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20 CHF / 15

Das Kulturmagazin – Nr. 807 – Juni 2010 · Obrist, Co-Direktor der Londoner Serpentine Gallery und einfl ussreicher Kenner der internationalen Kunstszene, Entwicklungen wie die

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Kunst fördert neue Sichtweisen. UBS ist stolz, seit 17 Jahren Hauptsponsor der Art Basel zu sein, der weltweit

wichtigsten internationalen Kunstmesse. Mit vielen Menschen neue Perspektiven zu teilen, ist eine der Aufgaben

der Kunst. Wir ermöglichen dies unter anderem mit der Unterstützung bedeutender Anlässe.

www.ubs.com/sponsoring

© UBS 2010. Alle Rechte vorbehalten. Zitat: The purpose of art is to make visible the invisible. Künstler: Franco Fontana. Einige seiner Werke sind Teil der UBS Art Collection.

Kunst im

21. Jahrhundert –K

uratiert von Hans U

lrich Obrist

Das K

ulturmagazin – N

r. 807 – Juni 2010

20 CHF / 15 €

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Inhalt

I. Thema

I.

Porträts – André Laame

14 29 Künstler des nächsten JahrzehntsEine Generation von Künstlern, die alle nach der Jahrtau-sendwende in Erscheinung getreten sind, produziert neue Realitäten.

Gespräch mit Hans Ulrich Obrist – Brigitte Ulmer

20 «Die Landkarte der Kunst hat sich verschoben»Welche Tendenzen, Ideen, Zugänge prägen die zeitge-nössische Kunst? Im Gespräch diagnostiziert Hans Ulrich Obrist, Co-Direktor der Londoner Serpentine Gallery und einfl ussreicher Kenner der internationalen Kunstszene, Entwicklungen wie die Sehnsucht nach Live-Erfahrungen, das Revival von Künstlerkollektiven, Strömungen mit «Re» oder die globale Verschiebung der Kunstzentren.

Manifest – Hans Ulrich Obrist

24 Kunst im 21. JahrhundertNach der ersten Dekade zeichnet sich ab, welchen Kurs das neue Jahrhundert bezüglich Kunst eingeschlagen hat. Zehn Thesen greifen Hintergründe und Werte auf, von denen Kunstschaffende heute ausgehen. Ein Manifest für das Jahr-hundert des Gesprächs – das keines sein will.

Kunst

26 Die AusstellungHans Ulrich Obrist kuratiert exklusiv für Du eine Ausstel-lung – aktuellste Kunst im Heftformat.

26 Adrián Villar Rojas, Argentinien (*1980)28 Shilpa Gupta, Indien (*1976)30 Luke Fowler, Schottland (*1978)31 Mark Boulos, England und Holland (*1975)32 Petrit Halilaj, Deutschland und Kosovo (*1985)34 Ziad Antar, Frankreich und Libanon (*1978)35 Simon Fujiwara, Deutschland und Mexiko (*1982)36 Erika Vogt, USA (*1973)38 Keren Cytter, Deutschland (*1977)39 Emily Wardill, England (*1977)40 Cyprien Gaillard, Deutschland (*1980)41 Tris Vonna-Michell, England und Schweden (*1982)42 Cao Fei, China (*1978)44 Aaron Koblin, USA (*1982)46 Aaron Flint Jamison, USA (*1979)47 Josh Smith, USA (*1976)48 Pamela Rosenkranz, diverse Orte (*1979)50 Vincent Vulsma, Holland und Deutschland (*1982)52 Kerstin Brätsch, USA (*1979)54 Tobias Madison, Schweiz (*1985)56 Klara Liden, Deutschland (*1979)57 Tino Sehgal, Deutschland (*1976)58 Alexandre Singh, USA (*1980)60 Sophia Al-Maria, Katar (*1983)62 Christodoulos Panayiotou, Deutschland (*1978)64 Terence Koh, USA (*1980)65 Etienne Chambaud, Frankreich (*1980)66 Elad Lassry, USA (*1977)68 Taryn Simon, USA (*1975)70 Orte der Produktion, Ateliers und andere

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Inhalt

III. Sélection II. Horizonte

128 Fotobuch, TheatertippDie Schweizer Fotopioniere Margrit und Ernst Baumann reisten nach

dem Zweiten Weltkrieg durch die Welt – und sahen weiter als andere ihrer Zeit.Endlich wieder eine Ausnahmeerscheinung auf der Bühne: Das Multitalent Eugénie Rebetez ist unser Tipp für das Festival «Scènes Ouvertes» in Neuenburg.

