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Das Komplementärrentensystem der obligatorischen ...invaliditaetstagung.ch/pdf/uv.pdf · Das Komplementärrentensystem der obligatorischen Unfallversicherung1 Von Dr.iur. Ueli Kieser,

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Das Komplementärrentensystem der obligatorischen Unfallversicherung1 Von Dr.iur. Ueli Kieser, Rechtsanwalt, Zürich Bei der Koordination von Renten der Unfallversicherung mit Renten der AHV/IV sieht das Unfallversicherungsgesetz (UVG) ein besonderes Koordinationssystem vor: Es gilt das Prinzip, dass die Unfallversicherung Komplementärrenten erbringt, welche betragsmässig auf 90 % des versicherten Verdienstes begrenzt sind. Der Beitrag diskutiert praxisbezogen die überaus schwierige Umsetzung dieses Prinzips und geht zudem auf die Prinzipien der einheitlichen Invaliditätsgradsbestimmung ein. Inhaltsübersicht: 1. Einheitlichkeit der Invaliditätsgradsbestimmung 2. Prinzip der Komplementärrente 3. Auswirkungen von nachfolgenden Änderungen im AHV/IV-Rentenanspruch 4. Komplementärrente bei krankheits- und bei unfallbedingter Invalidität 5. Komplementärrente bei Teilerwerbstätigen 6. Komplementärrente bei zusätzlich ausgeübter selbstständiger Erwerbstätigkeit 7. Komplementärrente bei vorgerücktem Alter 8. Komplementärrente im Alter 8.1. Rentenbeginn vor Erreichen der Altersgrenze 8.2. Rentenbeginn nach Erreichen der Altersgrenze 9. Sonderfälle bei komplementären Hinterlassenenrenten 10. Neues Koordinationssystem? 1. Einheitlichkeit der Invaliditätsgradsbestimmung Art. 16 ATSG legt für den Erwerbsbereich fest, wie der Invaliditätsgrad zu bestimmen ist; es gilt die Methode des Einkommensvergleiches2. Weil mithin für alle – vom ATSG erfassten – Sozialversicherungszweige die Invalidität nach dem gleichen Prinzip zu bestimmen ist, wird in den einzelnen Zweigen bei zutreffender Gesetzesanwendung derselbe Invaliditätsgrad resultieren. Nach der Rechtsprechung hat es dabei der einzelne Versicherungsträger massgebend mitzuberücksichtigen, wenn ein anderer Träger den Invaliditätsgrad bereits festgesetzt hat3.

1 Die folgende Literatur wird abgekürzt zitiert: BRUSA GUIDO, Das Schicksal der Komplementärrente bei der Geburt eines Kindes, SZS 1997 18 ff.; FRÉSARD JEAN-MAURICE, Rentes complémentaires de l’assurance-accidents obligatoire: Quelques effets indésirables de la simplicité, Schweizerische Versicherungs-Zeitschrift 1992 287 ff.; KIESER UELI, ATSG-Kommentar, Zürich/Basel/Genf 2003; LOCHER THOMAS, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 3. Aufl., Bern 2003; MAURER ALFRED, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. I, 2. Aufl., Bern 1983; SCHEIDEGGER JÜRG, Die Koordination der Invaliditätsschätzungen der verschiedenen Sozialversicherungszweige, in: Schaffhauser René/Schlauri Franz (Hrsg.), Aktuelle Rechtsfragen der Sozialversicherungspraxis, St. Gallen 2001, 61 ff. 2 Beispiel: Valideneinkommen = Fr. 100'000.-; Invalideneinkommen = Fr. 50'000.-. Invaliditätsgrad: 50 %. 3 Vgl. BGE 126 V 294, wonach die rechtskräftig abgeschlossene Invaliditätsschätzung als Indiz für eine zuverlässige Beurteilung gewertet werden muss.

