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DIE NATHRWISSENSCHAFTEN x9. Jahrgang 2L August x93I Heft 34 Das Kausalproblem in der Physik. Von HANS REICItENBACtt, Berlin. Der Ubergang yon der Vorstetlung strenger gesetzlicher Binduiig der Einzelereignisse zur statistischeii Gesetzlichkeit yon Massenerschei- IIungeli, wie er sich in der gegeiiwiirtigen Physik vollzieht, wird ,con vielen Ms Verletzung einer grunds~itzlichen Forderulig der kltereii Wissen- schaft, sozusagen als Begilin einer revolution~iren Epoche in der Physik angesehen. Das Schlagwort yon eiiier Krisis naturwissenschaftlicher Forsehung hat sich verbreitet; manche glauben wohl gar, dab der Bruch mit der kIassischen Tradition physikali- scher Forschung, der sich nach ihrer Meinung bier votlzieht, einen Verzicht auf Erkenntnis im eigentlichen Sinne, eine Auslieferung der exakten Gesetzesforschung an die Ullexakten Methoden ether Zufallsverkniipfung yon Naturerscheinungen bedeiitet. Nun ist es zwar richtig, dab sich in der gegen- w~irtigen Physik, und besonders in ihrem jiiligsten TheoriengeMiude, der Quanteiimechanik, eine Abwandlung des Gesetzesbegriffes vollzieht, die dem l~lbergang yon der strengen GewiBheit zur W'ahrscheinIichkeit entspricht; unrichtig ist es jedoch, wenn man in dieser Eiitwickiiing einen Bruch mit bisherigen Erkenntnismethoden, eine Unstefigkeitsstelle der historischen Entwicklung physikaliseher Forschung erblickt. Denn es zeigt sich bet nStlerer Betrachtung, dab die Massische Physik bereits denjenigen Grundbegriif als wesent- lichen Bestandteil enth~It, der jetzt in der Quaiiten- mechanik als Grundbegriff der Gesetzlichkeit herausgetreten ist, den Wahrscheinlichkeitsbegr#], und dab der l)bergang zur Wahrscheinlichkeits- gesetzlichkeit der Quantenmechanik nichts Ms eine stetige Weiterfiihrung yon Begriffsbildungen be- deutet, die in der klassischen Physik bereits aui- treten und dort nur dureh eine ungenaue Inter- pretation verdeckt wurdeii. Die Erkelmtnis dieser Zusammenh~nge sefzt freiIich eine genanere natur- philosophische Untersuchung physikalischer Er- kelintnismethoden voraus, als sie in der bisher herrschenden Schulphilosophie entwickelt worden ist; aber da wit seit einiger Zeit eiiie neue Natur- philosophie besitzen, die sich aus einem Zweig mathematischer nnd physikalischer Forsehniig heraus entwickelt hat, silid wir in der Lage, eille derartige Untersuchung geben zu kSnnen. Dabei stellt sich ein besonders glfickliches Zusammen- treffen heraus, welches die Durchfiihrung dieser ~;berlegungen aul3erordentlich erieichtert. Delm in den Untersuchungen, die yon dieser Richtung her zum Kausalproblem gemacht wordeii sind, is~ voii vornherein dem Kausalbegriff der klassi- schen Physik diejenige Form gegeben worden, yon Nw. 193x der jetzt die Quantenmechanik Gebrauch macht; insbesondere ist die yon der Quantenmechanik benutzte Verallgemeinerung des Gesetzlichkeits- begriffes dort schoii friiher Ms eine m6gliche Er- weiterung vorausgesehen worden. Wenn M. SCHLICK ktirzlich an dieser Stelle~ die Ansicht ausgesprochen hat, daB die empirische Forschung in der Krifik des Kausalbegriffs zu wesentlich all- gemeineren Formen des Erkennens aufgestiegen ist, als die Philosophen sie sich jemals ausgedacht haben, so stimme ich diesem Gedanken gewiB gem zu, soweit er die Schulphilosophie betrifft; wenn aber in bezug auf die Arbeiten der neueren nafur- philosophischen Richtung die Situation wesentlich anders liegt, so scheint mir dies ein so erfreuliches Argument zugunsten der Zusammenarbeit yon Fachwissenschaft und Naturphilosophie zu sein, dab ich diese Tatsache bier gleich zu Beginn meiner Darlegungen erw~ihnen mSchte. Die ge- nauere Begrtindung wird aus dem iolgenden hervor- gehen (vgt. besonders Abschnitt III). I. Das erste Auftreten des Wahrscheinlichkeits- begriffes in der Physik erfolgte bereits vor einem Jahrhundert. Und zwar trat der Wahrsehein- lichkeitsbegriff bier an zwei ganz verschiedenen Stellen auf: einerseits in der Fehlertheorie, die zuniichst fiir astronomische und geod~tische Messungen, weiterhin abet ebeiiso ffir physikalische NIessungen anderer Art angewandt wurde, lind andererseits in der ldnefischen Theorie der Gase und Fliissigkeiten, wo er durch die stafistische Auf- kl~rung des zweiten W~rmesatzes seine bertihmteste Anwendung land. DaB man damals den priiizipiel- len Charakter dieser Entwicldung nicht erkannte, auch nicht erkannte, dab es dieselbe Forteiitwick- lung des Kausalbegriffes war, die an diesen beiden ganz verschiedenen Stellen einsetzte, hat seinen Grund in dem allzu z~hen Festhatten eines Ideal- biIdes yon physikalischer Wissenschaft, das man nich± preisgeben wollte; eben des Idealbildes, dem yon der heutigen Quantenmechanik nunmehr der letzte und schwerste StoB versetzt worden ist. Freilich lagen die Dinge so, dab das Durchschauen dieser Zusammenh~nge den Physikern nicht gerade leicht gemacht worden war, zumal die Philosophie sie damals ganz im Stich lieB. Was zun~chst das erstgenannte Auftreten des Wahrscheinlichkeitsbegriffes betrifft, so sehien es bier verh~ltnism~Big leicht, das Idealbild strenger x 3/L SCHI.ICK,Die Kausalit~t in der gegenw~rtigen Physik. Naturwiss. I9, I45 (I931). Diese Arbeit set im fotgenden als K. g. Ph. zitiert. 56

Das Kausalproblem in der Physik

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Hans Reichenbach

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DIE NATHRWISSENSCHAFTEN x 9. Jahrgang 2L August x93I Heft 34

Das Kausalproblem in der Physik. Von HANS REICItENBACtt, Ber l in .

Der Ubergang yon der Vorstetlung strenger gesetzlicher Binduiig der Einzelereignisse zur statistischeii Gesetzlichkeit yon Massenerschei- IIungeli, wie er sich in der gegeiiwiirtigen Physik vollzieht, wird ,con vielen Ms Verletzung einer grunds~itzlichen Forderulig der kltereii Wissen- schaft, sozusagen als Begilin einer revolution~iren Epoche in der Physik angesehen. Das Schlagwort yon eiiier Krisis naturwissenschaftlicher Forsehung hat sich verbreitet; manche glauben wohl gar, dab der Bruch mit der kIassischen Tradition physikali- scher Forschung, der sich nach ihrer Meinung bier votlzieht, einen Verzicht auf Erkenntnis im eigentlichen Sinne, eine Auslieferung der exakten Gesetzesforschung an die Ullexakten Methoden ether Zufallsverkniipfung yon Naturerscheinungen bedeiitet.

Nun ist es zwar richtig, dab sich in der gegen- w~irtigen Physik, und besonders in ihrem jiiligsten TheoriengeMiude, der Quanteiimechanik, eine Abwandlung des Gesetzesbegriffes vollzieht, die dem l~lbergang yon der strengen GewiBheit zur W'ahrscheinIichkeit entspricht; unrichtig ist es jedoch, wenn man in dieser Eiitwickiiing einen Bruch mit bisherigen Erkenntnismethoden, eine Unstefigkeitsstelle der historischen Entwicklung physikaliseher Forschung erblickt. Denn es zeigt sich bet nStlerer Betrachtung, dab die Massische Physik bereits denjenigen Grundbegriif als wesent- lichen Bestandteil enth~It, der jetzt in der Quaiiten- mechanik als Grundbegriff der Gesetzlichkeit herausgetreten ist, den Wahrscheinlichkeitsbegr#], und dab der l)bergang zur Wahrscheinlichkeits- gesetzlichkeit der Quantenmechanik nichts Ms eine stetige Weiterfiihrung yon Begriffsbildungen be- deutet, die in der klassischen Physik bereits aui- t reten und dort nur dureh eine ungenaue Inter- pretation verdeckt wurdeii. Die Erkelmtnis dieser Zusammenh~nge sefzt freiIich eine genanere natur- philosophische Untersuchung physikalischer Er- kelintnismethoden voraus, als sie in der bisher herrschenden Schulphilosophie entwickelt worden ist; aber da wit seit einiger Zeit eiiie neue Natur- philosophie besitzen, die sich aus einem Zweig mathematischer nnd physikalischer Forsehniig heraus entwickelt hat, silid wir in der Lage, eille derartige Untersuchung geben zu kSnnen. Dabei stellt sich ein besonders glfickliches Zusammen- treffen heraus, welches die Durchfiihrung dieser ~;berlegungen aul3erordentlich erieichtert. Delm in den Untersuchungen, die yon dieser Richtung her zum Kausalproblem gemacht wordeii sind, is~ voii vornherein dem Kausalbegriff der klassi- schen Physik diejenige Form gegeben worden, yon

Nw. 193x

der jetzt die Quantenmechanik Gebrauch macht ; insbesondere i s t die yon der Quantenmechanik benutzte Verallgemeinerung des Gesetzlichkeits- begriffes dort schoii friiher Ms eine m6gliche Er- weiterung vorausgesehen worden. Wenn M. SCHLICK ktirzlich an dieser Stelle~ die Ansicht ausgesprochen hat, daB die empirische Forschung in der Krifik des Kausalbegriffs zu wesentlich all- gemeineren Formen des Erkennens aufgestiegen ist, als die Philosophen sie sich jemals ausgedacht haben, so stimme ich diesem Gedanken gewiB gem zu, soweit er die Schulphilosophie betrifft; wenn aber in bezug auf die Arbeiten der neueren nafur- philosophischen Richtung die Situation wesentlich anders liegt, so scheint mir dies ein so erfreuliches Argument zugunsten der Zusammenarbeit yon Fachwissenschaft und Naturphilosophie zu sein, dab ich diese Tatsache bier gleich zu Beginn meiner Darlegungen erw~ihnen mSchte. Die ge- nauere Begrtindung wird aus dem iolgenden hervor- gehen (vgt. besonders Abschnitt III) .