II.Gespräch mit Hans Mayer – Oliver Prange

74 «Beuys konnte endlos reden, Warhol war ziemlich schweigsam»

Gespräch mit Lydia Davis – Thomas David

92 «Die Amerikaner sind der Wahrheit überdrüssig»Die amerikanische Schriftstellerin Lydia Davis über Sprache, Wahrheit, Präzision und Lüge – und ihre für Du ausgewähl-ten Geschichten.

Literatur – Lydia Davis

98 Kurze GeschichtenLydia Davis überzeugt mit Texten, die manchmal auf einer Zeile Platz haben – aber immer noch eine ganze Geschichte erzählen.

Musik – Christian Berzins

104 Im Bauch des CellosWer verstehen möchte, weshalb in Gstaad ein Klassikfestival entstehen konnte, das jeden Sommer über 20 000 Menschen anzieht, muss zum Konzert in die Kirche Saanen.

Gespräch mit Christoph Müller – Christian Berzins

108 «Am Anfang musste ich die Stars überzeugen»Das Menuhin Festival steckte tief in der Krise. Christoph Müller, der neue künstlerische Leiter, hat den Traditions-anlass wieder zum Blühen gebracht.

Musik – Harald Eggebrecht

116 Wenn Saiten Funken sprühenEine Reihe illustrer junger Geiger tritt dieses Jahr am Menuhin Festival auf. Sie können der «Vater»-Legende durchaus das Wasser reichen.

74 Ein «Makler des Cross-over»: der Galerist Hans MayerDer Düsseldorfer Hans Mayer ist weltweit eine der ersten Adressen für

zeitgenössische Kunst. Von Jean Arp über Andy Warhol bis Joseph Beuys, Ellsworth Kelly und Roy Lichtenstein hat er alle grossen Namen betreut. 2008 erhielt Mayer den Preis der Federation of European Galleries Association.

III.

124 Urs Stahels Sichtweisen: Henrik Spohler

126 Raffi nierter leben mit Ludwig Hasler

128 Fotobuch: «Die Welt sehen» von Margrit und Ernst Baumann

130 Bice Curigers Ausstellungstipps

132 Stefan Zweifels Literaturtipps

134 Filmtipp: Martin Walder über «Cosa voglio di più»

136 Armin Kerbers Theatertipps

138 Poptipp: Euphorischer Abschied von den Musikszenen

139 Klassiktipp ⁄ Jazztipp

140 Opernhaus Zürich: Michael Schindhelm

142 Migros-Kulturprozent: Wer geht eigentlich ins Museum?

146 Vorschau: Jim Avignon

4 Editorial

10 Impressum und Bildnachweis

114 Back-Issues und Abonnement-Karte

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«DIE LANDKARTE DER KUNST

Hans Ulrich Obrist, international renommierter Kurator und Co-Direktor der Serpentine Gallery in London, stellte exklusiv für «Du» die aktuellste Kunst zusammen – als Ausstellung im Heftformat. Aus seiner Befragung der beteiligten Künstlerinnen und Künstler diagnostiziert er eine neue Sehnsucht nach Live-Erfahrung, ein Revival von Künstlerkollektiven und die Verschiebung der Kunstzentren nach Osten.

Hans Ulrich Obrist im Gespräch mit Brigitte Ulmer

HAT SICH VERSCHOBEN»

Gegenwartskunst ist der Röntgenapparat des Zukünftigen. Wer sich eine Übersicht darüber verschaffen will, was die Kunst der nächsten Dekade charakterisiert, kann sich nicht mehr damit begnügen, nach New York oder London zu reisen. Er muss vernetzt mit Künstlern in Buenos Aires, Mumbai, Delhi, Peking oder Shenzen sein, die Künstler-ateliers im arabischen Raum, in Israel, Indien und Berlin betreten, um sich ein schlüssiges Bild machen zu können. Hans Ulrich Obrist, Co-Direktor der Londoner Serpentine Gallery, hat Biennalen in Venedig, Tirana und Moskau co-kuratiert, führt fast täglich ein Interview mit Künstlern oder anderen Geistesarbeitern. Unentwegt dabei, die Kunst-welt neu zu vermessen, spinnt er an einem Netzwerk, das grenzenlos und interdisziplinär ist.