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Das EVG betont, dass bei dieser Ausgangslage gewisse Mitwirkungsrechte des tangierten Versicherungsträgers zu beachten seien4. Es fragt sich freilich, ob die Zustellung des Entscheides an diesen Träger und die Einräumung der Rechtsmittelbefugnis den zutreffenden Weg darstellen, um die Mitwirkungsrechte zu sichern. Denn damit gehen zahlreiche Schwierigkeiten einher (z.B. bei der erst nachträglichen Zustellung der Entscheidung an den leistungspflichtigen Träger oder bei der Zustellung an einen eigentlich nicht leistungspflichtigen Träger)5. Vorzuziehen wäre die Auffassung, dass eine eigentliche Bindung nicht besteht, hingegen die vorliegende Schätzung der Invalidität massgebend mitzuberücksichtigen ist. Allerdings findet diese Bindungswirkung bei manchen Sachverhalten eine Grenze: a) Invaliditätsgrad von Teilerwerbstätigen: Die IV ermittelt bei ihnen den Invaliditätsgrad nach der gemischten Methode, d.h. unter Einschluss der Einbusse im Aufgabenbereich, wobei in den Teilbereichen Erwerb und Aufgabenbereich eine getrennte Ermittlung geschieht6. Dabei wird im Erwerbsbereich das Valideneinkommen unter Berücksichtigung des tatsächlich ausgeübten Ausmasses der Tätigkeit festgesetzt, bevor dieses dem Invalideneinkommen unter Berücksichtigung der gesamten medizinisch-theoretisch noch zumutbaren Arbeitsfähigkeit gegenübergestellt wird. Demgegenüber hat die UV nach der Rechtsprechung das Valideneinkommen unter Berücksichtigung einer Tätigkeit im Ausmass von 100 % festzusetzen7. Beispiel8: A war vor der unfallbedingten Invalidität zu 50 % erwerbstätig (Einkommen: Fr. 50'000.-); in medizinisch-theoretischer Hinsicht gilt sie nach dem Unfall zu noch 50 % arbeitsfähig und kann daraus ein Einkommen von Fr. 50'000.- erzielen. Die IV berücksichtigt im Erwerbsbereich einen Teilinvaliditätsgrad von 0 % (Valideneinkommen: Fr. 50'000.-; Invalideneinkommen: Fr. 50'000.-), während die UV 50 % anzunehmen hat (Valideneinkommen: Fr. 100'000.-; Invalideineinkommen Fr. 50'000.-). b) Vergleichsweise Festsetzung des Invaliditätsgrades: Hat eine Sozialversicherung den Invaliditätsgrad nach Art. 50 ATSG vergleichsweise festgesetzt, ist ein anderer Zweig an den so bestimmten Invaliditätsgrad nicht gebunden9. c) Möglicherweise unzutreffend bestimmter Invaliditätsgrad, ohne dass dies im betreffenden Sozialversicherungszweig gerügt werden kann: Das Erheben eines Rechtsmittels setzt allemal ein Rechtsschutzinteresse voraus; dies fehlt, wo der Einwand, die Invaliditätsschätzung sei unzutreffend erfolgt, im betreffenden Zweig gar keine leistungsmässigen Auswirkungen nach sich ziehen kann. Dies verhält sich so, wenn gerügt wird, die IV habe den Invaliditätsgrad unter unzutreffendem Ausschluss des 13. Monatslohnes vorgenommen; das Valideneinkommen sei entsprechend höher anzusetzen. Wenn dadurch der Invaliditätsgrad von 52 % auf 56 % erhöht wird, verändert dies den Leistungsanspruch gegenüber der IV nicht, weshalb – mangels praktischen Interesses – auf ein entsprechend begründetes Rechtsmittel mangels Rechtsschutzinteresse nicht einzutreten ist. Hier hat der tangierte Versicherungsträger – beispielsweise die UV – bei der Invaliditätsschätzung entsprechende Einwände zu berücksichtigen, wenn bei ihm die Invaliditätsrente prozentgenau ausgerichtet wird. 4 Vgl. BGE 126 V 294 unter Hinweis auf den – zwischenzeitlich aufgehobenen – Art. 129 UVV (der wegen des Inkrafttretens von Art. 49 Abs. 4 ATSG gestrichen wurde). Ungeklärt bleibt, weshalb das EVG bei dieser doch eher gelockerten Bindung die Mitwirkungsrechte dennoch annehmen will; solche wären nur bei einer direkten Bindung des tangierten Trägers zu bejahen. 5 Diese Schwierigkeiten bestehen insbesondere bezüglich der Vorsorgeeinrichtungen, wo die Bestimmung des zuständigen Trägers oft ausserordentlich schwierig ist (dazu eingehender SCHEIDEGGER, Koordination, 61 ff.). 6 Dazu Art. 28 Abs. 2ter IVG. 7 Vgl. dazu BGE 119 V 475 ff. (betreffend UV), 125 V 146 (betreffend IV). 8 Ausführlicher zum Problem KIESER, ATSG-Kommentar, Art. 16 Rz. 26 f. 9 Vgl. BGE 112 V 175.