I. Das erste Auftreten des Wahrscheinlichkeits-

begriffes in der Physik erfolgte bereits vor einem Jahrhundert . Und zwar t ra t der Wahrsehein- lichkeitsbegriff bier an zwei ganz verschiedenen Stellen auf: einerseits in der Fehlertheorie, die zuniichst fiir astronomische und geod~tische Messungen, weiterhin abet ebeiiso ffir physikalische NIessungen anderer Art angewandt wurde, lind andererseits in der ldnefischen Theorie der Gase und Fliissigkeiten, wo er durch die stafistische Auf- kl~rung des zweiten W~rmesatzes seine bertihmteste Anwendung land. DaB man damals den priiizipiel- len Charakter dieser Entwicldung nicht erkannte, auch nicht erkannte, dab es dieselbe Forteiitwick- lung des Kausalbegriffes war, die an diesen beiden ganz verschiedenen Stellen einsetzte, hat seinen Grund in dem allzu z~hen Festhatten eines Ideal- biIdes yon physikalischer Wissenschaft, das man nich± preisgeben wollte; eben des Idealbildes, dem yon der heutigen Quantenmechanik nunmehr der letzte und schwerste StoB versetzt worden ist. Freilich lagen die Dinge so, dab das Durchschauen dieser Zusammenh~nge den Physikern nicht gerade leicht gemacht worden war, zumal die Philosophie sie damals ganz im Stich lieB.

Was zun~chst das erstgenannte Auftreten des Wahrscheinlichkeitsbegriffes betrifft, so sehien es bier verh~ltnism~Big leicht, das Idealbild strenger

x 3/L SCHI.ICK, Die Kausalit~t in der gegenw~rtigen Physik. Naturwiss. I9, I45 (I931). Diese Arbeit set im fotgenden als K. g. Ph. zitiert.

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Gesetzlichkeit gegenfiber dem Anspruch der \Vahr- scheinlichkeit zu verteidigen. Die Fehtertheorie wurde yon vornherein als eine Angelegenheit der Beobachtungsgenauigkeit gedeutet, hervorgerufen durch kleine Schwankungen der benutzten Appara- turen und durch den Schwellencharakter der menschlichen Sinneswahrnehmung. Das Reich des Wahrscheinlichkeitsbegriffs erschien damit aul das schmale Intervall der Genauigkeitsregulation besehr~nkt; auBerhalb dieses Intervalles schien strenge Kausalit~it in klassischem Sinne zu geltem Und zugleich schien auch innerhMb des schmalen Intervalles der V~Tahrscheintichkeitsbegriff nnr dem Unverm6gen menschlieher Beobachtungs- kunst seine Herrschaft zu verdanken; ein idealer Beobachter wfirde, so glaubte man, den Wahr- scheinlichkeitsbegriff auch hier entbehren k6nnen, LAPLACe, mit Gauss der hervorragendste Be- grfinder der Fehlertheorie, hat selbst diesem Ge- danken die bekmmteste Fassung gegeben in seinem Bild eines idealen Naturforschers, der das zu- kfinftige Geschehen ohne Benutzung des Wahr- scheinlichkeitsbegriffs mit absotuter Sicherheit v.or- aussagt; er hat diesen Gedanken gerade in seinem ,,Philosophischen Versuch fiber die Wahrschein- Iiehkeiten" ver6ffentticht I u n d damit den proviso- rischen, auI das Beobachtungstechnische be- schriinkten Charakter des Wahrseheinlichkeits- begriffs zum Ausdruck bringen wollen.

Sct~vieriger stand es bereits in der Gastheorie. Hier war der Wahrscheinlichkeitsbegriff nicht mehr auf die Auswertung yon Beobachtungen be- sehr~nkt, hier war er vielmehr in die Formutierung eines physikalischen Gesetzes selbst eingezogen; der zweite Hauptsatz, den man vorher ebenso wie den ersten Hauptsatz aIs ein I£ausalgesetz im strengen Sinne angesehen hatte, war in ein \¥ahrscheinlich- keitsgesetz verwandelt worden. Manehe haben wohl damals bereits den Gedanken ausgesprochen, dab das gleiche SchicksaI einmal auch den ersten mauptsatz, ja vietleicht atle Kausalgesetze be- treffen k6nnte~; andere aber, und wohl die meisten Physiker, haben sich zu einer Anerkennung des \¥ahrscheinlichkeitsbegriIfs ats eines zur Biausalit~t gleichberechtigten Begriifs nicht entschliel3en k6n- nen und versucht, aueh in der Gastheorie dem ~Vahrscheinlichkeitsbegriff eine nu t provisorische Rolle zuzmveisen. In der Ta t semen die M6glich- keit gegeben, flit das Auftreten dieses Begriffs in der Gastheorie eine ghnliche ErkI~rung zu geben, wie man sie seit LAPI~ACE ffir die Fehtertheorie l~ingst angenommen hatte. Die genaue Ermit t lung

P. S. LAPLACE, Essai philosophique sur les pro- babilit6s. Neuausgabe bei Gauthier-Villars, Paris 192z, S. 3.

2 Es dfirite heute kaum noch zu ermitteln sein, wer diesen Gedanken zuerst ausgesprochen hat. Die yon SC~IROEDING~R, Naturwiss. 17, IO (1929), zitierte Erw~hnung dieses Gedankens bei EXN~R, ,,Vorlesun- gen fiber die physikalischen Grundlagen der Natur- wissenschaiten I919, S. 7Ol '', erfolgte erst zn einer Zeit, Ms der Gedanke an diese M6glichkeit schon seit De- zennien Gemeingut aller Physiker war.

der Anfangstagen fiir die Gasmolekfile eines Systems, ebenso die Durchrechnung der un- geheuren Anzahl ihrer Bahnen ist eine Aufgabe, welche menschlieher Kunst immer versagt sein wird; und so konnte man auch hier das statisfische Gesetz als eine Aushilfe mensehlicher Unvoll- kommenheit ansehen und an der Fiktion fest- halten, dab die Vorg~inge ira Innern des Gases ,,an sich" naeh streng kausalen Gesetzen verlaufen, dab also auch hier wieder der ideale Naturforscher die Statistik entbehren k6nne und z. B. auch yon ~OLTZMANNS Dentung des zweiten Hauptsatzes keinen Gebrauch machen wfirde. Auch BOLTZMANN selbst hat sieh wohl bei dieser Vorstellung be- ruhigt, wie seine mehriachen Versuche zeigen, sein statistisches Yrinzip als Folgernng der mechani- schen Grundgesetze nachzuweisen; Ireilich sind ihm wie allen spiiteren diese Versuche hie gegliickt.

Trotz dieser Versuche zur Rettung des kausalen Weltbildes sind schon immer einzelne Stimmen dagewesen, welche sich mit der interimistischen Deutung des Wahrseheinliehkeitsbegriffs nicht zufrieden gaben. Der entscheidende Einwand, der sich gegen jede subjektive Wahrseheinliehkeits- theorie, die den Wahrscheinlichkeitsbegriff als eine Angelegenheit der menschlichen Unvollkommen- heir hinstellt, erheben l~l~t, ist der Hinweis darauf, dab sich die Wahrscheinlichkeitsgesetze in der objektiven VCelt Ms H~ufigkeitsgesetze bewiihren. \ ¥enn der Wahrscheinlichkeitsansatz lediglich aus mensehlieher Unvollkommenheit entspringt, so ist nicht einzusehen, warum die Natur sich nach seinen Forderungen richter. Wenn man fiber die Anfangs- lagen der Molekfile und ihre Bahnen niehts weiB, so l~gt sich auch nichta fiber die Zukunft des Gas- systems voraussagen; es w~tre vollst~indig un- begrfindet, in diesem Falle auel, nut Wahraehein- l@hkeitsaussagen zu machen, denn man kann nicht erwarten, dab die Natur auf die menschliche Un- ~dssenheit in derart weitgehendem MaBe Rfick- sicht n immt und voraussehbare t~rscheinungen lielert, obgleich wir die Anfangsbedingungen dieser Erscheinungen nicht kennen. Wenn die Tatsache der doch sehr prRzisen Geltung statistischer Ge- setze verst~ndlich sein soll, so muB in diesen Ge- setzen ein objektiver Grundzug des Naturgesche- hens erfal3t sein, genau so gut wie in den kausalen Gesetzen. Der franz6sisehe Mathematiker COORNOT hat schon in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhundert~ diesen Gedanken ausgesprochen und der LAPt.ACEschen Vorstetlung des idealen Natur- forsehers die Erwiderung gemacht, dab dieser Idealmensch keineswegs auf die statistischen Ge- setze verzichten wfirde, sondern vielmehr neben einem hervorragenden Mechaniker auch ein hervor- ragender Wahrscheinlichkeitsmathematiker w~ire, und uns in der Anwendung der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung genau so fiber- treffen wfirde, wie in der Anwendung der Diiferen- tialgleichungen der ]3ewegung 1. In der Tat muB

x M. A. COURNOT, Th6orie des chances et des pro- babilit6s. Paris I843, S. lO 4.