Obrists Büro im Londoner Viertel Kensington kann man als äusse-res Abbild seines Denkens sehen: ein ausuferndes, entgrenztes Archiv, ein Lager mit Türmen von Katalogen und Kunstmagazinen, in das ein konstanter Fluss digitaler Informationen eindringt: Während des Ge-sprächs checkt er häufi g sein Blackberry, der ihn mit Künstlern in Qua-tar, Berlin, Tel Aviv und New York verbindet.

Bei der jüngsten Kunstgeneration stellt er eine Sehnsucht nach direkten, nicht mediatisierten Erfahrungen fest, ein archäologisches Interesse an der Vergangenheit und an Archiven – als eine Gegenreaktion auf die digitale Vernetzung und auf das mit der Geschwindigkeit einhergehen-de grosse Vergessen. Ausserdem ortet er eine Verschiebung der Kunst-welt nach Osten.

Hans Ulrich Obrist, Sie haben für «Du» 29 Künstler ausgewählt, die das nächste Dezennium repräsentieren sollen. Es ist Ihre erste grössere Ausstellung in der Schweiz. Was interessierte Sie an einer solchen Ausstellung im Heftformat? Mich interessiert es, das Format Kunstausstellung in andere Kontexte fl iessen zu lassen und den Ausstellungsraum zu öffnen. Eine Ausstel-lung im Heft zu machen, interessierte mich schon in den 1990er-Jahren. Ich arbeitete mit dem «museum in progress» in Wien zusammen; wir suchten immer wieder nach neuen Kooperationen zwischen Kunst und anderen Feldern. Wir initiierten eine Ausstellungsreihe im Bordmaga-zin der Austrian Airlines und luden Künstler wie Alighero Boetti und

RAQS Media Collective: Beitrag zu Hans Ulrich Obrists Projekt Maps for the 21st Century (2009)

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Andreas Slominski ein, eine Doppelseite zu gestalten. Bei all meinen Projekten suche ich nach neuen Spielregeln. Im Grunde geht es mir um das, was Marcel Broodthaers über das Museum sagte: «Das Museum ist eine Wahrheit, und das ist umgeben von unzähligen anderen Wahrhei-ten, die es wert sind, erforscht zu werden.» Der Italiener Alighero Boetti klagte mir gegenüber einmal, Künstler werden immer für dasselbe an-gefragt: Ausstellungen in Museen oder Galerien oder an Biennalen. Ihn würden aber auch ganz andere Spielregeln interessieren.

Was waren denn die Spielregeln, als Sie die Künstler für dieses Heft ausgewählt haben?Für Du wählte ich Künstler aus, die einer Generation angehören, die mit ihrer Kunst erst nach dem Jahr 2000 in Erscheinung getreten ist. Es geht um die Produktion von neuen Realitäten.

Orten Sie in der Kunst Gegenreaktionen auf die weltweite digitale Vernetzung?Einerseits sind durch diese Vernetzung neue Formen des Dialogs über die Geografi e hinaus zu beobachten, die es vorher nicht gab. Es ist aber auch interessant zu sehen, dass diese vollkommene Vernetzung ebenso zu ei-nem «delinking», einer Sehnsucht nach Loskopplung, führt. Paul Chan sagt: «Linking is beautiful, delinking is sublime.» Das heisst, die nicht mediatisierten Erfahrungen gewinnen an Bedeutung. Es gibt sogar eine starke Sehnsucht nach nicht medial vermittelten, direkten Erfahrungen.

Das ubiquitäre Internet erzeugt somit eine Sehnsucht nach Authentizität, dem Realen, dem Körper.Ja. Das Virtuelle kann ja einerseits eine befreiende Prothese sein, kann aber auch bedrohen. Diese zwei Pole werden von vielen Künstlern zurzeit verhandelt. Analog zur Musik, wo Live-Konzerte immer wichtiger wer-den, wird auch in der Kunst die direkte Erfahrung immer wichtiger. Ein Beispiel ist Tino Sehgals Ausstellung im Guggenheim Museum. Es gibt kein Objekt, sondern nur die intersubjektive Erfahrung.