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d) Auswirkungen von Besonderheiten der UV:

Die UV berücksichtigt nur die unfallbedingte Invalidität, was sich bei der IV anders verhält. Wirken Krankheitsfolgen an der Invalidität mit, ist die UV bei solchen Fällen nicht an den durch die IV ermittelten Invaliditätsgrad gebunden. Vielmehr hat sie eigenständig zu ermitteln, welchen Anteil die Unfallfolgen an der bestehenden Invalidität haben. Dasselbe gilt dort, wo die UV bei Personen im vorgerückten Alter die Invalidität zu ermitteln hat10. Bei dieser Konstellation ergeben sich nämlich zwischen IV und UV Differenzen bei der Invaliditätsgradsbestimmung. 2. Prinzip der Komplementärrente Das Zusammentreffen von Renten verschiedener Sozialversicherer kann dazu führen, dass die versicherte Person Gesamtleistungen beanspruchen kann, welche betragsmässig – beispielsweise – das bisher erzielte Einkommen übersteigen. Bei diesem Zusammentreffen legten Gesetzesbestimmungen seit je eine bestimmte Kürzung fest.

Im Verhältnis AHV/IV – UV war die entsprechende Kürzungsordnung zunächst im AHVG bzw. IVG selbst festgelegt gewesen, und zwar dahingehend, dass die Rente der UV zu kürzen ist, wenn sie zusammen mit derjenigen der AHV bzw. IV den mutmasslich entgangenen Jahresverdienst übersteigt11. Bei Teilinvaliden wurden dabei die Renten der UV unter Mitberücksichtigung des weiterhin erzielbaren Einkommens berechnet, was bei dieser Kategorie von Rentenberechtigten jeweils zu regelmässigen Kürzungen führte12. Im Zuge der Ausarbeitung des UVG wurde – zutreffend – angestrebt, die Kürzung nicht mehr im AHVG bzw. IVG, sondern im UVG festzulegen. Dabei wurde die Kürzungsgrenze in doppelter Hinsicht tiefer angesetzt; einerseits erfolgte eine Beschränkung auf den versicherten Verdienst (der in aller Regel tiefer liegt als der mutmasslich entgangene Verdienst), und zum andern wurde die Kürzungsgrenze nicht mehr bei 100 %, sondern bei 90 % festgesetzt13. Zudem wurde nicht mehr auf ein (tatsächliches oder hypothetisches) Resterwerbseinkommen abgestellt. Der Gesetzgeber liess sich bei diesem Übergang von der Überlegung leiten, dass eine einfachere und für die versicherte Person leichter verständliche Regelung eingeführt werden soll; die neue Regelung sei in manchen Fällen für die Versicherten günstiger und zudem administrativ leichter umzusetzen14. Massgebend ist bei dieser Koordination grundsätzlich der Kongruenzgrundsatz, wobei insbesondere die zeitliche und die sachliche Kongruenz von Bedeutung sind. In zeitlicher Hinsicht ist die Koordination zwischen AHV/IV-Renten einerseits und UV-Renten anderseits so vorzunehmen, dass die massgebenden Leistungen im Zeitpunkt des erstmaligen Zusammentreffens je zu bestimmen sind, worauf in der Folge eine Anrechnung der AHV/IV-Rente erfolgen kann15. Was die sachliche Kongruenz betrifft, sind nachstehend die einzelnen Konstellationen getrennt darzustellen.

