolph ließ sich mit

einem Wort umschreiben – jämmerlich. Im-merhin hatte Urselphyn nach einer Stunde mühsamer Unterhaltung herausgefunden, daß er mit Grrolph tatsächlich das rangniedrigste Besatzungsmitglied vor sich hatte – und daß Grrolph dank seiner unübersehbaren Gedan-kenholprigkeit wohl der einzige an Bord des Vereiserschiffs war, der nicht sofort die Waf-fe gezogen hatte. Bei jedem anderen Kontakt wäre Urselphyns Leben ausgeblüht gewesen.

Immerhin war Grrolph genügend gewitzt, um zu begreifen, daß er schon mit den ersten gestammelten Worten eine Schuld auf sich geladen hatte, die in den Augen seiner Ge-fährten wohl nur durch den Tod zu sühnen war – er hatte mit einem Feind gesprochen.

Die gemeinsame Todesfurcht im Nacken ließ die beiden so verschiedenen Wesen ein-ander verstehen. Wenn es für sie noch eine Lebensmöglichkeit geben sollte, dann nur in gemeinsamer Anstrengung.

Urselphyn unternahm einen neuen Versuch, diese Gemeinsamkeit herzustellen.

Er war hellsichtig genug zu begreifen, daß der Haawer – so nannten sich die Vereiser selbst, und sinnfälligerweise bedeutete das Wort in ihrer Sprache auch Vereiser – ihn, den Ardsly, als mindestens so absonderlich, wenn nicht gar unappetitlich ansah, wie Ur-selphyn seinerseits mit Abscheu gegenüber der körperlichen Beschaffenheit des Haawers erfüllt war. Für die Ardslys, die ihre Herkunft aus pflanzlichen Lebewesen ableiteten, war die schmiegsame Haut eines mit Tieren art-verwandten Wesens so unnatürlich, wie für den Haawer die wenig elastische Rinde eines Ardslys seltsam erscheinen mußte.

»Ich möchte dich anfassen«, sagte Ur-selphyn. Der Translator übersetzte die Worte so, wie sie gesprochen worden waren – leise und zögernd.

Grrolph schwieg. Scheute er sich davor? Oder hatte ihn die

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gleiche Beklommenheit überfallen wie Ur-selphyn? Der Ardsly wußte, daß er niemals mehr der gleiche sein würde nach diesem Kontakt. In dem Augenblick, in dem er den Haawer berührte, indem er ihn als lebendes Wesen begriff – in diesem Augenblick mußte Urselphyn Abschied nehmen vom Dünkel der Einzigartigkeit, den er mit sich herumgetra-gen hatte.

»Ja«, übersetzte der Translator die heftig hervorgestoßenen Laute des Haawers.

Urselphyn streckte eine Luftwurzel aus, ein feines, hellbraunes Gebilde. Urselphyn war bislang stolz gewesen auf die Eleganz seiner Luftwurzeln, ihre Festigkeit und Länge.

Er berührte die Oberfläche des Haawers, den dichten dunklen Pelz – und im gleichen Augenblick fuhr ein brennender Schmerz durch Urselphyns Hirn.

Der Ardsly war so überrascht von diesem Phänomen, daß er gar nicht daran dachte, den Kontakt abzubrechen – unwillkürlich berührte er Grrolph weiter, und Urselphyn konnte spü-ren, wie ein kalter Reif sich um sein Gehirn zu legen schien. Nur für ein paar Augenblicke hielt das Gefühl an, dann verschwand es mit einem Schlag, und Urselphyn spürte, wie sich seine Gedanken förmlich überschlugen.

Plötzlich wußte Urselphyn, daß man ihn betrogen hatte – ihn wie sein ganzes Volk. Und den Haawern war es nicht besser ergan-gen.

Alle, die sich jetzt draußen um den Besitz von TAUPRIN rauften, sie alle gehörten zu den Opfern. Betrogen und getäuscht, hinterlis-tig manipuliert, aufeinandergehetzt in blind-wütigem Haß – und das seit vielen Jahrzehn-ten.

Keine Rede davon, daß die Haawer seit Jahrtausenden die Ardslys befeindeten; das Gegenteil war der Fall – Urselphyn konnte im Gemüt des Haawers lesen wie in einem offe-nen Buch, und er las darin, daß es die Haawer waren, die seit langem vor den Angriffen der Ardslys bebten.

Und den anderen draußen war es nicht bes-ser ergangen. Jedes Volk sah im anderen eine Versammlung von Schurken und Meuchlern, die schnellstens umgebracht gehörten – dabei waren sie alle miteinander Opfer.

Die Haawer – Urselphyn konnte es über-

deutlich spüren – waren sanfte und friedferti-ge Wesen. Daß sie sich auch von Pflanzen ernährten, die eine fatale Ähnlichkeit mit den Ardslyblüten hatten, war nebensächlich – niemals hätten sich die Vereiser an wirklich intelligentem Leben vergriffen. Dergleichen war ihnen von Natur aus fremd. Forscher und Entdecker waren sie einmal gewesen, keine kriegslüsternen Beutemacher.

Für Urselphyn war es geradezu grotesk, im Schädel des Haawers die Information zu fin-den, es seien die Ardslys gewesen, die vor Urzeiten einmal die Sonne der Haawer-Heimatwelt hatten zur Nova aufheizen wol-len. Nur durch die in rasender Eile entwickel-te Waffe des Hypervereisers war es den Haa-wern seinerzeit gelungen, ihr Zentralgestirn und damit sich selbst vor dem Untergang zu retten.

Die Parallele zu den kollektiven Ängsten der Ardslys war überdeutlich – und sie mach-te Urselphyn mit einem Schlag klar, daß diese völlig alogische Feindseligkeit zwischen allen bekannten Völkern der galaktischen Region keinen natürlichen Ursprung haben konnte.

Jemand hatte die Völker in diesem Bereich der Galaxis Xiinx-Markant förmlich aufein-andergehetzt und ließ sie seit Jahrzehnten einen perversen Auslesekampf durchfechten.

Aus der Sicht dieser unbekannten Macht mochte es vernünftig sein, sich unter den Völkern der Galaxis das herauszufiltern, das am besten zu kämpfen verstand – für alle Be-teiligten, die Sieger des Gemetzels einge-schlossen, war es eine Katastrophe, die das kulturelle Erbe von Jahrtausenden zerstäuben ließ.

Urselphyn wehrte die Gedankenflut ab, die auf ihn einstürmte. Es gelang ihm verhältnis-mäßig leicht.

Dabei spürte er, daß Grrolph eine ähnliche Erfahrung gemacht hatte – und Urselphyn spürte auch, daß der Haawer entschieden in-telligenter war, als es den Anschein gehabt hatte. Grrolph hatte wie Urselphyn sehr schnell die Zusammenhänge begriffen und die richtigen Schlußfolgerungen gezogen.

Diese Folgerungen waren ebenso einfach wie zwingend: Wenn sich diese beiden Wesen zusammentaten, waren sie vor der Manipula-tion ihrer Gedanken und Ansichten geschirmt,

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niemand konnte sie dann mehr dazu bringen, wie besessen aufeinander loszugehen.

Trennten sie sich wieder – Urselphyn und Grrolph machten den Versuch –, dann machte sich langsam und fast unmerklich wieder die alte kriegerische Geisteshaltung bemerkbar, die über beide Völker schon so viel Leid und Elend gebracht hatte.

»Ich kann dich auf die Schulter nehmen«, sagte Grrolph. »Ihr Ardslys scheint recht leicht zu sein.«

In der Tat hatte Urselphyn sehr bald auf der breiten Schulter des Vereisers einen sicheren Halt gefunden, und es strengte ihn auch nicht an, die seltsame mentale Bindung zu dem Haawer aufrechtzuerhalten – er mußte nur eine seiner Luftwurzeln in den dichten Pelz des Haawers vordringen lassen. Besonders wirksam war dieser Kontakt am Schädel.

»Und was machen wir jetzt?« fragte Grrolph.

»Wir sollten versuchen, andere zu überzeu-gen«, antwortete Urselphyn.

»Das wird schwer«, seufzte Grrolph. Die mentale Bindung der beiden war von

eigentümlicher Natur. Urselphyn konnte die Grundstimmung seines Trägers genau spüren. Der Vorgang war vergleichbar der Wahrneh-mung der Blattkonstellationen bei normalen Ardslys, die auch meist etwas über die Ge-mütsverfassung des Betreffenden aussagte – nur war in diesem Fall die Information klarer und eindeutiger. Urselphyn spürte, daß Grrolph mit Sorge an die Sturheit seiner Vor-gesetzten dachte.

Wenn sich Grrolph auf einen bestimmten Gedanken, einen klar formulierten Satz bei-spielsweise, konzentrierte, dann konnte Ur-selphyn diesen Satz im genauen Wortlaut wahrnehmen und verstehen. Hatte Grrolph zu so viel Eindeutigkeit keine Lust, blieb es beim Erfassen der Grundstimmung. Vermutlich lag der Fall ähnlich, wenn es um Urselphyns Ge-danken ging.

Diese mentale Bindung hatte eine Menge Vorzüge und vermied den peinlichen Nach-teil, daß der Bewußtseinsinhalt eines der Be-teiligten dem anderen auch gegen den Willen des Betroffenen voll zugänglich war. Nach Belieben konnte jeder der Beteiligten Nähe herstellen oder abblocken, ganz wie ihm zu-

mute war. »Wir werden es schaffen«, gab Urselphyn

an Grrolph durch. »Und wir werden in Zu-kunft stärker zusammenarbeiten müssen – diese Kombination ist einfach ungeheuerlich. Wir müßten Unglaubliches erreichen können, wenn unsere Völker sich befreunden könn-ten.«

»Versuchen wir es«, schlug Grrolph vor. Die Probe ließ nicht lange auf sich warten.

Grrolph hatte noch nicht ganz ausgeredet, als eine Gestalt auf dem Gang auftauchte und stutzte.

Es war Grrolph, der als erster reagierte. Noch bevor der Haawer seine Waffe aus dem Gürtel bekam, hatte Grrolph seinen Artgenos-sen bereits mit einem wuchtigen Hieb nieder-geschlagen.

»Wenn das herauskommt, werden wir beide getötet«, erklärte Grrolph. In seinen Gedan-ken konnte Urselphyn nur wenig Angst spü-ren; der Haawer war aufgeregt und ungeheuer neugierig.

»Hast du einen Raumanzug?« fragte Ur-selphyn. »Wenn ja, schlage ich vor, daß wir an Bord meines Schiffes zurückkehren – dort wird man sich nicht so sehr um uns küm-mern.«

Es war ein Abwägen von Gefühlen, das in den nächsten Augenblicken stattfand; Angst gegen Neugierde, Zuversicht und Skepsis standen einander gegenüber.

Die Entscheidung fiel für Urselphyns Vor-schlag aus.

Die beiden neuen Freunde suchten schnell die Schleuse auf, durch die Urselphyn den Haawer-Raumer betreten hatte. Rasch streifte sich Grrolph einen Raumanzug über, dann riegelte Urselphyn die äußere Schleusentür zu und ließ die Luft aus der Kammer saugen.

Der Weg hinüber zur Thesbaqu Pymd’l war schnell zurückgelegt, und ebenfalls wenig Zeit nahm es in Anspruch, durch die Mann-schleuse in das Innere des Ardsly-Schiffs zu gelangen.

Sobald die innere Schleusentür sich öffnete, wurde Urselphyn klar, daß sich wenig geän-dert hatte, seit er von Bord gegangen war – nur war der Tonfall gereizter geworden, in dem an Bord und über die Funkleitungen her-umkrakeelt wurde.

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Geändert hatte sich nur die Tatsache, daß

TAUPRIN dem Unbekannten, den er Atlan nannte, die kurze Nachricht weitergab, zwei feindliche Truppenkontingente hätten ihn ge-entert und zum Teil beschädigt, darunter auch am Antriebssystem.

Bei den Truppenkontingenten – lächerli-cher Ausdruck für zwei Handvoll Haawer und Ardslys – mußte es sich um die Enterkom-mandos handeln, die ihr Ziel also erreicht hatten. Was sich Atlan davon versprach, ein bereits erobertes Wrack in Besitz zu nehmen, blieb ein Geheimnis – jedenfalls erklärte er über Funk, daß er bald kommen werde.

Urselphyn hörte sich das Gezeter und Ge-zänk in der Zentrale eine Zeitlang an. Der Haawer stand neben ihm und lauschte dem, was aus seinem Translator klang; furchtein-flößend konnte es schwerlich sein, auch wenn die Redensarten, die von Volk zu Volk ausge-tauscht wurden, immer blutrünstiger und ge-walttätiger wurden.

Grrolph stellte Kontakt her. »Und davor haben wir uns gefürchtet?« gab

er über die mentale Bindung durch. Urselphyn antwortete mit einem kurzen Heiterkeitsim-puls.

Er wartete ab, bis sich Gamselmartyn aus dem Pulk der Zentralebesatzung löste. Er packte ihn an einer Wurzel.

»Laß mich los, ich habe keine Zeit«, schnauzte Gamselmartyn.

»Ich habe einen Gefangenen«, sagte Ur-selphyn. So hatte er es mit Grrolph abgespro-chen.

»Bringe ihn gut unter und gib ihm zu es-sen«, sagte Gamselmartyn. »Kannst du nicht sehen, daß wir jetzt etwas Besseres ... Du hast was?«

Gamselmartyn nahm jetzt erst den friedlich grinsenden Haawer wahr, der neben Ur-selphyn stand. Der Entsetzensschrei des Ards-lys gellte durch die Zentrale.

»Keine Panik, er ist mein Gefangener!« schrie Urselphyn mit höchster Stimmkraft.

Der Ruf war nötig, denn die wackeren Ardsly-Krieger – jählings mit einem leibhaf-tigen Feind konfrontiert – verloren mit einem Schlag ihre überlegene Kampfmoral und suchten Deckung hinter allem, was sie vor den Augen des Haawers verbergen konnte.

Strahlwaffen tauchten in sehr unruhigen Wur-zeln auf und zitterten wie Blätter im Sturm-wind.

»Ich habe einen Weg gefunden, das Haa-wer-Schiff in unseren Besitz zu bringen«, erklärte Urselphyn. »So können wir einen grandiosen unblutigen Sieg erringen.«

Niemand kam auf die Idee nachzuforschen, ob es sich beim Auftreten von Urselphyn und Grrolph nicht vielleicht um ein listenreiches Täuschungsmanöver der Haawer handelte – das Schlagwort vom grandiosen Sieg über-zeugte auf der Stelle.

Ühlandorgher ergriff das Wort. »Wir stellen ein Enterkommando zusam-

men und übernehmen das Haawer-Schiff, später werden wir uns die anderen Einheiten der Haawer-Flotte verschaffen, damit verdop-peln wir unsere Durchschlagskraft.«

»Ich bitte um die Erlaubnis, das Enter-kommando anführen zu dürfen!«

»Gewährt.« Urselphyn stieß einen leisen Laut der Er-

leichterung aus. Es gehörte viel Unverfroren-heit dazu, diesen Auftritt durchzuführen – immerhin hatte er sich unerlaubt aus dem Schiff entfernt, und das war strafbar. Die selt-same Beeinflussung, der sowohl die Haawer als auch die Ardslys unterlagen – und mit ihnen mutmaßlich sämtliche Völker der Gala-xis Xiinx-Markant –, legte offenbar auch gro-ße Teile des logischen Denkvermögens lahm. Anders war das schier blindwütige Poltern und Toben kaum zu erklären, mit dem sich die Völker eines flugunfähigen, teileroberten Raumschiffs wegen mit wechselseitiger Ver-nichtung bedrohten.