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der angezogene Gedanke jede subjektive Wahr- scheinlichkeitstheorie ad absurdum ffihren; und es erscheint heute kaum verst~ndlich, dab sich die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie fiberhanpt solange halten konnte. Bet den neueren Vertretern der Wahrscheinlichkeitstheorie hat sich dann auch die objektive Theorie mehr und mehr durchgesetzt; ich nenne nur die Arbeiten yon v. MISES, ZILSEL, und meine eigenen ArbeitenK

II . Die bisher geschilderte Entwicklung hatte den

Wahrscheinlichkeitsbegriff in eine Paralletsteltuiig zum Kausalbegriff gebracht; neben dem Prinzip der Kausalit~t war ein Prinzip der Verteilung als fiir die Natur giiltig erkannt worden, welches das Bestehen einer Gesetzlichkeit ffir Massenvorg~nge behauptet, analog zu dem Prinzip der Kausalit~£, die von eiiier Gesetzlichkeit der Einzelvorg~nge spricht. Das Prinzip der Kausalit/~t ist fiir Er- scheinungen wie etwa die Planetenbewegung oder die elektrischen Vorg~nge verwendbar, das Prinzip der Yerteilung Iiir Erscheiiiungen, in denen eine groBe Zahl unter sich/ihnlicher Einzelvorg/inge zu- sammengefaBt wird, We in der Gastheorie oder in der Theorie der Beobachtungsfehler. Die n~chste Siufe in dieser Entwicklung scheint mir dutch die Einsicht gegeben zu seth, dab es sich bier nicht um getrennte Gesetzlichkeiten handelt, dab vielmehr beide in engem Zusammenhang stehen, ja das Kausalprinzip ohne Benutzung des Verteilungs- prinzips gar nicht formuliert werden kann. Da ich dieseii Gedanken vor I I Jahren bereits in der vorliegenden Zeitschrift dargelegt babe ~, so kann ich reich ffir das Folgende auf ein kurzes Referat beschr~iiken.

Es ist die Eigentfimlichkeit der Kausai- behauptung, dab sie an die Form ether Implikation gebunden ist; wenn der Zustaiid A vorliegt, so foIgt auf ihn der Zustand 13 -- nur das wird be- hauptet, nat/iriich aber nichts dariiber, ob der Zustaiid A wirklich vorliegL Gew6hnlich achtet man nicht auf die Konsequenzen, die dieser Tat- bestand mit sich bringt. Wfirden wit n~mlich nichts wetter wissen als die Implikaiion, so wfirde es voU- st/indig unm6glich sein, das Kausalprinzip auch nur in einem einzigen Falle anzuwendeii. Dies liegt daran, dab die Voraussetzung A in der Natur nie- mals erffillt ist; wir k6nnen stets nur einzelne Parameter des Naturgeschehens beobachteiid er- fassen, wissen abet sehr genau, dab noch andere un- bekannte Parameter, ,,Restfaktoren", ebenfalls das Geschehen mitbestimmen. Wenn wir trotzdem das KansMprinzip auI Naturvorg/~nge anwenden k6nnen, so besagt dies nichts anderes, Ms dab wir die Implikation zwischen A und 13 aueh d a ~ an-

Die Literatur ist angegeben in meiner Schrift ,,Ziele nnd Wege der physLkalischen Erkenntnis", ttandbueh der Physik 4, Ziff. 22. Berlin : Julius Springer. Diese Schrift set im folgenden Ms Z.u .W. zitiert.

2 H. tL~IC~ENBACH, PhilosophischelKritikderWahr- scheinlichkeitsrechnung. Naturwiss. 8 146 (I92o).

REICHXNBACI:~: Das Kausalprobtem in der Physik. 715

wenden k6nnen, wenn ein etwas anderer Zu- stand als A vorliegt. DaB dies m6glich ist, dab wir die Implikation unter gewissen Umst~nden auch dann anwenden kSnneii, wenn A nicht vorliegt, bedeutet eille fiber den Inhal t des Kausalprinzips weir hiiiausgehende Behauptung.

Man hilft sich hier gelegentlich durch die Zusatz- hypothese, dab der Zusammenhaiig zwischen A niid t3 s*etig sein soil; dann wfirde, wenn ein yon A nur wenig verschiedener Zustand vorlieg~, Ms Folge auch ein yon 13 nur wenig versehiedener Zustand zu erwarten sein. Es ist aber leicht einzusehen, dab diese Zusatzhypothese nichts nfitzt, deiin wir wissen keineswegs aueh nur, dab ein yon A wenig verschiedeiier Znstand vorliegt. Was wit fiber A wissen, l~Bt sich immer nur in Form einer Wahr- scheinlichkeitsaussage aussprecheii: wir wissen, dab mit grofler Wahrscheinlichlceit ein yon A nur wenig verschiedeiier Zustand vorliegt. Dies drfickt sich am deuttichsten in der ma~hematischen Form des GAl~ssschen Fehlergesetzes ans, dessen Kurve die Abszissenachse hie erreicht, soiidern sieh ihr nur asymptotisch IIiihert. Wenn wir nun, ob- gleich wir fiber A IIur eine Wahrscheihlichkeits- angabe machen k6nnen, die l~olge ]3 trotzdem voraussagen, so liegt eben hieriii die Anerkeiinung des Wahrscheinlichkeitsprinzips: ~ sagen ]3 nur init eiller Wahrscheiiilichkeit voraus, hie mit Gewigheit. Jede Kwasalaussage, angewandt an] die Voraussage eines 2qaturereignisses, hat die Form einer WahrscheinlicMceitsaussage. Wir sprechen also in jeder auf Kausalgesetze gestfitzten Prophe- zeiuiig eine Anerkennung des Wahrscheinlichkeits- priiizips aus; und wit mfissen froh sein, dab wir wenigstens diesen Weg der Voraussage haben, denn sonst wfirde die Kausalbehauptung inhaltsleer seth, welt ihre ¥oraussetzungen hie streng erffillt sind.

Ich halte diese Auffassung fiir die eiiizige 2¢[6glichkeit zum Verst~ndnis des Ph~nomeiis der NaturgesetzIichkeit. Wenn yon anderer Seite ~ die Ansich% ausgesprochen wurde, dab der Wahrschein- lichkeitsbegrifi der Statistik nichts zu t un habe mit dem Wahrscheinlichkeitsbegriff, den wit in der Anwendung kausaIer Aussagen oder, was dasselbe auf einer atlgemeineren Stufe ist, in der Behauptung der Wirklichkeitsgeltung physikalischer Theorien benutzeii, so scheint mir diese Behanpiung g~nzlich unhaltbar zu seth, ja sie muB jeden Weg zum Ver- st~ndnis des Ph~nomeiis der Natnrgesetzlichkeit abschneideii. Die psychologischen Griinde dieser irrtfimlichen Auffassung sind fibrigens leicht anfzu- zeigen. Sie beruhen auf der Schematisierung, die sich das Naturgeschehen nach dem Modell eines strengen Ablaufs vorstetlt nnd alle Abweichungen yon diesem Modell als Angelegenheiten mensch- lichen Unverm6gens betrachtet. Es ist abet voll- st~ndig unzul~tssig, die Natur durch ein Modell zn beschreiben, wenn es nicht m6glich ist, diese Idealisierung in einen IKonvergenzprozeB anizu- 16sen. Die Aussage fiber das Modell kann nicht - - k v. IvIis~s, Erkenntnis I, 274 u. 280 (193o).- iV[. SCHLICK, K. g. Ph. X5I.

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mehr und nicht weniger Sinn besitzen als die Aus- sage fiber den KonvergenzprozeB; die Iehlerhaften Vorstellullgen fiber strenge Kausalit~it riihren alle daher, dab man diese J~quivalenz vergesseii hat und in das 5~Iodetl Eigenschaften hineinkonstruiert, die innerhalb der Konvergenzaussage keinen faB- baren Sinn haben.

Weiiden wir diesen Grundsatz auf das Prinzip der I<ausalit~t an, so muB diesem Prinzip die iotgende Form gegeben werden : Besehreibt man eln Gesehehe,r~ dutch endlieh v@le Parameter, so ld~flt sich d~e zuki~n]tige Entwieklung dieses Gesch~hens mi t Wahrseheinliehl~eit voraussagen ; dlese Wahrsehein- lichlceit w(~chst gegen 1, ]e mehr Parameter man beri~elcslchtlgt.

Selbstverst~iidlich ist der bier benutzte Wahr- scheintichkeitsbegriff identisch mit dem Wahr- scheinlichkeitsbegrKf der Statistik. 1Kan vergiBt dies zumeist, well man die Voraussage auf gewisse Gellauigkeitsintervalle beschr~inkt und danii das Eintreffen des Resultates innerhalb dieses Illter- valls mit groBer \¥ahrscheinlichkeit voraussagen kann, ohne sieh fiber die Gr6Se dieses Wahrschein- lichkeitsgrades Kopfzerbrechen zu machen. Aber so wenig es zulSssig ist, das sch~tzungsweise Ver- gleichen geometriseher Gr613en, wie wires im t~ig- lichen Leben oft benutzen, yore geometrisehen iViesseii als prinzipiell verschieden zu betrachten, so wenig ist es erlaubt, derartige gesch~Ltzte Wahr- scheinlichkeiten als prinzipiell verschieden yon qnantitativ bekaiinten Wahrscheilllichkeiten zu unterscheiden. DaB in der physikalischen Aussage stets der statistische Wahrscheinlichkeitsbegriff vorliegt, der also in eine Hiiufigkeitsaussage iiber- setzt werden kalln, wird am deutlichsten, wenn man die Aiiwendung der Fehlertheorie beriick- sichtigt. Die quanti tat ive Wahrscheinlichkeits- angabe hat sich bet physikalischen Aussagen in einen sehr schmalen ]3ereich zurfickgezogeii, well aul3erhalb dieses Bereiches die \Vahrscheinlichkeit sehr groB ist; inllerhalb dieses Bereichs abet treten Mle aus der Statistik bekallnten Eigenschaiten der Wahrscheinlichkeit unverkellnbar heraus.

