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1 Das Lied der Sieben Kastanien Stuart A. Smith

Das Lied der Sieben Kastanien · 3 Prolog: Zeitstrahl der Geschichte 2087: Nach Dekaden ideologischer, gesellschaftlicher und religiöser Konflikte erhebt sich eine neue

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Das Lied der Sieben Kastanien

Stuart A. Smith

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Diese Ausgabe wurde April 2019 veröffentlicht bei: https://stuartsmithcenter.wordpress.com/

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Prolog: Zeitstrahl der Geschichte

2087: Nach Dekaden ideologischer, gesellschaftlicher und religiöser Konflikte erhebt sich eine neue vereinte Nationen, um den Menschen und der Zivilisation neue Vorschriften zu geben. Da die

Technisierung zuvor viel Arbeit zerstört und damit zivile Unruhe verursacht hatte, so limitieren die UN den Einsatz von Technologie, damit die Menschen Arbeit haben in der sie aufgeben können. Zu

diesem Augenblick in der Geschichte haben Menschen bereits Fuß auf andere Planeten gesetzt, doch weitere Missionen waren seit Jahren nicht mehr unternommen wurden.

2092: Die UN beginnt mit großen Geldmengen die Wiederaufnahme der Weltraumerforschung und alte Basen auf dem Mond werden wieder bevölkert.

2096: Bau der ersten Orbitalstadt Heaven One. Diese Basis erlaubte mit seinen Docks den schnelleren und effektiveren Bau von Raumschiffen.

2098: Die erste Marskolonie wird gegründet.

2106: Das Konzept von Kuppelstädten und –landschaften wird entworfen. Dazu werden Plasmaantriebe immer effizienter und erlauben schnelleres Reisen ins Sonnensystem.

2107: Gründung der zweiten Orbitalstadt Heaven Two.

2109: Wegen der verschiedenen Schwerkraftverhältnisse werden keine gesunden Kinder bei den Kolonisten geboren. Mit einer experimentellen Technologie kann die Schwerkraft in den Kolonien aber nun so verändert werden, dass sie Erdlevel haben.

2113: Alle Planeten im inneren Kreis des Sonnensystems sind kolonialisiert.

2123: Beginn der Gründung von Kolonien auf den Monden im äußeren Kreis.

2134: Die UN wird umgewandelt in die Stellare Vereinigung. Mit dieser neuen Organisation soll das gesamte Sonnensystem verwaltet und regiert werden. Allerdings stammen immer alle Entscheidungsträger von der Erde und der Sitz ist ebenfalls auf der Erde. Deswegen wird die SV

auch einfach Erdregierung genannt.

2142: Um die Vormacht auf den Bau neuer Großraumschiffe zu behalten, verbietet die Erdregierung

den Kolonien den Bau von orbitalen Städten.

2153: Erste große Auswanderungswelle von der Erde.

2174: Kolonialisierung des Pluto.

2199: Beginn der zweiten großen Auswanderungswelle, die über dreißig Jahre andauern wird und die Bevölkerung vieler Kolonien verzehnfacht.

2227: Eris wird kolonialisiert.

2231: Auswanderungswelle von politischen Gegnern der Erdregierung in den äußersten Kreis des Sonnensystems, wo besonders die fernen Kolonien hinter Neptun stark anwachsen. Unter den

Auswanderern sind viele hochrangige Wissenschaftler, die mit den Forschungsregulierungen unzufrieden waren.

2239: Erste Spannungen entstehen zwischen der Erdregierung und den Kolonien, da bei allen Entscheidungen des Parlaments und des Zentralrats nur die Interessen und Vorteile der Erde im

Vordergrund stehen. Besonders auf Eris herrscht großer Missmut.

2246: Die äußeren Kolonien auf Eris, Pluto, Charon, Orcus und Quaoar, 2007 OR vereinen sich in

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der Distant Light Alliance um ihre Interessen vor der Erdregierung gemeinsam vorzulegen. Die Kolonien auf Makemeka, Sedna und Haumea enthalten sich, zeigen allerdings auch keine Loyalität zur Erde und warten stattdessen in einer neutralen Haltung die Geschehnisse ab.

2247: Gründung weiterer Allianzen, die meist an Planeten mit dessen Monden gekoppelt sind. Die

Jupitermonde Io, Ganymed, Kallisto, Himalia, Pasiphae und Lysithea vereinen sich zum Pakt des

Zeus, während Europa, Amalthea, Elara und Sinope sich enthalten und weiter Treue zur Erdregierung zeigen. Beim Saturn vereinen sich die Monde Mimas, Enceladus, Tethys, Rhea,

Hyperion und Iaptus zum Bund von Mimas. Da allerdings die ökonomisch starken Monde Titan, Phoebe und Dione sich weigern einzutreten, so blieb der Macht dieser Vereinigung gering. Bei den

Uranusmonden vereinen sich Ariel, Umbriel, Titania, Miranda, Portia, Puck und Sycorax zur Uranus Union. Nur der Mond Oberon weigerte sich einzutreten. Die Union zeigte große Sympathie zur Allianz im äußeren Kreis. Beim Neptun vereinen sich die Monde Triton, Proteus, Galatea und

Despina zum Bündnis von Triton. Die Monde Nereid und Larissa bleiben dagegen loyal zur Erdregierung. Im inneren Ring des Sonnensystems versuchen Venus und Merkur eine Allianz

einzugehen, doch Druck von der Erde unterbinden diese Bemühungen.

2250: Die Erdregierung baut als Erwiderung auf die Unruhe im äußeren Kreis die ersten stellaren

Schlachtschiffe der Titanklasse.

2253: Spannungen zwischen der Erdregierung und der Allianz verschlimmern sich, da man der

Allianz unterstellt illegale Forschungen zu betreiben und Handelsverträge zu verletzen.

2257: Eris baut trotz des Verbots von der Erde eine Orbitalstadt namens Hephaistos mit Docks, die den Bau von Großraumschiffen erlauben. Dies sorgt für eine erste politische Krise, bei der die Beziehungen sich weiter verhärten.

2262: Die Allianz beginnt den Bau von Kriegsschiffen.

2265: Obwohl nicht Teil der Allianz errichtet Makemake ebenfalls eine Orbitalstadt namens Hades Zero. Dazu bekennt Makemake seine Sympathie für die Allianz, tritt ihr allerdings noch nicht bei.

2267: Trotz Proteste von der Uranus Union baut die Erdregierung als Antwort auf die Aggression die Militärbasis Brahma Seven im Orbit des Gasriesen und verlegt drei seiner inzwischen fünfzehn

Titanschlachtschiffe dorthin. Desweiteren werden neue Gesetze erlassen, die das Mitspracherecht, die Kommunikation und den Handel der politischen Pakte im äußeren Kreis einschränken. Die Allianz ignoriert ein jedes dieser Gesetze.

2268: Mehrere hunderttausend Menschen verlassen wegen Unzufriedenheit gegenüber der

Erdregierung Kolonien bei den Gasriesen und ziehen in die neuen Orbitalstädte von Eris und Makemake. Für besonders viel Aufsehen sorgte das Forschungsinstitut für Raumfahrt Persephone auf dem Saturnmond Tethys, das komplett mit allem Personal nach Eris auswanderte und dabei ein

Großteil seiner Forschungsunterlagen mitnahm.

2273: Die Erdregierung beschließt eine Untersuchungskommission losschicken um die Lage in der Allianz zu untersuchen.

2274: Der Kontakt mit der Kommission und der gesamten Allianz bricht ab.

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Kapitel 1:

Wald

»Sehet hinaus, meine liebsten Freunde, meine längsten Kameraden. Sehet hinaus zum fernen Stern,

der unser alle Mutter ist. Dort liegt der Glanz der Menschheit ausgebreitet. Im Lichte baden sie, geborgen im langen Frieden. Heute werden wir aus dem Schatten treten und Grauen und Tod über sie bringen. Heute werden wir den Frieden brechen. Oh meine Kameraden, lasst uns marschieren.

Ohne Reue, ohne Mitleid und ohne Zögern. Keine Schwäche ist uns armen Seelen gegönnt. Stärke und Grausamkeit müssen wir bringen, damit wir frei sein können. Startet nun die Maschinen, oh ihr

Ritter der Dunkelheit. Für die Allianz. Für Eris.« Ein warmer Wind kam von der Ebene und strich angenehm über ihre Haut. Der Geruch von Blumen

und Kiefernnadeln lag in der Luft. Ein Specht klopfte im raschen Takt in der Nähe, baute sich ein neues Heim. Woanders raschelte es im Gebüsch, vom Leben zeugend, das einem hier in aller Pracht

umgab. Nadia lehnte sich etwas mit geschlossenen Augen zurück, die Hände dabei auf dem Baumstamm abstützend auf dem sie momentan saß. All die wunderbaren Eindrücke um sie, gewoben von der

herrlichen Natur, bereit in aller Fülle von ihr aufgenommen zu werden. Wenn sie so in dem sanften, endlosen Ozean an Tönen, Geräuschen und Düften versank, so verlor die Zeit an Bedeutung. Es

machte nichts ob Minuten oder Stunden vergingen, da es für sie ein Zustand des absoluten Friedens und der Ruhe war, eine kleine Ewigkeit in ihrem Herzen. »Hey, Träumerin! Hast dich also wieder hier vor der Arbeit gedrückt.«

Die Stimme holte Nadia aus ihrer Trance und mit einem Lächeln öffnete sie Augen und blickte hoch in den Himmel. Einige Vögel flogen über sie hinweg und noch höher schwebten einige Windgleiter

in der Luft. Da es kaum Wolken gab, so hatten die Piloten sicher eine grandiose Aussicht über die gesamte Kolonie. Ein Schimmern im Blau des Firmaments zeigte die Ränder Kuppel an, die sich viele Kilometer über ihren Kopf spannte und beim leuchtenden Ring des Halo waren landende

Sternenschiffe als glitzernde Punkte sichtbar, die hinab zur Stadt flogen. Noch weiter konnte man schwach die Umrisse weiterer Monde erkennen, sowie ein Teil des gewaltigen Jupiters, der ständig

dominierte, wenn man nach oben schaute. Bei dem momentanen Licht und wegen der Kuppelwand konnte man allerdings kaum seine schönen Streifen erkennen. Mit einem Ruck setzte sich Nadia wieder gerade auf, sodass sie den Abhang hinunter auf die grüne,

mit Weideland bedeckte Ebene sehen konnte, die dann irgendwann in Neu Moskau mit seinen vielen weißen Gebäuden und grünen Dächern überging.

»Ich hab mich nicht vor der Arbeit gedrückt«, antwortete sie und drehte sich um. »Frau Zwetkow hat mir eine Pause gegeben.« »Deine Pause war vor zehn Minute zu Ende!«

»Oh!« Ein anderes Mädchen stand dort, etwa im gleichen Alter wie Nadia. Sie trug auch die Uniform der

Herberge: Ein weißes, einteiliges Kleid mit hellgrünen Rändern an den Ärmeln, dem Kragen und am unteren Ende bei den Beinen. Um die Hüfte herum war ein dunkelgrünes Rankenmuster gestickt. Ihr Haar war lang und schwarz und ihre grünen Augen funkelnden wütend.

»Wo bist du immer nur mit deinem Kopf?«, murmelte sie nach einem Seufzen und schüttelte mitleidig ihr eigenen Haupt.