Urselphyn machte sich davon, bevor sich jemand in der Zentrale einen anderen Plan einfallen ließ.

Das Enterkommando sammelte sich in der Schleuse; angeregte Stimmen schwirrten durcheinander.

»Ruhe«, schrie Urselphyn. »Wir müssen vorsichtig vorgehen, sonst wird unser Plan in einer Katastrophe enden.«

Urselphyn hatte sich bislang gehütet, seinen Gefährten zu erklären, daß er die Haawer mit dem gleichen fadenscheinigen Trick zu schla-gen gedachte, mit dem er seinen Vorgesetzten getäuscht hatte.

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Jetzt war der Zeitpunkt für die Aufklärung

noch nicht gekommen, aber es galt, wenigs-tens auf der Hut zu sein.

»Mir nach!« Diesmal verwendeten sie eine größere

Schleuse, die den ganzen Trupp auf einmal in den freien Raum entlassen konnte. Urselphyn ließ seinen Gefährten Zeit, sich an diesen Zu-stand zu gewöhnen – er spürte deutlich, daß es den anderen Ardslys ähnlich erging wie ihm selbst, als er zum erstenmal in dieser Un-endlichkeit geschwebt war. Die Vorstellung, Lichtjahre vom Heimatplaneten entfernt zu sein, mußte erst richtig verarbeitet werden. Grrolph hingegen hatte da keine großen Schwierigkeiten; sein Volk durchstreifte schon seit langer Zeit den Sternenhimmel, den Vereisern war es ein normaler Anblick.

»Hängt euch aneinander!« gab Urselphyn über Helmfunk durch. »Dann brauchen wir nur wenig Treibstoff. Die Flammen können uns verraten!«

Die Gefährten befolgten den Ratschlag und faßten sich an den Wurzeln; Magnethalterun-gen halfen ihnen dabei. So schwebten sie in einer langen Kette hinüber zum Schiff der Haawer.

Die Sache war alles andere als ungefähr-lich, und Urselphyn wußte das, aber die Al-ternative dazu barg noch entschieden mehr Gefahren in sich. Immerhin gab es bedeutsa-me Hinweise darauf, daß seit Jahrzehnten fast alle Völker in diesem Bereich der Galaxis Xiinx-Markant in einen erbarmungslosen Kampf eines jeden gegen alle anderen ver-strickt war – und freiwillig, aufgehetzt durch irgendwelche Machenschaften und darum praktisch ohne Aussicht auf eine vernünftige Beendigung der Metzeleien. Anders konnte man das Gegeneinander-Anrennen der un-freiwilligen Kämpfer schwerlich nennen.

Sicher war, daß Haawer und Ardslys die-sem Bann unterlagen – solange sie sich nicht zusammentaten. Urselphyn war fest davon überzeugt, daß dies auch auf andere Völker zutraf – möglicherweise auf alle Spezies, die sich im Augenblick mit immer schärferen Redensarten um ein Raumschiffwrack rauf-ten, das in Urselphyns Augen längst jeden Wert verloren hatte.

Mehr noch ...

TAUPRIN – wer oder was auch immer sich hinter diesem Namen verbarg – dachte offen-bar nicht daran, sich an dem allgemeinen Kampf zu beteiligen. Dazu gab es zwei Erklä-rungen.

Die eine stützte sich auf die Möglichkeit, daß TAUPRIN gegen den allgemeinen Kampfzwang immunisiert war, was Ur-selphyn nach Lage der Dinge für ausgeschlos-sen hielt. Immerhin hatten sich in diesem Sek-tor der Galaxis mehr als hundert Völker ein-gefunden, von denen jedes einzelne Indivi-duum diesem Kampfzwang unterlag.

Anders sah der Fall aus, wenn TAUPRIN, das Manifest, nicht zu den Opfern dieses un-geheuerlichen Verbrechens zählte, sondern vielmehr zu den Initiatoren und Nutznießern. In diesem Fall war es ratsam, sich dem Mani-fest nicht weiter zu nähern – es lag nahe, daß sich hinter dem fadenscheinigen Lockruf et-was anderes verbarg als eine lebensgefährli-che Falle.

»Vorsichtig«, gab Urselphyn über Helm-funk durch. »Wir sind in wenigen Augenbli-cken am Ziel.«

Die kleine Mannschleuse tauchte wieder vor ihm auf, selbstverständlich nur halb ver-schlossen. Urselphyn öffnete sie ganz. Zu-sammen mit Gamselmartyn, Grrolph und sie-ben weiteren Ardslys stieg Urselphyn ein. Mehr als höchstens zehn Personen fanden in der Schleuse keinen Platz.

»Verriegeln«, bestimmte Urselphyn. Die Übernahme des Haawer-Schiffs war

damit eingeleitet.

6. Der speiende Knurpsel schob die Oberlippe

hoch und entblößte eine Reihe mattsilberner Knochenplatten mit stahlblau funkelnden Kanten. Wohlgefällig betrachtete er im Spie-gel sein Gebiß.

»Wenn sie Ärger wollen, dann können sie ihn bekommen«, murmelte er. Der speiende Knurpsel hatte eine längere Schlafensperiode hinter sich, und dementsprechend ausgeruht, zuversichtlich und kampfbereit fühlte er sich.

Was er beim Betreten der Zentrale zu sehen bekam, war eine Labsal für seine Augen.

Aberhunderte von Schiffen, und allesamt

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voll von Raufbolden und Schlagetots; endlich einmal Gegner, mit denen zu kämpfen sich lohnen konnte.

Es war das große Mißgeschick des speien-den Knurpsel, daß er bei allem Mut und aller Kampfbegierde niemanden hatte treffen kön-nen, der es wert gewesen wäre, daß Knurpsel gegen ihn antrat – in der Regel waren die Gegner ihm so hoffnungslos unterlegen, daß er es mit seinem Gewissen nicht hatte verein-baren können, den Kampf aufzunehmen.

Dabei wirkte der speiende Knurpsel alles andere als kriegerisch – eine hagere, langauf-geschossene Gestalt mit freundlichen wasser-hellen Augen, einem großen dunkelroten Mund und einer abenteuerlich schillernden Knollennase.

Der Analysator hatte festgestellt, daß sich Dutzende von Völkern versammelt hatten – und das steigerte die Hoffnung des speienden Knurpsel, daß er endlich einmal ein Exemplar jenes Volkes zu Gesicht bekommen würde, dem er selbst angehörte.

Der speiende Knurpsel war ein Findelwe-sen. Ein sanftäugiger Robot hatte ihn bis zu seinem elften Lebensjahr betreut, ihm ver-dankte der speiende Knurpsel auch seinen Namen. Er hatte allerdings arge Zweifel, ob er tatsächlich so hieß, wie er von dem Robot angeredet worden war – zum einen hatte be-sagter Robot seine besten Jahrhunderte bereits weit hinter sich gehabt, zum anderen war er beständig das Objekt und Opfer von Knurpsels Experimentierlust gewesen. Eines dieser Experimente hatte das Sprachsegment ein wenig lädiert; die Beantwortung einer anderen Frage – wie sich der Robot verhielt, wenn er unter Hochspannung gesetzt wurde – hatte ihn dann unwiderruflich seiner metalle-nen Amme beraubt.

In den Weiten des Kosmos war der speien-de Knurpsel groß geworden. Sein Zuhause war das Raumschiff, in dem er lebte, eine schwärzliche Kugel von achthundert Metern Durchmesser, deren Oberfläche über und über bedeckt war mit perlmuttschimmernden Aus-wüchsen, die dem Schiff ein Aussehen gaben, das an ein Schmuckstück erinnerte.

Der speiende Knurpsel nahm in seinem Sessel Platz und ließ die Gurte einschnappen. Der gewaltige Bildschirm vor ihm zeigte ein

getreues Abbild der Umgebung. Was die Normaloptiken nicht zu erfassen vermochten, wurde von den anderen Ortungssystemen an-gemessen und entsprechend dargestellt. So hatte der speiende Knurpsel einen genauen Überblick über die Lage. Er warf einen flüch-tigen Blick auf den Gegenstand des allgemei-nen Haders, das Raumschiff TAUPRIN, an dem der speiende Knurpsel nicht interessiert war. Zum einen konnte er ohnehin nicht mehr als ein Raumschiff allein befehligen, zum anderen maß er einem Raumschiff – mochte es auch selbständig sein und entsprechend reden und denken – nicht sehr viel Wert bei, wenn es hilflos im All herumstand, um Hilfe funkte und sich ansonsten von jedem herbei-geeilten Weltraumvagabunden in Besitz neh-men ließ.

Knurpsel, der sich bescheiden unter die kosmischen Genies rechnete, war keineswegs entgangen, daß sich zwei Enterkommandos an Bord TAUPRINS geschlichen hatten. Da sie von dort nicht zurückgekehrt waren, folgerte er, daß die Entermannschaften entweder von TAUPRIN ausgeschaltet worden waren – wogegen sprach, daß TAUPRIN den zögern-den Fremden Atlan immer heftiger um Akti-vität drängte – oder aber die beiden Gruppen lieferten sich im Innern des Beuteschiffs ein Gefecht, und der speiende Knurpsel besaß genügend Intelligenz sich auszurechnen, daß der Wert eines flug- und wohl auch verteidi-gungsunfähigen Raumschiffs durch emsiges Herumschießen in seinem Innern nicht eben gesteigert wurde. Wenn der ominöse Atlan endlich eintraf, würde er sich einem Schrott-haufen gegenübersehen, sowie einem Ge-tümmel von Raumschiffen, wie es in der Ge-schichte von Xiinx-Markant wohl einmalig war.

»Es wird Zeit, daß ich eingreife«, sagte der speiende Knurpsel. »Hörst du mich?«

Einziger Gesprächspartner des speienden Knurpsel war seit dem Ende des Ammenro-bots der Hauptrechner des Schiffes, eine Rie-senpositronik, die nicht nur die Schwelle zur Individualität längst überschritten hatte, son-dern auch bereits deutliche Züge von Verschrobenheit und Eigenbrötelei aufzuwei-sen wußte.

»Ich höre. Was willst du schon wieder?«

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»Rüste dich zur Schlacht. Wir werden jetzt

endlich kämpfen.« »Nichts da, ein Kampf kommt nicht in Fra-

ge. Auf Deck siebenundachtzig ist ein Sani-tätsrobot ausgefallen und die Glassitkuppeln der Hüllensektion Alpha Siebzehn müssen gereinigt werden.«

»Wir sind umzingelt und müssen uns weh-ren.«

»Das sagst du immer, und es stimmt nie.« Mitunter verfluchte der speiende Knurpsel

sein Geschick, daß ihn dazu verurteilt hatte, ein einsames Leben mit dieser störrischen Positronik zu führen, die er auf den Namen Ineptus getauft hatte.

»Sieh doch selbst«, forderte Knurpsel sei-nen Gesprächspartner auf. »Es sind sehr viele Schiffe, aber ich werde sie alle besiegen. Bis-her hat mir noch keiner widerstehen können. Ich habe jede Schlacht gewonnen, und ich werde auch in Zukunft jede Schlacht gewin-nen.«

»Aber gewiß«, gab Ineptus zurück. Die Po-sitronik hatte einen sehr variablen Sprachmo-dulator. Im Augenblick klang die Stimme mitleidig-nachsichtig, aber das konnte sich ändern. Grundton war eine gereizte, zänkische Stimme, die die Androhung entsetzlich langer Tiraden bei Widerspruch enthielt und dement-sprechend durchschlagskräftig war. »Kann ich jetzt endlich mit den Reparatur- und Reini-gungsarbeiten anfangen?«

Eines hatte Knurpsel inzwischen herausge-funden – letzten Endes mußte Ineptus tun, was Knurpsel befahl, alles Jammern und Quengeln half da nichts. Und in besonderen Fällen brauchte Ineptus sogar Anweisungen, um tätig werden zu können.

»Fang an!« bestimmte Knurpsel. »Und dann schalte einen Kontakt zum nächstgele-genen Raumschiff.«

»Wie du meinst. Du wirst schon sehen, was du davon hast.«

Wenig später war die Verbindung herge-stellt. Auf dem Monitor erschien die Gestalt eines dunklen Fellträgers mit mächtigen Eck-zähnen, tief in den Höhlen liegenden Augen und einer recht hübsch aussehenden Pflanze auf der rechten Schulter.

»Hier spricht der speiende Knurpsel. Wer bist du?«

»Kommandant Grrolph aus dem Volk der Haawer. Zu welchem Volk gehörst du, und was willst du?«

Die Stimme klang recht sanft aus dem Lautsprecher des Translators, sie stand in krassem Gegensatz zum furchteinflößenden Äußeren des Haawers.

»Ich weiß nicht, zu welchem Volk ich ge-höre. Wahrscheinlich bin ich selbst mein Volk.«

»Sei’s drum. Was willst du?« »Krieg«, sagte der speiende Knurpsel strah-

lend. »Ich schlage dir Krieg vor, und ich wer-de dich schlagen. Vernichten werde ich dich.«

Der Haawer machte eine unverständliche Geste. Er sah recht seltsam aus mit der blü-henden Pflanze auf der Schulter. Ob die bei-den irgendwie zusammengehörten?

»Und warum das?« fragte der Haawer. Eine derart blöde Frage war dem speienden

Knurpsel noch nicht untergekommen. »Warum? Das gehört einfach dazu«, sagte

er entgeistert. »Willst du anfangen?« Die Augen des Haawers traten ein wenig

hervor. »Ich soll anfangen?« »Ich lasse meinem Gegner immer den ers-

ten Schuß«, verkündete der speiende Knurpsel freundlich. »Ich bin bereit, es kann losgehen.«

Er lehnte sich im Sessel zurück und nahm die entsprechenden Schaltungen vor.

»Er muß verrückt sein«, konnte Knurpsel eine Stimme hören.

»Hahaha«, lachte Knurpsel. »Ich bin nicht verrückt. Mein Gravitationsdestruktor wird euch schon kleinkriegen.«

Auf dem großen Schirm erschien die An-zeige. Die Uhr lief bereits. Die Auswertung stand bei Null.

Im nächsten Augenblick ging ein heftiger Ruck durch das Schiff des speienden Knurpsel; irgendwo gellten Sirenen, Splitter geborstenen Glases schrillten durch die Zent-rale, ein halbes Dutzend Schirme platzten auf und spien eine Ladung bunter Kabel in den Raum. Rauch wallte auf, und in der Magen-grube des speienden Knurpsel machte sich das gräßliche Gefühl ausfallender künstlicher Schwerkraft bemerkbar.

»Vakuumeinbruch in Sektion siebenund-

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siebzig. Schirmfelder um Faktor 0,845 über-lastet!«

»He, was soll das?« schrie der speiende Knurpsel, sobald sich sein revoltierender Ma-gen wieder beruhigt hatte. »Seid ihr völlig verrückt geworden? Was macht ihr mit mei-nem Schiff?«

»Wir haben darauf geschossen, wie du es verlangt hast«, sagte Grrolph, der Haawer. »Wir setzen den Beschuß in wenigen Augen-blicken fort.«

»Nichts da«, schrie der speiende Knurpsel. »Jetzt bin ich dran.«

Die Anzeige stand noch immer auf Null, seltsamerweise. Der speiende Knurpsel schal-tete auf seine Wertung um und griff nach dem Steuerknüppel.

Die rasende Weltraumjagd konnte begin-nen.

Aus sämtlichen Rohren feuernd, raste das Schiff auf den gegnerischen Pulk zu. Die Feinde stoben auseinander. Bläulich glitzerten ihre Schiffe auf der graphischen Darstellung.

Ein Feuerstoß jagte den nächsten. Wie ver-wachsen war Knurpsel mit seinem Schiff, beinahe automatisch führte er die Anpas-sungsmanöver aus, kippte zur Seite weg und ließ die schwere Kanone am Bug feuern.