10 Dazu Art. 28 Abs. 4 UVV und nachstehend Ziff. 7. 11 Vgl. Art. 48 AHVG sowie Art. 45 IVG in der bis 31. Dezember 1983 gültigen Fassung. 12 Vgl. das Berechnungsbeispiel bei SEILER, Entwurf, 26 f. 13 Vgl. Art. 20 Abs. 2, Art. 31 Abs. 4 UVG. 14 Vgl. SEILER, Entwurf, 25; vgl. auch MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. I, 421; freilich wurde schon anfänglich die „ziemlich komplizierte Struktur der Komplementärrente“ vermerkt (MAURER, a.a.O., 422). 15 Vgl. zum Prinzip der zeitlichen Kongruenz insbesondere Art. 20 Abs. 2 UVG und dazu BGE 122 V 340 f. (Massgeblichkeit des erstmaligen Zusammentreffens); Art. 31 Abs. 2 UVV und dazu BGE 127 V 451 (Erhöhung des für die UV massgeblichen versicherten Verdienstes).

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3. Auswirkungen von nachfolgenden Änderungen im AHV/IV-Rentenanspruch a) Art. 20 Abs. 2 und Art. 31 Abs. 4 UVG sehen vor, dass die UV-Komplementärrente beim erstmaligen Zusammentreffen mit der AHV/IV-Rente festgesetzt und in der Folge lediglich „späteren Änderungen der für Familienangehörige bestimmten Teile“ bzw. den „Änderungen im Bezügerkreis“ der AHV/IV-Rente angepasst wird. Dadurch soll ausgeschlossen werden, dass Erhöhungen der AHV/IV-Renten wegen Gesetzesrevisionen zu zusätzlichen Kürzungen der UV-Komplementärrenten führen16. Anknüpfungspunkt der Anpassung der UV-Komplementärrente bildet mithin eine „Änderung“, welche in einem späteren Zeitpunkt eintritt. Dabei wird Bezug genommen auf eine Änderung des Bezügerkreises. Diese kann sich bei der AHV/IV-Rente etwa ergeben, wenn eine Kinder- oder Waisenrente wegfällt, wenn eine Zusatzrente aufgehoben wird oder wenn eine Kinderrente hinzutritt. Der Verordnungsgeber hat in Art. 33 UVV für die Komplementärrente zur IV-Rente konkretisierende Bestimmungen erlassen, welche nach Art. 43 Abs. 6 UVV auch für die Hinterlassenenrenten Bedeutung haben. Dabei hält sich die entsprechende Regelung, welche über den Wortlaut der Gesetzesbestimmungen hinausgeht, dennoch im – weiten – Ermessensbereich, welcher die Gesetzgeberin festgelegt hat17. Diese Bestimmungen schliessen auch die Anpassung wegen der Änderung der Berechnungsgrundlagen ein, weshalb beim Splitting, bei der Plafonierung oder bei der Ablösung der Witwen- durch die Altersrente eine Anpassung der Komplementärrente erfolgt18. Durch diese ausdehnende Umschreibung der Anpassungstatbestände ist zweifellos die vom Gesetzgeber angestrebte administrativ einfache Lösung verbaut worden; dieser Entwicklung ist bei der Prüfung, ob das Komplementärrentensystem weitergeführt werden soll, Rechnung zu tragen. b) Anzupassen ist die Komplementärrente auch bei einer erheblichen Änderung des für die UV massgebenden Invaliditätsgrades19. Tritt zu einer unfallbedingten Invalidität eine krankheitsbedingte Invalidität und wird die IV-Rente deswegen heraufgesetzt, hat aber keine Anpassung der Komplementärrente zu erfolgen20. Wird in der IV eine neue Rentenabstufung eingeführt (was etwa im Rahmen der 4. IV-Revision erfolgt ist), ist dies als Änderung der Berechnungsgrundlagen zu qualifizieren. Wer etwa bei einer Invalidität von 68 % von der IV bis Ende 2003 eine ganze Rente bezog, in der Folge aber nach Art. 28 Abs. 1 IVG noch eine Dreiviertels-Rente erhält, hat Anspruch darauf, dass die UV die Berechnung der Komplementärrente überprüft. 4. Komplementärrente bei krankheits- und bei unfallbedingter Invalidität Wenn die IV die Rente sowohl wegen einer krankheits- wie auch wegen einer unfallbedingten Invalidität zuspricht, vermag die UV bei der Berechnung der Komplementärrente nur denjenigen Anteil der IV-Rente zu berücksichtigen, welcher die obligatorisch versicherte Tätigkeit abgilt21. Bei der frankenmässigen Berechnung dieses Anteils ist zu bestimmen, welchen prozentualen Anteil die unfallbedingte Invalidität an der Gesamtinvalidität hat. Beispiel: Die IV richtet bei einem Invaliditätsgrad von 70 % eine ganze Rente (= Rente von 100 %) aus; die UV hat für ihren Bereich eine (unfallbedingte) Invalidität von 30 % ermittelt. Zur Bestimmung des anrechenbaren Teiles der IV-Rente stehen zwei Berechnungsmethoden zur Verfügung:

16 So SEILER, Entwurf, 25. Vgl. BGE 122 V 338 ff.; zu diesem Entscheid BRUSA, Komplementärrente, 18 ff. 17 So jedenfalls BGE 126 V 511. 18 Dazu BGE 126 V 512. 19 So Art. 33 Abs. 2 lit. c UVV; dazu BGE 122 V 345 ff. 20 Eine Änderung des unfallrelevanten Invaliditätsgrades erfolgt nämlich nicht; im übrigen ist durch Art. 32 Abs. 1 UVV ohnehin vorgeschrieben, dass der für die krankheitsbedingte Invalidität ausgerichtete Rententeil nicht zu berücksichtigen ist. 21 So Art. 32 Abs. 1 UVV, welcher insoweit das Kongruenzprinzip umsetzt.

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- Es kann bestimmt werden, welchen Anteil die UV-relevanten 30 % an der ganzen Invalidität (100 %) haben, was ebenfalls 30 % ausmacht. Von der IV-Rente kann also die UV einen Anteil von 30 % berücksichtigen. - Es kann bestimmt werden, wie hoch der Anteil von 30 % an 70 % ist, was 42,8 % ausmacht; die UV kann also 42,8 % der IV-Rente berücksichtigen22.

Zutreffend erscheint die zweite der genannten Möglichkeiten; denn die Tatsache, dass bei einer Gesamtinvalidität von 70 % eine IV-Rente von 100 % ausgerichtet wird, ist eine IV-eigene Entscheidung, weshalb bei der Lösung der koordinationsrechtlichen Frage der Heranzug von 100 % unzutreffend ist. Nach der – zutreffenden – Rechtsprechung ist Art. 32 Abs. 2 UVV, der den Fall des Hinzutrittes eines Unfalles zu einer Krankheit regelt, analog auch auf den Fall anzuwenden, wo die zeitliche Reihenfolge umgekehrt ist23. Diese Betrachtungsweise ist unter Kongruenzgrundsätzen zweifellos zutreffend, wobei sich freilich Umsetzungsprobleme in Bezug auf die in Art. 32 Abs. 1 UVV getroffene Lösung ergeben. Dabei sind drei Konstellationen zu unterscheiden: - Gleichzeitiges Eintreten von Krankheit und Unfall: Treten die beiden Invaliditäten – angenommen 30 % unfall- und 40 % krankheitsbedingt – gleichzeitig ein, könnte die UV nach der vorstehend aufgezeigten Anrechnungslösung lediglich 42,8 % anrechnen. - Hinzutritt einer Krankheit zum Unfall: Liegt zunächst eine nur unfallbedingte Invalidität vor (von beispielsweise 30 %), welche noch nicht zur Ausrichtung einer IV-Rente führt, tritt später aber eine krankheitsbedingte Invalidität (von 40 %) hinzu, ist davon auszugehen, dass die UV einen entsprechenden Anteil (= 42,8 %) an der fortan ausgerichteten (ganzen) IV-Rente bei der Berechnung der Komplementärrente berücksichtigen kann24. - Hinzutritt eines Unfalles zur Krankheit: Bestand zunächst die krankheitsbedingte Invalidität von 40 % (= Anspruch auf eine Viertelsrente der IV) und erhöht sich diese später wegen der zusätzlichen unfallbedingten Invalidität um 30 % auf 70 %, führt dies zur Ausrichtung einer ganzen Rente der IV. Davon berücksichtigt die UV 75 %, nämlich die Erhöhung der Viertelsrente auf die ganze Rente (Erhöhung = 75 % der ganzen Rente)25.