Es ist deshalb .nicht richtig, in der Fehler- theorie eine Angetegenheit bloBer Genauigkeits- regulation zu sehen; in ihr spricht sich vielmehr die prinzipielle Benutzuiig des Wahrscheinlich- keitsprinzips aus. Welln wit weiterhin behaupten, dab der Wahrscheinlichkeitsbegriff der Fehler- theorie identisch ist mit dem der Statistik, so bedarf das Ireilich lloeh eines Naehweises. Aber dieser Nachweis l~iBt sich erbringen. Man kann n~mlich unter 13enutzung eines auf Potxc~R~ zurtickgehenden Gedallkeiis zeigell, dab die bet statistischen Vorg~ingeii, wie etwa dell Glficks- spielen, auftretenden Wahrscheinlichkeiten zurfick- ffihrbar sind ant die Vorallssetzuiig, dab eine ge- wisse Wahrscheiiilichkeitsfunktion existiert. FaSt man etwa den Umdrehungswinkel des Roulette- zeigers, in Vielfachen yon 2 z gez~ihlt, ats physika- lische Gr6Be auf, die wiederholt reproduziert wird, so geniigt diese Gr6Be in der H~ufigkeit ihrer

Wiederholung einer stetigen Wahrseheinlichkeits- funktion. Die Einteilung in rote und schwarze Sek- toren bedeutet eine Unterteilung der Abszisse in gleiehe Intervalle, und es l~13t sieh leicht zeigen, dab daraus die Gleichwahrscheinlichkeit yon Rot uiid Schwarz ableitbar ist. Zur genaueren }3egriindung set auf meiiie frtihere Dartegung in dieser" Zeit- schrift verwieseI1L Hier set nur noch einmal betont, dab durch diese l~berlegung die Identi t~t der Voraussetzung fiir Statistik und Fehlertheorie bewiesen wird. Die beiden historischen Quellen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in der Physik sind damit zusammengefiihrt; und der Wahrschein- lichkeitsbegriff erweist sich nicht als ein st6render Eindringling, sondern als notwendiger Bestandteil einer jeden Wir!dichkeitsaussage, dutch den auch das Prinzip der Kausalit~t erst einen iaSbaren Sinn erh~lt.

I I I . Es ist derVorzug der begrifflich streiigen Formu-

lierung eines Gedankens, dab sie zugleich die Vor- aussetzungen erkennen l~13t, unter denen der aus- gesprochene Gedaiike giJltig ist. Mit der Aufl6sung der Kansalaussage in die Behauptung eines Kon- vergenzvorganges, bei dem Wahrscheinlichkeiten nach I gehen, war deshalb yon vornherein die M6g- lichkeit einer Verallgemeinerung erkennbar ge- worden. Da ich diese Verallgemeinerung bereits in einer I925 ver6ffentlichten Arbeit~ ausgesprochen habe, sei es mir gestattet, sie IIait den Worten jener Arbeit zu formulieren: ,,Es l~iBt sich in Zweifel ziehen, ob die Wahrscheiiitichkeit in jedem Falle tats~ichlich beliebig nahe an i gesteigert werden kann, oder ob nicht an gewissen Stellen vorher Gren- zen auftreten. Diese Grenzen k6nnten auch prak- tisch nnerreichbar bleibeii, so dab der Satz in Gel- tung bliebe, dab zu jeder erreichten Gellauigkeits- stufe eine h6here existiert. So berechtigt eine derartige Vermutung erscheinen mag -- sie wiirde best~Ltigt werden, wenn die Quantentheorie den Versuch einer kausalen Erkl~irung aufgibt und sich mit den Wal~rscheinlichkeitsspriingen der Etektro- nen begnfigt -- sie soli bier nicht er6rtert werden, und alles Folgende ist aueh mit der nach i steige- rungsf~higen grahrscheinlichkeit vertr~glich."

Es kanii selbstverst~indlich lliemals die Auf- gabe ether philosophischen Theorie sein, bestimmte inhaltliche Voraussagen fiber die Weiterentwick- lung der Fachwisseiischait zu machen; sie kann allein die MOgliehl~eit atlgemeinerer Formen auf- zeigen. Aus diesem Grunde babe ich in jener Arbeit die weiteren i21berlegungen yon dem Eill- treten des genaniiten Falles nnabhallgig gemacht; der Entscheid fiber das ¥orliegen oder Nicht-

I H. REICHXNBACH, Die physikalischen Voraus- setzungen der Wahrscheinliehkeitsrechnung. Natur- wiss. 8, 46 (192o).

H. R~ICK~NBACII, Die Kausalstruktur der Welt und der LTnterschied yon Vergangenheit und Zukunft. Sitzgsber. bayer. Akad. x,¥iss., -%{ath.-nalurwiss. KI. S. 138. NIfinchen 1925. Diese Schrift sei im folgenden zitiert als Kstr.

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REICHENBAClI: Das Kausalproblem in der Physik. 7t7

vorliegen eines solchen Falles kann allein durch die physikalische Forschung getroffen werden. In- zwischen abet ist diese Entscheidung tats~chlich getroffen worden, denn die yon HEISENBERG (1927) in seiner Ungenauigkeitsrelation behauptete Existenz ether prinzipiellen Grenze i fir die Viahr- scheinlichkeit der Prophezeiung bedeutet nichts anderes als den oben formnlierten Gedanken.

Die Erw~gungen Ireilich, mit denen HEISEN- BERG die Ungenauigkeitsrelation begrfindet, schei- nen yon anderen Gesichtspunkten auszugehen, da sie auf der Wechselwirkung zwischen 13eobach- tungsmittel und ]3eobacht:ungsobjekt ruben. Doeh zeigt sich bet genauerer ISetrachtung, dab die bier benutzten Argumente yon derselben Art sind wie die yon uns angefiihrten. Die Tatsache n~m- lich, dab bet 13eobachtungen im kleinen eine St6rung des Objektes dutch das Beobachtungs- mittel eintritt, kann allein die HEISENB~RGsche !Zngenauigkeitsrelation noch nicht begrfinden. Derartige St6rungen sind ja auch in der makro- skopischen Physik bekannt ; man hilft sich bier, indem man das Beobachtungsmittel in. die Theorie mit einbezieht und eine Gesamttheorie der Er- scheinungen entwirft, in wetcher Beobachtungs- mittel und Beobachtungsobjekt pri~zipiell gleich- artig vorkommen. Man denke etwa an die Kor- rektionsglieder, welche mit dem Einbringen eines Thermometers bet Temperaturmessungen erlorder- ]ich werden. Es hilft bier aueh gar mchts, wenn man behanpten wollte, dab im ~fakroskopischen der EinfluB des Beobachtnngsmittels wenigstens prinzipieU eliminierbar w~re. Dies ist erstens nicht einmal richtig, zweitens aber auch gar nicht not- wendig, eben weil man eine Gesamttheorie ent- werfen kann, in welche alle beteilig~cen Faktoren, auch die aus dem Beobachtungsmittel herrfihren- den, yon vornherein als Unbekannte eingehen. Es ist z. ]3. nicht n6tig, die elektrische Feldst~rke durch einen Grenzfibergang zu charakterisieren, bet dem der angezogene Probek6rper unendlich Mein wird; es g/bt auch den V~eg der ,,Integraldefini- t ion", bet dem das gesamte dutch den Probe- k6rper gestSrte Feld als eine Funkt ion der zu definierenden Gr6Ben aufgefagt ~ r d , derart dab umgekehrt diese Gr613en aus dem Integraleffekt berechnet werden k6nnen. Die Einteilung in t3e- obachtnngsmittel und Beobachtungsobjekt be- deutet zwar eine groBe Erleichterung der physika- lischen Experimentierkunst, nicht abet eine be- griffliche Notwendigkeit ifir strenge ]3estim- mungen.

Es ist vielmehr ein zweiter als wesentlieh hinzu- tretender Gedanke, welcher zu der I-IEISENBERG- schen Ungenauigkeitsrelafion ffihrt. Dort wird n~mlich die t3ehauptung ausgesprochen, dab es nicht m6glich ist, aus den beobachteten Integral- effekten eindeutig auf die wghrend der Beobachtung vorliegenden Gr6gen zu schlieBen. Ihre Begrfin- dung erf~hrt diese Behauptung im wesentlichen dutch die Erkenntnis, dab die das Geschehen be- s t immenden Wellen in einer eigentfimlich doppel-

ten Weise Ort und Geschwindigkeit des Teilchens festlegen: der Ort des Teilchens ist durch die L~nge des W'ellenzuges, seine Geschwindigkeit durch die Frequenz des Wellenzuges bestimmt, und da L~nge und Frequenz des ~¥ellenzuges aus mathematischen Grfinden in einer eigenarfigen gegenl~ufigen t(opp- lung verbunden stud, ergibt sich die Tatsache, dab immer nur eine dieser Gr6Ben mit beliebiger Genauigkeit ermittelt werden kann. Es ist also erst das Wellenprinzip, welches zusammen mit dem Gedanken der Integraldefinition auf die Un- genauigkeitsrelation ffihrt,

In der HEISENBERGschen Ungenauigkeitsrela- tion hat der Gedanke einer prinzipiellen Grenze der Prophezeibarkeit zugleich noch eine interessante Variante gefunden. HEISENBERG zeig~c bekanntlich, dab man eine beliebige der betreffenden Gr6Ben mit beliebiger Sicherheit bestimmen kann, nur auf Kosten der andern; weiterhin hat er gezeigt, dab sogar die Voraussage kfinftiger Werte ffir eine beliebig vorgegebene Gr6Be dutch geeignete Ein- griffe beliebig nahe an die GewiBheit gesteigert werden kann, jedoch nut auf Kosten der anderen. Die ]3eschr/~nkung der Prophezeibarkeit auf eine SVahrscheinlichkeitsgrenze unterhaIb yon I gilt erst ffir die Korabination aller beteiligten Para- meter, die dutch das Produkt der Einzelwahr- scheinlichkeiten gegeben ist. Dies bedeutet natfir- lich grunds~tzl~ch keine Abweichung yon dem zu Eingang dieses Abschnittes formulierten Ge- danken; denn das Gesamtgeschehen ist ja erst durch die Gesamtheit aller Parameter bestimmt, und eben diese l~Bt sich nicht mit beliebiger Wahr- scheinliehkeit voraussehen.