Die Antwort auf die Ausweitung der Hightech-Möglichkeiten sind also Lowtech-Lösungen?Absolut. Ein weiterer interessanter Punkt ist, dass viele Künstler im be-sonderen Masse an der Montage, Fragmentierung, der Unterbrechung der Linearität des Narrativen und des zeitlich-räumlichen Kontinuums interessiert sind. Die Fragmentierung ist Teil der Geschichte der Avant-garde; wir hatten sie schon beim Kubismus in den 1920er-Jahren, bei Sergej Eisenstein und Bertolt Brecht, und beim experimentellen Film von Alexander Kluge bis Jean-Luc Godard. Die Fragmentierung und die Montage wurden zur operativen Basis des Internets und Teil unserer täglichen Praxis. Man kann die Fragmentierung aber auch wieder poe-tisieren. Wir fi nden dies zum Beispiel in den Filmen von Emily Wardill oder Erika Vogt.

Wo orten Sie hier die innovativen Ideen?Neu ist auch die Polyfonie der Zentren. Es geht nicht mehr nur um New York, London, Paris und Berlin. Es gibt eine seismische Verschiebung in

Richtung Osten. Die Landkarte der Kunst hat sich verschoben. Viele der Künstler leben zwischen den Geografi en. Sie arbeiten zwischen zwei, drei Städten.

Bringen die Vervielfältigung der künstlerischen Zentren und die Verschiebung nach Osten andere, politischer gefärbte Themen mit sich? Oder führt die Globalisierung eher zu einer Homogenisierung der Kunstformen und Inhalte?Natürlich besteht die Gefahr der Homogenisierung, wie in anderen Be-reichen der Gesellschaft. Aber viele Künstler leisten eben auch Wider-stand gegen die Vereinheitlichung der Themen und Formen. Es ist bei-spielsweise interessant, wie stark Ziad Antar in seiner künstlerischen Arbeit das Thema Landwirtschaft thematisiert – dessen Welt eigentlich von Konfl ikten determiniert ist. In seinen Kurzvideos, die ohne High-tech-Effekte auskommen, verhandelt er das Lokale, das tägliche Leben, auch den lokalen Konfl ikt. Die Betonung des Lokalen kann man auch bei anderen Künstlern immer wieder beobachten: Lokale Produktions-bedingungen, lokale Räume, die lokale Anbindung sind zentral.

Das Lokale versus das Globale, Lowtech versus Hightech, das Authen-tische versus die Virtualisierung – Kunst ist somit ein Raum, wo Gegensteuer zu den realen Verhältnissen gegeben wird?Es ist ein verstärktes Interesse an politischen Zusammenhängen zu ent-decken. Joseph Beuys und John Latham werden wieder öfter erwähnt, die Idee der sozialen Skulptur und der Artist Placement Group oder das Beispiel von Peter Saville, der ganz Manchester zur sozialen Skulptur machte. Der Künstler Mark Boulos arbeitet zurzeit an einem Video über den Kommunismus – und das zu einem Zeitpunkt, da man denkt, der Kommunismus sei verschwunden. Die Filme von Luke Fowlers, die

Hans Ulrich Obrist

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Cao Fei hat RMB City auf der Internetplattform «Second Life» gegrün-det, um die Idee einer anderen Realität zu verwirklichen, in der man anders denkt, auch die Beziehung zwischen Individuum und Gesell-schaft neu erfi ndet. Sie hat die Figur der China Tracy erdacht, um die Rolle des öffentlichen Raums im Internet zu ergründen. In ihrem Text, den Cao Fei uns geschickt hat, sagt sie: «Das Leben als Theater, das Theater als Leben.» An Parallelwelten arbeitet auch Aaron Koblin. Er ist Künstler und ein führender Webdesigner, spezialisiert auf die Visualisie-rung von digitalen Daten, und benutzt die Computertechnologie, um die Realität auszudehnen. Er plant, einen Animationsfi lm aus der Masse der Daten der Internetbenutzer zu machen, der organisch wächst. Zwei Autoren fi nde ich in diesem Zusammenhang ganz zentral: Edouard Glissant aus Martinique, der über das Hybride und den Kreolisierungs-begriff schrieb und meines Erachtens für das 21. Jahrundert sehr wichtig ist. Er prägte den Begriff der «Mondialité» – als globaler Dialog, der Differenz produziert, statt Differenz zu vernichten. Er hatte die Idee des Archipelago, der polyfonen Zentren. Der andere Autor, der für mich zentral ist, ist David Deutsch mit seinem Buch Fabric of Reality und der Idee der immer stärker sich differenzierenden Subsysteme.