Richtet die IV wegen der krankheitsbedingten Invalidität bereits eine ganze Rente aus und tritt in der Folge ein Unfall hinzu, erfolgt keine Erhöhung der IV-Rente mehr, weshalb eine Anrechnung der IV-Rente zu unterbleiben hat. Hier stellt sich allerdings beim Erreichen des AHV-Rentenalters die Frage, ob die neu ausgerichtete AHV-Rente durch die UV berücksichtigt werden darf26. 5. Komplementärrente bei Teilerwerbstätigen Bei Teilerwerbstätigen, welche verunfallen, ist zunächst sicherzustellen, dass der Invaliditätsgrad, welcher für die UV massgebend ist, zutreffend berechnet wird27. Soweit die IV den Invaliditätsgrad nach der gemischten Methode bestimmt hat, entschädigt die IV-Rente regelmässig auch die Einbusse in der Haushaltführung. Dieser Teil der IV-Rente darf nach Art. 32 Abs. 1 UVV durch die UV bei der Berechnung der Komplementärrente nicht berücksichtigt werden.

22 Diese Berechnungsart kann – analog – auf BGE 124 V 281 abgestützt werden, wo zur Berechnung des Anteiles folgende Formel geschaffen wird: x = (30 x 100) : 70 = 42,8. 23 Vgl. SVR 2002 UV Nr. 8. 24 Analoge Anwendung von Art. 32 Abs. 1 UVV, der deshalb angerufen werden kann, weil erstmals eine IV-Rente ausgerichtet wird. Insoweit unterscheidet sich diese Konstellation nicht von derjenigen, wo die beiden Risiken gleichzeitig eintreten. Zwar wird in SVR 2002 UV Nr. 8 festgelegt, dass eine analoge Anwendung von Art. 32 Abs. 2 UVV erfolgt, doch bezieht sich dies offensichtlich nur auf den Fall, wo bereits bisher die IV eine Rente ausgerichtet hat. 25 Anwendung von Art. 32 Abs. 2 UVV. 26 Anrechnung bejaht in: Urteil des EVG vom 26. September 2003 i.S. SUVA gegen U.F., U 182/02. 27 Dazu vorstehend Ziff. 1.a.