»Tschuldigung.« »Das bringt auch nichts mehr. Zum Glück hatten wir heut nicht viele Gäste. Los komm, gehen wir zurück zur Herberge.«

»Okey, Sonja.« Nadia sprang vom Baumstamm und zusammen mit ihrer Freundin entfernte sie sich vom

Aussichtspunkt und traten ein in den Tiefen des Fichtenwaldes. Sofort wurde Licht dunkler und alle Geräusche schienen näher zu sein als vorher. Es war herrlich und am liebsten wollte sie mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen weiter. Doch leider war dies kein Wanderpfad für

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die Touristen und so musste sie aufpassen, nicht über Wurzeln oder Unebenheiten zu stolpern. Deswegen begann sie mit ihren Augen den Wald nach Tieren oder interessanten Punkten abzusuchen. Schnell wurde sie fündig.

»Wird es nicht langsam langweilig immer dasselbe zu sehen?«, meinte Sonja. »Ganz und gar nicht.«

»Ganz ehrlich, ich weiß nicht was du hier immer siehst. Du kommst doch von der Erde, Nadia? Ist Ganymed wirklich so interessant für dich?« »Auf der Erde gibt es kaum noch Wälder und von den Städten aus kann man nicht mehr wirklich

den Himmel sehen.« »Ja, aber immerhin gibt es auf der Erde richtige Städte. Da ist nachts sicher was los und es gibt

immer was unternehmen.« »Hier in Neu Moskau ist doch so viel Freiraum, Sonja. Und auch hier ist immer was los. Du musst nur die Augen offen halten. Guck doch wie frei ich bin und wie viel Spaß ich hab.« Zur

Verdeutlichung sprang Nadia nach vorne und drehte sich verspielt mit erhobenen Armen. Einige Farne am Wegesrand zerrten dabei an ihrer Kleidung und sie fand das Gefühl so angenehm, dass sie

kurz auflachte. »Idiotin«, kommentierte Sonja nur kopfschüttelnd. »Du kannst gerne weiter hier leben und versauern. Doch wenn ich genug Geld angespart habe, dann verlasse ich diesen Brocken und fliege

zur Erde. Ich will endlich mehr sehen als diese dumme Kuppel. Ich will die Megastädte kennenlernen und mit der Schnellbahn von San Francisco nach New York fahren. Ich will shoppen,

ich will tanzen, ich will...« »Oh, guck doch Sonja! Ein Eichhörnchen mit einer Nuss! Und ist das dort eine Wühlmaus? Wie knuffig!«

»Kannst du dich mal nicht von allem ablenken lassen, du Hohlbirne?«

Die sieben Kastanien lag an einem Felshang in malerischer Lage. An der Hauptterrasse fiel ein kleiner Wasserfall herab und verursachte oft einen Regenbogen. Der Hintergarten war weitläufig und beherbergte die sieben Kastanienbäume, die der Herberge ihren Namen gaben. Kurz darauf,

hinter dem Zaun, begann der Fichtenwald. Das Gebäude an sich bestand aus Holz und war den alten Alpenskihütten auf der Erde

nachempfunden, mit schönen eingeschnitzten Verzierungen, die oft alte germanische Sagen nacherzählten. Das Hauptgebäude war vier Stockwerke hoch und besaß ein sehr spitz zulaufendes Dach. Dazu kamen noch drei Nebengebäude und eine kleine Schwimmhalle mit Sauna. Nadia hatte

sich sofort in diesem Ort verliebt, als sie hier angekommen war und sah es immer mehr als ihre neue Heimat.

Als die beiden Mädchen, die zusammen schon seit drei Monaten hier arbeiteten, beim Haupteingang ankamen, wo gerade mehrere Schmetterlinge umeinander tanzten, so trat die Besitzerin Frau Zwetkow mit ihrem Gehilfen Kevin nach draußen.

Die ältere, etwas korpulente Dame mit der Hakennase und den scharfen blauen Augen fruchtete wie so oft mit der Suppenkeller herum und erinnerte den jungen Mann immer wieder daran, dieses und

jenes nicht zu vergessen. »Ah, da seid ihr ja!«, rief sie herüber, als die die beiden Mädchen bemerkte. »Wurde auch Zeit!« »Ich kann ihre Stimme langsam nicht mehr hören«, murmelte Sonja genervt.

»Es tut mir Leid«, sagte Nadia, die nach vorne rannte und sich vor ihrer Chefin leicht verneigte. »Ich war im Wald und hab den Geräuschen gelauscht. Dabei habe ich die Zeit vergessen.«

»Passiert häufiger, nicht wahr Liebes?« Frau Zwetkow gab ihr einen leicht Schlag mit der Kelle auf den Kopf. »Vielleicht sollte ich dir mal einen Wecker um den Hals hängen, der dich ständig an die Uhrzeit erinnert.«

»Tut mir Leid«, wiederholte Nadia. »Bestraft mich wie Ihr wollt. Ich mache jede Aufgabe.« Einige Momente funkelte ihre Chefin auf sie hinab, bevor ihre Schultern etwas nach unten sackten

und sie den Kopf leicht schüttelte. »Du passt einfach zu gut zu diesem Ort, Nadia. Es ist nicht schlimm, dass du etwas die Zeit verpasst hast. Wir haben ja gerade keine Gäste mehr und somit gibt

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es wenig zu tun. Weißt du was? Mach für uns morgen früh das Frühstick und dann hat sich die Sache.« »Danke, Frau Zwetkow.« Nadia sah erleichtert auf und lächelte glücklich.

»Idiotin«, flüsterte Sonja. »Guck nicht so fröhlich! Du wurdest gerade zur Frühschicht verdonnert!« »Ist doch nicht schlimm, Sonja. Ich stehe doch gerne früh auf. Hab ich dann doch mehr vom Tag.«

»Ich geb es auf.« »Kevin will gleich runter ins Dorf fahren«, fuhr Frau Zwetkow fort und nickte zum Lastwagen. »Wir brauchen neue Vorräte von Herrn Schildmann. Willst du vielleicht mitfahren?«

»Oh ja, gerne!«, rief Nadia begeistert aus und hüpfte etwas in die Luft. »Aber wir wollten doch nach Neu Moskau und uns den Start der Genesis 7 ansehen!«, beschwerte

sich Sonja. »Ach ja stimmt! Tut mir leid, ganz vergessen. Ich nehme dann den nächsten Zug, Sonja. Ich will nur einen Kaffee bei Herrn Schildmann trinken.« Sie legte ihre Hände ineinander und sah mit

großen, bettelten Augen zu ihrer etwas höher gewachsenen Freundin auf. Diese versuchte einige Sekunden lang unnachgiebig zu sein, doch wie immer knickte sie dann doch

ein. Mit einem erneuten Seufzen schlug sie sich die Faust gegen die Stirn. »Ich halte dir einen Platz frei, Nadia. Komm nur nicht zu spät.« »Okey!«

»Bleib also nicht bei jedem Blumenbeet und jedem Türeingang hängen!« »Okey!«

Unter Frau Zwetkows lautem Lachen sprang Nadia regelrecht zum Laster und setzte sich auf den Beifahrersitz neben Kevin, der nur stumm nickte und dann den Motor startete. Als sie losfuhren, winkten ihnen die anderen beiden Mitarbeiter der sieben Kastanien noch hinterher.

Wie immer schenkte der Tag auf Ganymed ihr immer neue Wunder und Dinge zum Lächeln. Sie fragte sich, was wohl heute noch alles Schönes passieren würde.

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Kapitel 2:

Dorf

Die Straße runter nach Arbali lief einen Hang entlang. Zur Linken erstreckte sich die ruhige Idylle

des Fichtenwaldes, wo die Bäume licht genug waren um manchmal einige sanfte Strahlen der Sonne hindurch zu lassen. Die freien Flecken mit Moos und Gräsern wurden dadurch golden erhellt und manchmal konnte man Rehe auf ihnen entdecken, die die Wärme genossen. Zur Rechten fiel es

scharf ab, sodass man wieder hinaus in die Ebene von Neu Moskau sehen konnte, wo die Kanäle im Glanze des Tages schimmerten.

Einige ältere Herren auf Motorrädern fuhren einmal vorbei, hupten und riefen ausgelassen, während sie ihre Maschinen krachen und grollen ließen. Etwas später überholten sie dann drei Mädchen auf Pferden, die durch das offene Fenster des Beifahrersitzes Hallo sagten.

Kevin hob jedes Mal nur kurz die Hand zum Gruß. Er war ein hochgewachsener Mann mit blondem Haar, sehr buschigen Augenbrauen und graublauen Augen, die immer leicht desinteressiert in die

Welt blickten. Er war kein Mensch vieler Worte, doch dies machte für Nadia nichts. Sie mochte es still neben ihm zu sitzen, die Brise vom offenen Fenster auf der Haut zu spüren und zuzusehen wie die Landschaft vorbeiglitt.

Nachdem sie den Reiterinnen guten Tag gewünscht hatte, lehnte sie sich zurück und betrachtete sich etwas im runden Seitenspiegels des alten Lasters. Sie war im gleichen Alter wie Sonja und hatte

lange, blonde Haare mit zwei Zöpfen die sie sich rot gefärbt hatte und die an ihrem Rücken hinabfielen. Über der Stirn an der rechten Schläfe hatte sie dazu eine Haarspange in Form einer blauen Blume. Ihre weiten, offenen Augen waren kastanienbraun und sie trug dasselbe Kleid wie

Sonja. Nadia lächelte sich noch selbst kurz an, bevor sie dann weiter die Landschaft in sich aufnahm.

Normalerweise brauchte es nur zehn Minuten um nach Arbali zu kommen, doch da Kevin für Nadia etwas gelassener fuhr wurden es am Ende fünfzehn. Das kleine Dorf lag in einem schmalen Tal, kurz vor dem Beginn des Flachlandes. Die kleinen, putzigen Häuser perlten sich entlang eines

schmalen, klaren Baches mit vielen süßen Steinbrücken. Auch wenn diese Siedlung ursprünglich von russischen Siedlern gegründet wurde, so hatten nachkommende Deutsche es einem starken

Fachwerkstil gegeben, was sich angenehm in der Ästhetik des umgebenden Waldes einfügte. Die einzige Straße war mit Kopfsteinpflaster ausgelegt, sodass es bei der Fahrt etwas zu ruckeln begann. Beim kleinen Hauptplatz sprudelte der Brunnen fröhlich vor sich hin und einige Kinder spielten in

ihm. Am Rand fütterten Großmütter die Tauben. Am liebsten wollte Nadia bei beidem mitmachen, doch sie beherrschte sich, da sie wusste wie wenig Zeit sie hatte und es sich nicht leisten konnte

hier einige Stunden zu verplempern. Quietschend hielt der Laster bei der Bäckerei von Herrn Schildmann, der auch schon gleich mit mehlverschmierten Händen herauskam.

»Ausgezeichnet! Ausgezeichnet!«, rief der kleine Mann mit dem runden Gesicht und der ständig schimmernden Glatze aus. »Ich hab schon alles vorbereitet. Ich konnte sogar das Sonnenblumenöl

bekommen. Außerdem habe ich für Frau Zwetkow einen hervorragenden Roten hinzugelegt. Es ist ihre liebste Sorte… ach, Nadia! Du bist ja auch hier!« »Guten Tag, Herr Schildmann«, sagte sie, als sie aus dem Laster sprang.

»Ein Kaffee mit Brezel wie immer?« »Gerne, Herr Schildmann. Wie geht es eigentlich Robert? Ist seine Pfote schon wieder verheilt?«

»Ach, Mädel… er kläfft und springt schon wieder munter durch den Garten. Kann einfach nicht stillsitzen der Junge. So eine kleine Verstauchung kann ihm nichts anhaben. Nimm doch schon mal Platz. Ich bring gleich alles raus!«

Kevin war bereits in die Bäckerei verschwunden um den Inhalt der Kisten zu prüfen, damit er sichergehen konnte, dass alles da war. Herr Schildmann folgte gleich darauf.