Hier ist nun der Ort, auf unsere eingangs ge- machte 13emerkung zurfickzukommen, dab die Entwicklung der Ouantenmechanik nicht als eine Krisis der Kausalit~t, sondern als stetige Weiter- ffihrung ether in l~ngere Zeitr~ume zurfickgrei~en- den Entwicklungslinie angesehen werden muB. Unsere Darlegung hat gezeigt, dab der Wahr- scheinlichkeitsbegriff in der klassischen Physik an prinzipiell derselben Stelle enthalten ist wie in der Quantenphysik, dab n~mlich die. "4TirMich- keitsaussage der klassischen Physik bereits gar nicht ohne Benutzung des Wahrscheinliehkeits- begriffs formuliert werden kann. Der Unterschied ist allein der, dab in der klassischen Physik die %Vahrscheinlichkeit flit die Voraussage des Einzel- ereignisses beliebig nahe an I gesteigert werden kann, in der Ouantenphysik abet nicht. Das ist ein Unterschied, wie er etwa dem I)bergang vom euklidischen Raum zum RIEMANNsChen Raum ent- spricht. Aber gerade wie dieser ~bergang nur yon dem als eine Krisis empfunden wurde, der an eine apriorische Geltung der euklidischen Geometrie glaubte und sich fiber den prinzipiell empirischen und daher stets verallgemeinerungs- f~higen Charakter der Erkenntnisprinzipien nicht kIar war, so kann auch die gegenw~rtige Er- weiterung des Gesetzlichkeitsbegriffs der klassi- schen Physik zu dem der Quantenphysik nur dem

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718 REICI~ENBACH: Das Kausalproblem in der Physik. Die Natur- wissenschaften

als eine Krisis erscheinen, der Mch erkenntnis- theoretischen Einsichten dutch apriorische Dog- men verschlossen hat. Ftir den unbefangenen Erkenntnistheorefiker abet handett es sich hier um eine nattirliche and stetige Entwicklungslinie.

IV. Ich wende reich nun zu den Einw~nden, die

ktirzlich M. SCI~LICK 1 gegen meine Auffassung der Kausalit~t gemacht hat. Da ich mit SCt~LICK in der Grundauffassung phitosophiseher Arbeit weit- gehend tibereinstimme, eine Gemeinsamkeit, welche vor allem auch in der hohen Bewertung der mathe- matischen Naturwissenschaft Itir pbilosophische Forschung ihren Ausdruck finder, is* mir an ether Klfixung dieser Differenzen ganz besonders ge- legen.

Ich stelle zui1Achst sehr gern test, dab SCHLICK in seiner DarsteIlung sich ebenfalls ftir die Auf- fassung einsetzt, welche naturwissenschaffliche Aussagen als Prophezeiungen ansieht nnd in der Best~tigung yon Voraussagen das einzige Kriterium ihrer Giiltigkeit sieht (S. 15o ). Im Verfolg dieser Auffassung hat sich SCt~LICK dann meiner Unter- scheidung yon deskriptiver und induktiver Ein- fachheit angeschlossen (S. 151 ), freilich ohne diese yon mir eingeftihrten Termini zu benutzen 2. Ich habe mit dieser Unterscheidung die ganz ver- scbiedenartige Verwendung des Wortes Einfach- heft treffen wollen, die in der Physik stattfindet. Die deskriptive Einfachheit ist eine Angelegenheit allein der Beschreibung; so ist das metrische System einfacher als ein Magsystem von nicht- dezimatem Charakter. Ni t der induktiven Eilffach- heft wird dagegen ein Anspruch auf Voraussagen erhoben; legt man etwa durch eine Folge yon Messungspunkten die ,,einfachste" t~urve, so spricht man darin die Behauptung aus, dab weitere Messungspunkte ungef~hr auf dieser Kurve liegen werden. Ich habe die induktive Einfachheit des- halb ein Wahrscheinlichkeitsprinzip genannt.

Hiergegen richter nun ScI~LICK einen Einwand, indem er behauptet, dab das Wort Wahrschein- lichkeit in. der Anwendung auf Voraussagen etwas v611ig anderes bedeutet als der Begriff, der in der %Vahrscheinhchkeitsrechnung behandelt wird und in der stafistischen Physik auftritt . Da ich diese Auffassung schon immer bek~mpft habe und im vorangehenden (Abschnitt II) ihre Unhaltbarkeit noch einmal dargeIegt babe, so kann ieh reich hier kurz fassen. Die Zurtickffihrbarkeit statistischer Meehanismen auI die Existenz yon Wahrschein- lichkeitsfunktionen beweist, dab in der Statistik derselbe Wahrscheinlichkeitsbegriff benutzt wird wie in jeder physikalischen Aussage. Man kann jede astronomische Pr~zisionsmessung mit einem GAff in ein Roulettespiel verwandeln, indem man die Fehlerfunkfion in Intervalle teilt und die Messungsgr6Ben analog tier Sektoreneinteilung des

1 K. g. Ph. 2 H. REIC~tE~BACH, Axiomatik der relativistischen

Raum-Zeit-Lehre, S. 9. Vieweg 1924. -- Z. u. W. 35.

Roulettes durchz~hlt. Die Aussage einer Regel- mSBigkeit in der statistischen Wiederholungsfolge ist nichts als die rein logische Umformung einer Aussage tiber das Vorliegen physikalischer GrSt3en- werte.

SCHLICK vv~rd zu seiner Auffassung durch das Festhalten an der sog. Spielraumtheorie der Wahr- scheinlichkeit gebracht. Diese auf die altere Wahr- scheinlichkeitslehre (KRI]~S, STUMPF) zurtick- gehende, neuerdings VOnWAISMANN vertreten~ Auf- fassung ist jedoch unhaltbar, da in ihr die Fest- setzung des WahrscheinlichkeitsmaBes framer wilI- Mirlich bleiben muB. Zur weiteren Begrtindung verweise ich auI meine Arbeiten hierfiber x, ferner auf die Arbeiten yon v. MtSES~, die mi t Recht diese Auffassung in aller Ausftihrlichkeit belrAmpfen.

Sodann wendet sich SCI~LICI~ gegen das yon mir auch im vorangehenden dargestellte Prinzip der Verteilung, in dem sich eine Annahme tiber den EinfluB der ,,Restfaktoren" auf das physikalische Geschehen ausspricht. SC~ILICX behauptet, dab es sich bier nicht um eine Annahme handele, sondern um eine DeJini~ion, n~mlich die Definition der kausalen Unabh~ngigkeit. IVlit dieser Be- merkung will SC~tLICK vermuflich aussagen, dab man ein Geschehen immer dann unabh~ngig yon best immten physikalischen Faktoren nennt, wenn diese das Geschehen nur noch im Ratimen yon Beobachtungsfehlern beeinflussen. Es ist wohl richtig, dab man eine derartige Definition benutzt ; nur tibersieht SCI~LICK vollst~tndig, dab mit dieser Definition die Tatsachenbehauptung nieht be- seitigt ist, die bier vorliegt. DaB es n~mlieh mSglich ist, ein Geschehen dutch Herausgreifen einer end- lichen Anzahl yon Parametern deraxt zu charak- terisieren, dab die Restfaktoren das Geschehen nur noch nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit beeinflussen -- das ist eine Tatsache, und dieser Charakter als ether Tatsache geht nicht dadurch verloren, dab man in dem vorliegenden Fall ftir die Beziehung zwischen dem Geschehen ulid dem Restfaktoren die Bezeichnung ,,unabh~ngig" ein- ffihrt.

Weitere Einw~nde SCHLICKS richten sich gegen eine Arbeit yon mir, in der ich versucht habe, meine Krit ik des Determinismus und dessen Ersatz durch einen \¥ahrscheiniichkeitszusammen- hang des Weltgeschehens ffir die Unterscheidung yon Vergangenheit und Zukunft auszuwerten 3. Sc~tLICt~ glaubt, dab die yon mir dort gegebene Charakterisierung der Zeitrichtung rdcht stich- haltig set, dab vielmehr nur der Begriff der Entro- pie im BOLTZMANNschen Sinne eine solche Unter- scheidung zu leisten vermSge. Zur Widerlegung dieser Auffassung kann ich auf eine andere Dar- legung verweisen ~. Ich babe dort gezeigt, dab es ffir die BOLTZM&NNsche Auffassung nicht m6glich

1 Z. u. W. Ziff. 22. 2 R. v. MxSES, VVahrscheinlichkei~, Statistik und

Wahrheit, 61--78. Wien: Julius Springer I928. a Kstr.

Z. u. W. Ziff. 21.

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Heft ] 34. 2x. 8. x93~

I~EIeHENBACH: Das Kausalproblem in der Physik. 719

ist, eine Unsymmetrie der Zeitrichtung zu definie- ten, wenn Determinismus besteht. Weiterbin zitiert SCHLICK (S. I 6 I ) eine Bemerkung yon mir, in der ich darauf hinwe:~se, dal3 wir in unsern Hand- lungen einen Unterscbied zwischen Vergangenheit und Zukunft machen, indem wit uns ffir den morg~- gen Tag eine I-Iandlung vornehmen, ffir den gestri- gen Tag aber nicht; fiir den Determinismus ist dieser Unterscbied sinnlos, da Vergangenheit und Zukuni t in symmetrischer Weise yon der Gegen- wart aus besfimmt sind. SCHLICK nennt diesen Gedanken yon mir eine Verwechslung yon Defer- minismus und Fatalismus. Was mit dieser Be- merkung gemeint ist, ist mir unverst~ndlich, da meine ]3emerkung mit Fatalismus nichts zu tun hat, sondern lediglich ant die logische Tatsaehe hinweist, dab der Unsymmetrie des Handelns durch den Determilfismus eine Symmetrie der Bestimmtheitsbeziehung zugeordnet wird, so dab ein Widerspruch entsteht ~ eine Tatsache, die bisher rdcht beaehtet worden ist und mit der sich jede deterministische L6sung des Freiheits- problems nur abfinden kann, indem sie einer evidenten Grundhaltung unseres Erlebens gewalt- sam jeden Sinn bestreitet. Weiterhin erkl~irt SCHLICK, ,,unsere Handlungen und Vors~tze haben offenbar nut insofern Sinn, als die Zukunlt durch sie determiniert wird". Diese Bemerkung ist keine Erwiderung auf das yon mir vorgebrachte Argu- ment, da sie auf dieses gar keinen Bezug nimmt; vielmehr bedeutet sie ein Argument ganz anderer Art, mi t dem eine deterministische LSsung des ~rillensffeiheitsproblems plausibeI gemacht werden soiL Da dieses Argument h~iufig gegen indetermini- stische L6sungen des X¥illensfreiheitsproblems vor- gebracht wird, so m6ehte ich bier kurz darlegen, wie sieh yon der Auffassung des Wahrscheinlich- keitszusammenhanges her das Problem der Willens- freiheit darstellt.