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Beispiel: A war vor dem Unfall zu 50 % erwerbstätig. Die unfallbedingte Invalidität beträgt im erwerblichen Bereich 100 % und bei der Haushaltführung 70 %. Die IV ermittelt einen Gesamtinvaliditätsgrad von 85 % (Teilinvalidität im erwerblichen Bereich = 50 %; Teilinvalidität im Haushalt = 35 %), was zur Ausrichtung einer ganzen Rente der IV führt, wobei diese auch die Einbusse im Haushalt entschädigt. Wie hoch ist letzterer Anteil? In Frage kommt die Berücksichtigung von 35 %28, von 41 %29 oder von 50 %30. Zutreffend erscheint die Berücksichtigung eines Anteiles von 41 %, weshalb von der ausgerichteten IV-Rente ein Anteil von 59 % durch die UV angerechnet werden kann. 6. Komplementärrente bei zusätzlich ausgeübter selbstständiger Erwerbstätigkeit Die UV erfasst die selbstständige Erwerbstätigkeit nicht, was sich bei der IV anders verhält. Bei der Berechnung der UV-Komplementärrente fällt – nach Art. 32 Abs. 1 UVV – die Berücksichtigung desjenigen Teiles der IV-Rente, welcher nicht die unselbstständige Tätigkeit abdeckt, ausser Betracht. Dies bietet deshalb Schwierigkeiten, weil die IV beide Tätigkeitsbereiche gemeinsam erfasst und die Invalidität – anders als beim Haushaltbereich – nicht getrennt ermittelt. Es bleibt nur die Möglichkeit, die Rente in Berücksichtigung der vor dem Unfall erzielten Einkommen aufzuteilen. Beispiel: A erzielte vor dem Unfall aus der unselbstständigen Tätigkeit ein Einkommen von Fr. 50'000.-; aus der selbstständigen Tätigkeit resultierte ein Einkommen von Fr. 80'000.-. Die IV berechnet ein Invalideineinkommen von Fr. 45'000.-, weshalb ein Invaliditätsgrad von 65,4 % resultiert. Von der ausgerichteten IV-Rente kann die UV einen Anteil von 38,5 % (Fr. 50'000.- von Fr. 130'000.-) berücksichtigen. 7. Komplementärrente bei vorgerücktem Alter Bei Personen im vorgerückten Alter bestimmt die UV den Invaliditätsgrad unter Berücksichtigung der Verhältnisse einer versicherten Person im mittleren Alter31. Darauf verzichtet die IV, weshalb bei diesem Sozialversicherungszweig in aller Regel ein höherer Invaliditätsgrad resultiert. Bei dieser Konstellation ist ebenfalls davon auszugehen, dass die IV „eine nicht nach UVG versicherte Invalidität“ entschädigt32, was dazu führt, dass die IV-Rente in demjenigen Betrag, der sich aus dem entsprechend höheren Invaliditätsgrad ergibt, bei der Berechnung der Komplementärrente nicht berücksichtigt werden darf. 8. Komplementärrente im Alter 8.1. Rentenbeginn vor Erreichen der Altersgrenze Wenn die versicherte Person das zum Bezug einer AHV-Altersrente massgebende Alter erreicht, wird die ihr bisher ausgerichtete IV-Rente ersetzt durch eine AHV-Altersrente33; demgegenüber richtet die UV die Invalidenrente weiterhin aus34. Bei diesem Übergang wird 28 Die Teilinvalidität im Haushalt beträgt 35 % der gesamten (100 %-igen) Invalidität. 29 Die Teilinvalidität im Haushalt beträgt 35 % von 85 % (= 41%) (Berechnung in analoger Anwendung von BGE 123 V 208). 30 Die Teilinvalidität im Haushalt beträgt 35 % und mithin 50 % des zur Ausrichtung einer ganzen IV-Rente führenden Invaliditätsgrades von (mindestens) 70 %. 31 Dazu Art. 28 Abs. 4 UVV und vorstehend Ziff. 1.d. 32 So die Umschreibung in Art. 32 Abs. 1 UVV. 33 Dabei wird – falls dies vorteilhafter ist – auf die Berechnungsgrundlagen der IV-Rente abgestützt (Art. 33bis Abs. 1 AHVG). 34 Vgl. Art. 19 Abs. 2 UVG.