Volltreffer. Einer der Gegner platzte in ei-ner grellen Explosion auseinander. Die An-zeige schnellte um sechshundert Punkte in die Höhe.

Jetzt galt es, die Schirmfelder zu aktivieren, damit sein Schiff nicht von den Trümmerstü-cken des zerplatzten Gegners getroffen wer-den konnte. Der speiende Knurpsel konnte das Krachen und Schmettern hören, mit dem die Bruchstücke in den dichtgestaffelten Schirmfeldern vergingen.

Er flog ein Ausweichmanöver. So schnell, so ungeheuer zielsicher machte ihm das kei-ner nach. Nach rechts gedreht, ein halber Sturz in die Tiefe, dann wieder in die Höhe und nach links. Wieder feuerte das Bugge-schütz, und wieder strahlte eine grelle Deto-nationswolke auf dem schwarzen Hintergrund auf. Abermals sprang der Zähler nach oben, diesmal sogar um neunhundert Punkte, weil Knurpsel das Gegnerschiff in voller Bewe-gung getroffen hatte.

Der Feind feuerte zurück. Knurpsel sah die

Strahlbahnen auf sich zurasen. Es gehörte viel Nervenstärke dazu, diese Schüsse richtig zu berechnen, ihre voraussichtliche Stärke zu erahnen, das eigene Schiff so zu steuern, daß es keine Volltreffer gab sondern nur Streif-schüsse.

Durch das gesamte Schiff gingen heftige Schläge, als das gegnerische Feuer in die Schutzschirme hämmerte. Knurpsel hatte richtig berechnet, die Schirmfelder wurden nur zu höchstens sechsundneunzig Prozent ausgelastet, also bestand noch keine Gefahr.

Er riß das Schiff herum und flog eine Rolle, dann ließ er seinen Raumer steil in die Höhe schießen. Eine buntschillernde Kette von Raumtorpedos glitt unter ihm durch.

Schwenk über die rechte Seite, und dann, von oben herabstoßen, hinein in die Reihen des Gegners. Unablässig betätigte der speien-de Knurpsel den Feuerknopf. Salve auf Salve verließ die Mündungen und erzielte verhee-rende Wirkung beim Gegner.

Es war immer dasselbe – auf diese Manö-ver waren sie einfach nicht gefaßt. Ein halbes Dutzend der angreifenden Schiffe verging, zwei weitere erledigte Knurpsel durch geziel-tes Rammen.

Ein Alarmknopf schrillte. Der speiende Knurpsel stieß einen Laut der

Verärgerung aus. Immer wieder passierte ihm das – er verlor im Eifer des Gefechts für ein paar Zehntelsekunden die Übersicht und rammte irgendeinen auf dem Schlachtfeld herumtreibenden Meteor oder wurde von ei-nem unversehens auftauchenden Schlacht-schiff des Gegners unter Feuer genommen. Diesmal hatte es ihn erwischt, kein Zweifel.

Knurpsel wartete die übliche Zehntelse-kunde ab, dann war er wieder einsatzbereit.

Ein Blick auf die Anzeige. Er war nicht schlecht an diesem Tag – sie-

ben Schlachtschiffe, vier andere schwere Ein-heiten vernichtet, dazu drei Planeten zerstört. Das Punktekonto sah nicht schlecht aus, ob-wohl er schon bessere Tage gehabt hatte.

Angriff aus allen Rohren. Keiner in der be-kannten Galaxis hatte das geschmeidige Handgelenk des speienden Knurpsel. Wo an-dere nur eine Schußfolge von höchstens drei bis vier Feuerstöße pro Sekunde erzielten, kam der speiende Knurpsel mitunter auf sie-

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ben – allein das gab ihm einen ungeheuren Vorteil gegenüber jedem Gegner.

Und er liebte das Risiko. Wieder schlugen zahlreiche Treffer in sei-

nem Schirmfeld ein, und abermals flackerte die Belastungsanzeige hektisch. Aber bevor der Rechner eine neuerliche Vernichtung von Knurpsels Schiff hätte anzeigen können, hatte der seinerseits seine Angreifer vernichtet, und Knurpsels eigener Untergang wurde annul-liert. Man mußte diese Feinheiten kennen, um im Kampf im Weltraum bestehen zu können – und keiner kannte die Tricks und Schliche besser als der speiende Knurpsel. Schließlich war er seit mehr als sieben Jahren ungeschla-gen und übte täglich.

Knurpsel ließ die Einheiten des Gegners hinter sich. Es sah nach Flucht aus und ent-sprechend wurde Knurpsels Punktekonto re-duziert. Auch diesen Trick mußte man ken-nen, wenn man ein Klassekämpfer von For-mat des speienden Knurpsel werden wollte.

Jetzt der berühmt-berüchtigte Fausthieb. Jawohl, es klappte wieder einmal. Für den

Bruchteil einer Sekunde wurde es dunkel um Knurpsel, und als er wieder ein Bild auf dem Schirm entdeckte, war er dort herausgekom-men, wo er wollte – mitten im Pulk der Geg-ner. Die Automatik hatte reagiert wie immer.

Jetzt ging der speiende Knurpsel aufs Gan-ze. In rasendem Stakkato verließen die Ener-gieschüsse die Kanonen, zischten die Raum-torpedos aus den Schächten. Eine Detonation jagte die nächste. Knurpsel kam mit dem Zäh-len der vernichteten Feindeinheiten gar nicht mehr nach.

Jetzt den auf der rechten Seite noch ... Knurpsel riß sein Schiff herum. Ein Feuer-

stoß, und dann war der Raum leergefegt. War das der Sieg? Eindeutig, es gab keinen Zweifel. Kein

Gegner erschien mehr auf der Anzeige. Das Punktekonto war zwar nicht das beste, weit unterhalb des für Knurpsel geltenden Durch-schnitts, aber es war weitaus ruhmreicher, fand Knurpsel, den Gegner völlig und restlos vernichtet zu haben.

Keiner war auf der Feindseite übriggeblie-ben. So gehörte es sich.

»Sieben Minuten, dreizehn Sekunden und sechsundfünfzig Hundertstel«, verkündete

Knurpsel. »Jetzt seid ihr dran.« Die Projektion vor ihm war zusammen-

gebrochen. Grrolph, der Haawer, war zu se-hen und starrte Knurpsel aus hervorquellen-den Augen an.

»Ähh«, machte er nur. Knurpsel lächelte selbstgefällig. Der Haa-

wer hatte die Schlacht auf seinem Panorama-schirm natürlich verfolgen können. Wahr-scheinlich war der grobfellige Bursche sprachlos vor Staunen über Knurpsels Kriegs-künste.

»Man muß nur wissen, wie man mit dem Automaten umzugehen hat«, sagte Knurpsel gönnerhaft.

»Ich verstehe das nicht«, ächzte der Haawer fassungslos. »Das geht über mein Begriffs-vermögen.«

»Wir können auch die einfachere Version spielen«, sagte Knurpsel, der es genoß, end-lich einmal wieder Gesellschaft zu haben. »Dann übernehme ich die Rolle des Automa-ten und greife dich an. Nur zählen muß dann der Rechner, das kann ich nicht auch noch machen.«

»Er muß verrückt sein«, konnte Knurpsel jemanden im Hintergrund sagen hören. »Völ-lig übergeschnappt.«

»Na«, sagte Knurpsel mißbilligend. »Habe ich euch etwa beleidigt? Ihr haltet wohl nicht viel vom Kämpfen, wie?«

Eine Zeitlang war es sehr still. Auf den anderen Kanälen des Funkverkehrs

tat sich dafür um so mehr; der speiende Knurpsel konnte eifrige Gesichter sehen. Drohende Mienen, beschwörende, verzweifel-te. Fäuste wurden geschwungen, Tentakel unheilverkündend ausgestreckt.

»Du hast recht, speiender Knurpsel. Du bist der größte Kämpfer von allen. Wir ergeben uns.«

Die Augen des speienden Knurpsel weite-ten sich. Ergeben? Er brauchte lange, bis er den Begriff verstand – er bedeutete soviel wie eine bedingungslose Einstellung aller Kampf-handlungen.

Genau das aber wollte der speiende Knurpsel nicht – was war das Leben schon wert, wenn man nicht schießen und zerstören konnte? Eine Existenz ohne Raumschlachten, ohne detonierende Raumschiffe und langsam

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sich auflösende Planeten wäre dem speienden Knurpsel als ausgesprochen fade und nicht erstrebenswert erschienen.

»Das kann ich nicht annehmen«, sagte Knurpsel fassungslos. Was hatten diese Ver-rückten vor? Warum machten sie nicht ein-fach weiter? Knurpsel hatte Lust, eine Schlacht nach der anderen zu schlagen – so lange, bis der Gegner sich entweder gedemü-tigt trollte oder aber selbst einmal siegte. In solchen Fällen pflegte der speiende Knurpsel großmütig auf jede Fortsetzung der Schlacht zu verzichten.

»Wir strecken die Waffen und kommen zu dir an Bord«, verkündete der Haawer.

Lähmendes Entsetzen befiel den speienden Knurpsel.

»Das geht nicht«, stotterte er. »Es ist nicht aufgeräumt.«

»Im Krieg zählt derlei nicht so sehr«, be-kam er zu hören. »Öffne eine Schleuse – wir kommen.«

»Ineptus, hörst du mich?« »Ich höre. Was willst du schon wieder?

Kannst du mich denn nicht in Ruhe lassen? Hast du den wirklich nichts anderes im Sinn, als mich unausgesetzt zu stören und von der Arbeit abzuhalten? Du hast doch ein paar Feinde zum Streiten gefunden, nicht wahr? Also, dann laß mich in Ruhe und führe Krieg.«

»Es kommt Besuch an Bord«, gestand der speiende Knurpsel. »Durch die Schleuse.«

»Besuch?« Wenn man bedachte, daß sich die Reakti-

onszeit einer Hochleistungspositronik nach einigen Nanosekunden bemaß, dann war das halbminütige Schweigen des Zentralrechners höchst bemerkenswert und einer Art Gedan-kenkapitulation gleichzusetzen.

»Sie werden bald da sein«, sagte der spei-ende Knurpsel.

Er war sehr aufgeregt. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, daß er wieder unmittelba-ren Kontakt mit einem fremden Lebewesen haben sollte – einer wirklichen Fremdintelli-genz, die man anfassen und berühren konnte. Knurpsel war gespannt, wie das sein würde.

7. Der Schmerz saß tief im Innern und regte

sich nur langsam. Ta Ch’u, den man den Genügsamen ge-

nannt hatte, spürte, wie die Erinnerung in sei-ne Gedankenwelt zurückkehrte. Er entsann sich des Tages, an dem das Schiff, das sein Zuhause war, angegriffen worden war. Völlig überraschend, ohne jede Vorwarnung – noch dazu von einem befreundeten Schiff. Und Ta Ch’u entsann sich des wütenden Brüllens sei-nes Vaters, der gezischten Boshaftigkeiten seiner Mutter an diesem Tag, an die Erbitte-rung, mit der sie gekämpft hatten.

Zwei Tage lang hatte das Gefecht an Bord des Schiffes gewährt – zwei Tage, die sich tief in das Gedächtnis des Knaben geprägt hatten. Er, dessen Namen bedeutete »Die Zähmung der Großen Kräfte«, hatte den Haß empfunden, der den Mördern seiner Verwand-ten galt. Er hatte aber auch erfahren, welche Früchte aus der Saat des blindwütigen Hasses sprossen. In einer ungeheuren gedanklichen Anstrengung hatte es Ta Ch’u geschafft, sich davon freizumachen.

Zur Gänze war es ihm nicht gelungen. Zu stark war der Haß in ihm gespeichert, ent-schieden zuviel Wut, um sie ungefährdet durchs Leben tragen zu können.

So war er zum speienden Knurpsel gewor-den, dem Kindwesen, dessen Leben ein einzi-ger unausgesetzter Kampf war, ein unaufhör-liches Schießen und Sprengen, Zerstören und Vernichten.

Ta Ch’u hielt die bräunliche Wurzel des Ardslys in der Hand. Er sah in die Augen des Haawers, der ihm gegenüberstand.

»Willkommen«, sagte Ta Ch’u. Er spürte, daß er sich schämte, den Fremden so entge-gentreten zu müssen, aber das Gefühl, das ihm von diesen Fremden entgegengebracht wurde, entsprach nicht den Befürchtungen, die Ta Ch’u gehegt hatte. Sie sahen den ehe-maligen speienden Knurpsel nicht als lächer-lich an, sie verstanden ihn sehr gut – mehr noch: Ta Ch’u konnte wahrnehmen, daß sie ihn in gewisser Weise sogar bewunderten. Ta Ch’u war wahrscheinlich eines der wenigen Lebewesen dieser Galaxis, das es geschafft hatte, sich dem allgemeinen Kampfzwang zu

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entziehen. Gänzlich war ihm das nicht gelun-gen, aber er hatte zumindest niemanden ge-schadet.

Noch nicht. Jetzt, da er wieder im Vollbesitz seines

Bewußtseins war, spürte Ta Ch’u, wie hauch-fein die Grenzlinie zwischen dem positroni-schen Spielzeug und der Wirklichkeit war, wie nahe er daran gewesen war, früher oder später auf richtige Schiffe mit der gleichen jubelnden Erfolgsfreude zu feuern, mit der er gerade noch das Hinausschnellen der Treffer-anzeige auf dem Bildschirm verfolgt hatte.

Gerade noch Ersatz für richtige Kampf-handlungen konnte dieses Spiel unversehens zur schlüpfrigen Bahn werden, die geradlinig hineinführte in tatsächliche Kämpfe.

»Da sind wir nun«, sagte Ta Ch’u. »Drei Lebewesen, ein jedes anders und keiner des anderen Feind.«

»Wozu auch Feindschaft«, sagte der Haa-wer. »Wir leben ohnehin meist in Raumschif-fen, und selbst wenn wir einen Planeten be-siedeln wollten, könnten wir dort prächtig mit den Ardslys zusammenleben – sie können uns nichts wegnehmen, und wir können ihnen nichts rauben.«

Ta Ch’u betrachtete die Projektion auf dem Bildschirm. Der Kreis der Schiffe hatte sich enger um TAUPRIN gezogen. In der letzten Stunde waren zwei weitere Schiffe dazuge-kommen, Kugelraumer, offenbar von einem technisch niedrigstehenden Volk stammend. Natürlich hatte die Kugelform als Grundprin-zip für ein Raumschiff gewisse Vorteile, aber sie war simpel und einfallslos. Offenbar überwogen im Volk der Fremden die Krämer-seelen und Technokraten die Künstler.

Ta Ch’u kümmerte sich nicht darum. Mochte das Gezanke auf sämtlichen Funkfre-quenzen weitergehen wie bisher, es hatte we-nig mit dem eigentlichen Problem zu tun, das Ta Ch’u beschäftigte.

Zwei Fragen gab es für ihn zu beantworten: Was löste den unseligen kriegerischen Wahn-sinn aus, der offenbar alle Völker ringsum erfaßt und in seinem Griff hatte? Und wel-chem Volk gehörte er selbst an – außer einer verwaschenen Erinnerung an etwas Intelli-gent-Strenges, das sein Vater gewesen war, und an ein weise-zärtliches Wesen, das ein-

mal seine Mutter gewesen sein mußte, besaß Ta Ch’u nur noch die Erinnerung an seinen Namen. Er war – in diesem Teil unterschied sich die Deckerinnerung des speienden Knurpsel nicht von den Tatsachen – ein klei-nes Kind gewesen, als seine Eltern gestorben waren. Aufgewachsen war er in dem Perl-muttraumschiff.