Setbshrersf3indlich will auch der Indeterminist an ether Abh~ingigkeit des zukfinftigen Gesehehens yon seinen eigenen Handlungen festhalten, well er ja das zukfinftige Gesehehen beeinflussen will. Abet gerade dieser Sachverhalt bleibt ja fiir den Wahrscheinlichkeitszusammenhang bewahrt, weil die Zukunft immer noch imt gro/3er \¥ahrschein- lichkeit vorauszusagen ist. %Venn die Ietztere Tat- sache umgekehrt yon SCHLICI~ als Argument gegen den Indeterminismus ausgewertet wird, well ,,die fibrigbleibende Unbest immthei t so minimal set", dab fiir die Willens~reiheit soznsagen nicht ge- nfigend Spielraum bliebe, so tiegt hierin eine Ver- kennung der ganzen Problemstetlung. Erstens ist zwischen grol3er Wahrscheinlichkeit und Ge- wi(3heit ein prinzipieller Unterschied; er ist zwar unwesentlich ifir die praktische Anwendung yon Voraussagen, aber yon entscheidendem Charakter ifir die theoretische Deutung yon Handlungen. Zweitens kann es sich ffir eine indeterministische LSsung des Freiheitsproblems selbstverst~ndlich nieht darum handeln, die Unbest immthei t des Zufallsgesehehens direkt als Freiheit des Willens

zu deuten. Derartige naive Ausdeutungen des Wahrscheinlichkeitszusammenhanges m6gen yon einigen versueht worden sein; es ist abet selbst- verst~ndlich, dab eine ernst zu nehmende Theorie den Begriff ,,Freiheit des Willens" in ganz anderer und sehr viet komplizierterer Weise definieren wird. V¢ie eine solche Theorie aussehen wird, weiB ich nicht, da wir bisher keine brauchbare Theorie dieser Art besitzen. Sicher scheint mir nut eines zu sein: Alle bisherigen L6sungen des Willensfreiheits- problems sind vonder Voraussetzung der strengen Kausalit~t ausgegangen und haben sich mit dieser abgefunden, gleichg0/tig ob sie wie SPINOZA den Determinismus zugunsten der Willensfreiheit aus- deuteten, oder ihn wie KANT dutch einen Sprung ins Metaphysische fiberwinden zu mtissen glaubten, Da sich jetzt dieVoraussetzung aller dieser philoso- phischen Theorien geiindert hat, indem die Physik selbst am Determinismus nicht mehr festh~ilt, so ist damit eine ganz neue Situation geschaffen, deren philosophische Auswertung abgewartet wer- den mul3, auf keinen Fall abet dutch dogmatisches Festhalten an ~lteren L6sungen abgeschnitten werden dart. A1s einen Schritt auf diesem Wege sehe ich die oben genannte neuartige Unterschei- dung yon Vergangenheit und Zukunft an, die sich mir aus der Theofie des W'ahrscheinlichkeitszusam- menhangs ergeben hat.

In diesem Zusammenhang m6chte ieh noch kurz auf die Einw~nde eingehen, ~velehe 14. BERG- MANN 1 gegen meine Begrfindung einer Unsymmetrie der Zeitrichtung vorgebracht hat, zumal SCHLICK sich aui BERGMANNS Argumente beruft. BERG- MANN sind einige entscheidende Fehler in der Auf- fassung meiner Ansichten unterlaufen. Er meint (S, 19), dab ich Teilursachen mit Ursachen ver- wechsele, wenn ich die Ursache-Wirkung-Beziehung unsymmetfisch nenne. Ich babe jedoch stets aus- driieklich daraui bingewiesen, dab das yon mir benutzte Verfahren sich gerade auf den Zu- sammenhang yon Teilursache mit Gesamtwirkung einerseits, yon Teilwirkung mit Gesamtursache andererseits bezieht. Es gibt nicht eine einzige Stelle in meinen Ausffihrungen, wo die yon BERG- MANN behauptete Verweehslung gemacht wird; das geht am besten aus dem yon BERGMANN (S. 21) angeifihrten Zitat aus meiner Arbeit hervor. Wei- terhin will BERGMANN meinen Gedanken dadurch widerlegen (S. 2o), dab er die yon mir angenommene Wahrscheinlichkeitsimplikation dureh die strenge Implikation ersetzt und dann Widersprfiche kon- struiert. Selbstverst~indlich entstehen auf diese Weise ~qdersprfiche; das liegt aber eben nu t daran, daI3 BXt~G~IANN die Wahrseheinlichkeit dutch eine Gewii3heit ersetzt. Fiir die Wahrschein- lichkeitsimplikation ist es kein Widersprueh, wemx ein vorausgesagtes Ereignis gelegentlich n@ht eintri t t ; das ist es eben nur fiir die strenge tmpli- katlon (S. 23). Ich will bier nu t auf diese Fehler ]3~RG~IANNS an entscheidenden Stellen seiner

i H. B~RG~tANN, Der Karnpf um das Kausalgesetz in der jfingsten Physik. Vieweg 1929.

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720 REICHENBACH: Das Kausalproblem in der Physik. Die Natur- wissensehaften

Argumentation hinweisen, nicht aber auf seine Gedanken im ganzen eillgehen, da BERG~AN?CS Ausfiihrungen vollst~ndig innerhalb N-~NTscher Begriffsbitdungen liegen, ulld ich meine Aus- einandersetzung mit der KA~Tschell Philosophie an zahlreichen anderen Stellen gegeben habe.

V. Mit dem Vorangebenden ist gezeigt, dab der

Sinn jeder Wirklichkeitsaussage dutch eine Prophe- zeiung gegeben ist, und zwar dutch eine Prophe- zeiung in genau dem Sinne, wie er bei Wahrschein- lichkeitsaussagen vorliegt. Die Frage nach Sinn ulld Geltung yon Wirklichkeitsaussagen ist also identisch mit der Frage nach Sinn und Geltung yon Wahrscheintichkeitsaussagen. Die Entscheidung fiber die Natur physikalischer Aussagen wird des- halb in die Philosophie der Wahrscheintichkeits- rechnung verlegt, und man versteht, warum sich heute diesem Gebiet ein so groBes erkenntnis- theoretisches Interesse zuwendet.

Was zun~chst die Frage nach dem Sinn der Wahrscheinlichkeitsaussage angeht, so ergibt eine Untersuchung der bier in Frage kommenden Stand- punkte, dab die Wahrscheinlichkeitsaussage als Prophezeiung einer relativen H~uligkeit an- gesehen werden mug. Wird das in Frage kommende Ereigllis wiederholt realisiert, so stellt es sich in einem gewissen Prozentsatz aller FNle ein; diesen Prozentsatz nennen wir Wahrscheinlichkeit des Ereignisses. Die bier gegebene Formulierullg ist noch ziemlich ungenau; ffir~die genaue Formu- lierung muB die %Vahrscheintichkeit sis eine Bezie- hung zwischen zwei Ereignissen O llnd P an- gesehen werden, d i e wir Wahrscheinlichkeits- implikation nennen und deren Grad p a l s Wahr- scheinlichkeit yon P inbezug auf 0 bezeichnet wird. Ich habe fiir diese Beziehullg die symbolische Form

(o -> P) P

eingeffihrt, mit welcher die M6glichkeit zu einem Wahrscheinlichkeitskalkfil er6ffllet ist, der an den Logikkalkfil angeschlossen wird ~. ]3eispielsweise bedeutet 0 das W'erfen eines Wfirfels, P das Anf- treffen der Seite 6. Die H~ufigkeitsdeutung besagt dann, dab in der Folge dieser Ereignisse der Quotient aus der Zaht der F~lle P nnd der Zahi der F~lle 0 einem Limes zustrebt. Dieser Gedanke einer I-t~tufigkeitsdeutung ist yon den Wahrschein- lichkeits-Mathematikern schon lange bellutzt wor- den; ihre konsequente Durchffihrung ullter Be- nutzung des Limes-Begriffes ist zuerst yon v. MISES

1 Eine ausfflhrliche Ver6ffentlichung hierflber er- folgt demn~chst in der Mathematischen Zeitschrift; ich habe dort in axiomatiseher Form einen logiseh strengen Aufbau der Wahrscheinlichkeitsrechnung durchgefiihrt, in welchem alle logischen Probleme dieser Disziplin ihre Aufl6sung erfahren. Dort wird such gezeigt, dab die Auffassung der XYahrscheinlichkeits- implikation als einer zweigliedrigen Beziehung noch eine Abktirzung bedeutet.

gegeben worden, freilich ill anderer Form als wir sie bier benutzen.