Die Künstler der neuen Generation verabschieden sich in Parallel-universen. Sie wollen die realen Verhältnisse nicht mehr umstürzen wie einst die Avantgarde. Agitation wird ersetzt durch Eskapismus?Felix Gonzalez Torres sagte einmal, dass Revolution möglicherweise eine Energieverschwendung sei. Wenn ich Künstler nach ihren Utopien oder unrealisierten Projekten frage, kommen nicht nur grosse gesell-schaftliche Veränderungen zu Wort, sondern auch ganz konkrete Pro-jekte. Dem einen geht es darum, ein Theaterstück umzusetzen, der an-dere will eine Performance machen oder Kinderbücher herausgeben. Es sind oft pragmatische Projekte.

Eine Ihrer Fragen an die Künstler war ja, ob sie ein persönliches Manifest hätten. Das Manifest ist eine Absichtserklärung, hinter der oft ein Kollektiv steht – ein Widerspruch zur Atomisierung und Individualisierung unserer Gesellschaft. Josh Smith antwortete bezeichnenderweise: «No way. The only thing I believe in is myself.» Wir leben in einer Zeit, die keine Kohäsion der grossen Bewegungen kennt. Gerade deshalb ist es interessant herauszuspüren, ob man wieder an so etwas wie ein Manifest des künstlerischen kollektiven Willens, ei-nen neuen Optimismus anknüpfen kann. Für mich ist es sehr produktiv zu fragen, ob Künstler des 21. Jahrhunderts ein Manifest haben. Es ist eine grosse Frage, bei der man viel über einen Künstler und eine be-stimmte Zeit erfährt. Aber natürlich denke ich darüber nach, dass wir im 21. Jahrhundert diese Art von Manifesten vielleicht nicht mehr brau-chen, dass es mehr um Gespräche und Dialoge geht.

Kerstin Brätsch, die Teil des Kollektivs «Das Institut» ist, schrieb ein langes Manifesto. Zwar ist die Individualisierung eine feste gesell-schaftliche Konstante, doch in der Kunst scheint das Kollektive wieder wichtiger zu werden?Ja, es gibt Beispiele neuer Kollektive. Etwa Emily Roisdon und ihr Journal LTTR, das von einem New Yorker Kollektiv herausgegeben wird. Tobias Madison spricht über ein Länderprojekt, das er zusammen mit Emil-Michael Klein, Kaspar Müller und Emanuel Rossetti, in einem Kollektiv

von Antipsychiatrie oder der konkreten Utopie eines partizipatorischen String-Orchesters und von Akustik im Film handeln, sind auch als Pro-test gegen das Vergessen zu sehen. Sie sind nicht sentimental, sondern für ihn sind das Werkzeugkästen für das 21. Jahrhundert. Shilpa Gupta aus Mumbai ist sowohl Künstlerin wie Aktivistin. Sie arbeitet kritisch zu den Geschlechterrollen, der Erstarkung von ethnischen Stereotypen und dem Nationalismus in Indien. Etel Adnan sagt uns: Identity is shif-ting, identity is a choice. Petrit Halilaj ist auch ein politischer Künstler, der Realität produziert. Er will für die Berlin Biennale ein neues Haus konstruieren, in das er und seine Familie in Pristina ziehen können.