Nadia setzte sich draußen an ihren Lieblingstisch im Schatten eines Baumes und begann die vorbeigehenden Passanten zu betrachten. Da sich in dieser Region alle kannten, so wurde sie immer gegrüßt und sie grüßte freudig jedes Mal zurück.

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»Ich sag dir, es wird zu keinem Krieg kommen«, sagte jemand zu ihrer Seite und sie neigte den Kopf etwas um zu sehen, wer da sprach. Zwei Männer mit Wanderstöcken saßen neben ihr am Nachbartisch und unterhielten sich angeregt.

»Woher willst du das wissen? Keiner hat eine Ahnung, was diese bleichen Bastarde auf Eris und Pluto so planen. Der gesamte äußerer Kreis ist inzwischen ein einziges Mysterium.«

»Reine Mathematik. Es wäre Wahnsinn für sie einen Krieg zu beginnen. Es stimmt, wir wissen kaum etwas über ihr Treiben oder was sie bauen. Allerdings haben wir ihre Bevölkerungszahlen vom letzten Zensus und die gelten als sicher. Weißt du eigentlich wie viele Menschen dort draußen

am Rande leben?« »Nö.«

»Wusste ich es doch. Okey, dann pass mal auf. Eris hat so um die 1.1 Millionen Einwohner. Dazu kommen 70.000 weitere auf ihrer komischen Orbitalstadt, die sie gebaut haben. Pluto hat 1.4 Millionen und Makemake gerademal 800.000. Das sind winzige Zahlen! Wenn man alle bewohnten

Zwergplaneten am Rand zusammennimmt, so kommt man auf so um die 5.6 Millionen! Hier auf Ganymed allein leben mehr als doppelt so viele Menschen. Stell dir das mal bitte vor! 5.6 Millionen

gegen das gesamte, restliche Sonnensystem. Meine Güte, wie viele Menschen leben gerade auf der Erde? 13 Milliarden?« Es folgte ein heftiges Kopfschütteln. »Das kannst du vergessen. Selbst wenn sie wirklich Kriegsschiffe da bauen, so können sie unmöglich so viele haben wie die Erdregierung.

Sie haben schlicht nicht die Bevölkerung um so viele Schiffe zu bemannen!« »Du liebst wie immer deine Zahlen«, meinte der andere saugte etwas Eistee mit seinem Strohhalm

auf. »Ich gebe zu, es hört sich absurd an. So wenige gegen so viele. Allerdings… bin ich noch nicht ganz überzeugt. Du hast nie einen Menschen vom stellaren Rand gesehen, oder? Ich hatte einige schon bei mir im Büro gehabt. Sie wollten Touren durch die Stadt, doch sie wirkten nicht wie

gewöhnliche Touristen. Irgendwas war einfach anders an ihnen. Die Art wie sie gucken, wie sie nie ihr Gesicht verzogen haben und immer wenn sie sprachen lief es mir kalt den Rücken runter.«

»Waren sie unhöflich?« »Nein! Nein. Sie waren fast schon zu höflich. Haben immer ganz nett Fragen gestellt und erhoben nie die Stimme. Haben sich immer aufmerksam alles angehört was ich gesagt habe und wollten zu

Orten, die für andere Besucher eigentlich uninteressant sind. Es ist schwer zu sagen...« Er seufzte lang. »Ich meine einfach, wir sollten die Typen vom Rand nicht unterschätzen. Falls sie einen Krieg

planen, so tun sie es seit langer Zeit und die sind sicher nicht dumm. Du überlebst da draußen, so weit weg von der Sonne, nicht lange, wenn du dumm bist. Sie kennen auch sicher die Zahlen, die du mir eben genannt hast und ich glaube, dass sie es mit in ihre Pläne einberechnet haben.

Außerdem, wie neu sind denn die meisten Schiffe der Erdregierung überhaupt?« Bevor Nadia die Antwort hören konnte, so kam Herr Schildmann mit dem Tee und der Brezel.

Hinter ihm begann Kevin den Laster zu beladen. »Hier Liebes. Lass es dir schmecken.« »Danke, Herr Schildmann.«

»Ich hab gehört du willst später noch die in die Stadt um den Start der Genesis 7 zu sehen?« »Ja, es soll ein beeindruckendes Schiff sein und außerdem sind es immer schön Feiern, wenn eines

davon losfliegt. Wollen Sie auch mitkommen, Herr Schildmann?« »Danke für die Einladung, aber nein danke. Ich habe schon zu viele Raumschiffe der Erde gesehen in meinen Leben – darunter sogar ein Titan! Nach einer Weile ist es eh immer das gleiche und

inzwischen mag ich es nicht, wenn Kriegsschiffe hier auf Ganymed landen. Für mich riecht es immer nach Ärger. Aber lass dich nicht aufhalten. Ich komm in einigen Minuten noch mal zurück,

damit wir etwas weiter quatschen können. Ich schick dich dann los, wenn der nächste Zug kommt. Wir alle wissen ja, wie schnell du die Zeit vergisst Nadia.« Sie errötete etwas, als sie dies hörte und gab dem Bäcker einen kleinen Stoß, bei dem er sich

lachend umdrehte und fortging. Die beiden anderen Gäste am Nachbartisch hatten inzwischen das Thema gewechselt und gingen auch bald darauf. Nadia verabschiedete sich von Kevin, der auch

eine Minute später losfuhr und begann eine Taube mit Stücken der Brezel zu füttern. Der Kaffee war wie immer herrlich und der Schatten angenehm kühl. Das Lachen der Kinder war

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deutlich zu hören. Ein wahrlich schöner Tag mit vielen wunderbaren Erinnerungen mit denen sie später einschlafen konnte.

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Kapitel 3:

Stadt

Die Bahn ratterte gemächlich über die Schienen nach Neu Moskau, ließ dabei das hüglige

Weideland hinter sich und kam zu den goldenen Feldern die kurz vor der Ernte standen. Nadia betrachtete wie die Weizenähren und die Gerste sich im Wind wiegten, die Falken darüber schwebten und die Bauern mit zufriedenen Gesichtern bei ihren Höfen standen.

»Fährst du auch in die Stadt um den Start des Schiffes zu sehen, Liebes?«, fragte eine ältere Dame amüsiert, die ihr gegenüber saß.

Die Mitarbeiterin der sieben Kastanien lehnte sich etwas zurück und nahm wieder ordentlich auf ihren Sitz Platz. »Ja, zusammen mit einer Freundin. Ich freue mich schon riesig drauf. Kommen Sie denn auch zum Fest?«

Auf der Erde hatte sie niemals erlebt, dass man einfach so in einem Abteil mit einem Fremden ein Gespräch begann. Hier auf Ganymed war es dagegen alltäglich und dafür liebte sie diesen Mond

nur noch mehr, da sie sich so jeden Tag auf neue Begegnungen und Bekanntschaften freuen konnte. Ein Kopfschütteln war die Antwort. »Ich habe mich nie wirklich für Raumschiffe und dergleichen interessiert. Ich bin hier auf Ganymed geboren und werde auch hier sterben.«

»Sie haben also nie den Mond verlassen?« »Ich wollte als ich jung war, doch es hat sich niemals ergeben. Ich arbeitete für das Geld, traf dann

aber zufällig meinen Ehemann, heiratete, bekam Kinder und fand viele Freunde in all den Jahren. Lange Reisen passten da nie irgendwie rein.« »Bereuen Sie es denn niemals zu anderen Orten geflogen zu sein? Meine Freundin würde

wahnsinnig werden, wenn sie ihr ganzes Leben hier verbringen müsste.« Die ältere Dame lachte bei dieser Bemerkung auf. »Nein, Liebes, Niemals. Ich habe zwar nicht viel

vom Sonnensystem gesehen, aber ich habe trotzdem viele schöne Erinnerungen und das ist doch das Wichtigste, oder? Wenn man auf das Leben zurückblicken und sagen kann, dass es gut war. Und ich denke, die meisten Leben sind gut. Die Menschen erkennen es einfach nur nie.«

Der alte Zug machte einen Ruck als sie geendet hatte und während Nadia so auf ihren Sitz einen kurzen Hüpfer machte nickte sie zustimmend. Ja, all die wunderbaren Erinnerungen die sie

gesammelt hatte seitdem sie nach Ganymed gekommen war. Sie alle funkelten in ihr und würden sicher bald größer sein als der Sternenhimmel draußen. Sehnsüchtig blickte sie bereits zu den weißen Gebäuden von Neu Moskau, die immer näher kamen. Ihr privates Universum der Wunder

würde heute sicher weiter anwachsen. »Sonja würde sicher lachen und mich ein Kind nennen, wenn sie mich so denken hört«, gluckste sie

und wandte sich wieder an die ältere Dame. »Weswegen fahren Sie denn nach Neu Moskau?« »Ach, der Cousin meines Mannes betreibt dort ein Café. Ich fahre jede Woche dorthin um ein wenig zu plaudern?«

»Wow, wirklich jede Woche?« »Ja, Liebes«, antwortete die ältere Dame lächelnd. »Jede Woche. Es gibt immer viel vom Hof zu

bereden und ich höre immer gerne die kleinen Geschichten, die er mit den Gästen erlebt.« Neu Moskau besaß wenig Ähnlichkeit zu seinem inzwischen zerstörten Gegenstück auf der Erde.

Es hatte keinen Kreml, keinen roten Platz und keinen harschen Winter. Die meist dreistöckigen Gebäude waren leicht schief und weiß verputzt mit grünen Dächern. Beinahe alle hatten Balkone

auf denen Blumen blühten und von den drei Hauptstraßen abgesehen besaß die Stadt viele gemütliche Gassen mit gusseisernen Laternen, versteckten Parks mit wunderschön gearbeiteten Springbrunnen und eine große Anzahl an feinen Restaurant und Cafés, die meist in einem

italienischen oder deutschen Stil gehalten waren. Es erfreute Nadia immer wieder, wenn sie einen neuen Laden fand wo sie etwas heiße Schokolade trinken oder eine Pizza essen konnte.

Obwohl die Kuppel von Neu Moskau mit vier Millionen Einwohnern die größte Kolonie auf Ganymed war, so lebten in der eigentlichen Stadt nur vierhunderttausend Menschen. Dies war wenig im Vergleich zu anderen Monden wie Io oder Kallisto, wo manche Städte bis zu zwei

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Millionen Einwohner hatten. Allerdings waren viele der Kuppeln dort komplett urbanisiert, während Neu Moskau große, weite Landstriche mit Feldern, Weiden und Wäldern besaß, die nach den Herzen der Menschen riefen.

Da sie noch etwas Zeit hatte machte Nadia nach ihrer Ankunft am Hauptbahnhof einige Umwege. Auch wenn es nicht so bevölkerungsreich war wie andere Städte, so war Neu Moskau dennoch eine

Großstadt. Allerdings merkte man dies nicht. Es fehlten Hochhäuser, große Bankengebäude, keine U-Bahn und es gab auch keine Industrieviertel. Überall waren Fenster einladend offen, Wäsche hing über ihrem Kopf an Leinen, Kinder rannten auf den autofreien Straßen umher und sie wurde

gegrüßt wie in Arbali. Zuerst ging sie zum kleinen Museum über russische und deutsche Geschichte, wo sie mit dem

Besitzer etwas über die Vergangenheit sinnierte. Es war schön zu wissen, was die Vorfahren für einen getan hatten. Danach besuchte sie die Baustelle für einen neuen Spielplatz und kaufte für die Arbeiter dort einige

Brötchen. Es war schön zu wissen, dass die Kinder bald einen weiteren Ort zum Spielen haben würden.