»Ineptus«, rief Ta Ch’u. »Kannst du mich hören?«

Verschwunden war die ständige Quenge-ligkeit der Robotstimme. Was Ta Ch’u jetzt zu hören bekam, war eine klare sachliche Stimme ohne die geringste Beimischung.

»Ich höre.« »Kannst du feststellen, ob ich in der Ver-

gangenheit in irgendeiner Form manipuliert worden bin?«

»Antwort positiv«, gab Ineptus zurück. »In deinem Blutkreislauf befinden sich lebende Kleinstkörper, die eine hypnotische Wirkung zur Folge haben.«

»Und wie kommen diese Kleinstkörper in meinen Blutkreislauf hinein?«

Die Antwort des Rechners ließ nicht lange auf sich warten, und sie fiel so aus, wie Ta Ch’u es erwartet hatte.

»Keine Erklärung«, klang es aus den Laut-sprechern. »Der Vorgang entzieht sich natur-wissenschaftlichem Verständnis. Möglich wäre eine Strahlung, aber die müßte in der Lage sein, sämtliche bekannten Schutz-schirmsysteme zu durchdringen und dabei völlig unbemerkt zu bleiben. Über eine solche Strahlung ist bisher nichts bekannt.«

»Und wieso wirken die Hypno-Partikel in meinem Blut nicht mehr?«

»Antistoffe aus der Körperchemie der Ardslys«, lautete die Antwort der Positronik. »Und die Individualstrahlung der Haawer ihrerseits bewirkt eine völlige Neutralisierung der Hypno-Partikel bei den Ardslys. Nötig ist dazu intensiver Körperkontakt, der wenigs-tens einige Minuten anhalten muß. Die Wir-kung hält einige Stunden an.«

»Wir müssen also beieinander bleiben«, stellte Ta Ch’u fest. Er verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Das sollte uns nicht schwer-fallen.«

Grrolph wies auf den großen Panorama-schirm.

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»Dort geht der Streit emsig weiter«, sagte

er halblaut. »Und es wird nicht mehr lange dauern, dann wird ernsthaft geschossen. Die Stimmung wird zusehends gereizter.«

»Ineptus hat etwas von einer Strahlung ge-sagt«, überlegte Ta Ch’u halblaut. »Glaubt ihr daran?«

»Nenn es Strahlung, nenn es Fernwirkung – es wird in jedem Fall von außen ausgelöst«, antwortete Urselphyn.

»Dann muß diese Strahlung einen Ursprung haben«, ergänzte Ta Ch’u.

»Vermutlich im Kern der Dunkelwolke«, sagte Grrolph. »Und dort werden wir mit Si-cherheit nichts finden. Die Dunkelwolke gilt als absolut unpassierbar.«

»TAUPRIN käme durch«, erinnerte Ur-selphyn. »Ich kann mich erinnern, daß er oder es zu Atlan gesagt hat, er habe mit seinen Schiffen keine Chance, ins Innere vorzusto-ßen, dazu sei nur TAUPRIN in der Lage.«

Ta Ch’u starrte auf dem Panoramaschirm, der ein getreues Abbild der näheren astrono-mischen Umgebung bot. Die Dunkelwolke, die den Kern von Xiinx-Markant verbarg, war deutlich zu sehen.

»Wir sollten uns vor TAUPRIN hüten – was auch immer sich hinter diesem Namen verbergen mag«, murmelte Ta Ch’u.

»Warum?« »Denken wir logisch nach«, führte Ta Ch’u

aus. »Jemand manipuliert die Völker der Randzone von Xiinx-Markant so, daß sie un-ablässig miteinander kämpfen. Dieser Jemand sitzt vermutlich im Kern der Galaxis, ge-schützt durch eine undurchdringliche Dun-kelwolke.«

»Spekulationen«, sagte Grrolph knapp. »Du kannst höchstens ein Fünftel von dem bewei-sen, was du sagst.«

»Mag sein«, räumte Ta Ch’u ein. »Und in unserer Nähe hängt ein seltsames, sehr schö-nes Raumschiff im All, nennt sich selbst TAUPRIN und behauptet, in die Dunkelwol-ke eindringen zu können – wofür es bislang jeden Beweis schuldig geblieben ist. Gesetzt den Fall, TAUPRIN ist ein Gegner der Wesen im Innern der Dunkelwolke.«

»Dann müßte er sich eigentlich am allge-meinen Gezänk und Kriegsgeschrei beteili-gen«, ergänzte Urselphyn.

»Richtig. Und außerdem wären dann wohl längst die Machthaber der Dunkelwolke in irgendeiner Form auf den Plan getreten, um TAUPRIN zu vernichten – er funkt ja nun schon ziemlich lange offen im All herum, jedermann kann ihn hören und anpeilen.«

»Wenn das nicht als Angriffsmacht gegen TAUPRIN reicht, dann weiß ich nicht, was noch aufgeboten werden soll«, versetzte Grrolph. Er deutete auf die buntscheckige Armada, die TAUPRIN wie eine Kugelschale umschlossen hielt.

»Bislang hat noch keines dieser Schiffe versucht, TAUPRIN anzugreifen«, erinnerte Ta Ch’u. »Sie drohen sich nur wechselseitig mit Vernichtung. TAUPRIN hat ausdrücklich Atlan herbeigerufen – möglicherweise ein anderes Manifest. So hat TAUPRIN sich selbst doch bezeichnet, nicht wahr?«

Einen Augenblick lang zögerte Ta Ch’u. Der Gedanke hatte ihn überfallen, daß mögli-cherweise auch er ein Manifest war – Ta Ch’u kannte seine Abstammung nicht, und wie ein Manifest aussah, war unbekannt.

»Ich vermute, daß TAUPRIN und Atlan beide im Auftrag der Machthaber im Innern der Dunkelwolke handeln«, sagte Ta Ch’u. »Ich gebe zu, daß es sich bei diesen Überle-gungen um wüste Spekulationen handelt, aber irgendwie müssen die Tatsachen schließlich zueinander passen.«

»Und was folgerst du daraus?« Ta Ch’u zögerte lange. »Wir können versuchen, den Quell der

Strahlung zu finden, die uns manipuliert. Ich habe ein Rechenprogramm für Ineptus ausge-arbeitet, er ist gerade damit beschäftigt.«

»Und was berechnet er?« »Die Überlegung ist recht einfach«, erläu-

terte Ta Ch’u. »Strahlung, und das gilt auch für Hyperstrahlung, breitet sich gleichförmig in alle Richtungen aus. Die Intensität nimmt dabei im Quadrat der Entfernung ab. Das gilt für Hyperstrahlung nur eingeschränkt, weil Entfernungen im übergeordneten Raum ande-re Seinsqualitäten haben als in unserem Kon-tinuum. Aber eines ist in jedem Fall klar – auch Hyperstrahlung ist eine Form von ver-strahlter Energie, und je weiter diese Energie verteilt wird, um so geringer wird sie pro Flä-che.«

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»Worauf willst du eigentlich hinaus?« »Die Strahlung, die hier bei uns die hypno-

tische Wirkung auslöst, die wir festgestellt haben, und die – auch das steht logisch ein-wandfrei fest – jeden bekannten Schutzschirm durchdringen kann, müßte, wenn sie tatsäch-lich im Innern der Galaxis erzeugt wird, dort eine Stärke haben, die jedes Lebewesen sofort in einen Anfall aggressiven Wahnsinns stür-zen ließe. Was uns aufhetzt, muß sich so nahe dem Quell der Strahlung explosionsartig aus-wirken.«

»Es sei denn, man kann sich gegen die Strahlung schützen.«

»Das eben kann man augenscheinlich nicht – die Haawer haben andere Schirmfelder als die Ardslys oder ich mit meinem Schiff, und an der Grundhaltung wechselseitiger Feind-schaft ändert sich nichts, ob die Schirmfelder aktiviert sind oder nicht. Andernfalls müßten wir alle paar Stunden von einer Phase der Kriegslüsternheit in einen Zustand der Frie-densliebe oder wenigstens der Ernüchterung zurückfallen. Auch das ist bekanntlich nicht der Fall. Wir können also davon ausgehen, daß diese hypnotische Fernwirkung im Zent-rum der Galaxis von einer schier ungeheuren Stärke sein müßte – so stark, daß nichts und niemand ihr widerstehen kann.«

»Vielleicht ist das Innere der Dunkelwolke deswegen leer und verlassen, ja vielleicht verdankt die Wolke ihre Entstehung sogar den Auswirkungen der hypnotischen Beeinflus-sung. Vielleicht besteht sie aus den Resten zerstörter Sonnensysteme.«

Ta Ch’u lachte herzhaft. »Um ein Gebilde wie diese Dunkelwolke

zu bilden, sind astronomische Zeiten erforder-lich – Jahrmillionen ...«

»Oder eine unglaublich überlegene Tech-nik«, warf Urselphyn ein.

»Eine Technik, die so überlegen ist, daß sich ihre Herrscher dieses infame Beeinflus-sungsmittel haben einfallen lassen, um uns zu einer bestimmten Verhaltensweise zu zwin-gen? Diese niederträchtige Manipulation hat ihre Quelle in Feigheit und Schwäche, ganz bestimmt nicht in überlegener Stärke.«

»Mag sein«, warf Grrolph ein. »Worauf willst du nun eigentlich hinaus?«

»Darauf, daß es nach meinen Berechnun-

gen irgendwo in diesem Sektor von Xiinx-Markant einen Quell für die geheimnisvolle Strahlung geben muß – und sei es nur eine Art hyperenergetischer Transformator, der eine aus dem Innern der Galaxis kommende Strah-lung so modifiziert, daß sie die uns bekannte Wirkung zeigt. Ich habe Ineptus berechnen lassen, wo vielleicht eine solche Transforma-torenstation zu finden sein könnte – und dies, Freunde, ist bei der Rechnung herausgekom-men.«

Mit einer leichten Handbewegung schaltete er das Ergebnis des Rechenprozesses auf die Kartendarstellung von Xiinx-Markant.

»Jeder dieser grünen Leuchtpunkte stellt eine Transformatorenstation dar.«

»Es müssen Hunderte, wenn nicht Tausen-de sein«, entfuhr es Urselphyn.

»Durchaus möglich«, versetzte Ta Ch’u. »Es gibt viele Völker in Xiinx-Markant, und es darf kein Winkel frei bleiben – früher oder später müßten sich dort alle Friedfertigen sammeln, und das paßt schwerlich in das Konzept unseres Feindes.«

»Feind?« Ta Ch’u spürte das leichte Erschrecken in

Urselphyns Stimme. Rauh sagte er: »Ein Wesen oder ein Volk, das Milliarden

anderer für seine Zwecke einspannt und in einen mörderischen Auslesekrieg verstrickt, ist ein Feind des Lebens schlechthin. Wer immer für die Kriegsstrahlung verantwortlich ist, pervertiert die natürliche Ordnung, ver-geht sich an den universalen Grundsätzen des Lebens – er frevelt am GESETZ.«

Ta Ch’u spürte, wie ein Schaudern über seinen Körper lief. Was hatte dieser letzte Satz zu bedeuten? Er war ihm spontan über die Lippen gekommen, hatte seine Zuhörer sichtlich beeindruckt – aber dem Sprecher selbst waren diese Worte ein Rätsel. Er hatte das Wort Gesetz ausgesprochen wie einen hehren Begriff, der höheren kosmischen Ord-nungsprinzipien zugeordnet werden mußte – als verstünde er etwas davon, als sei er ein-geweiht in die Geheimnisse des Universums.

Und doch – obwohl er nicht wußte, aus welcher Quelle dieses Gefühl genährt wurde, spürte Ta Ch’u, daß er die Wahrheit gesagt hatte.

»Die Herrscher von Xiinx-Markant, die

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Wesen, die uns zu wechselseitigen Feinden machen wollen – sie sind unser aller Feind, und diesem Kampf dürfen wir uns nicht ent-ziehen«, sagte Ta Ch’u.

Grrolphs Augen waren weit offen, sie schimmerten warm.

»Die Worte klingen denen des speienden Knurpsel sehr ähnlich«, sagte er leise. »Und dieses Mal verstehe ich sie – wir werden zu-sammen tun, was getan werden muß.«

Ta Ch’u legte dem Haawer eine Hand auf die Schulter, mit der anderen faßte er den Stamm des Ardslys an.

»Und zusammen, mit vereinten Kräften werden wir unser Ziel erreichen«, versprach er.

»Was genau hast du vor?« fragte Ur-selphyn.

Ta Ch’u deutete auf einen der Leuchtpunk-te.

»Dies ist die uns nächstgelegene Transfor-matorenstation, oder wie immer wir sie nen-nen wollen. Ich schlage vor, daß wir hinflie-gen und uns dort umsehen – und wenn es dort tatsächlich einen Manipulator geben sollte, werden wir ihn zerstören.«

»Und wenn er sich nicht gutwillig zerstören lassen will?« fragte Urselphyn.

»Dann werden wir Gewalt anwenden«, sag-te Ta Ch’u, sobald sich das leise Frösteln ge-legt hatte, das plötzlich über seine Haut gerie-selt war.

Grrolph sah ihn an. »Es ist möglich, daß eine solche Transfor-

matorenstation Verteidiger hat«, sagte er lei-se. »Lebende Verteidiger, nicht bloß Robo-ter.«

Ta Ch’u schloß die Augen. »Es ist von Nutzen, das große Wasser zu

überqueren«, zitierte er. »Eine Weissagung zu meiner Geburt. Niemand weiß, welche Fragen und Antworten jenseits des großen Wassers warten. Man erfährt sie erst, wenn man sich in Bewegung setzt.«

Grrolph hatte die nächste, die fast zwangs-läufig folgende Frage.

»Haben wir denn überhaupt eine reelle Aussicht, in diesem Kampf Erfolg zu haben?«

Ta Ch’u deutete auf das Geschwader, das sich um TAUPRIN drängte.

»Niemand wird mit einem Angriff rech-

nen«, sagte er nachdenklich. »Wer immer sich in der Transformatorenstation aufhält, kann den Funkverkehr abhören und damit rechnen, daß alle Raumschiffe, die weit und breit auf-zutreiben sind, sich hier versammelt haben.«

Es waren insgesamt siebzig Haawer und ein knappes Dutzend Ardslys, dazu Ta Ch’u, die an der Beratung teilnahmen. Die Entschei-dung war rasch gefällt – ein kleines Kom-mando aus Haawern und Ardslys sollte versu-chen, Urselphyns Schiff zu übernehmen, dann wollten sich die Verbündeten auf den Weg machen.

Drei Völker, drei Schiffe, die ein gemein-sames Ziel verband – sich von einer unerträg-lich gewordenen Bevormundung durch die heimlichen Herren von Xiinx-Markant zu befreien.

Und danach nie wieder irgendeine Herr-schaft über sich zu dulden.

8.

»Es wird sehr darauf ankommen, ob wir

überzeugend sind«, sagte Ta Ch’u. »Wenn der Gegner nicht auf unser Spiel hereinfällt, ha-ben wir verloren.«

Urselphyn machte eine Geste der Bestäti-gung, Grrolph schloß sich an.

Die drei Schiffe hatten sich vom Pulk der anderen abgesetzt; sie waren mehr als sieben Lichtjahre vom Standort TAUPRINS entfernt, wo noch immer um die Besitzrechte an dem Manifest gezankt wurde.

Keine der beteiligten Parteien war stark ge-nug, sich allein gegen die Übermacht der an-deren durchsetzen zu können. Daher waren Bündnisse nötig, und das schnell.