Hat die Kunst, die aus dem Osten kommt, eine stärkere politische und soziale Dimension als jene aus den eher saturierten Gegenden Westeuropas? Wohnt ihr eine andere Dringlichkeit inne? Es ist schwierig, zu generalisieren. In China und Indien gibt es oftmals eine Aufbruchstimmung, die es vielleicht im Westen in den 1950er- und 1960er-Jahren gab. Andererseits kann man nicht mehr von nationaler Kunst sprechen. Die ganzen nationalen Kriterien tragen nicht mehr und haben einem transnationalen Kunstbegriff Platz gemacht. Man kann eher über Städte sprechen als über Länder.

Und doch kann es kein Zufall sein, dass das verstärkte Augenmerk auf das Politische innerhalb der Kunst mit der geografi schen Verschie-bung der Kunstwelt in Richtung Osten zusammenfällt. Man gewinnt den Eindruck, dass sie sich in eine eher politische Kunst teilt, die auf Biennalen gezeigt wird, und eine eher produktorientierte, die auf Kunstmessen und in Galerien verkauft wird. Innerhalb der Kunstwelt gibt es heute verschiedene parallele Welten. Künstler leben in diesen parallelen Realitäten: Sophia Al-Maria ist Per-formancekünstlerin, Schriftstellerin und Herausgeberin des Magazins Bidoun. Christodoulos Panayiotou ist Künstler, Tänzer und Choreograf. Keren Cytter ist Künstlerin, Filmemacherin und Schriftstellerin. Klara Lyden ist Künstlerin und Urbanistin.

Die chinesische Künstlerin Cao Fei geht diesbezüglich äusserst konsequent vor: Sie hält sich schon seit Jahren in der selbst gegrün-deten, virtuellen Stadt RMB City auf. Wozu?

Er prägte den Begriff «Mondialité» als globaler Dialog, der Differenz produziert, und hatte die Idee der polyphonen Zentren (Archipelago): Skizze von Edouard Glissant (2009)

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also, auf Bora Bora machen möchten. Er ist inspiriert durch Ei Arakawa, der in wechselnden personellen Zusammensetzungen Performances cho-reografi ert. Der Gedanke der offenen Kollaboration ist wichtig und er-setzt die geschlossene Gruppe mit ihren Manifesten. Man kann sagen, es gibt eine Promiskuität der Kollaboration. Es ist wie in der Musik …

… wie in einer Jamsession.Es sind Jams mit wechselnden Zusammenarbeiten. Aber es ist schwie-rig, zu verallgemeinern. Es ist mir wichtig, nicht einfach eine Theorie über die neue Kunst zu stülpen oder eine neue Ästhetik für das 21. Jahr-hundert zu proklamieren. Es geht hier nicht um irgendeine Top-Down-Idee, sondern ich arbeite deduktiv und leite meine Konzepte aus der Arbeit der Künstlerinnen und Künstler ab. Ich höre auf ihre Stimme und erhoffe mir so, eine Idee zu verschaffen darüber, wie sich Kunst im 21. Jahrhundert artikuliert.

Welche weiteren Tendenzen machen Sie bei der jungen Kunst aus?Ich sehe die Prinzipien von Maya und Re. Maya ist ein Akronym und steht für «Most Advanced Yet Acceptable». Ich arbeite zurzeit an einem Text über Maya. Die Idee enstand in einem Gespräch mit Alain Robbe-Grillet und John Bowe, in dem wir über frühe Godard-Filme sprachen und über Robbe Grillets und Alain Resnais’ L’année dernière à Marien-bad – Kunstwerke also, die sowohl einen hochexperimentellen Beitrag leisten und neue Spielregeln erfi nden, aber zugleich über die Kunstwelt oder über die Film- und Literaturwelt hinaus viel mehr Menschen errei-chen. Maya scheint wieder wichtiger zu werden. Ein weiterer Punkt ist das grosse Re, wie der französische Künstler Pierre Huyghe es einmal nannte. Re steht für Repetition und für Re-Enactment, für das Nach-Stellen von Dingen, für «revisited», wieder aufgreifen. Etienne Cham-baud inszeniert seine Ausstellung «The Sirens’ Stage / Le Stade des Sirènes / Il Stato delle Sirene» dreimal an drei verschiedenen Orten, in Rom, Paris und London, und arbeitet dabei mit der Wieder holung. Cyprien Gaillard arbeitet ebenfalls mit dem Re; mit Recycling, mit Archäologie, mit Ruinen. Nahe dabei ist auch das Interesse für das Ar-chiv. Das spielt bei verschiedenen Künstlern eine grosse Rolle, bei Aaron Koblin, Elad Lassry, Christodoulos Panayiotou, Luke Fowler. Auch Alexander Singhs Performances haben mit Archiven zu tun. Simon Fujiwara wird in der Sektion «Statements» der Art Basel die Bar neu aufbauen, die seine Eltern in den 1970er-Jahren im Spanien des Diktators Franco betrieben. Damit wird er seine persönliche Geschich-te, Sexualität, das Exil in Mexiko aufrollen. Auch das hat mit dem Ar-chiv zu tun. Drittens ist das Mythologische, etwa bei Terence Koh.