Anschließend ging sie in einen kleinen Park, wo sie die Vögel beim Baden betrachtete. Ein junger Mann, der mit den Hund gerade Gassi ging, sprach sie dabei an und sie redeten etwas über die Arten, die man von der Erde hierher importiert hatte. Es war schön zu wissen, dass so viele Tiere

auch hier auf Ganymed eine neue Heimat gefunden hatten. Ja, die Welt war schön. Nadia dachte es sich bei jeder Blume, bei jeder Straßenecke, bei jedem

lächelndem Gesicht und beim Summen der Sternenschiffe, die über ihre Köpfe dahinflogen. Damals, als sie noch mit ihrer Schwester in Sibirien auf der Erde, zwischen den vielen dunklen Fabrikschloten gelebt hatte, so hatte sie sich Bilder von dieser fernen Kolonie angesehen, all dieses

Grün hier betrachtet und am Ende die Homepage der sieben Kastanien gefunden. Wie verzaubert hatte sie ganze Nächte lang Neu Moskau und die Herberge über ihren Bildschirm betrachtet, hatte

sich verliebt und irgendwann erkannt, dass Ganymed nach ihr rief. Ja, der Mond hatte nach ihr gerufen und bis heute war sie glücklich mit ihrer Entscheidung dem Ruf gefolgt zu haben, wissend dass ihre Füße auf diesen Boden gehörten.

Viele von ihren Klassenkameraden hatten auch die Erde verlassen, doch meist zu reicheren Welten wie Mars oder Io. Man hatte über die naive Nadia gelacht, die nach Neu Moskau wollte, wo doch

keine Karriere, kein Reichtum und keine moderne Zivilisation wartete. Als Antwort hatte sie nur gelächelt und war in das Raumschiff gestiegen, das sie hierher gebracht hatte. Mögen die anderen ihr Glück finden, doch das ihrige war hier auf Ganymed.

Sie hob ihren Kopf als sie das Knallen von Konfettiraketen und Musik hörte. Anscheinend begann der Start der Genesis 7 bald. Sie musste sich beeilen, wenn sie noch rechtzeitig zur

Aussichtsplattform wollte. Vor ihr erhob sich eine kleine Kapelle auf deren Dach eine Statue der Mutter Maria stand. Nadia faltete die Hände zusammen und dankte Gott für einen weiteren wunderbaren Tag, bevor sie

forteilte.

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Kapitel 4:

Schiff

Die Schiffe der stellaren Streitkräfte der Erde waren mehr als nur waffenstarrende Maschinerie. Sie

waren ein Symbol der Stärke und ein Zeichen des Reichtums, errichtet von der Menschheit unter der Herrschaft der blauen Perle des Sonnensystems. Als Kathedralen des Weltalls sollen sie Ehrfurcht und Respekt bei den Kolonisten einflößen, jedes Mal wenn sie am Himmel erschienen.

Als wertvolles Schwert und edles Schild des Parlaments und des Zentralrats war es Tradition, dass man immer ein großes Fest feierte, immer wenn eines dieser Schiffe abhob, so als würde ein Gott

selbst verabschiedet werden. Natürlich mussten dabei die Kolonien immer alles selbst bezahlen. »Du bist spät«, zischte Sonja als Nadia neben ihr auf die Tribüne stolperte.

»Tschuldigung.« Ihre Mitarbeiterin und Freundin wollte anscheinend noch mehr sagen, doch ihre Worte wurden

abgeschnitten, als die vierhundert, muskulösen Trommler erneut begannen eine ohrenbetäubende Melodie zu spielen. Unten auf dem Festplatz marschierten Kolonnen von der lokalen Schutzgarde in ihren graublauen

Paradauniformen in starren Kolonnen auf und ab, während sie Gewehre oder Fahnen vor sich hielten. Neben ihnen tanzten junge Frauen in weißen Kleidern ausgelassen und sich immer um die

eigene Achse drehend, auf den Gesichtern ein brillantes Lächeln. Hunderte von Konfettiraketen detonierten über ihren Köpfen, sodass ihr bunter Inhalt auf sie hinab regnete. Oben bei der höchsten Tribüne stand Viktor Orlow, der Bürgermeister von Neu Moskau, zusammen

mit anderen leitenden Personen. Er trug seinen besten schwarzen Anzug, bei dem sein Bauch deutlicher hervorstach als sonst. Seine künstliche rechte Hand, deren Außenhülle aus poliertem

Holz bestand, ruhte auf dem Geländer vor ihm. Nadia winkte ihm kurz zu, aber natürlich sah er sie nicht. Jenseits des weiten Festplatzes war das Aussichtsfenster der Kuppel, wo kein blauer Himmel

simuliert wurde und man stattdessen hinaus auf die graue Einöde von Ganymed blicken konnte. Mehrere gedrungene Gebäude erhoben sich gut hundert Meter draußen aus dem leblosen Boden,

verbunden durch halb eingegrabene Röhren. Dies war der äußere Raumhafen und auf einem der glatten Landeflächen begann sich nun die Genesis 7 zu erheben. Nadia stockte für einen Moment der Atem bei dem Anblick

Kreuzer und Zerstörer waren in der Lage innerhalb der Kuppel zu landen, doch die Genesis 7 war ein Schlachtschiff und mit ihren 1.7 Kilometern zu lang um durch den Halo zu passen.

Eine strahlend weiße Hülle glänzte im Licht der Scheinwerfer und der Sonne, glatt und ohne Unebenheiten. Hunderte von goldenen Statuen, die geflügelten Engel darstellten, standen entlang der geschwungenen Ränder, während auf der Oberseite sich das Abbild eines mythischen Leviathan

mit silbernen Schuppen schlängelte. Ebenfalls vergoldete Verzierungen entlang der Unterseite ahmten biblische Geschichten nach, wo Gott ganze Völker ertränkte oder verbrannte, während die

weibliche Galionsfigur mit ihrem Schwert auf die Masse des Jupiters zeigte. Die Luken der Torpedos und Ionenstrahler waren mit den wütenden Gesichtern bärtiger Männer umgeben, die Helden alter Tage sein sollten. Im Falle eines Kampfes würde der Tod aus ihren weit aufgerissenen

Mündern kommen und die Feinde der Erde verbrennen. Die elektromagnetischen Katapulte dagegen waren mit silbernen Flügeln verziert.

All dies zusammen sorgte für ein überschäumende Schönheit, die Reichtum und Eleganz ausdrückte. Selbst die teuersten Luxusliner besaßen nicht die Pracht der Schiffe der stellaren Streitkräfte. Man konnte kaum glauben, dass dieser weiß-goldene Koloss für den Krieg bestimmt

war. Tränen kamen in Nadias Augen, als sie weiter zusah wie die Genesis 7 aufstieg. Ein

tausendstimmiger Chor begann derweil donnernd zu singen. »Ich wünschte ich könnte auf solch einem Schiff zur Erde reisen«, meinte Sonja neben ihr. »Wie eine Königin würde ich mich fühlen.«

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Immer weiter und weiter entfernte sich die Genesis 7. Die Soldaten salutierten dem Schiff, während die Tänzerin immer wilder umeinander kreisten. Die meisten Zuschauer begann zu applaudieren. Die Musik lief noch eine Stunde, bevor das Schlachtschiff nur noch ein glänzender Punkt war, der

zwischen den verschiedenen Monden funkelte. »Das war herrlich«, sagte Nadia und wischte sich eine Träne weg, während um sie herum die

Tribüne immer leerer wurde. Viktor Orlow hatte sich bereits von seinem Sitz entfernt und war vermutlich schon auf halben Weg zu seiner Lieblingskneipe. »Deswegen will ich von hier weg«, knurrte Sonja. »Hier auf Ganymed kann so etwas Schönes nicht

gebaut werden, so arm wie wir sind. Komm, gehen wir etwas tanzen und fahren dann zurück.« »Ja, Sonja.«

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Kapitel 5:

Abend

Die Kuppel änderte automatisch die Farbe des einkommenden Lichts um einen herrlichen

Sonnenuntergang zu simulieren und dunkelte dann allmählich ab, als die Nacht kam. Da dadurch auch die Durchsichtigkeit der äußeren Hülle verstärkt wurde, konnten Nadia und Sonja auf der Rückfahrt vom Zug aus in aller Pracht die orangenen Wolkenbänder des Jupiters und den roten

Fleck betrachten. Das Licht aus den Fenstern der sieben Kastanien hieß sie einladend willkommen, als sie den

dunklen Waldweg hinauf zu der Herberge wanderten. Kevin war bereits zu sich nach Hause gefahren, um Zeit mit seiner Verlobten zu verbringen. Die beiden Mädchen mussten nur noch kleinere Putz- und Aufräumarbeiten tätigen, bevor sie sich zu Frau Zwetkow an den Tisch für die

Bediensteten im Gemeinschaftsraum setzten, wo bereits ein Mahl aus selbstgemachten Semmelknödeln, Pilzen und Schnitzeln auf sie wartete.

Nachdem sie gute Nacht gesagt hatten, gingen die beiden Mädchen hoch in das Dachzimmer, das sie sich teilten. Auch wenn ihr Verdienst theoretisch für eine kleine Stube in Arbali reichte, so sparte Sonja für ihre Auswanderung zur Erde und Nadia liebte einfach die Sieben Kastanien so sehr, dass

sie gerne hier wohnte. Über ihren Betten war ein großes rundes Fenster, durch dass sie am Gasriesen vorbei die glitzernde

Milchstraße betrachten konnten. Manchmal flatterte auch die Gestalt einer Fledermaus vorbei und vom Halo aus stiegen immer noch die Lichter von Sternenschiffen hinab. Die beiden Mädchen saßen mit ihren Rücken auf ihren Matratzen und betrachteten die Sterne, da sie

noch nicht in der Stimmung waren einzuschlafen. Ganz fein hörten sie das Schnarchen von Frau Zwetkow aus dem Nebenraum.

»Es war ein wunderbarer Tag«, meinte Nadia leise. »Für dich ist jeder Tag wunderbar, Nadia. Ich werde wirklich nie verstehen, was dich so sehr an diesem Brocken fasziniert und wie du die Erde verlassen konntest. Was findest du so toll an

Ganymed?« »Alles, Sonja. Die Luft, die Menschen, die Dörfer, die Pflanze, die Tiere...«

»Stopp!«, schnappte ihre Freundin und funkelte sie wütend von ihrem Bett aus an. »Du brauchst nicht alles aufzuzählen. War mein Fehler zu fragen. Ich müsste es eigentlich inzwischen besser wissen. So wie ich dich kenne würdest du erst fertig werden, wenn die verdammte Sonne

implodiert.« »Tschuldigung.«

»Brauchst du nicht«, seufzte Sonja und ließ sich wieder nach hinten fallen. »Du bist eine Nervensäge mit deinem ständigen Geplapper wie schön und toll doch alles hier ist. Ich kann zwar nicht nachvollziehen, wie du zu dieser Meinung gekommen bist, aber wenn du glücklich hier auf

Ganymed wirst, dann habe ich nichts dagegen. Doch ich... ich kann nicht hier bleiben...« Sie streckte ihre Hand hinauf zum Fenster und sie schien einige der anderen Monde greifen zu wollen,

auf denen die eigenen Kuppeln wie leuchtende Funken verteilt waren. »Ich will mehr als diesen Brocken in meinem Leben. Ich will sehen, wie weit wir Menschen gekommen sind. Ich will in den Meeren des Mars schwimmen. Ich will Konzerte im großen Opernhaus auf Venus sehen. Ich will

die weißen Städte der Erde durchwandern. Ich brauch nicht berühmt zu werden, aber einfach nur da leben zu können wo wir alle herkommen und wo das Schicksal der Menschen im ganzen

Sonnensystem entschieden wird. Allein dadurch würde ich mich besonders fühlen. Ich könnte stolz sein.« »Stolz worauf?«, fragte Nadia.