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die UV-Komplementärrente nicht neu berechnet35; freilich gilt dies dann nicht, wenn beim Übergang von der AHV- zur IV-Rente die Berechnungsgrundlagen ändern36. Dies führt in den – seltenen – Fällen, wo beim fraglichen Übergang die AHV-Rente nicht nach den bisherigen, für die IV-Rente massgebenden Berechnungsgrundlagen bestimmt wird, sondern aufgrund der bis zum Erreichen des AHV-Rentenalters geleisteten Beiträge neu (und höher) bestimmt wird, zum unbefriedigenden Ergebnis, dass die UV profitiert von den durch die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität weiterhin geleisteten AHV-Beiträgen. Nach der Rechtsprechung soll beim Erreichen der Altersgrenze eine (erstmalige) Ausrichtung einer Komplementärrente erfolgen, wenn die bisher ausgerichtete Invalidenrente der UV hinzutritt zu einer bereits wegen krankheitsbedingter Invalidität als ganze Rente gewährte Leistung der IV, welche in der Folge abgelöst wird durch eine AHV-Altersrente37. Diese Auffassung überzeugt nicht, weil dadurch der Grundsatz der sachlichen Kongruenz gänzlich missachtet wird. 8.2. Rentenbeginn nach Erreichen der Altersgrenze Setzt die UV-Rente erst nach Erreichen der Altersgrenze ein, so erfolgt eine Erhöhung der massgebenden Grenze von 90 % des versicherten Einkommens um die Altersrente38. Anpassungen der so berechneten UV-Komplementärrente sind in den Verordnungsbestimmungen nicht vorgesehen. 9. Sonderfälle bei komplementären Hinterlassenenrenten Art. 43 UVV regelt eine Reihe von Sonderfällen bei UV-Komplementärrenten an Hinterlassene. Das entsprechende System setzt den Kongruenzgrundsatz – insbesondere das Prinzip der sachlichen Kongruenz – um39. Dabei wird in Art. 43 Abs. 6 UVV auf die für die UV-Invalidenrente massgebende Anpassungsordnung verwiesen, was mit sich bringt, dass bei der Ablösung einer AHV-Hinterlassenenrente durch eine AHV-Altersrente eine Anpassung der UV-Komplementärrente erfolgt, wobei in der Folge die Berücksichtigung der AHV-Altersrente ausser Betracht fällt40. 10. Neues Koordinationssystem? Das von der Gesetzgeberin im Blick auf eine administrativ einfache und von der versicherten Person leichter verständliche Umsetzung geschaffene Komplementärrentensystem bringt erhebliche Anwendungsschwierigkeiten mit sich. Zurückzuführen sind diese auf die – zu Recht bejahte – Massgeblichkeit des Kongruenzprinzipes sowie darauf, dass die UV bei der Festsetzung ihrer Leistungen die teilweise nach anderen Grundsätzen festgesetzten IV- und AHV-Renten anrechnet. Beide Gesichtspunkte schliessen „einfache“ Lösungen aus. Deshalb fragt sich, ob dem heutigen, teilweise lückenhaften und gelegentlich schwer verständlichen System41 nicht eine Ordnung vorzuziehen wäre, welche die einzelnen 35 So Art. 33 Abs. 1 UVV. 36 Dazu BGE 126 V 512; es ist davon auszugehen, dass Art. 33 Abs. 2 lit. b dem Grundsatz von Art. 33 Abs. 1 UVV vorgeht. 37 So Urteil des EVG vom 26. September 2003 i.S. SUVA gegen U.F., U 182/02. 38 So Art. 32 Abs. 3 UVV. 39 Vgl. BGE 126 V 509. 40 Vgl. Art. 43 Abs. 6 UVV mit Verweis auf Art. 33 Abs. 2 lit. b UVV; dass die (neu berechnete) AHV-Altersrente nicht mehr angerechnet werden kann, ergibt sich aus Art. 43 Abs. 1 UVV, wo lediglich die Anrechnung von AHV-Hinterlassenenrenten vorgesehen ist. 41 Dazu etwa BGE 122 V 343 oben, wo die bestehende Regelung als „unbefriedigend“ bezeichnet wird.

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Anrechnungstatbestände eingehender regeln würde. Die damit verbundene Erweiterung des Normensystemes wäre unter Berücksichtigung der gewonnenen Übersichtlichkeit hinzunehmen. Unbillig erscheint schliesslich die Festsetzung der – vergleichsweise – tiefen Grenze von 90 % des versicherten Einkommens42. Diese entspricht der grundsätzlichen Überentschädigungsgrenze von Art. 69 Abs. 2 ATSG nicht und liegt auch tiefer als diejenige, welche für die berufliche Vorsorge gilt43.

42 Kritisch auch LOCHER, Grundriss, 396. 43 Dazu Art. 24 Abs. 1 BVV 2.