Das Interesse am Archiv, an der Historie und der archäologischen Geste erscheint als Gegenbewegung zur rasanten Geschwindigkeit unserer Zeit. Das Archiv sehe ich ganz klar im Zusammenhang mit dem Protest gegen das Vergessen. Interessant ist ja, dass das Internet Erinnerung nicht unbedingt produziert, sondern zum Verschwinden bringt. Rem Kolhaas sagte, dass vielleicht die Amnesie Teil des digitalen Zeitalters sei. Die Künstler arbeiten im Geist von Aby Warburg, der mit dem Mnemosyne-Atlas eine Art Inventar der Antike formulierte, mit dem er ihren Einfl uss auf die Renaissance untersuchte. Die Zukunft wird aus Fragmenten der Vergangenheit gebaut.

Hans Ulrich Obrist, 1968 in Weinfelden geboren, ist Co-Direktor der Serpentine Gallery in London und gilt als einer der einfl ussreichsten Kenner der Branche. Er studierte Ökonomie und Politik in St. Gallen. 1991 debütierte er mit einer Küchen-Ausstellung in seiner Wohnung – mit u.a. Fischli ⁄ Weiss und Christian Boltanski. Seither machte er mit Ausstellungen an ungewöhnlichen Orten auf sich aufmerksam. Ab 1993 arbeitete er als Kurator am Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris. Für sein Interview-Projekt, erschienen in «Interview Vol 1 ⁄ Vol 2», hat er über 2000 Gesprächsstunden mit Künstlern, Architekten, Autoren, Musikern, Filmemachern, Wissenschaftlern und Philo-sophen aufgenommen. In den «Conversations Series» sind u.a. Gespräche mit John Baldessari, Zaha Hadid, Yoko Ono, Rem Kolhaas erschienen. Mit «Il Tempo del Postino» entwickelte er mit Philippe Parreno für das Manchester International Festival (2007) und die Art Basel (2009) ein neues Ausstellungsformat, eine «Künstler-Oper», und für die Serpentine Gallery initiierte er «Marathons», eine Serie mit führenden Köpfen aus Kunst, Architektur und Wissenschaft. Obrist wählte für «Du» 29 Künstler aus Europa, Asien und den USA aus, die seiner Ansicht nach die Entwicklungen der nächsten Dekade repräsentieren.

Brigitte Ulmer ist Historikerin und Kunstpublizistin und schreibt regelmässig für «Du». Seit 1989 verfasst sie Artikel, Texte sowie Buch- und Katalogbeiträge zu Kunst und Kultur. 2008 kuratierte sie mit Simon Maurer die Ausstellung «Manon – Eine Person» im Helmhaus Zürich und verantwortete den gleichnamigen Katalog (Scheidegger & Spiess) mit.

Es fällt weiter auf, wie viele verschiedene Disziplinen im grossen Ge fäss Kunst ihre Heimat fi nden: Film, Literatur, Musik, Philosophie …Wir haben heute, im Gegensatz zu früher, kein dominierendes Medium mehr. Im 19. Jahrhundert war es der Roman, im frühen 20. Jahrhundert das Radio, dann kam das Kino, schliesslich das Fernsehen. Heute haben wir die Sammeldisziplin der Visual Arts: Alexandre Singh sagt, sie sei-en wie eine nährende Suppe, in der alle anderen Disziplinen wie Croû-tons schwimmen können. Heute wollen Filmemacherinnen wie Agnes Varda oder Musikerinnen, etwa Lady Gaga, in die Kunst. Alles kommt in der Kunst zusammen. Pamela Rosenkranz wiederum stellt beispiels-weise sehr viele Bezüge zur Philosophie und zur Neurophysiologie her. Auch bei ihr sieht man diese Transdisziplinarität.