»Ein Mensch zu sein. Mit eigenen Augen sehen zu können, was unserer Rasse alles geleistet hat. Die Monumente der alten Zeit. Die Kunstwerke im originalen Peking, Kairo oder New York. Die

goldene Flotte in all ihrer Pracht am Himmel. Die Genesis 7 ist nur ein so kleiner Teil davon. Ich habe noch nicht einmal einen Titan sehen können!« Während Nadia so zuhörte, musste sie an die ältere Frau denken, die sie vorhin im Zug getroffen

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hatte. Sie überlegte ob sie Sonja von dieser Begegnung erzählen sollte, entschied sich dann aber anders. Wenn ihre Freundin Ganymed verlassen wollte, so war es ihre Entscheidung. Auch wenn sie traurig sein würde, wenn es hieß Abschied zu nehmen, so wollte nichts tun um sie umzustimmen.

»Willst du denn auch zum äußersten Ring?«, fragte sie stattdessen »Nach Pluto, Eris oder Makemake? Ich meine weiter kam die Menschheit bisher wirklich nicht.«

Die Laken raschelten etwas, als sich Sonjas Rücken versteifte. Sie überlegte einige Momente, in denen Nadia geduldig wartete. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, Nadia. Du hast ja schon recht, dass es beeindruckend ist wie weit entfernte Kolonien wir inzwischen haben. Aber ich glaube nicht, dass

Pluto oder Eris schöne Plätze sind, die ich sehen möchte. Und wenn ich mir so die Geschichten anhöre... von den verbotenen Experimenten, die sie angeblich machen oder wie sie es wagen Mutter

Erde, unserer aller Heimat, zu trotzen, so kriege ich ein schlechtes Gefühl manchmal. Ich fange an zu denken, dass es vielleicht keine so gute Idee war, so tief in die Dunkelheit vorzudringen. Vielleicht wäre es besser geblieben, wenn wir alle näher an der Sonne geblieben wären.«

»Kann verstehen, was du sagst«, gluckste Nadia verspielt. »Ich liebe die Sonne. So warm, so hell. Ganymed ist zwar weiter weg von ihr als die Erde, aber dennoch segnet sie uns mit so viel Licht

jeden Tag.« »Idiot.« »Ich weiß.« Es war nicht so, dass sie nicht verstand, was Sonja eben gesagt hatte. Sie wollte nur

nicht darüber reden. Die fernen Kolonien mit ihrer rebellischen Haltung, die Krisen zwischen der Erde und der Allianz, angeführt von Eris. Diese Dinge waren fern und ohne Relevant für sie und

Ganymed. Sie hätte vielleicht eben nicht fragen sollen. Sie war wirklich ein dummes Mädchen manchmal. »Wirst du heute Abend noch Anna schreiben?«, fragte Sonja.

»Nein, aber morgen. Ich will ihr unbedingt von der Start der Genesis 7 erzählen!« »Mach das«, lächelte ihre Freundin. »Ich freue mich bereits darauf sie kennenzulernen. Wollen wir

nun schlafen?« »Gute Idee«, stimmte Nadia zu und drehte an einem Regler neben ihrem Bett, sodass das Fenster etwas dunkler wurde und das Licht der Sterne nicht mehr zu ihnen durchkam. Sie kroch dann unter

die Decke. »Gute Nacht, Nadia.«

»Gute Nacht, Sonja.« Der lange Tag kam zu einem Ende. Draußen gingen die Tiere der Nacht ihrem Lebe nach, während die Menschen in das prächtige, grenzenlose Reich der Träume eintraten.

Und in der fernsten Ferne, im Schatten des Meeresgottes am Rande der Finsternis, begannen die

Feuer sich zu entzünden. Während sie in Frieden schliefen, so nährten sich Stahl und Schrecken.

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Kapitel 6:

Wanderung

»Die älteren, russischstämmigen Bewohner nennen diesen Wald ganz simpel den Neu-Moskauer-

Wald«, erzählte Nadia, während sie am nächsten Tag eine Gruppe mit neun Touristen einen der beliebtesten Wanderwege entlangführte. »Die später nachkommenden Deutschen haben ihn dann aber Teutoburger Wald genannt, in Ehren des gleichnamigen Waldes ihrer Heimat den es früher auf

der Erde gegeben hat. Inzwischen nennen ihn aber die meisten Einwohner einfach nur den Wald.« Der Pfad führte sanft einen Hügel aufwärts. Ein Bächlein platschte zur linken Seite über hellgraue,

glatte Steine und zur Rechten erhoben sich mehrere größere, moosbewachsene Felsen, in die jemand vor langer Zeit Gesichter gemeißelt hatte. Sie gehörten zu den vielen Mysterien der Kolonie, da niemand wusste wer für sie verantwortlich war oder aus welchem Grund man sie

geschaffen hatte. »Gibt es in dem Wald auch Wölfe oder Bären?«, fragte ein älterer, bärtiger Mann vom Saturnmond

Dione, der eine alte Militärhose und eine grüne Jacke trug. »Leider nicht. Der Wald hat zwar viele schöne Plätze, umfasst aber gerade mal 126 Quadratkilometer. Das ist nicht genug Platz für ein Rudel Wölfe oder Bären. Beide Arten brauchen

sehr große, menschenfreie Reviere um gut leben zu können. Wir haben allerdings Rotwild. Seht dort vorne« Sie deutete zu einem kleinen Jägerstand, der eine sonnige Lichtung überblickte.

»Ungefähr einmal pro Woche legt sich der lokale Jäger Franz dort auf die Lauer, da das Wild sich ohne Raubtiere zu unkontrolliert vermehren würde. Heute Abend beim Essen werden Sie alle dann seine neuste Beute zu schmecken bekommen. Er spendet nämlich über die Hälfte der erlegten Tiere

den Sieben Kastanien.« »Wieso macht er das?«, fragte eine schmale Marsianerin weiter hinten, die grüngefärbtes Haar

besaß. »Ach, dass ist eine etwas ältere Geschichte. Aber sie ist sehr schön. Unser Jäger Franz macht seine Arbeit schon lange und ganz früher gab es Touren wie die Jetzige noch nicht. Auch wenn dieser

Wald nicht so groß wie sein Original ist, so kann man sich schon hier drin verlaufen. Dies geschah auch damals als er eine Touristin wie Sie selbst hier in der Nähe gefunden hatte. Die Arme war ganz

erschrocken gewesen und hielt die Karte falsch herum. Franz war damals ein wenig eigenbrötlerischer und sprach selten mit anderen. Dennoch konnte er sie nicht hilflos dalassen und lud sie zu sich in seine Hütte ein, wo er ihr aus seinem neusten Beutetier ein kleines Essen machte.

Bis heute meint er, es wäre einige der besten Stunden seines Lebens gewesen, denn da hat er erfahren wie schön es ist etwas zu teilen. Sehen Sie doch mal bei dieser Brücke hier.« Sie erreichten

eine kleine Holzbrücke, die über das Bächlein führte. An Bändern vom Geländer hingen an einzelnen Fäden jeweils immer zwei Gegenstände herab, die im schwachen Wind leicht gegeneinanderstießen und so ein vielstimmiges Klimpern erzeugten. Es waren meist Ringe,

Halsketten, Armbänder, Brillen und sogar zwei rostige Schlüssel. »Hier ist es Tradition, dass die Jäger auf dieser Brücke immer innehalten und bei den Geistern der Tiere um Entschuldigung bitten

und ihnen für das Fleisch danken. Manche der Hartgesottenen schneiden sich sogar ein wenig und lassen einige Tropfen Blut als Pfad ins Wasser tropfen. Franz nun hat auf dieser Brücke der Touristen einen Heiratsantrag gemacht und sie baten den Wald dann auf ein glückliches Gelingen

ihrer Ehe. Ganz spontan haben sie ihre Ringe dann zusammengebunden und als ein Art Opfer hiergelassen. Sie sind noch immer da. Guckt doch.«

Mehrere der anwesenden Damen seufzten, zwei Männer machten sich Notizen und die grünhaarige Marsianerin blickte mit großen, schimmernden Augen und zusammengefalteten Händen zu Nadia. »Seitdem gibt es hier noch eine zweite Tradition auf dieser Brücke. Pärchen geben hier nun

regelmäßig ebenfalls kleine Opfergaben ab um für eine gute Beziehung zu wünschen. Auch gab es hier noch einige Heiratsanträge mehr in den letzten Jahrzehnten.«

»Was wurde aus Franz und seiner Verlobten?«, fragte jemand kurzatmig. Nadia lächelte schelmisch, legte einen Finger an die Lippen und zwinkerte. »Ist ein Geheimnis.« Ein kollektives Seufzen erklang. »Aber wenn Sie es unbedingt wissen wollen, dann können Sie

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Franz ja direkt fragen. Er wird heute Abend auch beim Essen dabei sein.« Der Weitergang verzögerte sich etwas, da ein anwesenden Pärchen vom Mond Europa unbedingt selbst ein Opfer an der Brücke darbringen wollten. Sie beide trugen Ohrringe und ein jeder brachte

jeweils einen dem Walde dar. Sieben Minuten später erreichten sie die Spitze des Hügels, wo mehrere Bänke und eine

Aussichtsplattform standen. Über ihren Köpfen flogen mehrere Windgleiter vom lokalen Flugverein gemächlich dahin und ein Falke schwebte ganz in der Nähe über ein Stück Gras, wo er wohl etwas Beute vermutete.

Viele setzten sich um zu entspannen, während andere Fotos von der Landschaft unten auf der Ebene machten. Nadia stand an der Seite, bereit um jemanden behilflich zu sein.

»Meine Güte, wieso kriege ich keinen Empfang?«, meinte einer der Touristen in der Nähe, während er immer wieder auf seinen Com tippte. »Seit heut morgen ist die Verbindung so beschissen.« »Versucht du Kukua beim Saturn zu erreichen?«, wollte sein Begleiter wissen.

»Ich will einfach nur nachfragen ob sie sicher auf Tethys angekommen ist! Ist das wirklich zu viel verlangt?«

»Nun, ich hab gelesen, dass anscheinend der Kontakt zu einigen der Sendestationen abgebrochen ist. Keine Ahnung was die da für eine Panne haben, aber du musst wohl warten, bis sie den Schaden repariert haben.«

»Verdammte Scheiße!« Nadia musste etwas schmunzeln. So ähnlich hatte sich auch heute morgen auch Sonja angehört, als

sie ihre Lieblingssendung vom Uranus nicht empfangen konnte. »Es ist so friedlich und ruhig hier«, sagte die junge Frau mit ihrem Freund, die eben auf der Brücke für einen Segen gebeten hatte. »Am liebsten würde ich hier wohnen wollen.«

»Ich kann Sie gerne zum Einwanderungsamt bringen«, scherzte Nadia. »Ach, sehr nett, aber jetzt nicht gerade. Wir müssen erst noch einige Sachen auf Europa klären.

Aber wer weiß, vielleicht irgendwann mal. Ich finde es auch so schön, dass man hier überhaupt nichts von der Angst spürt.« »Welche Angst?«, fragte Nadia verwirrt.