Als die drei Schiffe den Pulk verlassen hat-ten, waren sie nicht weiter aufgefallen – rings um TAUPRIN herrschte ein Verkehr wie in der Nähe eines gigantischen Weltraumhafens. Delegationen und Abordnungen waren in Beibooten unterwegs – alles nur, um einer der Parteien den Besitz des Manifests TAUPRIN zu sichern. Und dabei stand noch nicht einmal fest, ob TAUPRIN gewillt war, sich einfach in Besitz nehmen zu lassen.

»Vielleicht kommen andere Gruppen zur gleichen Einsicht wie wir«, sagte Grrolph.

»Ich halte es für einen einmaligen Glücks-

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ATLAN 113 – Die Abenteuer der SOL

fall«, antwortete Urselphyn. »Die biochemi-sche Wirkung der Hypno-Partikel muß bei unseren Organismen zufällig genau entgegen-gesetzt sein – ob sich das bei anderen Völkern wiederholt, wird sich zeigen.«

Ta Ch’u deutete auf die Kartenprojektion. »Nach meiner Einschätzung ist die Trans-

formatorenstation für die Kriegsstrahlung dort zu finden«, sagte er und deutete auf einen bestimmten Punkt im Raum. »Wenn wir dort ankommen, haben wir keine Sekunde zu ver-lieren – wir müssen unser Spiel beginnen, ohne uns erst umsehen zu können. Falls es dort keine solche Station gibt, haben wir ein lächerliches Schauspiel aufgeführt.«

»Besser ein paarmal lächerlich als ständig manipuliert«, gab Grrolph zurück. »Wir sind dabei!«

Urselphyn gab ein Bestätigungssignal. Er befehligte das Schiff der Haawer, wäh-

rend Grrolph den Diskus der Ardslys steuerte; die Besatzung beider Schiffe war durchmischt worden – beide Teams waren daher gegen die Hypno-Partikel immunisiert. Ein Ardsly – Gamselmartyn – war an Bord von Ta Ch’us Schiff gekommen, um ihm Sicherheit vor der Manipulationsstrahlung zu bringen.

»Ihr seid bereit?« »Einsatzklar«, gab Urselphyn durch.

Grrolph bestätigte ebenfalls. »Dann los!« Ta Ch’u ließ sein Schiff beschleunigen. Es

war ausgemacht, daß er das Zielobjekt abge-ben sollte, während die Haawer und die Ards-lys ihn zu jagen hatten.

Das Perlenschiff nahm Fahrt auf. Der Wal-zenraumer der Haawer scherte ein wenig zur Seite aus, der Ardsly-Diskus tauchte nach unten. Die Grundrichtung blieb aber die glei-che.

»Eintritt in den Hyperraum in wenigen Se-kunden«, sagte Ta Ch’u. Ineptus hatte die Daten der drei Schiffe koordiniert. Es durfte kein Fehler unterlaufen, sonst war das ganze Unternehmen gefährdet.

Wenn es in diesem Angriff nicht gelang, den Hypno-Verstärker auszuschalten, war es zu spät – gewiß würde die Besatzung ihren Herren melden, daß sich Widerstand gegen die übermächtige Strahlung geregt hatte. Eine Strafexpedition war dann unausweichlich.

»Sprung?« Mit einem Handgriff schaltete Ta Ch’u die

Kampfmittel auf den großen Panoramaschirm – es war praktisch das gleiche Bild, das er zuvor als Spiel gesehen hatte. Koordinaten, Kurvenberechnungen, grafische Darstellun-gen – nur der Punktezähler fehlte.

Ta Ch’u spürte sein Herz schnell und heftig schlagen. Es war dies das erste Mal, daß er tatsächlich in gewaltsame Vorgänge verwi-ckelt war. Dies war kein Spiel, sondern hand-feste Wirklichkeit.

Im nächsten Augenblick tauchte das Per-lenschiff in den Normalraum ein. Ta Ch’u übernahm sofort die Kontrolle.

Schwenk nach rechts, dann Vollschub auf die Normaltriebwerke. Ein hastiger Blick auf die Anzeigeoptiken der Fernerkundungssys-teme. Eine dunkelrote Sonne in der Nähe, keine Planeten.

Ta Ch’u wandte seine Aufmerksamkeit dem Feind zu. Als erstes tauchte das Haawer-Schiff hinter ihm auf, und sofort schickte der Kommandant eine Serie von Raumtorpedos hinter Ta Ch’u her.

Nur unwesentlich schneller als das Perlen-raumschiff, brauchten die Torpedos geraume Zeit, bis sie ihr Ziel erreichen konnten – aber sie waren sehr hartnäckig und konnten tage-lang hinter ihren Opfern herjagen, bis irgend-wann einmal jemand die vergleichsweise winzigen Geschosse übersah – und dann war es zu spät.

Ta Ch’u spürte, wie er zu zittern begann. Das Ardsly-Schiff tauchte auf, sehr nahe an

dem Perlenschiff. Eine Salve krachte in die Schutzschirme. Die Belastung war nicht sehr hoch, aber aus der Ferne mußte der Beschuß sehr eindrucksvoll wirken.

Ta Ch’u schoß zurück. Er stieß ein Ächzen aus.

Er hatte keine Zeit zu üben, sich an den Gedanken zu gewöhnen, tatsächlich auf le-bende Wesen zu feuern – er mußte sofort in die Schlacht einsteigen. Auch wenn er wußte, daß Ineptus die Energieabgabe der Geschütze so steuern würde, daß weder den Ardslys noch den Haawern etwas zustoßen konnte, half das nichts gegen die jäh aufsteigenden Ängste, die Ta Ch’u empfand.

Eine auf den Panoramaschirm eingespielte

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ATLAN 113 – Die Abenteuer der SOL

Zahl verriet, daß das Schirmfeld des Ardsly-Diskus nur zu siebzig Prozent seiner Nennka-pazität belastet worden war. Keinerlei Gefahr für die Pflanzenwesen.

Ta Ch’u ließ sein Schiff einen anderen Kurs nehmen, um einem Angriff der Haawer aus-zuweichen.

Ein paar Sekunden hatte er nun Muße, den beiden anderen Besatzungen erging es ähn-lich.

Da war das Ziel. Deutlich zeichnete es sich auf der Darstel-

lung des Hyperorters ab. Dieses Ortungssys-tem peilte alle fünfdimensionalen Streufelder an, die es in der näheren Umgebung gab, und solche Streufelder wurden in der Regel von Maschinen hervorgerufen – Raumschiffen, Antriebssystemen, Transmittern und ähnli-chen Anlagen. Der Hyperorter lieferte so ei-nen ersten Hinweis darauf, ob ein angefloge-ner Planet von einer Spezies bevölkert war, die bereits eine 5-D-Technologie entwickelt hatte.

Noch war Ta Ch’u zu weit von diesem Ziel entfernt, als daß die Ortungsanlagen Einzel-heiten hätten zeigen können.

Immerhin war klar, daß es dort einen Kör-per gab, der auf engstem Raum eine erhebli-che Menge fünfdimensionaler Streustrahlung aussandte – in aller Regel ein Raumschiff.

Am liebsten wäre Ta Ch’u ohne langes Zö-gern auf dieses Raumschiff zugeflogen, aber das hätte gegen die sorgsame Planung versto-ßen.

Die beiden Feinde jagten heran, Ta Ch’u mußte ein Ausweichmanöver fliegen.

Es war etwas anderes, diese Kurven tat-sächlich zu fliegen, als sie im Spiel zu be-schreiben; das hektische Flackern einiger An-zeigen, das die Überbeanspruchung einiger Bauteile des Perlenschiffs signalisierte, er-schreckte Ta Ch’u, obwohl er sehr wohl wuß-te, daß dies nur erste Hinweise waren, kei-neswegs Alarmzeichen.

Wieder krachte eine Salve aus den Ge-schützen der Verfolger in die Schirmfelder. Sechsundachtzig Prozent Auslastung. Ta Ch’u spürte, wie feine Perlen auf seiner Stirn er-schienen; er schwitzte vor Angst.

Alles kam jetzt darauf an, daß er keinen Fehler machte.

Ta Ch’u ließ das Schiff bocken; die nächste Salve ging prompt an ihm vorbei.

Dann drückte er selbst auf den Feuerknopf. Der Effekt war abgesprochen, und doch er-

schütterte er Ta Ch’u bis ins Mark. Der Diskus der Ardslys verschwand in ei-

nem gleißenden Feuerball, und als er nach ein paar Sekunden, die Ta Ch’u wie Ewigkeiten erschienen, wieder zum Vorschein kam, stand ein Teil des dunklen Körpers in dunkelroter Glut; sich immer wieder überschlagend, tau-melte das Diskusschiff steuerlos durch den Raum.

Jetzt war der Zeitpunkt für einen Wirkungs-treffer gekommen – aber daran wurde Ta Ch’u durch einen Angriff des Haawer-Schiffs gehindert. Der Walzenraumer drängte ihn vom Kurs ab.

In fieberhafter Eile programmierte Ta Ch’u seinen Rechner um. Dies war der kniffligste Teil des ganzen Unternehmens – der Teil, der sich beim besten Willen nicht hatte vorher-kalkulieren lassen. Es kam jetzt darauf an, daß sich alle Beteiligten dieses Täuschungsmanö-vers aufeinander verlassen konnten.

Der Kurs, den Ta Ch’u seinem Schiff be-fohlen hatte, führte genau auf die düstere Sonne zu, von der die Transformatorenstation wahrscheinlich ihre Energie bezog, sonst hät-te sie nicht so dicht neben der Sonne gestan-den.

Ta Ch’u ließ das Perlenschiff beschleuni-gen.

Der Walzenraumer der Haawer jagte uner-bittlich hinter ihm her. Das Diskusschiff hatte seinen Kurs stabilisiert. Der Hyperorter zeigte an, daß auch die Schirmfelder wieder aufge-baut worden waren. Auch der Diskus nahm die Verfolgungsjagd wieder auf.

Ein kurzer Sprung durch den Hyperraum beförderte Ta Ch’u mitsamt seinem Schiff auf jene Seite der dunklen Sonne, die der Trans-formatorenstation abgewandt war.

Es war ein heikles Manöver. Ineptus hatte hervorragende Arbeit geleis-

tet. Der Sprung führte durch die obersten Schichten der Sonnenkorona, wie das schrille Kreischen des überanstrengten Materials be-wies – aber es gab keine ernsthaften Schäden.

Auf der anderen Seite der Sonne ange-kommen, ließ Ta Ch’u sein Schiff mit

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ATLAN 113 – Die Abenteuer der SOL

Höchstwerten verzögern.

Der Haawer-Raumer tauchte mit einiger Verzögerung auf – absprachegemäß hatten die Haawer einen Kurs genommen, der um die Sonne herumführte.

Das gab Ta Ch’u die Chance, die er brauch-te.

Natürlich konnten auch diese Vorgänge höchstwahrscheinlich von Bord der Verstär-kerstation angemessen werden – und genau darauf hofften die drei Akteure dieses seltsa-men Schauspiels.

Vielleicht saß im Innern der Station sogar eines der Wesen, die diese Schreckenstechnik installiert hatten, und ergötzte sich an dem kriegerischen Schauspiel.

Einige Minuten vergingen bis Ta Ch’u sein Schiff zur Ruhe gebracht hatte, danach be-schleunigte er erneut – und wieder führte der Kurs genau auf den Rand der dunkelroten Sonne zu.

Auf dem Kontrollschirm konnte Ta Ch’u erkennen, daß die Haawer sich anschickten, seinem Beispiel zu folgen. Unterdessen waren auch die Ardslys mit ihrem Diskus aufge-taucht und beteiligten sich an dem Spiel.

Ta Ch’u spürte, wie er am ganzen Körper zu zittern begann. Die entscheidende Phase des Kampfes stand bevor. Die nächsten zehn Minuten mußten die Entscheidung bringen.

Das Perlenschiff beschleunigte, näherte sich der Lichtgeschwindigkeit.

Ein zweites Mal führte Ta Ch’u sein Schiff durch die Sonnenkorona. Wieder wurden die technischen Einrichtungen in höchstem Maß belastet, aber sie hielten dieser Beanspru-chung stand.

Bis zu dem Augenblick, den Ta Ch’u nie-mals vergessen würde.

Ein infernalisches Kreischen ging durch sein Schiff, dann gab es eine Reihe schmet-ternder Schläge. Sein Körper wurde nach vorn geschleudert und fing sich in den Gurten. Das Schiff selbst schien sich auf den Kopf zu stel-len, die künstliche Schwerkraft brach für ein paar Augenblicke zusammen. Das Licht fiel aus, und in diese Dunkelheit schrillte der Va-kuumalarm. In stechendem Rot flammte ein Warnlicht auf.

»Schirmfeldprojektor ausgefallen!« quäkte eine Robotstimme dazwischen. Sie war so

ausgewählt worden, daß sie wegen des ent-nervenden Tonfalls jeden anderen Lärm durchdringen konnte.

In der darauffolgenden Sekunde fiel das Perlenschiff in den Normalraum zurück. Die Schwerkraft setzte wieder ein und quetschte Ta Ch’u zunächst im Sessel zusammen, bis sie sich auf den Normalwert eingespielt hatte. Das Licht ging wieder an, allerdings fehlte die Hälfte der Leuchtkörper.

»Was ist passiert?« schrie Ta Ch’u er-schreckt.

Furchtbare Angst hatte ihn befallen. »Atomare Detonation in den oberen

Schichten der Sonnenatmosphäre«, gab Inep-tus bekannt. »Herrührend von einem Raum-torpedo.«

Stur war das Torpedogeschwader dem Per-lenschiff gefolgt; als es verschwunden war, hatte es seinen geradlinigen Kurs fortgesetzt – und Ta Ch’u war den Geschossen genau vor die Sprengköpfe geflogen.

»Schäden?« Die Meldungen kamen so knapp wie die

Frage. »Schirmfeldprojektoren teilweise ausgefal-

len. Schirmfelder nur noch halb belastbar. Angriffswaffen unbeschädigt. Antrieb unsi-cher im Unterlichtbereich. Vakuumeinbruch kann gestoppt werden.«

Das bedeutete, daß der Plan gescheitert war – unwiderruflich. Das Ende war gekommen.

*

Ta Ch’u holte tief Luft. Vor ihm, in Flugrichtung, hing die Trans-

formatorenstation im Raum, ein aus zwei Ringen zusammengesetztes Gebilde mit ei-nem großvolumigen technischen Körper im Zentrum der beiden Ringe. Zahlreiche Anten-nen waren zu sehen, unterschiedlich geformt und ausgerichtet. Die Station sah ungeachtet ihres verbrecherischen Zwecks ästhetisch aus – aber Ta Ch’u hatte nicht viel Zeit, sich an dem Anblick zu erfreuen.

Das Haawer-Schiff war aufgetaucht, und dort an Bord ahnte niemand etwas von den Problemen, die Ta Ch’u hatte.

Es war vereinbart, daß die Ardslys und die Haawer Ta Ch’u jagen und beschießen soll-

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ten. In einer wilden, kurvenreichen Jagd soll-ten sich die drei Schiffe immer näher an die Schaltstation heranpirschen und sie dann in einem überraschenden Manöver gemeinsam angreifen. Zuvor mußte nur für die Besatzung der Station, ob robotisch oder lebend, klarge-stellt werden, daß die Beteiligten dieses Kampfes nichts anderes im Sinn hatten als die wechselseitige Vernichtung – daß sie nicht an der Station interessiert waren.

Dieser Plan war nun gescheitert – beim nächsten vereinbarten Scheinangriff auf das Perlenschiff würden die Haawer einen Erfolg erzielen, mit dem sie niemals gerechnet hatten – die völlige Zerstörung des Perlenschiffs.