Die Kunst als Sammelbecken, in der die verschiedenen Sparten aufgehen? Ist sie wirklich so frei, oder besteht nicht auch die Gefahr der Beliebigkeit?Die Kunstwelt ist die beste aller Welten, um Experimente zu erproben. Der Künstler und Musiker Carl Michael von Hausswolff bestätigte mir kürzlich, die Kunstwelt sei weit fortgeschrittener als die Musikwelt. Hier könne man Experimente machen, die man in der Musikwelt nicht wagen könne.

Die von Ihnen ausgewählten Künstler sind nicht auf Anhieb so leicht zu verdauen wie die Werke eines Damien Hirst oder Jeff Koons oder der neuen Maler. Möchten Sie die Kunst wieder von ihrem Waren-Charakter befreien?Es gibt innerhalb der Kunstwelt ganz verschiedene parallele Realitäten: Biennalen, Museen, Kunstmessen, öffentliche Kunst und soziale Skulp-tur, Marathons, Wissensproduktion. Jede dieser Realitäten, die von sehr vielen anderen Realitäten umgeben sind, ist es wert, erforscht zu wer-den. Diese Diversität ist für eine gesunde, dynamische Kunstwelt unbe-dingt notwendig. Wenn im Verlaufe der durch die Globalisierung ent-stehenden Homogenisierung gewisse dieser Kräfte verschwinden würden, wäre dies bedrohlich. <

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Das Kulturmagazin

Du Kulturmedien AG – Hauptplatz 5 – CH-8640 RapperswilTel. +41 (0) 55 220 81 90 – Fax +41 (0) 55 220 81 77

[email protected] – www.du-magazin.comDas ist Du

Du bietet zehnmal im Jahr ein fundiertes Themenheft aus dem weiten Feld der Kultur.Du nimmt aktuelle Zeitfragen auf und stellt neue Kontexte her.Du stellt international bedeutende Kunstschaffende vor und lässt wichtige Newcomer zu Wort kommen.Du gibt der zeitgenössischen Fotografie einen prominenten Platz.Du zeigt, in welche Richtung sich die Welt verändert – durch die Brille der Kultur.Du schafft Orientierung und trifft Meinungsführer auf Augenhöhe.Du versteht sich als Trüffelschwein für das relevante Neue.Du wird leidenschaftlich gesammelt.Du bietet Emotionalität und Lesegenuss auf höchstem Niveau.Du ist das Magazin für Kulturinteressierte und Menschen, die den Puls der Zeit verstehen müssen.

Das Kulturmagazin Du wurde 1941 gegründet und hat sich seit-her als bedeutende Stimme der Kultur in Europa einen festen Platz gesichert. Das Magazin entdeckt früh wichtige Themen und Strömungen des Zeitgeists, vermittelt die Sichtweisen bedeutender Kulturschaffender und versteht die Kultur als ein weites Feld, um aktuelle Veränderungen einzuordnen. Die anspruchsvolle Du-Le-serschaft ist gebildet, kaufkräftig, urban, international orientiert, offen und einem gehobenen Lebensstil zugetan.

schafft Orientierung und trifft Meinungsführer auf Augenhöhe.

wurde 1941 gegründet und hat sich seit-her als bedeutende Stimme der Kultur in Europa einen festen Platz gesichert. Das Magazin entdeckt früh wichtige Themen und Strömungen des Zeitgeists, vermittelt die Sichtweisen bedeutender Kulturschaffender und versteht die Kultur als ein weites Feld, um

-Le-

Einzelausgabe Juni 2010, Kunst im 21. Jahrhundert – Kuratiert von Hans Ulrich ObristSchnupper-Abonnement, 3 Ausgaben(Nur für Schweiz, Deutschland, Österreich und Liechtenstein) Jahresabonnement Schweiz, LiechtensteinJahresabonnement Deutschland, ÖsterreichJahresabonnement übriges Europa ∕ Übersee

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