»Die Angst vorm Krieg«, antwortete der Freund nun. »Das ganze Sonnensystem ist nervös wegen der Sache mit der Allianz. Viele glauben, dass jeden Tag Kriegsschiffe von Eris am Himmel

erscheinen könnten. Beim Neptun ist es zu Protesten von Nationalen gekommen, die der Allianz und der Unabhängigkeitsbewegung zugeneigt sind. Man weiß einfach nicht, was die da im äußersten Kreis gerade tun und dies nagt an vielen Nerven überall. Angeblich soll Heaven One im

Erdorbit seine Waffenproduktion für die Flotte verdoppelt haben. Ich könnte stundenlang weitermachen über den ganzen Dreck, der gerade passiert.«

»Wie verdutzt dein Gesicht doch ist«, lachte die Freundin bei Nadias Anblick. »Du hast nichts von alldem gehört? Dies bezeugt einfach nur, wie abseits Ganymed doch vom Rest ist. Ist gut so. Ihr habt weniger Sorgen auf diese Weise.«

»Und solange Ihr hier seid, so braucht ihr euch auch keine unnötigen Sorgen zu machen«, begann Nadia schnell, als sie die etwas düsteren Gesichter der beiden bemerkte. »Bitte, besuchen Sie doch

später unser Badehaus und entspannen sich etwas. Sie werden es nicht bereuen. Es wird zu keinem Krieg kommen, ich verspreche es.«

Liebe Anna, tippte Nadia sechs Stunden später auf ihrem Zimmer. Die letzten Gäste tranken gerade unten im Ahorn Zimmer bei einem knisternden Kamin ihre letzten

Schlücke, bevor sie zu ihren Betten wanderten. Da sie die Morgenschicht übernommen hatte, so machte Sonja nun die Abendschicht, doch auch sie würde bald kommen. Auch wenn die Verbindung zu den anderen Gasriesen immer noch unterbrochen war, so konnte man

noch Nachrichten zur Erde schicken. Deswegen schrieb sie nun eilig eine neue Mail für ihre kleine Schwester.

Ich habe heute wieder viele tolle Menschen kennengelernt. All unsere Gäste sind nett und interessant, mit ihren eigenen wunderbaren Geschichten. Ein weiteres Pärchen hat vorhin auf der

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Brücke den Wald für eine lange, gemeinsame Zeit gebeten. Ich wünsche ihnen das Beste aus vollstem Herzen. Wie geht es dir gerade Anna? Bist du noch immer erkältet? Es muss gerade sehr frostig bei euch

sein. In etwa zwei Monaten müsste ich genug Geld angespart haben um dich zu mir nach Ganymed zu holen...

Fast zehn Minuten schrieb sie, redete über alles was sie heute erlebt und getan hatte. All die Wunder von Neu Moskau, die sich vor ihr entfaltet haben und all die lächelnden Gesichter. Sie wollte, dass Anna an all ihren Erlebnissen hier Anteil hatte.

Es ist immer herrlich zu sehen, wie die Menschen, die hierherkommen, anfangen anders zu denken. Sie halten inne. Manchmal zum ersten Mal in ihrem Leben halten sie inne und betrachten die

Tautropfen an den Blättern. Das ist der Zauber von Neu Moskau. Ich wünsche dir gute Gesundheit Anna. Hoffentlich können wir uns bald sehen. Damit endete Nadia die Mail und schickte sie ab.

Sonja betrat den Raum kurz darauf müde. Doch anstatt sich wie sonst ihren Pyjama zu schnappen und ins Badezimmer zu verschwinden ging sie anstatt zum Fenster und blickte nach oben. »Was ist

das nur?«, fragte sie. »Was meinst du?«, erwiderte Nadia und stellte sich neben ihr. Sofort sah sie, was gemeint war. Weit oben, jenseits der Kuppel, flogen dutzende Lichter zwischen

Ganymed und Jupiter. Eigentlich war dies normal, da diese Gegend immer dichten Raumverkehr besaß, doch es war merkwürdig wie diese Schiffen alle in die selbe Richtung strebten. Auch

bildeten sie eine pfeilartige Formation, die sich zwar über viele tausend Kilometer hinzog, aber dennoch erkennbar war. »Weißt du ob die Flotte heute eine Übung plante?«, wollte Sonja wissen.

»Keine Ahnung«, entgegnete Nadia und zupfte nervös an dem Ärmel ihrer Freundin. »Aber hey, mach dir keinen Kopf okey? Du bist müde und musst schlafen. Morgen hat du ja wieder

Frühschicht. Wir können ja dann nachfragen was los ist, okey?« Damit verdunkelte sie das Fenster und sie beide machten sich bettfertig. Ein weiterer herrlicher Tag war zu Ende auf Ganymed. Was würde wohl morgen kommen.

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Kapitel 7:

Ankunft

Es war noch nicht ganz Morgen als Nadia und Sonja nach draußen auf die große Terasse traten. Das

Holz unter ihren Füßen war noch nass und einige Vögel saßen auf den Tischen. Ein Falke fing eine weiße Taube beim Wasserfall. Am Rand der Kuppel wurde das erste, zarte Rot eines Sonnenaufgangs simuliert, aber sonst hatte

man noch weite Sicht nach oben ins Meer der Sterne. Das Licht der richtigen Sonne war gedämpft, damit die Nacht auch eine Nacht blieb.

Frau Zwetkow und die meisten Gäste standen bereits draußen, als die beiden Mädchen zu ihnen stießen. Einige weinten. Andere beteten. Viele starrten nur mit Unglauben zum Himmel. »Mama«, fragte ein Junge von sechs Jahren, der verwirrt hin und her blickte. »Was ist das? Sind das

neue Sonnen? Hat die Sonne nun kleine Schwestern? Wieso gucken alle so traurig? Ist mehr Licht nicht gut? Soll es wieder dunkler werden?«

Keiner antwortete. Die Mutter fiel einfach auf die Knie und drückte ihr Kind fest an sich. »Das kann nicht wahr sein«, murmelte Sonja mit zitternden Beinen. »Es kann einfach nicht wahr sein. Das ist doch nur ein Witz. Eine Militärübung, oder? Irgendwas. Es kann doch nicht... es kann

doch nicht die Allianz sein. Sie sind so weit weg. Was wollten sie denn hier beim Jupiter?« Nadia fühlte wie trocken ihre Kehle war. Sie wusste, dass kein Wort ihren Lippen gerade

entkommen würde. Also griff sie einfach nur nach der Hand ihrer Freundin und drückte beruhigend zu. Gewaltige Kreise aus feurigem Licht glühten am Himmel. Manche fraßen wohl mehrere tausend

Kilometer dunklen Raum und schimmerten bedrohlich wie Höllentore vor dem Jupiter. Manche waren bereits dabei zu sterben und ließen nur Ringe aus rötlichen Wolken zurück. Doch dafür

blähten sich immer neue auf, begleitet von einem hellen Blitz. Aus ihrer Perspektive hier unten schienen manche dieser gewaltigen Explosionen auch ganze Monde zu verschlingen, auch wenn sie in Wahrheit nur verdeckt wurden und die Detonationen immer mindestens zehntausend Kilometer

von jeder bewohnten Welt entfernt waren. Dennoch war es ein Anblick, der ihre aller Herzen mit Furcht füllte.

Manchmal waren neben den Explosionen von Void-Torpedos auch die langen, weißen Strahlen von Ionenwerfern sichtbar und hier und da sah man auch glitzernden Punkte, die kämpfende Sternenschiffe waren.

»Es herrscht Krieg, oder?«, fragte jemand. »Wir befinden uns jetzt wirklich im Krieg mit der Allianz?«

»Die Erde wird sie doch besiegen, nicht wahr? Die haben doch keine Chance gegen die gesamte goldene Flotte.Wir werden sie doch fertigmachen?« »Nadia, Sonja.« Frau Zwetkow stand plötzlich bei den beiden Mädchen. »Geht in die Küche und

bereitet das Frühstück vor. Sofort!« »Was? Wir sollen in die Küche?« Sonja starrte sie mit offenem Mund an. »Bist du wahnsinnig? Sieh

doch, was da oben...« »Wir sind eine Herberge«, fuhr die Besitzerin der sieben Kastanien fort. »Unsere Aufgabe ist es, sich zu jeder Zeit um unsere Gäste zu kümmern. Raumschlachten dauern ein wenig und irgendwann

werden die Leute hier Hunger haben. Geht nun.« Nadia verstand. Auch sie fühlte das Verlangen zu schreien oder zu weinen, aber sie wusste, dass sie

es nicht dürfte. Dies war ihr Ort und hier hatte sie eine Aufgabe die erfüllt werden musste. Immer noch die zeternde Sonja haltend nickte sie und zog ihre Freundin zurück in die Herberge. Als sie durch die Eingangshalle liefen hörten sie wie draußen ein Auto hielt und Kevin trat in seiner

Arbeitskleidung durch das Haupttor. Seine Miene war ausdruckslos wie immer, doch ein roter Handabdruck auf seiner Wange deutete wohl daraufhin, dass seine Verlobte nicht wirklich begeistert

gewesen war als er zur Arbeit aufbrach. Ein neuer Tag begann bei den Sieben Kastanien.

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»Seht euch das an«, meinte ein Gast und stellte den Bildschirm im Ahorn-Zimmer lauter. Die meisten Kommunikationskanäle von außerhalb waren inzwischen gestört, doch der lokale Fernsehsender von Neu Moskau funktionierte noch und gerade sah man Aufnahmen von der

Aussichtsplattform – den Ort wo sie vor zwei Tagen den Start der Genesis 7 gesehen hatten. Nadia setzte einen Becher Tee auf einen Tisch und stand noch etwas da, um die Aufnahmen zu

betrachten. Zerstörte Schiffe der Erdregierung stürzten vom Himmel in die graue Wüste des Mondes. Viele waren geschwärzt und halb verschlungen in dem ausgetretenen, heißen Plasma, das wie Flammen

um sie herum züngelte. Manche schienen kurz davor in zwei Teile auseinanderzubrechen. Bei anderen fehlten ganze Teile und Löcher von elektromagnetischen Katapulten waren in ihre weiße

Oberfläche gestanzt. Trotz allem besaßen sie noch eine gewisse Aura von Majestät, so wie sie langsam niederfielen. Wie geschlagene Götter, die aus dem Himmel verbannt werden, dachte sich Nadia.

»Wieso sehe ich nirgendwo Schiffe von Eris«, fluchte ein Gast, der in der Mitte des Raumes stand. »Wieso stürzen keine von denen ab! Man kann mir doch nicht erzählen, dass wir es nicht schaffen,

auch nur einen einzigen dieser Ficker zu erledigen!« »Liebling, komm doch her«, meinte seine Frau und klopfte auf die Stelle neben sich auf dem Sofa. Sie alleine hatte mindestens acht Beruhigungstees bisher getrunken. »Der Orbit um Jupiter ist groß.

Sicher hat die Allianz hier und da Schiffe verloren. Kommt doch zurück und entspann dich etwas. Es wird schon alles gut.«

»Das ist doch Genesis 7, oder?«, meinte Sonja und trat hinter Nadia. Sie deutete auf eines der Schiffe, die gerade niederfielen. »Sie haben tatsächlich die Genesis 7 erwischt. Aber wie? Es sah nach so einem starken Schiff aus.«

»Wir müssen die Wäsche aus dem Keller holen und aufhängen«, sagte Nadia nur und schüttelte den Kopf. Die Finger ihrer freien Hand krallten sich in ihr Kleid. »Wir können nicht beeinflussen, was

da oben passiert. Wir müssen den Admirälen der Erde vertrauen und hoffen, dass sie die Allianz vertreiben.« »Fuck! Das ist alles zum kotzen gerade!«

»Kein Gefluche!«, hörten sie Frau Zwetkow brüllen.

»Wieso musste das jetzt passieren?«, fauchte Sonja immer noch weiter, als sie mit den nassen Laken wieder nach oben stiegen. »Noch ein wenig länger und ich hätte zur Erde fliegen können. Jetzt muss ich hier auf diesen verdammten Brocken sterben.«

»Du wirst nicht sterben«, versuchte Nadia sie zu beruhigen. »Ganz sicher. Ich bin überzeugt, dass die Erde es schafft die Allianz zu vertreiben. Jupiter wird schon nicht fallen. Und selbst wenn Eris

doch gewinnt, wieso sollten sie hierher nach Ganyemd kommen? Ihr Ziel ist doch die Erde. Sie werden sicher direkt weiterfliegen und ihre Forderungen stellen.« »Hoffen wir mal, dass du Recht hast. Es stimmt ja. Was sollten sie denn hier auf diesen ländlichen

Brocken? Ja, alles wird irgendwie gut. Sicher werden die Kämpfe bald stoppen und... hä, was ist denn hier los?«

Sie standen nun bei der Eingangshalle und sahen mehrere Gäste mit Gepäck vorbei eilen. Andere standen bei der Tür und versuchten zu telefonieren. Vom Ahorn-Zimmer war stärkeres Weinen als heute morgen zu vernehmen.