»Weg von hier«, murmelte Ta Ch’u. Jetzt war es bitterster Ernst geworden. Jeder

Fehler konnte zu seinem Ende führen. Ta Ch’u ließ sein Schiff beschleunigen und

einige Kurven beschreiben, die nicht verein-bart waren. Vielleicht merkten sie auf der anderen Seite etwas und ließen ihn solange in Ruhe, bis er das System wieder verlassen hat-te.

Die Haawer dachten nicht daran. Sie nah-men die Verfolgung auf, und zu allem Überfluß erschienen jetzt auch die Ardslys. Sie waren in Flugrichtung des Perlenschiffs aus dem Überraum zurückgekehrt und verzö-gerten mit Höchstwerten. Der Abstand wurde rasend schnell geringer.

Ta Ch’u zog zur Seite, auf die Station zu. Urselphyn, der das Haawer-Schiff komman-dierte, setzte sofort nach. Ein Schuß aus der Bugkanone streifte das Schirmfeld des Per-lenschiffs und ließ es kurzfristig zusammen-brechen.

Merkte Urselphyn, was das bedeutete? Of-fenbar nicht, vielleicht hielt er es für einen besonders raffinierten Trick.

Zur Seite abdrehen. Angstschweiß stand Ta Ch’u auf der Stirn. Es war das Spiel, das er so oft gespielt hatte – jagen, schießen, treffen, Punkte sammeln.

Bei der nächsten Kehre schickte Ta Ch’u seinen Verfolgern eine Salve entgegen, die deren Schirmfelder ins Wackeln bringen muß-te – vielleicht begriffen sie jetzt endlich.

Nichts dergleichen geschah. Während Ta Ch’u um sein Leben kämpfte,

zog die Station langsam ihre Bahn um die

dunkelrote Sonne. Auf dem Spezialschirm war ein Energiefaden zu sehen, der die Station und die Sonne verband. Vermutlich bezog die Station die gewaltigen Energiemengen, die sie für ihre verderbliche Aufgabe benötigte, aus den atomaren Prozessen der Sonne.

Ein paar Lichtminuten trennten Ta Ch’u von der Station, als er an ihr vorbeiraste. Von rechts setzten ihm die Ardslys zu, deren Schüssen Ta Ch’u nur mit größter Mühe aus-weichen konnte. Was trotz seiner verzweifel-ten Manöver dennoch in seinen Schirmfeldern einschlug, reichte aus, um Ta Ch’u von einem Entsetzensanfall in den nächsten stürzen zu lassen.

Er war sich darüber klar, daß jede Sekunde die letzte seines Lebens sein konnte; mit aller inneren Kraft, die er besaß, drängte er die Angst in den Hintergrund seiner Gedanken. Er konzentrierte sich darauf, sein Schiff außer Schußweite zu bringen.

Niemals zuvor, nicht einmal bei seinen glanzvollsten Siegen hatte der speiende Knurpsel so abenteuerliche Haken geschlagen wie in diesen bangen Minuten, in denen es Ta Ch’u außerdem verwehrt war, sich seiner Ver-folger mit Waffengewalt zu entledigen. Schließlich waren es seine Freunde, die ihn da zu Tode hetzten, ungewollt freilich, aber das nahm der Bedrohung nichts an Schärfe.

Boshafterweise schienen Urselphyn und Grrolph die Finten geradezu als eine Art sportlicher Herausforderung zu begreifen; mit verbissenem Eifer setzten sie sich auf die Fährte des Perlenschiffs.

Dann war es soweit – alles Drehen und Wenden half nichts mehr. Mit einem pracht-vollen Manöver setzte sich Urselphyn mit dem Haawer-Schiff genau hinter Ta Ch’u. In Flugrichtung drohten die Defensivschirme der Station und von der Seite griff Grrolph mit dem Diskus der Ardslys an.

Urselphyn ließ die Geschütze sprechen. Die Ereignisse überschlugen sich. Auf der Oberfläche der ohnehin recht dunk-

len Sonne erschien ein großer schwarzer Fleck. Der Energieorter wies ihn als riesiges Loch aus, das jählings in der Oberfläche der Sonne erschienen war.

Im gleichen Sekundenbruchteil erloschen sämtliche Schirmfelder der Station, und Ta

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ATLAN 113 – Die Abenteuer der SOL

Ch’u zögerte nicht für die Zeit eines Lid-schlags. Mit sämtlichen mittelschweren Bordwaffen nahm er das Doppelrad unter Beschuß.

Wirkungstreffer. Jetzt war die Zeit des Schauspiels vorbei.

Gemeinsam stießen die drei befreundeten Teams auf die Station herab. Systematisch nahmen sie alle Vorsprünge und Antennen unter Beschuß.

Mit einer Breitseite der typischen Waffe der Vereiser hatte Urselphyn genau dort die Sonnenoberfläche unter Beschuß genommen, wo der Zapfstrahl der Station auftraf. Der Treffer des Hypervereisers ließ an dieser Stel-le den Atombrand der Sonne schlagartig erlö-schen – nicht für lange, aber die winzige Pau-se reichte aus, die Station von jeglicher Ener-giezufuhr abzuschneiden.

Wehrlos – und wie sich nun zeigte auch waffenlos – war die Umformerstation dem rasenden Beschuß der drei Angreifer ausge-setzt. Ihres wichtigsten Schutzes beraubt, hat-te sie kaum mehr eine Verteidigungsmöglich-keit. Die Erbauer hatten sich leichtfertig dar-auf verlassen, daß die hypnotische Strahlung ihre unfehlbare Wirkung tat.

Dies rächte sich nun bitter.

9. »Ich befehle dir, deinen Racheplan zurück-

zustellen. Mag dies auch der letzte Wille dei-nes früheren Gebieters gewesen sein, ist er nun vorläufig hinfällig. Du wirst die Ausfüh-rung dieser Pläne verschieben müssen, bis ich dir neue Anweisung dazu gebe.«

»Verzeih, aber dies ist nicht möglich.« »Unmöglich? Du magst dieses Wort ken-

nen und gebrauchen. Aber ich ...« »Ich vermag es nicht. Die Vernichtung der

SOL ist unwiderruflich eingeleitet. In unge-fähr einhundert Tagen wird das Schiff in die Dunkelzone hineinrasen, mit halber Lichtge-schwindigkeit – so lautet mein Befehl, so führt mein Diener es aus. Erfrin hat die SOL vollkommen in seiner Gewalt, er wird sie in der Dunkelwolke verglühen lassen. Ich habe nun keine Möglichkeit mehr, in irgendeiner Form Einfluß auf die Geschehnisse zu neh-men.«

»Ich tadele das.« »Der Racheplan muß vollzogen werden.

Was ich nicht abzuändern vermag, wird die Besatzung des Schiffes niemals abzuwenden wissen. Ihr Ende ist vorgezeichnet und nicht mehr aufzuhalten.«

»Es ist also so, daß der Vernichtungsprozeß der SOL nicht abgebrochen werden kann?«

»In der Tat, so verhält es sich.« »Auch ich vermag es nicht. Nicht in meiner

augenblicklichen Verfassung. Nun, es wird sich ein Weg finden lassen.«

»Atlan ist nicht an Bord. Er ist mit zwei Schiffen entkommen. Die Namen dieser Schiffe sind CHYBRAIN ...«

»Ha!« »Sagt dir der Name etwas?« »Es geht dich nichts an. Fahr fort.« »Und FARTULOON.« »Sieh an. Das ist interessant. Er hat ein gu-

tes Gedächtnis – und er ahnt nicht, was er mit dieser Taufe in Wirklichkeit ausspricht. Mag es so sein.«

»Ich werde mich um Atlan und die beiden Schiffe kümmern.«

»Tu das. Ich bin nicht so sehr besorgt um das Schicksal der SOL. Ich kenne diesen At-lan zur Genüge. Ich bin mir sicher, daß er einen Weg finden wird, die SOL unversehrt in das Innere der Dunkelwolke zu führen. Und dort will ich sie haben.«

»Sie ist auf dem Weg dorthin – und sie wird zerstört werden.«

»Laß das meine Sorge sein. Ich werde nachhelfen. Noch verfüge ich über andere Manifeste, die voll funktionstüchtig sind. Ich werde eines davon einsetzen.«

»Kann ich nicht ...?« »Ich weiß deinen Gehorsam zu schätzen,

aber du scheinst mir zur Zeit hilf- und ratlos zu sein.«

»Das täuscht ...« »Nichts und niemand vermag mich zu täu-

schen. Du weißt wohl, wer ich bin.« »Ich weiß es und bin voller Ehrfurcht.« »Bleibe so.«

* Es wurde Zeit, schlafen zu gehen. Der Tag

war voll Mühe gewesen, und ich hatte Ruhe

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bitter nötig – trotz der belebenden Wirkung des Zellaktivators. Außerdem drängte es mich danach, mir die Ereignisse der letzten Tage und Stunden noch einmal zu vergegenwärti-gen.

Der Gang war nur schwach beleuchtet. Wartungsrobots, deren Gestalt an die des Schiffes erinnerte, waren damit beschäftigt, die Schäden zu beheben, die im Innern des Manifests entstanden waren.

Ich suchte eine Kabine auf, die für mich vorbereitet war. Die Einrichtung war kärglich – ein Bett, eine Naßzelle, ein paar Fächer, in denen ich Habseligkeiten verstauen konnte. Vielleicht gab es später Möglichkeiten, eine komfortablere Unterkunft an Bord von TAUPRIN zu finden – oder aber diesem Raum ein wenig Gemütlichkeit zu verleihen.

Ich streckte mich auf dem Bett aus und leg-te die Hände in den Nacken.

Die Ausgangslage war mehr als trübsinnig gewesen. Nahe am Rand der Dunkelwolke stehend, hatten die beiden Beiboote der SOL nur eine Kontaktmöglichkeit mit der SOL gehabt – die telepathische Verbindung Stern-feuer-Federspiel, und dabei war es ein Rätsel, wie sie überhaupt zustande kam. Gucky hatte in Glanzzeiten nur in Ausnahmefällen Licht-jahre zu überbrücken vermocht; vielleicht lag es an einer besonderen Hypermodifizierung der gesamten Galaxis, die wir bislang meß-technisch noch nicht hatten erfassen können.

Was wir wußten, war nicht viel. Die SOL raste ihrem Untergang entgegen.

Wir hatten zwar noch Zeit – etwa einhundert Tage – aber die Rätsel waren nach wie vor groß. Drei der Manifeste, die vermutlich hin-ter allen Schurkenstreichen dieser Galaxis als Werkzeuge, wenn nicht als Urheber zu finden waren, kannten wir. Wir wußten allerdings nach wie vor nicht, wie viele Manifeste es überhaupt gab, geschweige denn, wo sie her-kamen, wer oder war sie geschaffen hatte, was sie eigentlich wollten und dergleichen mehr.

Auch an kleineren Rätseln und Problemen fehlte es keineswegs.

Da war der Impuls von Cpt’Carch aus dem Innern des Galaxiskerns; Federspiel konnte ihn noch immer spüren. Folglich war dort drin Leben möglich, auch wenn es mehr als frag-

lich war, in welcher Form. Ein echtes Problem ganz anderer Art bilde-

ten Barleona und Tyari. Mochten sich andere noch Spekulationen hingeben, mit welchen Gedanken die beiden Frauen sich abgaben, so war mir doch klar, daß sie zum einen an mir interessiert waren und zum anderen in der jeweils anderen eine Nebenbuhlerin sahen. Allerdings war ich mir noch nicht darüber klar, was sich die beiden von meiner Person versprachen – rein um persönliche Dinge ging es dabei mit Sicherheit nicht. Da spielten auch andere Dinge eine Rolle.

Immerhin sorgten die beiden an Bord für Ablenkung und Kurzweil – weniger geduldige Gemüter hätten auch von Unruhe und Eifer-süchteleien gesprochen.

In diesem famosen Durcheinander war uns der offene Funkspruch zunächst kaum aufge-fallen – aber schließlich hatten wir Notiz da-von genommen.

Ein Unbekannter, der sich Tauprin nannte, funkte uns an. Nun, so unbekannt konnte uns ein Wesen mit diesem Namen schwerlich sein – die Endung »rin« gab da einen recht eindeu-tigen Hinweis.

Liebenswürdig warnte uns Tauprin, nicht mit unseren Schiffen in die Dunkelzone zu fliegen; wir würden dies nicht überleben. Al-lenfalls am Rand könnten wir operieren, aber das würde uns nichts helfen.

War schon der Name eine Spur gewesen, so bewies mir die verblüffende Detailkenntnis von Tauprin, daß wir auf der Hut zu sein hat-ten. Nur zu gern hätte ich gewußt, woher Tauprin seine Informationen über uns bezo-gen hatte.

Die nächste Überraschung war die beste – Tauprin schlug vor, daß wir uns seiner bedie-nen sollten. Er sei nicht nur Tauprin sondern auch TAUPRIN – Identität und Schiff in ei-nem. Eine reizvolle Kombination. Ich hatte bereits ich-bewußte Raumschiffe erlebt – Do-lans beispielsweise, und sie waren stets von der unangenehmen Sorte gewesen.

Tauprins letzte Information war eine Mah-nung. Wir sollten uns beeilen – andere seien schon dabei, die TAUPRIN in Besitz zu neh-men.

Es bedurfte keines Logiksektors, um jedem klarzumachen, daß an der Angelegenheit etli-

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ches nicht stimmte – etwas war faul im Staate Dänemark, wie ein alter Freund von mir ein-mal bildkräftig formuliert hatte.

Die Funkpeilung hatte ergeben, daß TAUPRIN etwa zwanzig Lichtjahre von uns entfernt stand, ebenfalls am Rand der Dunkel-zone. Nur ein Katzensprung für unsere Schif-fe – aber ich hütete mich, diesen Sprung zu schnell zu machen.

Auf den Kopf – falls er einen hatte – sagte ich TAUPRIN zu, daß er ein Manifest sei.

Und ich bekam sofort die Bestätigung. In der Tat, er sei das Manifest J, aber entgegen meiner Vermutung und Unterstellung weder böse noch von Anti-Homunk geschickt.

Und das sollte ich glauben. In meinen Augen war TAUPRIN die höf-

lichste und zuvorkommendste Falle, die man sich nur denken konnte – und es gab für mich nicht den geringsten Zweifel daran, daß es sich um eine bösartige Falle handelte. Daran konnten auch die freundlichen Beteuerungen Tauprins nichts ändern, der immer wieder beschwor, daß er nicht im Auftrag von Anti-Homunk unterwegs sei.

(Ein Nebenrätsel war mir, daß Anti-Homunk offenbar die zwerchfellerschütternde Freundlichkeit besaß, sich allenthalben offen-herzig als Anti-Wesen vorzustellen – gleich einem Hochstapler, der bei der Vorstellung die Bezeichnung seines Gewerbes nicht ver-gißt.)

Nach langem Grübeln war ich schließlich zu dieser Schlußfolgerung gekommen:

Es sprach alles dagegen, sich TAUPRIN zu nähern. Es gab nicht einen einzigen brauchba-ren Grund, sich mit dieser fliegenden Fallgru-be zu beschäftigen – jedenfalls keinen, den wir kannten. TAUPRIN erschien mir wie eine offene Mausefalle, die sich freundlich als sol-che zu erkennen gibt und nur einen sehr ange-jahrten Köder als Lockung anbietet.

Irgend etwas mußte an TAUPRIN sein, das das Risiko lohnte, sich mit ihm zu beschäfti-gen – Anti-Homunk konnte doch nicht so dumm sein, diese Falle ohne wirklich brauch-baren Köder zu lassen.