Versnche, die V~rahrscheinlichkeit anders za deuten, mfissell scheitern, weiI es ihllen nicht gelingt, dem Wahrscheinlichkeitsgrad p eine objektive Deutung zuzuordnen. Dies gilt ins- besondere roll der sog. Spielraumtheorie, weil ffir diese das MaB der Wahrscheinlichkeit immer wii1- kfirlich bleibt 1. Die H~ufigkeitsdeutung ist die einzige Deutung, welche es erm6glicht, den Grad der Wahrscheinlichkeit rein extensional zu deuten, d. h. dutch eine Angabe, in der allein das Eintretell bzw. Nichteintreten roll P zur Charakterisierung benutzt wird. Dies ist meines Erachtens das ent- scheidende Argument zugunsten der H/tufigkeits- deutung. Auch ist Iestzustellen, dab diese Deutung in der Physik dllrchweg benutzt wird.

Die logischen Schwierigkeiten der H~tuligkeits- deutung sind allerdings sehr groB. Da wir es in allen Beobachtungen stets nur mit endlich vielen beobachteten F~llen zu tun haben, die Limes- Forderung aber eine Aussage fiber unendliche Folgen macht, so ist es niemals m6glich, eine H~ufigkeitsprophezeiullg durch ]3eobachtullg auf wahr oder falsch zu entscheiden. Diese Tatsache n immt der Wahrscheinlichkeitsaussage den Charak- ter einer Aussage im Sinne der strellgen Logik; denn yon einer Aussage im Sillne der strengell Logik verlangt man, dab sie Ms wahr oder ~alsch ent- scheidbar sein muB. Solche ~berlegungen haben verschiedelle Alltoren dazu geffihrt, der Wahr- scheintichkeitsaussage den Charakter als einer Aussage fiberhaupt zu bestreiten; so spricht ?vI. SCHLICK 2 bier yon einer ,,Anweisung", ll~mlich ,,einer Anweisung zur Bildung yon Aussagen". Soweit es sich bier nu t llm einen terminologischen Unterschied handelt, w~re dieser Sprachgebrauch ohne Gefahr; jedoch tibersieht Sc~LICK zwei wesentliche Umst~nde, welche ffir derartige ,,An- weisungen" gelten und flit sie eine weitgehende Parallelit~t zu den strengell Aussagen bewirken, so dab der Oberbegriff ,,Aussagen" gerechtfertigt erscheillt; ich spreche deshalb stets yon IVahr- scheinlichkeitsaussagen 8.

Die erste Parallelit~t besteht darin, dab wir ftir Wahrscheinlichkeitsaussagen eine dem Wahrheits- entscheid entsprechende Eintei lung benutzen. Zwar k6nnell wir llicht verlangell, dab W'ahrschein- Hchkeitsaussagen wahr oder falsch sind; abet wir verlangen, dab sie mehr oder weniger wahrschein- lich sind~. An Stelle der Alternative wahr-- talsch der strengen Logik t r i t t also ffir Wahrseheinlich- keitsaussagen eine stetige Skala yon Wahrschein- lichkeitsgraden, und ich habe deshalb ffir die Lehre

i Vgl, oben Abschnitt IV. 2 i<. g. Ph. 151. 3 Fflr eine ausfflhrliche ]Begrfindung des folgenden

sei verwiesen auf meine Darstellung in F.rkenntnis x, I69ff. (I93O).

4 Dies fflhrt zu einer Stufenordnung; man rout3 Wahrscheinlichkeiten erster, zweiter usw. Ordnung unterscheiden.

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IRZ~CHESr~ACH: Das Kausalproblem in der Physik. 721

yon dell Wahrscheinlichkeitsaussagen den Aus- druck WahrsJzeinlichkeitslogik benutzt. Die Existenz einer derartigen Gradskala ist wesentlich. H~tten wir diese Skala nicht, so wfirden Prophe- zeiungell ftir uns v611ig unbenutzbar sein. Dies ist es, WaS SCI4LICK ill seiner ant WITTGIgNST]EIN zn-

rtickgehenden Deutung der Prophezeiungen fiber- sieht. Fiir SCHLIcK-WITTGENST~IN ist die Prophe- zeiung, dab morgen die Sonne aufgehen wird, vollst~ndig gleichwertig der Prophezeiung, dab morgen ein neuer Komet beobachtet wird; naeh WITTG~ST~IN wissen wit ill beiden F,illen gleich viel, n~imlich nichtsL Dem widerspricht aber unsere tats~ichliche Einsfellung; w~ihrend wir nns auf das Eintreffen der erstgellanlltell Prophe- zeiung als einer sehr wahrscheinlichen Voraussage einstellen, rechnell wir mit der zweitgenallnten Voraussage nicht, da sie sehr unwahrscheinlich ist. Ohne diesen Gradunterschied w~iren derartige ,,Anweisungen" v6Ilig wertlos. Es ist dann z. t3. durch nichts gerechtfertigt, dab man in den An- weisungen gerade den wahrscheilltiehstell Fall bevorzugt; man k6nllte ebensogut die Anweisung geben, stets das Unwahrscheinlichste zu erwarten. DaB wir dies nicht tun, dab nns eine derartige Anweisung unverniinftig erscheinen wtirde, l~Bt sich llur rechtfertigen, wenn wit der Prophezeiung einen Wat~rscheinlichkeitsgrad irn Sinne einer ob- jektiven Charakteristik zuordnen, der so gut be- steht wie die Wahrheit der strengen Aussage. Vor dieser Tatsache mnB jeder Yersuch, der Vv'ahr- scheinliehkeitsaussage einen objektiven Sinn in bezug auf die Voraussage zu nehmen, scheitern.

SCHLICK will dieser Zwangslage entgehen, indem er erkl~rt, , ,Anweisungen" w~iren ,,nicht wahr oder Ialsch, solldern gut oder schtecht, ntitzlich oder zwecklos" (S. 155). Aber er tibersieht, dab auch diese Wertbegrifie ant Anweisungen erst anwendbar sind, wenn man well3, ob die Anweisungen im theoretischen Sinne wahrscheinlich sind oder nicht. Warum ist es niitzlich, vor 13eginn ether Reise ein Kursbuch zu Rate zu ziehen ? W e i l es wahrschein- Itch ist, dab die Z/ige zu den dort angegebellen Zeiten abfahren. SCHLICK kann auf keine Weise begriinden, warum es ~.ieht ntitzlich ist, iiir die Dispositionen der Reise durchweg mit einer um zwei Stunden sp~teren Abfahrtszeit zu rechllen, als sie das Knrsbneh angibt; der Abgang der Ztige zu dieser spiiteren Zeit ist zwar sehr unwahrschein- lich, aber da diese Unwahrscheinlichkeit fiir das kommende Geschehen nach SCHL~CK genau das- selbe besagt wie eine groBe Wahrscheilllichkeit (n~mlich ~ichts), so ist nicht einzusehen, warnm ein Grundsatz nicht niitzlich sein solt, der stets mi t dem Eintreffen des Unwahrscheinlichsten rechnet. Die Einftihrung der Wertbegriffe kann deshalb das Problem der 13eurteilung yon ,,Anweisungen"

So heiBt es bet WITTG1~NST~IN, Tractatus logico- philosophicus. London: Kegan Paul ~9~2. S. ~8o, 6.363~ ,,DAB die Sonne morgen aufgehen wird, ist eine Hypothese; und das heigt: wir wissen nicht, ob sie aufgehen wird."

in keiner Weise f6rdern, vielmehr setzen die ~Vert- begriffe eine theoretische Entscheidbarkeit der ,,Anweisullgen" voraus, ulld es erscheint deshalb richtiger, die Frage naeh gut oder schleeht hier tiberhaupt wegzulassell, da sie in dieses theoretische Problem nicht hineingehSrt.

Es ist freilich wahr, dab wir nicht in der Lage sind, den Glauben an das ]~illtreffell des wahr- scheinlieheren t£reignisses aus strenger Logik zu begriinden. Diese seit t-Iu~E bekannte Tatsache ist der Grund, welcher besonders Vertreter der formalen Logik veranlat3t hat, an der Deutung der Wahrscheinlichkeitsaussage Ms einer berechtigten Voraussage zu zweifeln. Ich glaube jedoch nicht dab sich diese Konsequenz ernstlich verereten I~.BL Wenn es nicht mSglieh ist, die Wahrscheinlichkeits- aussage im Sinne einer berechtigten ¥oraussage aus der strengen Logik zu begrtinden, so beweist dies nur, dab die strenge Logik zur ]3egrfindung der Wirklichkeitsaussagen nicht zureicht. Ein Recht, unseren Wirklichkeitsaussagen jeden objektiven Sinn als Zukunftsaussagen abzusprechen, haben wir nicht, vielmehr ist unsere ~(Yberzeugung yon der 13erechtigung der Wahrscheinlichkeitsprophe- zeiungen eine so fundamentale Tatsache, dab wir llicht die M6ghchkeit haben, sie ulls auszureden. Aber Philosophie kann nicht darin bestehen, auf Grund vorgefal3ter Meinungen tiber die Ableit- barkeit yon Aussagen fundamentale Oberzeugungen zu kritisieren; sondern derartige ~berzeugungen haben wir einfach hinzunehmen, und der Philo- sophie f~illt allein die Aufgabe zu, sie innerhalb eines Systems einzuordnen. Mit der Recht- fertigung unseres Glaubens an die strenge Logik ist es ja im Grunde nicht besser bestellt. Ihre l~echt- fertigung besteht darin, ,,dab nicht unlogisch ge- dacht werden kann ''1.