»Ist etwas passiert?«, wunderte sich Sonja. »Ja«, antwortete jemand hinter ihnen und als sie sich umdrehten stand Kevin dort. Sein Blick war

hart und seine Stimme ruhig. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. »Es kam gerade die Meldung durch. Die Flotte der Erde zieht sich größtenteils aus dem Orbit des Jupiters zurück. Die Allianz hat gewonnen. Ihre Schiffe sind nun beim Halo und verlangen, dass man sie einlässt. Sie wollen die

Kuppel besetzen.« Die Körbe mit den Bettlaken fielen beide zu Boden.

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Kapitel 8:

Besatzung

»Mein Name ist Namtar An«, erklang es vom Himmel, donnernd wie die Stimme eines dunklen

Engels der zur Erde herabstieg um die Apokalypse zu verkünden. »Ich trage den Rang des Hochadmirals von Eris und bin oberste Befehlshaber aller Streitkräfte der Distant Star Alliance. Eine jede Leiche, die heute hinab auf eurer geliebtes Ganymed gefallen ist, habe ich zu

verantworten. Jedes Schiff, das nun in eurem Orbit kreist, steht unter meinem Kommando. Ein jeder bewohnter Mond vom Jupiter wird gerade von unseren Armeen besetzt. Nach dem Beschlüssen der

Konferenz von Peking in Hinsicht auf stellare Kriegsführung und Kriegsrecht werden wir Ganymed offiziell für die Dauer des Krieges gegen die stellare Vereinigung besetzen und als Basis für weitere Operationen nutzen. Die lokalen Regierungen in allen Kuppelkolonien wird uns untergestellt. Wir

erwarten, dass ihr, die Bevölkerung dieses Mondes, euch ruhig verhält und den Übergang friedlich duldet. Widerstand jeglicher Art wird von uns hart und schnell gebrochen und bestraft. Riskiert

nicht die Leben eurer Liebsten. Seit nicht mutig. Seit nicht dumm. Wir versprechen im Gegenzug keinerlei Gewaltakte gegen die Zivilbevölkerung oder Repressalien. Die Besetzung wird mit der Kapitulation der Erde am Ende des Krieges aufgehoben. Wir sind die Soldaten von Eris. Die

Bringer von Feuer. Die verfluchten Kämpfer für Freiheit. Weinet, wenn ihr wollt. Denn die Zeiten des Friedens sind vorbei.«

Die Worte hallten durch jedes Tal und über jedes Feld. Der Schall prallte von den Blättern der Bäume und den Dächern der Häuser ab und wanderte bis jedes Ohr erreicht war. Die Fenster klirrten in der Macht dieser fremden Stimme.

Eine beinahe gespenstische Stille folgte. Selbst die Vögel zwitscherte nicht mehr und aus dem Fernseher kam kein Laut. Die Reporterin, die außerhalb des Ratshauses von Neu-Moskau gestanden

hatte um Viktor Orlow zu interviewen, war leichenblass und starrte mit dem Mikrofon in der Hand fassungslos nach oben. Im Ahornzimmer rannte ein Gast nach draußen um sich zu übergeben. Eine andere weinte in ihr

Kissen. Nadia fühlte wie ihre Beine weich wurden und musste sich ebenfalls etwas hinsetzen. Sonja drückte

sich dabei an sie und legte ihren Arm um sie. »Namtar An«, flüsterte jemand und weil es so still war hörten alle was er sagte. »Den Namen habe ich bereits gehört. Der Typ ist berüchtigt und das obwohl man kaum etwas von ihm weiß. Das

meiste sind nur Gerüchte. Manche sagen, er kontrolliert die gesamte Allianz und ist einer der Hauptverantwortlichen für die Militarisierung ihrer Gesellschaft. Die Erde nennt ihn einen Dämon.«

»Nun, hoffen wir mal, dass das nur Propaganda ist«, meinte ein anderer. »Ich will nämlich nicht eine Kuppel mit einem Dämon teilen.« »Beten wir, dass er nicht lügt und tatsächlich nicht vorhat uns alle abzuschlachten.«

»In dem Fall würden diese bleichen Bastarde sich nicht die Mühe machen hier runter zu kommen. Wollte die Allianz uns alle tot sehen, würden sie einfach eine Orbitalbombe auf uns schmeißen und

damit hat sich die Sache. Namtars Ziel ist die Erde, nicht wir. Solange wir uns ruhig verhalten, ihn nicht provozieren und den Krieg abwarten, werden sie uns schon nicht abknallen... hoffentlich.« »Könnt ihr beiden Kriegsgenies mal die Klappe halten«, fauchte eine Mutter, die ihren Sohn fest

umarmte. »Ihr macht uns alle nur unnötig nervös.« Jemand tippte auf Nadias Schulter und als sie sich umdrehte, stand Frau Zwetkow beim Sofa. Ihr

Gesicht war ernst und entschlossen, doch ihre Stimme erstaunlich sanft als sie begann zu reden: »Ich und Kevin bereiten gerade das Abendessen vor. Bitte deckt schon einmal die Tische.« Wortlos machten die beiden Mädchen sich an die Arbeit.

Eine halbe Stunde nach dem Essen stiegen drei Schiffe vom Halo hinab. Wieder versammelten sich

alle auf der Terrasse und über die Ferngläser, die normalerweise für das Sichten von Tieren auf Wanderungen gedacht waren, betrachteten sie die Invasoren. Was Nadia sofort auffiel war wie schmucklos ihre Gefährte im Vergleich zu den Erdenschiffen

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waren. Ihre Oberfläche war ein dunkles Stahlgrau, ihre Form kantig oder röhrenförmig, die elektromagnetischen Katapulte nichts mehr als nackte, stählerne Gerüste an den Seiten. Das größte Schiff, das wohl über einen Kilometer lang war und vermutlich gerade so durch den Halo gepasst

hatte, sah zwar ebenfalls wie ein länglicher Kasten aus an dem man Triebwerke und Waffen geklebt hatte, doch immerhin waren die oberen Kanten etwas geglättet und geschwungen. Außerdem gab es

beim oberen Rand bei der Vorderseite so etwas wie eine flache Galionsfigur: Ein goldener, bärtiger Mann mit dem Körper eines Vogels und einer Krone auf dem Kopf der zur Seite blickte und dessen Flügel weit ausgebreitet waren. Etwas darunter, ziemlich mittel, glühte der Ionenwerfer wie ein

zyklopisches Auge. »Mir gefällt das nicht«, meinte Sonja, als die drei Schiffe zur Stadt hinab schwebten. »Die machen

mir Angst.« Nadia schluckte und nickte zustimmend. Schweiß rann ihren Nacken herab. Im Gegensatz zur Pracht der Schiffe von der Erdregierung, die neben königlicher Macht auch Wohlstand und

Reichtum verkündeten, strahlte diese kleine Flotte nur kalte, militärische Zweckmäßigkeit aus. Eris und die Allianz hatten diese Schiffe nur mit einem Sinn im Kopf gebaut: Einen Krieg zu führen und

zu gewinnen. Viele der Touristen versuchten Verwandte zu erreichen, doch der Kontakt zu anderen Monden und

Welten war komplett abgeblockt. Die sorgte für mehr Stress und Furcht bei den Menschen und die Mitarbeiter der sieben Kastanien waren außer Stande die Sorgen zu lindern. Zum ersten mal musste

Nadia hilflos zusehen wie andere litten und es brach ihr das Herz. Sonja telefonierte eine gute Stunde mit ihren Eltern in der Stadt, die wohl wollten, dass ihre Tochter zu ihnen kam. Eben jene Tochter weigerte sich allerdings und es eskalierte in einen Streit bei dem

sie am Ende die Hörmuschel einfach nach unten knallte und schnaufend fort marschierte.

Die Nacht verstrich ohne wirkliche Neuigkeiten. Auf dem grünen Platz in der Stadt versammelten sich zwar einige Leute, doch sie schienen nicht gegen die Invasoren zu protestieren, sondern

warteten eher darauf, was als nächstes geschehen würde. Im Fernseher standen diese paar Dutzend einfach da und sahen hoch zum Balkon, auf dem der Bürgermeister manchmal Ansprachen hielt.

Die meisten Menschen blieben angstvoll zuhause. Am Himmel konnte man schwach noch einige Detonationen von Nachthutgefechten sehen, doch sie scheinen weit im äußersten Orbit des Jupiters stattzufinden.

Niemand wusste, was Namtar und der Bürgermeister Viktor Orlow gerade miteinander besprachen. »Vermutlich ist der alte Sack gleich zu Beginn an einem Herzinfarkt verreckt«, meinte Sonja, als sie

schlaflos in ihren Betten lagen und miteinander redeten. »Er hat nicht das Zeug für so etwas. Vermutlich bereut er es gerade sehr bei der letzten Wahl gewonnen zu haben.« Nadia brummte nur kurz etwas, während sie weiter eine Mail an Anna schrieb. Auch wenn

vermutlich keine Hoffnung bestand diese Nachricht in nächster Zeit abzuschicken, so beruhigte es sie dennoch einfach all die Sorgen und Ängste von sich zu lassen und so zu tun, als würde man

diese mit jemanden Vertrauten teilen. Am nächsten Morgen beim Frühstück kam dann die Meldung, dass alle Touristen von anderen

Kuppeln, Welten und Monden sich in der Stadt zu melden hatten. Dies traf auf alle verbliebenen Gäste der sieben Kastanien zu.

Kevin holte den kleinen Bus der Herberge und auch der Jäger Franz kam mit seinem Truck vorbei, damit auch alle abtransportiert werden konnten. »Ich werde bis Arbali mitfahren«, sagte Frau Zwetkow, die in den Umarmungen der schluchzenden

Gäste unterzugehen schien. »Herr Schildmann hat mich eben angerufen. Man will einen Gemeinderat abhalten, um die Situation zu besprechen. Da darf ich nicht fehlen. Wer weiß, zu was

für blödsinnigen Entscheidungen sie sonst kommen. Wollt ihr beide auch mitkommen? Ihr müsstet auch noch bei Franz reinpassen.«

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»Ja, natürlich!«, rief Sonja beinahe sofort. »Ja, gerne«, sagte Nadia etwas leiser. Und so verließen sie alle die sieben Kastanien und fuhren die Straße hinab zum Dorf. Derweil

ruhten die Schiffe der Allianz nun bewegungslos über die Stadt, grimmig daran erinnernd, dass neue Zeiten herrschten.

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Kapitel 9:

Dorfrat

Die Bewohner von Arbali trafen sich in der lokalen Taverne Silberfluss. Ungefähr vierzig Menschen

versammelten sich um den großen Haupttisch, was für viel Gedrängel sorgte. Nadia, Sonja und einige andere der Jüngeren bevorzugten es, etwas im Hintergrund zu stehen. Kevin war nicht anwesend, da er die Gäste weiter mit Franz in die Stadt fuhr.