Sanny hatte sich der Sache angenommen. Mit der ihr eigenen Paragabe berechnete sie das Problem TAUPRIN – und kam zu der Lösung, daß es richtig wäre, sich eines Mani-

fests zu bemächtigen. Ich hatte zwar nicht geringe Zweifel, ob es so einfach sein würde, sich eines Manifests zu bemächtigen – zumal sich gerade eines der Manifeste der SOL be-mächtigt hatte und sie in den Untergang steu-erte – aber der Versuchung konnte ich einfach nicht widerstehen.

Es war Eitelkeit, wie mir in dieser Abend-stunde klar wurde – diese Einladung in eine Falle war von so augenscheinlicher Frechheit, daß ich die Herausforderung einfach anneh-men mußte. Der alte Arkonstolz war wieder einmal durchgebrochen.

Nun, es würde sich erweisen müssen, ob diese Entscheidung ein Fehler gewesen war oder nicht – die nächsten Tage schon konnten uns erste Hinweise liefern.

Zudem hatten wir nicht viel Zeit – TAUPRIN hatte versucht, sich selbst dadurch reizvoll zu machen, daß er uns von Mitbe-werbern erzählte. Andere Völkerschaften der Galaxis seien schon damit beschäftigt, sich seiner zu bemächtigen.

Auf die naheliegende Frage, warum TAUPRIN diese Fremden nicht einfach ab-schüttelte, davonflog und zu uns stieß, hatte das Manifest eine sehr widersprüchliche Ant-wort gegeben, die auch den Interpretations-versuchen von Sanny widerstanden hatte. An-geblich war TAUPRIN so defekt, daß es sich nicht von der Stelle bewegen konnte – auf der anderen Seite aber ein unentbehrliches Trans-portmittel für eine Reise in die Dunkelzone.

Wahrhaftig, TAUPRIN hatte unserem Denkvermögen und unserer Gutgläubigkeit allerlei zugemutet.

Wir hatten die Probe aufs Exempel ge-macht – und in der Tat erfreute sich das Mani-fest J bei den Völkern der Galaxis Xiinx-Markant einer außerordentlichen Beliebtheit. Vielleicht lag es daran, daß TAUPRIN sich selbst als nahezu unverwundbar bezeichnet hatte – jedenfalls zankte sich eine mittlere Armada um den Besitz des Schiffes.

In einem Punkt hatte TAUPRIN uns nicht betrogen – das Schiff, das sich uns zeigte, war allein seiner äußeren Form wegen diese Reise wert gewesen. Unwillkürlich hatte ich das Gebilde Schwanenschiff getauft, vor allem wegen des langen biegsamen Halses, und die zahlreichen, wie Schnörkel aussehenden An-

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bauten gaben dem Schiff einen höchst eigen-tümlichen Anstrich.

Daß TAUPRIN uns offen angerufen hatte, daß wir sozusagen seine Wunschmannschaft darstellten – all das hatte die Völkerscharen der Galaxis nicht davon abbringen können, selbst Ansprüche auf TAUPRIN anzumelden. Den ersten zwei oder drei Parteien mochte es wohl noch um den Besitz des Schiffes gegan-gen sein, aber als wir den Ort des Geschehens erreichten, war aus diesem Kampf bereits ein wirres Getümmel geworden.

Die eigentümliche hypnotische Strahlung, die ganz Xiinx-Markant in ein chauvinisti-sches Tollhaus verwandelt hatte, bewirkte beim Kampf um TAUPRIN vor allem eines – jede der beteiligten Parteien brannte auf Kampf, aber keine der Gruppen hatte Interes-se, sich allein gegen den Rest zu stellen. So kampfgierig, daß sie um des Kampfes willen eine verheerende Niederlage eingesteckt hät-ten, war keine der beteiligten Gruppen.

Sollte es zu einem richtigen Kampf kom-men, dann mußten zunächst einmal die jewei-ligen Fronten und Bündnisse klar abgesteckt werden – und das erwies sich als Aufgabe, die zu lösen überaus schwierig war.

Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, den Verhandlungen am Lautsprecher folgen zu können, und ich war manches Mal in Lachen ausgebrochen, wenn sich blitzschnell Koaliti-onen gebildet hatten, die wenige Augenblicke später ebenso schnell wieder zerbrachen.

Zudem waren, wie der rege Beibootverkehr deutlich machte, zahlreiche Geheimbotschaf-ter und Kuriere unterwegs, die Sonderabspra-chen auszuhandeln hatten, Geheimbünde schlossen und eifrig Koalitionen verrieten, die eine Lichtstunde entfernt gerade unter großem Verschwörergetue geschlossen wurden.

Einen makabren Gipfel der Lächerlichkeit erreichte das diplomatische Gezänk in jenem Augenblick, in dem die Beteiligten erkennen mußten, daß sie versehentlich alle miteinan-der verbündet waren und überhaupt kein Feind mehr zum Bekämpfen übriggeblieben war.

Ich hatte gar nicht erst versucht, die wil-lensversklavten Völker darauf aufmerksam zu machen, daß sie mit dieser All-Völker-Koalition den Schlüssel zur Beendigung aller

Zwistigkeiten in der Hand hielten. Der un-freiwillig beschlossene allgemeine Friede war in Windeseile widerrufen, und danach begann das Getümmel von vorne.

Wir hatten uns in die Armada der Habgieri-gen eingereiht und fleißig mitverhandelt; um das Spiel noch zu komplizieren und damit alle Handlungen zu verhindern, hatten wir uns zusätzlich in zwei verfeindete Parteien aufge-teilt, eine dieser Gruppierungen wurde von Barleona, die andere von Tyari angeführt. Und diese beiden verstanden sich auf das Handwerk des Zwistigkeitenverbreitens.

Während nach außen hin alles brutal-kämpferisch abgewickelt wurde – wenigstens nach den Worten – hatte ich in aller Stille ein Beiboot fertigmachen lassen. Eine Enter-mannschaft sollte TAUPRIN aufsuchen.

Sie kam gerade noch rechtzeitig. In dem unersetzlichen, unbeweglichen, un-

verwundbaren Schiff waren zwei Völker ge-rade damit beschäftigt, sich um den Besitz TAUPRIN recht handfest zu raufen und die Inneneinrichtung des Manifests zu zertrüm-mern. Der aberwitzige Kampfzwang, der hier zu tatsächlichen Kämpfen führte, hatte zur Folge, daß TAUPRINS Innenleben teilweise recht ernsthaft beschädigt wurde – der Haupt-antrieb war schon vorher defekt gewesen.

Die folgenden Stunden waren dann außer-ordentlich kurzweilig gewesen – hemmungs-los auf das Ränkespiel der anderen eingehend, hatten wir Bündnisse geschlossen und wider-rufen, mal für diese, mal für jene Partei Hilfe-stellung geleistet. Daß wir dabei mal mit den Vereisern verbündet waren, mal mit den Ardslys, die von Pflanzenwesen abstammten, kümmerte mich wenig – solange unser Ein-satz sich darauf beschränkte, diese beiden Gruppen allmählich aus dem Schiff zu drän-gen.

Und das war uns schließlich auch nach ei-nigem Hin und Her gelungen, wobei wir von Tauprin praktisch keinerlei Hilfe bekommen hatten. Den Ardslys war es gelungen, die Ro-botsysteme der TAUPRIN auszuschalten, damit war das Schwanenschiff wehrlos ge-worden.

Glücklicherweise waren diese Vorgänge draußen unbemerkt geblieben, nur die Mutter-schiffe, von denen die Landungstruppen der

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ATLAN 113 – Die Abenteuer der SOL

Haawer und Ardslys ausgeschickt worden waren, mußten früher oder später mitbekom-men, daß die Enterkommandos gescheitert waren.

Während ich die Ereignisse Revue passie-ren ließ, waren überall im Innern der TAUPRIN Reparaturtrupps an der Arbeit. Die kleineren Schäden konnten relativ leicht repa-riert werden, und irgendwann hatte dann auch wieder der Hauptantrieb funktioniert.

In der Nähe des Schwanenschiffs war es nun ruhig – plötzlich war die ganze Meute abgerückt. Möglicherweise hatte das Mental-Relais versagt oder war abgeschaltet worden, vielleicht gar zerstört.

In jedem Fall gehörte die Tauprin nun uns – oder wir ihm. Das ließ sich so genau nicht bestimmen.

Wir – das umschloß mein Team, dazu zwölf Solaner. Eine hübsche Versammlung von Geiseln, wenn Tauprin ein falsches Spiel mit uns spielte.

Tauprin war nicht müde geworden zu be-teuern, daß er uns helfen wolle, und zeigte Unverständnis für meine Annahme, alle Ma-nifeste müßten Werkzeuge des Bösen sein.

Das war die Lage an diesem Abend – sie ließ mich nicht zur Ruhe kommen.

Über die Telepathie-Brücke Federspiel-Sternfeuer hatte ich Kontakt mit Breckcrown Hayes aufnehmen können; dort war alles un-verändert, es wurde weiter nach Lösungen gesucht. Vielleicht konnten wir mit Tauprins Hilfe eine finden. Klar war mir – und diese Überlegungen wurden von Sanny bestätigt – daß man mich in das Innere der Dunkelwolke locken wollte. Nur dort ließ sich nach meiner Ansicht eine Hilfsmöglichkeit für die bedroh-te SOL finden. In diesem Bereich deckten sich meine Pläne mit denen Tauprins.

Warum aber wollte die TAUPRIN mich dorthin befördern? Sollte der Weg für die SOL freigemacht werden? Sanny vertrat die-sen Standpunkt; geriete die SOL dort in Ge-fahr, käme vielleicht auch Wöbbeking-Nar’Bon nach, und um ihn ging es unserem Feind Anti-ES schließlich.

Was immer ich auch entschied – es blieb ein Wagnis. Erst die Zukunft konnte erwei-sen, ob sich das Risiko auszahlte oder nicht. In unserer bedrängten Lage hatten wir ohne-

hin keine andere Wahl als die, jedes einiger-maßen vertretbare Risiko auf uns zu nehmen.

Vor dem Start der TAUPRIN kehrte ich noch einmal zur CHYBRAIN zurück, wo ich sofort spürte, daß jemand geistigen Kontakt mit mir suchte.

Ich erkannte diesen Jemand sofort. Wöbbeking-Nar’Bon. Rasch teilte ich ihm meine Pläne mit. Die

Antwort war ein wenig enttäuschend – er warnte mich zwar vor diesem Schritt, aber er versuchte nicht, mich davon abzuhalten. Im-merhin kannte er den Gegner entschieden besser als ich.

Und ich fand, daß es an der Zeit war, daß ich mehr über diesen Widersacher erfuhr ...

10.

Der atomare Brand hatte den größten Teil

der Station erfaßt und zehrte ihn auf. Immer wieder wurden Teile des Gebildes von Deto-nationen zerrissen.

Ta Ch’u starrte auf seine Optiken. Die Taster zeigten an, daß es an Bord der

Station kein einziges lebendes Wesen gege-ben hatte – nur eine Ansammlung hochkom-plizierter Technik war es, die da in einem atomaren Glutorkan verging.

»Ich werde versuchen, dort zu landen«, gab Ta Ch’u bekannt.

»Bist du verrückt?« fragte Urselphyn und Grrolph fast gleichzeitig. »Die Station kann jederzeit in die Luft fliegen.«

Ta Ch’u verzichtete darauf, den bildkräfti-gen Vergleich auf die tatsächlichen Verhält-nisse zu reduzieren.

»Ich muß es tun«, sagte er leise. »Ich ver-mute, das ich dort Unterlagen finden kann – möglicherweise kann ich mit diesen Daten meine Abstammung klären.«

»Du wirst jederzeit bei uns willkommen sein«, sagte Urselphyn. Grrolph stieß ein freundliches Brummen aus.

»Jetzt, wo der Alpdruck dieser Strahlung von uns genommen ist, werden auch meine Leute dich gerne bei sich aufnehmen«, sagte der Haawer. »Vielleicht werden wir uns auch wieder auf einem Planeten niederlassen.«

»Ich ziehe es vor, meine Tage mit meines-gleichen zu verbringen«, sagte Ta Ch’u. »Und

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diese Wesen werde ich erst finden müssen. Ich werde auf mich aufpassen.«

Er hatte bereits einen Raumanzug überge-streift. Rasch verließ er sein Schiff und schwebte hinüber zum kompakten Nebenge-bilde des Doppelrads. Dieser Bereich war von den Zerstörungen am wenigstens betroffen – allerdings nicht für lange Zeit. In ein paar Stunden würden von der Station nur noch ausgeglühte Gaswolken übrig sein, die lang-sam auseinanderdrifteten.

»Wir holen dich notfalls heraus!« hörte Ta Ch’u die Stimme des Haawers im Ohrhörer seines Raumanzugs. Die Verständigung klappte einwandfrei.

Von der mentalen Beeinflussung, die diese Station hervorgerufen hatte, war nun nicht mehr das geringste zu verspüren. Ta Ch’u nahm an, daß sie sich an den Randzonen des Sektors bemerkbar machen würde, dort, wo die Strahlung der anderen Stationen in diese Sektion hineinreichte.

Die künstliche Schwerkraft funktionierte noch. Ta Ch’u wunderte sich nicht darüber – die Anlagen zur Erzeugung einer künstlichen Schwere waren bei fast allen Raumkonstruk-tionen sehr sicher untergebracht. Selbst ex-treme Notfälle konnten in normaler Schwer-kraft bewältigt werden – wohingegen selbst Kleinigkeiten sich bei völliger Schwerelosig-keit zu schier unlösbaren Problemen zu stei-gern pflegten.

Durch eine noch intakte Schleuse betrat Ta Ch’u das Innere der Station. Er verzichtete darauf, die Atemluft zu überprüfen – er würde sich nicht so lange aufhalten, um darauf zu-rückgreifen zu müssen. Die Vorräte seiner Rückentanks reichten aus.

Ein Teil der Leuchtkörper funktionierte noch und zeigte die Zeugen einer hochwerti-gen Technik, die Ta Ch’u auf den ersten Blick als fremdartig einstufte – sie gehörte weder zur haawerischen Technologie noch zu der der Ardslys, und die Anlagen erinnerten auch nicht an die Einrichtung seines eigenen Schif-fes. Sie sahen robust und leistungsfähig aus – allerdings verrieten einige Details dem kundi-gen Beobachter, daß diese Station aus ausge-reiften Grundbausteinen letztendlich doch wohl recht hastig zusammengefügt worden war. In einigen Fällen stimmte der Stand einer

Apparatur nicht mit der auf den Boden aufge-druckten Befestigungsschablone überein.

Ta Ch’u nahm es zur Kenntnis, ohne sich zunächst große Gedanken darüber zu machen.

Die Inneneinrichtung zeigte, daß die Stati-on für robotischen Betrieb gedacht war, aber augenscheinlich war es auch möglich, eine biologisch lebende Mannschaft unterzubrin-gen. Ta Ch’u fand regelrechte Kabinen, sogar Spezialunterkünfte für Fremdlebewesen.

Es war natürlich möglich, daß diese Daten nur für diese eine Station zutrafen, aber Ta Ch’u war davon überzeugt, daß sämtliche Stationen in Xiinx-Markant nach diesem Konzept gefertigt worden waren.

Was er suchte, war ein zentraler Datenspei-cher oder doch wenigstens eine Zugriffsmög-lichkeit auf den Kernspeicher. Er brauchte einige Zeit, bis er ihn fand.

Es war schwierig, an die Unterlagen heran-zukommen. Zum einen waren sie doppelt und dreifach gesichert, und es bedurfte der gesam-ten Listenvielfalt Ta Ch’us, diese Sperren auszutricksen. Das nächste Problem ergab sich aus einer ungeheuren, unsystematischen Datenfülle – da die richtigen Informationen zu finden, war außerordentlich schwierig.