Die zweite Parallelit/it der VVahrscheinlich- keitsaussagen mit dell Aussagen der strengen Logik besteht darin, dab sie innerhalb ihrer Gradskata aueh entscheidbar sind, und zwar bereits als Pro- phezeiungen, nicht erst nachdem sie eingetroffen sind. Betrachtet man etwa die Voraussage, dab beim Wtirfeln die relative H~ufigkeit der Seite 6 nach I/6 geht, so werden wir eine vorliegende 13e- obaehtungsreihe yon endlich vielen Gliedern als eine wahrscheinliche ]3est~itignng oder als eine wahrscheinliche Widerlegung dieser Voraussage ansehen, je nachdem oh in der ]3eobachtungsreihe die H~iufigkeit 1/6 ungef~ihr erreicht ist oder llicht. Wir k6nnen deshalb yon einer induktiven Ent- seheidbarkeit der VVahrscheinlichkeitsaussage sprechen. Wir ftihrell damit keine willkfirliche Annahme ein, sondern wir formnlierell nnr das Verhalten, das jeder yon uns in der Wissenschaft wie im ~c~glichen Leben auf Schritt und Trii~c be- folgt. In dieser Elltscheidbarkeit wird das Prinzip der Induktion'voransgesetzt, das zwar logisch nicht beweisbar ist, dessen Anerkennung wit nns aber nieht ausreden kSnnen, l~brigens I/iBt sich zeigen, dab das Gegenteil des Induktionsaxioms

WITTG~NSTEI~, a. a. O. S. 128, 5.4731.

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722 Gesellschaft ffir Erdkunde zu Berlin. Die Natur. wissenschafte~

n i c h t s innvol I g e d a c h t w e r d e n kann , d a b dieses P r i n z i p also i n n e r h a l b de r W a h r s c h e i n l i c h k e i t s - logik e ine ~ihnliche S t e l lung bes i tz t , wie die t a u t o l o g i s c h e n Gesetze i n n e r h a l b de r s t r e n g e n Logik.

~fan k a n n die ]?rage auf lverfen, welches die G e s a m t h e i t de r V o r a u s s e t z u n g e n ist, de ren die W a h r s c h e i n l i c h k e i t s l o g i k bedarf . I n m e i n e r s c h o n e r w g h n t e n A x i o m a t i k de r W a h r s c h e i n l i c h k e i t s - r e c h n u n g wi rd de r Nachwe i s e r b r a c h t , d a b s ich diese V o r a u s s e t z u n g e n auf e ine einzige reduzieren , n~imlich an f das I n d u k t i o n s a x i o m . I rgendweIche w e i t e r e n A n n a h m e n fiber e ine be sonde re tRegel- m~iBigkeit oder Regel los igkei t i n de r N a t u r s ind n i c h t n 6 t i g ; alle we i t e r en b e n n t z t e n ] 3 e h a n p t n n g e n lassen s ich aus d e m I n d u k t i o n s a x i o m m i t den 3/lit- t e l n de r s t r e n g e n Log ik ab le i ten .

W i r h a b e n in d e n l e t z t en t 3emerkungen n u r e in kurzes R e f e r a t f iber d e n S t a n d de r W a h r - sche in l i ehke i t s log ik geben k 6 n n e n . I c h sehe i n dieser W a h r s c h e i n l i c h k e i t s l o g i k die einzige lVi6glich- kei t , d en A u s s a g e n b e s t a n d de r Phys ik , so wie er ta ts~lchl ich g e m e i n t u n d a n g e w a n d t wird, er- k e n n t n i s t h e o r e t i s c h zu rech t fe r f igen . F re i l i ch wer- d e n die b e n u ~ z t e n B e g r i f f s b i l d n n g e n m a n c h e m , de r zue r s t y o n i h n e n erf~ihrt, ung laubwf i rd ig u n d u n s i c h e r e r s che inen ; a b e t d ie genaue D u r c h - d e n k u n g de r P r o b l e m e i f ih r t zu d e m R e s u l t a t , d a b diese Begvciffsbildungen die e inz igen s ind, welche d e n A u s s a g e n des t~iglichen L e b e n s wie d e r Wissen- s c h a f t e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e S iche rhe i t ve r l e ihen k6nnen . Dies a b e r s c h e i n t m i r die e inzige !Recht- f e r t i g u n g zu sein, welche s ich ffir e ine phi lo- soph i sche Theor i e f i b e r h a u p t geben l~iBt.

Gesellschaft ffir Erdkunde zu Berlin. In der Fachsi tzung am 18. Mat I93t sprach Pro-

:lessor O. QUXLLE, Berlin, fiber Rio de Janeiro, Geo- graphie einer tropischen Grollstadt. In Brasilien is t die St~idteentwicMung grunds~itzlich verschieden yon der- jenigen im spanischen Sfidamerika, wo die St~dte- grfindungen haupts~chlich im Binnenlande erfolgen. In Brasilien spielte Jah rhnnder t e lung das durch die Sch6nheit seiner Lage an groBer geschfitzter Bucht und den Reichtum an Fischen und W'alen in den benach- barren Meeresteilen bevorzugte Bahia eine ffihrende Nolle, weil es den Schwerpunkt der Landwir tschaf t in den Nordosts taaten darstellte. Der Wirkungskreis der Erzbisch6fe yon Bahia erstreckte sich. zeitweflig his fiber Teile der Westkfiste Afrikas. Ers t um die Mitre des 18. Jahrhunder t s verschob sich der Schwerpunkt des Wirtschafts- und politischen Lebens langsam nach Sfiden, und Rio de Janeiro wurde namenfl ich fttr den Seeverkehr nach Afrika and dem weiteren Osten yon Bedeutung, so dab man 1763 den Sitz der Regierung dor thin verlegte. Nut in kirchiicher Beziehung is t auch heute noch der Erzbischof von Bahia das geistliche Oberhaupt .

Der Name Rio de Janeiro s t a m m t daher, dab GON- ZAL~Z CO~LHO die St~tte im J a n u a r 15o 4 entdeckte und die Bucht I fir eineFluBmflndung hielt. Die erste Nieder- lassung erfolgte 155o am Ful?e des Zuckerhutfelsens. Mitre des I6. J ah rhunder t s setzten sich die Franzosen in der Bucht yon Rio und auf ether Insel lest und er- r ichteten hier einen Stfi tzpunkt ffir ihr ,,Trance antarcticiue", der aber bald darauf yon den Portugiesen zerst6rt wurde, welche 1567 auf dem Hfigel Morro do Castelho den ~tltesten Stadtkern begrfindeten. Durch die bequeme Zug~nglichkeit ffir Segelschiffe und das herrliche, den waldbedeckten Bergen ents t r6mende Trinkwasser -- noch heute das beste an der ganzen Ostkfiste Siidamerikas -- er tangt die S tadt bald eine groBe Bedeutung als Seehafen. Die zaMreichen HfigeI bilden in e twa 60 m I-I6he flache Plateaus, welche sich zur Anlage yon Befestigungen eignen, w~ihrend die Talebenen zum Anbau yon Zuckerrohr, SfidfrficJaten, Manioka usw. dienten. Nicht der geographischen Lage und den Beziehungen zum Hinterlande, sondern ledig- lich der Gunst seiner Ortslage verdankt die Stadt ihren Aufschwung.

Das I-Iochland im Norden yon Rio, aus pal~ozoischen Schichten und kristal l inem Grundgebirge bestehend, senkt sich in Staffelbrfichen nach Sfiden und Osten zur Buch t hinab, und die H6henzfige streichen i n das l~{eer

hinaus. Zwischen ihnen erstreckte sich ein von\¥asserl~u- fen durchsetztes Sumpfgebiet mit Mangrove-Vegetation, das zur Zeit der Besitzergreifung yon Indianern bewohnt war. Dutch einen Hebungsvorgang wurden die vor- getagerten Inseln landfest und gteichzeitig gewannen die Portugiesen du tch Entwi~sserung der Sfimpfe und Regulierung der Flfisse neues I(ul turland. Die Jesuiten erbanten 175 o einen groBartigen Aqu~dukt und 18o8 er- s treckten sich die StraBenzfige schon welt in das Hinter- land hinein. Ht6henzfige wurden durchtunnel t , Fahr - straBen zum Tell 5 ° m fief eingesclmitten, I-Ifigel ab- getragen und ihr Material zum Zuschfitten der Sfimpfe, zur l~egulierung der Kfiste und ffir den Bau yon I-Iafen- kais verwendet, so dab das Landschaftsbi ld allm~hlich eine wesentliche Umgesta l tung du tch die Eingriffe des Menschen erfuhr.

Die Hfigel im Stadtbilde sind Ms !Reste ether 60 m hohen alten !Rumpffl~iche aufzufassen, fiber welcher in 12o m H6he noch eine zweite liegt. Das Gestein is t jedoch infolge der Zurfickdr~ingung des %¥aldes tief- grfindig verwittert, und das GeI~nde wird yon Erd- rutschungen heimgesucht, so dab die Abh~nge tier Hfigel n icht bebau t werden k6nnen. Dieser Umstand ha t wesentlich zu dem EntschluB beigetragen, ein- zelne HIfigel abzutragen, eine Arbeit, die bet dem Morro do Castelho 193o beendet wurde, dessen Gestein beim Bau eines Hafendammes zum Schutz gegen die his 15 m hohen Brandungswellen Verwendung fund.

Hand in Hand dami t geht eine durchgreifende Saute- rung. Breite StraBenzfige ffihren frische Seeluft in die Stadt, die je tzt fast fret ist yon dem gelben Fieber, das frfiher verheerend wirkte.

Heute ist Rio de Janeiro neben Bombay die gr6Bte Tropenstadt der Erde. Die Einwohnerzahl stieg yon 112ooo (182I) fiber 27500o (I872), 522o00 (I89O), 805000 (19o6) auf I zooooo (192o). Einen grogen Ein- fluB auf das Wachs tum der Bev61kerung in allen brasilianischen St~dten ha t t e die Aufhebung der Sklaverei 1888. Der Anstieg ist jedoeh n icht so schnell wie in Buenos Aires, weil ein groBer Teil des Bev6Ike- rungsfiberschusses in .Brasilien vom Lande aufgenom- men ~qrd. In teressant is t auch der %Vandel in der Be- v61kerungsstruktur. 1585 waren noch 78% der Ein- wotmer Indianer, I82I fast die H~lfte Neger, I89o schon 66% WeiBe, etwa 22% Mulatten und x2% Neger. Die Industr iebevSlkertmg betr~tgt noch n ich t ein Drit tel und als Indust r ies tadt wird Rio weir fiber- flfigett yon Sao Paulo.