Das, was Ta Ch’u in Erfahrung bringen konnte, brachte ihn zu der schrecklichen Vermutung, daß irgendwelche Mächte im Innern der Galaxis den Beeinflussungsstrahl aussandten und an die Mental-Stationen ver-teilten. Ziel dieser ganzen Operation war es, aus zahllosen kleinen und großen Scharmüt-zeln, Schlachten und Kriegen schließlich ein Volk auszusieben – und die Angehörigen die-ses Volkes sollten dann die Ehre haben, für die Interessen der Machthaber von Xiinx-Markant kämpfen zu dürfen.

Leider fand Ta Ch’u für dieses ungeheuer-liche, verbrecherische Vorhaben nur Vermu-tungen und Hinweise; sie waren recht eindeu-tig und brauchbar, aber es waren keine Be-weise – zumal es keinerlei Informationen dar-über gab, wie die geheimnisvollen Machtha-ber von Xiinx-Markant aussahen.

Es war für viele Völker der Galaxis sicher-lich einer Überraschung, daß sie längst aus der Ferne beherrscht wurden, während sie selbst sich als mächtig und selbstbestimmend wähnten. Hypnotisch verblendet in aggressi-

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vem Machtwahn, waren sie nicht mehr als unfreiwillige Sklaven und Werkzeuge in den Händen Skrupelloser.

Dieses gräßliche Ausleseverfahren schien neuen Datums zu sein; das bewies unter ande-rem die große Zahl der Völker, die diesem Prozeß unterworfen wurden. Nach den Unter-lagen in der Station wurde in größeren Zeit-räumen von dort aus nachgeforscht, was aus den Beteiligten geworden war.

Unermüdlich ging Ta Ch’u die Reihe der Völker durch, die in diesem Sektor von Xiinx-Markant betroffen waren. Es waren deren etliche, darunter eine ganze Reihe, die ihren Planeten bislang noch nicht verlassen hatten und daher mörderische Bruderkriege innerhalb der eigenen Spezies führten.

Das Volk aber, dem Ta Ch’u zuzuordnen war, fand sich in dieser Aufzählung nicht.

Ta Ch’u schaffte es nicht, die entsprechen-den Datenunterlagen vollständig durchzumus-tern. Das heftige Vibrieren des Bodens und die immer drängender werdenden Rufe der Freunde in seinem Helmgerät ließen ihn schließlich abbrechen.

Er sah zu, daß er dem Untergang der Stati-on entkam.

Es war ein Anblick, der schmerzte – ein von düsterer Glut durchzogenes Stahlgerippe, das sich langsam durch den Raum wälzte. Immerhin steckte in diesem technischen Ge-bilde eine Menge Arbeit und Schweiß, von wem auch immer. Viel Energie war für einen unwürdigen, ja verbrecherischen Zweck ver-schwendet worden. Mit dem gleichen Auf-wand hätte man eine planetare Wetterkontrol-le einrichten, ein Volk von der Geißel witte-rungsabhängiger Nahrungsmittelversorgung befreien können.

Ta Ch’u ließ das kleine Raketentriebwerk seines Raumanzugs mit aller Kraft arbeiten. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die ganze Station auseinanderflog.

Als er sein Schiff erreichte, hörte er als ers-tes die drängenden Stimmen der Bordpositro-nik. Auch sie mahnte zur Eile.

Ta Ch’u behielt den Raumanzug an, als er in die Zentrale zurückhastete. Unterwegs gab er Ineptus die ersten Anweisungen, und das Perlenschiff nahm Fahrt auf. Es entfernte sich von dem Wrack der Transformatorenstation.

»Paß auf, Ta Ch’u. Wir haben die restlichen Raumtorpedos umprogrammiert. Sie haben jetzt die Station als Ziel.«

»Ich habe verstanden.« Er hatte bereits einen ausreichenden Si-

cherheitsabstand erreicht, als die Geschosse ihr Ziel fanden. In einer grellen, rasch verwe-henden Explosion verschwand die Station.

»Jetzt sind wir frei«, sagte Urselphyn. »Niemand kann uns jetzt mehr dazu zwingen, aufeinander loszugehen – jetzt können wir Freunde werden. Haawer und Ardslys und alle anderen Völker in unserer Nähe.«

»Hoffen wir es«, sagte Ta Ch’u. »Leider gibt es auch ohne solche Stationen genügend Neid und Haß zwischen Völkern, aber das soll uns nicht daran hindern, alles zu tun, die-sen Zwist abzubauen.«

»Was unternehmen wir jetzt?« fragte Grrolph.

»Zurück zu dem Ort, von dem aus wir ge-startet sind«, sagte Urselphyn. »Ich bin ge-spannt auf das Bild, das sich uns bieten wird.«

*

»Ich glaube es einfach nicht«, stieß Ur-

selphyn hervor. »Verschwunden, spurlos verschwunden«,

staunte Grrolph. Ta Ch’u lächelte zurückhal-tend.

Von der beträchtlichen Armada, die sich in der Nähe des TAUPRIN-Standorts getummelt hatte, war nun nichts mehr zu sehen – ein wrackes Beiboot ausgenommen, das leer und ausgebrannt durch den Raum torkelte. Es ge-hörte zu keinem Schiffstyp, den einer der drei kannte.

»Wohin mögen die alle verschwunden sein?« fragte Urselphyn.

»Wahrscheinlich sind sie inzwischen aus ihren kriegerischen Träumen erwacht und haben die Realität begriffen. Wahrscheinlich sind sie in ihre heimatlichen Stützpunkte zu-rückgekehrt.«

»Und TAUPRIN?« »Offenbar war das Manifest nicht ganz so

unbeweglich, wie es angegeben hat«, sagte Ta Ch’u.

Er überlegte ein paar Augenblicke. »Vielleicht können wir herausfinden, was

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mit TAUPRIN passiert ist«, überlegte er schließlich halblaut. »Die Unterhaltung in diesem Raumbezirk wurde über Normalfunk geführt. Wenn wir uns vom Zentrum des Ge-schehens entfernen, können wir je nach Dis-tanz die Gespräche der Vergangenheit abhö-ren. In vier Lichtstunden Entfernung also den Text, der vor vier Stunden gesendet worden ist.«

»Vier Lichtstunden sind eine beträchtliche Entfernung«, gab Urselphyn zu bedenken. »Die Impulse werden sehr schwach sein.«

»Die Verstärker an Bord meines Schiffes sind leistungsfähig genug, sie aufzufangen und wieder verständlich zu machen.«

Die drei Schiffe setzten sich in Bewegung und führten den Plan von Ta Ch’u aus.

Seine Kalkulation erwies sich als richtig. Tatsächlich waren in den Empfängern Laute zu hören, die eindeutig einem Gespräch zwei-er Lebewesen zuzuordnen waren.

Da es aber zumal in den letzten Stunden of-fenbar keinerlei Funkdisziplin gegeben hatte, waren viele verschiedene Stimmen zu einem recht wirren Klangbrei zusammengeflossen. Zudem machten sich unangenehme Streu-strahlungen bemerkbar.

Daher konnte Ta Ch’u seinen Gefährten keine Schallaufzeichnung mit klar verständli-chen Worten anbieten, sondern nur eine po-sitronische Auswertung, die teilweise rekon-struiert war – mit allen Fehlern, die dieses Verfahren mit sich brachte.

»Das ist der Stand der Dinge. Der Fremde hat sich das Schiff geholt – eben jenes Wesen, das TAUPRIN die ganze Zeit über hergelockt hat. Atlan ist mit zwei Schiffen gekommen und hat wohl die Landekommandos von Bord jagen können. Die Textauswertung ergibt ein-deutig, daß es dabei keine Verluste gegeben hat – das gilt sowohl für die Haawer als auch für die Ardslys.«

Grrolph stieß einen deutlich hörbaren Seuf-zer aus. Er war sichtlich erleichtert.

Ein Zwischenfall dieser Art war das letzte, was die beiden Völker nun brauchen konnten; er hätte jede Verständigung erschwert, wenn nicht für geraume Zeit unmöglich gemacht.

»Und TAUPRIN?« Ta Ch’u deutete auf den Schirm, auf dem

Ineptus das Ergebnis seiner Auswertungen

darstellte. »TAUPRIN ist mit Atlan davongeflogen,

mit unbekanntem Ziel«, sagte Ta Ch’u. »Ich glaube, wir sollten den Gedanken an das selt-same Manifest-Schiff aufgeben. Es sind für meinen Geschmack zu viele Geheimnisse und Rätsel damit verbunden.«

»Gut, daß wir uns darum nicht mehr zu streiten brauchen«, ergänzte Urselphyn. Grrolph lachte breit.

»Ich schlage vor, daß wir uns nun auf den Weg machen«, sagte Ta Ch’u. »Besuchen wir zunächst Ardsly-Fandahar!«

Die drei Schiffe machten sich auf den Weg. Ta Ch’u führte den kleinen Pulk an. Die ge-nauen Koordinaten der Welt hatte er von Ur-selphyn bekommen.

Der Flug nahm nicht viel Zeit in Anspruch, das System lag recht nahe bei TAUPRINS früherem Standort.

Die Sonne, die den Planeten beschien, war alles andere als ein Wärmeriese; sie lag zwar nicht im Sterben – aber durch irgendwelche hyperphysikalischen Umstände war das Son-nenfeuer schwächer und schwächer geworden und drohte nun gänzlich auszugehen. Eine rasche positronische Auswertung von Ineptus erbrachte das Ergebnis, daß den Ardslys noch knapp ein Jahrtausend blieb – danach würde die Sonne so wenig Wärme abgeben, daß auf dem Planeten Leben in der bekannten Form keine Grundlage mehr finden konnte.

»Grrolph – kann man eure Geheimwaffe eigentlich auch umpolen?« erkundigte sich Ta Ch’u bei dem Haawer.

»Umpolen? Wie meinst du das?« »Der Hypervereiser bringt doch alle chemi-

schen Prozesse, sogar die atomaren zum Er-liegen, wenn er eingesetzt wird. Ist es nicht möglich, Dinge damit gleichsam aufzuhei-zen?«

Über das breite Gesicht des Vereisers flog ein Lächeln.

»Wir haben es nie versucht«, sagte er. »Jetzt scheint mir der Zeitpunkt dafür ge-kommen.«

»Gib die Konstruktionsdaten auch an mei-nen Rechner weiter – vielleicht finden wir zusammen eine Lösung.«

»Und bis dahin bleiben wir in einem Um-lauf um die Sonne«, schlug Urselphyn vor.

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»Und zwar so, daß man uns von Ardsly-Fandahar aus nicht orten kann.«

Die drei so verschiedenen Wesen kamen sich vor wie ein paar Lausbuben, die einen Streich ausheckten, und dem Rest der Mann-schaften ging es nicht anders.

Mit unglaublichem Eifer machten sich alle an die Arbeit. Dank der Hilfe von Ineptus, der sich als Positronik von Format erwies, war die erste Versuchsreihe binnen weniger Stunden fertig.

»Jetzt wird es sich zeigen«, sagte Grrolph. »Ich habe nur Angst, daß wir den atomaren Funken dieser Sonne vollends zum Erlöschen bringen, wenn das Experiment danebengeht.«

»Ausgeschlossen«, wehrte Ta Ch’u ab. »Ich habe es durchgerechnet – so wirkungsvoll der Hypervereiser als Waffe auch ist, verglichen mit einer Sonne ist seine Wirkung sehr schwach.«

»Ich hoffe, du irrst dich nicht«, murmelte Grrolph. »Urselphyn, ich möchte, daß du mir den Befehl gibst zu dem Experiment.«

»Führe es aus!« Einen einzigen Schuß aus dem umgebauten

Hypervereiser gab Grrolph ab. Ta Ch’u brauchte nur einen Blick auf die

Instrumente zu werfen, die den Vorgang elektronisch verfolgten, und er wußte genug.

Die Waffe wirkte in dieser Form. Sie heizte den Kernverschmelzungsprozeß wieder auf. Unmerklich zwar, nur für feine Meßinstru-mente erfaßbar – aber immerhin erfaßbar.

Was das bedeutete, war jedem der Beteilig-ten klar.

Ein erweitertes und vergrößertes Modell des Hypervereisers in seiner modifizierten Form mußte gebaut und auf Ardsly-Fandahar installiert werden. Dann war es nötig, die sterbende Sonne unter Dauerbeschuß zu neh-men. Auch wenn sich pro Jahrhundert das Niveau der Energieerzeugung im Innern der Sonne nur unmerklich hob, reichte das doch auf lange Sicht aus, den Ardslys wieder zu einem Planeten zu verhelfen, auf dem zu le-ben eine Freude sein konnte, nicht nur Mühsal und Plage.

An Bord der beiden Schiffe brach lauter Jubel aus. Ta Ch’u sah es mit stillem Lächeln. Ihn erfreute es, daß der Überschwang der Haawer hinter der Euphorie der Ardslys nicht

zurückstand. Wer die überschwengliche Freu-de dieser Wesen sah, der vermochte nicht zu begreifen, wie es möglich war, diese Völker in kriegerischer Wut aufeinander zu hetzen.

»Jetzt können wir heimkehren«, sagte Ur-selphyn. »Mit einem so kostbaren Geschenk, wie es in dieser Galaxis noch keines gegeben hat.«

»Mit mehr als einem Geschenk«, sagte Ta Ch’u. »Ihr bringt nicht nur den verbesserten Hypervereiser – ihr bringt eurem Volk vor allem auch Frieden. Ich weiß nicht, ob es im ganzen Kosmos noch ein größeres Geschenk für ein lebendes Wesen geben kann.«

»Niemals«, sagten Grrolph und Urselphyn gleichzeitig.

Die Schiffe verließen die Umlaufbahn und nahmen Kurs auf den eisüberkrusteten Plane-ten, über dessen Oberfläche lebensverheeren-de Stürme tobten. Und doch hatte sich das Leben in einer seiner vielfältigen Formen selbst auf diesem unwirtlichen Planeten halten und weiterentwickeln können.

Die neuen Freunde waren außer sich vor Freude.

Sie bemerkten nicht, daß Ta Ch’u sein Schiff ein wenig verzögern ließ und aus dem Dreierpulk ausscherte.

Auf neuem Kurs nahm das Perlenschiff Fahrt auf.

Ta Ch’u spürte einen tiefen Schmerz. Er wußte, daß man auch ihn dort unten freudig begrüßt hätte – aber es waren nicht die We-sen, nach deren Begrüßung er sich sehnte.

Die Freude der anderen würde sich bei ihm in den bitteren Schmerz der Einsamkeit ver-wandeln.

Der Tausch, den Ta Ch’u in wenigen Tagen vollzogen hatte, war zweischneidig.

Der speiende Knurpsel, der ständig plap-pernde eitle Kriegsknabe, der nur seine elekt-ronischen Waffenspiele kannte, hatte zumin-dest einen großen Vorteil gehabt – die bittere Notlage der Einsamkeit war seinem Gemüt fremd gewesen.

Ta Ch’u, der Erwachsene, hatte die Ver-antwortung für sich und sein Leben in die eigenen Hände gelegt – und er wußte, was es hieß, allein zu sein.

Ta Ch’u lächelte, als das Perlenraumschiff in den Hyperraum eindrang und das System

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der Ardslys hinter sich ließ.

Auch dieses Problem würde er meistern. Wie hatten ihn seine Eltern getauft? Ta Ch’u – das hieß »Die Zähmung der

Großen Kräfte«. Der Name enthielt für Ta

Ch’u eine Art Aufforderung. Er war gewillt, sie anzunehmen.

ENDE

Weiter geht es in Band 114 der Abenteuer der SOL mit:

Die Gedächtnis-Löschung von Peter Griese

Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2008, eine Lizenzausgabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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