»Vielen dank fürs kommen«, begann Dennis Schildmann, der Bäcker. »Ich weiß es waren zwei anstrengende Tage für uns alle und ich bin mir sicher, dass wir alle noch ganz müde sind. Deswegen

bin ich sehr froh, dass trotzdem so viele von euch hierher gefunden haben. Wie ihr wisst, finden dieses Ratstreffen immer statt, wenn...« »Meine Güte, Dennis, lass diesen formalen Mist, endlich«, fuhr ihm Frau Zwetkow dazwischen, die

den meisten Platz am Tisch besaß, da alle automatisch Abstand hielten. »Kannst du mir eigentlich verraten, was du mit diesem Treffen bezwecken willst? Über was sollen wir reden?«

»Die Kuppel wurde angegriffen«, meldete sich jemand vorsichtig. »Wir wurden besetzt, nicht angegriffen. Soweit ich weiß ist bisher noch kein Schuss gefallen.« »Noch nicht.«

»Ach komm, was hast du vor? Mit deiner alten Flinte Soldaten von Eris jagen? Ha, viel Glück.« »Meine Damen und Herren«, versuchte Dennis die Situation zu beruhigen, »bitte, bleiben wir zivil

und erheben nicht die Stimme. Widerstand ist zwecklos.« »Was!«, fauchte Boris, der Schlachter. »Die Allianz sind Invasoren. Sie haben tausende gestern umgebracht! Wir können doch nicht tatenlos zusehen.«

»Die Verstorbenen waren alles Mitglieder der Flotte der Erdregierung. Sie waren Teil des Militärs. Sterben gehört da zu den Jobrisiken würde ich sagen. Außerdem stammt soweit ich weiß keiner von

denen hier von Ganymed. Keine Familie hier muss also trauern. Es gab somit keinen Verlust für uns. Die Tränen von trauernden Familien auf der Erde können uns ja wohl gleichgültig sein.« Einige klopften zustimmend auf die Tischplatte.

»Außerdem hat die Allianz Orbitalbomben!«, begann jemand im Eck. »Sie werden von einem Dämon geführt!«

»Ich habe gehört, dass viele von denen keine Menschen mehr sind. Sie experimentieren an sich selbst! Wer weiß was für Ungeheuer sie sind.« »Ich will den Wald nicht brennen sehen!«

»Ich will dieses Dorf nicht brennen sehen!« »Feiglinge«, flüsterte Sonja gehässig, während alle wild ineinander redeten. »Leichtgläubige

Feiglinge. Deswegen will ich diesen Brocken verlassen. Wieso müssen hier alle so dumm sein? Wir können doch nicht Eris mit all diesen bösen Sachen durchkommen lassen. Wir können doch nicht nichts tun?«

»Mmh«, machte Nadia nur und sah aus dem Fenster. Draußen auf in der Gasse spielten einige Kinder. Sie waren nass, weil sie Eimer mit Wasser vom Bach hierher getragen hatten und nun

Wasserbomben bastelten. Hatten sie sich raus geschlichen? Vermutlich, denn eigentlich wollten die Eltern ihre Sprösslinge gerade am liebsten bei sich wissen. Doch die Kinder hier waren wilde und ungezähmte

Frechdachse, die sich nicht gerne einsperren ließen. Wie sorgenfrei sie doch gerade aussahen. Der Krieg und diese Hektik der Erwachsenen schien sie

nicht zu kümmern. Sie wollten einfach weiter Spaß haben. Wie beneidenswert.

»Ich mag die Präsenz der bleichen Basta... ähm, der Allianz auch nicht«, entschied Dennis Schildmann am Ende der Besprechung unter den bohrenden Augen von Frau Zwetkow. »Ich traue

ihnen nicht und sie sind zu fremd für uns. Doch vermutlich werden sie ausschließlich in der Stadt bleiben. Welchen Grund hätten sie im Moment unser beschauliches Dorf aufzusuchen? Und zu unser aller Schutz werden wir ihnen auch in Zukunft keinen Grund geben. Ich bitte darum so wenig

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Kontakt mit den Soldaten von Eris zu haben wie möglich. Fährt nur nach Neu Moskau, wenn es absolut nötig ist. Wenn wir ruhig sind, bleibt uns die Gräuel dieses Krieges erspart. Es spielt keine Rolle für uns, wer am Ende gewinnt. Wichtig ist nur, dass wir auch in Zukunft unser Leben hier in

der Kuppel, am Rande des Waldes, genießen können – ohne Politik und Gefahr. Damit beende ich die heutige Sitzung.«

»Es spielt keine Rolle für uns, wer am Ende gewinnt«, äffte Sonja Herrn Schildmann nach, als sie etwas später bei seiner Bäckerei saßen, Kaffee tranken und belegte Brötchen aßen. »Für diesen alten

Furz mag das zustimmen, der mit seinem sturen Arsch auf diesen Brocken festgenäht ist. Aber ich würde gerne eine Erde besichtigen, die nicht in Ruinen liegt. Auf welcher Seite glaubt er denn zu

stehen?« »Auf der Seite von Ganymed«, antwortete Nadia etwas lustlos. »Und auf der Seite von Arbali. Außerdem kann er dich hören.«

Die Angst der letzten Tage hatte ihr alle Energie geraubt. Sie hatte nicht mehr die Kraft für solche Gespräche. Sie wollte nur noch zurück in die Sieben Kastanien, ihre Wanderschuhe anziehen und

für einige Stunden in den Wald verschwinden, wo sie all den schrecklichen Ereignissen entkommen konnte. Frau Zwetkow war bereits zu den sieben Kastanien zurückgekehrt, indem sie einfach verlangt hatte,

dass jemand sie nach Hause fuhr. Ungefähr zehn Männer hatten sich dann furchtsam darum gestritten, wem diese Ehre zufallen sollte. Am Ende landete die Wahl auf den Imker Hans. Die

Besitzerin der Herberge hatte die Mädchen dann allerdings aufgetragen noch eine Weile im Dorf zu bleiben, um sich ein wenig abzulenken und was zu essen. »Ist mir scheißegal ob er mich hören kann! Und Ganymed ist doch Teil der Erdregierung, oder nicht

Nadia?« »Wir sind Teil vom Pakt vom Zeus, Sonja.«

»Ist doch nur ein zahnloser Verein! Nur diese Idioten drüben beim Saturn sind noch jämmerlicher! Wir können doch nicht herumsitzen und nichts tun! Ich bin auf jeden Fall loyal zur Erde! Sie ist unsere Mutter! Unsere Heimat!«

»Du bist hier auf Ganymed geboren, Sonja.« »Aber wir kommen alle ursprünglich von der Erde! Du bist auf der Erde geboren! Kümmert es dich

denn gar nicht, was hier gerade passiert?« Ein langes Schweigen war ihre Antwort. »Verdammt nochmal, Nadia, wieso zickst du gerade so rum? Wo ist deine Energie und deine Freude?« »Ach Sonja«, meinte Nadia und schüttelte den Kopf. Sie musste jetzt doch ein wenig lächeln, als sie

das wütende Gesicht ihrer Freundin sah. Wieso half das immer, wenn ihre Laune am Boden war? »Tue einfach nichts dummes, okey? Wir alle würden dich schrecklich vermissen. Ich würde dich

sehr vermissen. Zusammen mit dir die Sterne zu betrachten war immer schön. Ich will mehr angenehme Erinnerungen mit dir sammeln. Wirf es doch nicht einfach weg. Ich meine, Herr Schildmann und die anderen haben recht. Wir können allein nicht viel gegen Eris und die Allianz

ausrichten.« »Feigling«, brummte Sonja nur, verschränkte die Arme und sah leicht errötet zur Seite.

Vergnügt trank Nadia einen Schluck Kaffee und beobachtete einige Rotkelchen, die auf dem gusseisernem Geländer am Rande des Baches saßen. Der Schwarm erhob sich dann allerdings schlagartig in die Luft, als ein Donnern und Brummen

erklang. Irgendwo schrie eine Frau auf. »Was ist das denn jetzt«, rief Sonja aus und sah panisch hoch zum Himmel. Beide Mädchen standen

nun. Die Stühle waren nach hinten gekippt. Die Kaffeetasse in Nadias Hand zerbrach auf dem Kopfsteinpflaster. Drei schwarze Flugmaschinen mit jeweils zwei Düsen an den Seiten flogen über das Dorf hinweg.

Nahe am Cockpit funkelte auf der sonst glatten Außenhaut ein silbernes Zeichen: Ein nach oben zeigendes Schwert mit zwei Flügeln an den Seiten. Die Spitze der Klinge ging in einen Stern auf.

Es war das Wappen der Allianz. »Wohin wollen die?«, meinte Sonja, während um sie herum Menschen in Schock umherliefen. »Es

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sieht nicht so aus, als ob sie hier landen wollten. Und da lang geht es nur zum Wald. Das einzige was da gibt ist...« »...die Sieben Kastanien«, hauchte Nadia und ihre Beine gaben unter ihr nach. Ihre Freundin konnte

sie gerade noch so halten. Kevin Schildmann rannte mit einem Megaphon nach draußen um die Bewohner von Arbali zu

beruhigen. »Das ist absurd. Was könnten sie da nur wollen?« Sonjas Gesicht war blass wie ein Geist. Selbst beim Anblick der Raumschlacht hatte sie nicht so entsetzt ausgesehen.

»Wir müssen dorthin, Sonja. Wir müssen gucken, ob alles in Ordnung ist. Denn die sieben Kastanien... sie sind... sie...« Meine Heimat.

Derweil hatten die drei Flugmaschinen von Eris begonnen in einem sanften Winkel hinabzusteigen. Wenn sie ihren Kurs zu beibehielten, würden sie tatsächlich auf dem Hügel landen, wo sich die Herberge von Frau Zwetkow befand.

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Kapitel 10:

Der Gast

Ganz Arbali befand sich in Aufruhr und keiner war bereit die beiden Mitarbeiterinnen der sieben

Kastanien hoch zur Herberge zu fahren. Einige flehten sie sogar an hierblieben. »Man wird euch umbringen, wenn ihr dorthin geht!«, meinte Dennis. »Die Herberge brennt wahrscheinlich schon!«

»Ich sehe keinen Rauch, Herr Schildmann«, entgegnete Nadia. »Tut mir leid, aber wir müssen hoch zur Herberge. Sie ist sehr wichtig für uns.«

»Sorgst du dich denn gar nicht um Frau Zwetkow?«, fauchte Sonja. Der Bäcker weinte nur. Am Ende nahmen sie sich einfach zwei Pferde vom lokalen Reitclub. Keiner passte in der

Aufregung auf die Ställe und Weiden auf, weswegen sie ungestört in aller Eile die Tiere satteln und losreiten konnten.

Nadia ließ dabei eine Notiz zurück, in der sie versprach die Pferde später sicher zurückzubringen. Ob sie es auch wirklich einhalten konnte, würde sich noch zeigen.

»Ich war lang nicht mehr auf einem Pferd!«, beschwerte sich Sonja, als sie die Straße hochritten. »Kannst du etwas langsamer? Ich falle sonst aus dem Sattel!«

»Tut mir leid Sonja, aber wir müssen schnell sein«, entgegnete Nadia nur. »Wir dürfen keine Sekunde verschwenden.« Normalerweise war es herrlich in dieser Jahreszeit mit dem Pferd durch die Wälder und Hügel zu

reiten. Den Atem des Tieres unter sich zu spüren, es bei der Pause beim Grasen zuzusehen, die Welt aus der erhöhten Perspektive neu zu entdecken. Einfach wunderbar.

Doch im Moment hatte sie keine Augen und Ohren für die Schönheit von Neu Moskau. Sie konnte nicht. Sie wollte sich übergeben. Es war nicht richtig so. All dies hatte sie sich nicht gewünscht, als sie von der Erde hierhergekommen war. Es sollte doch ganz anders sein. Wo ist die Ruhe der

Wälder hin? Wieso rührt der Duft der Blumen nicht mehr ihr Herz? Die drei Flugmaschinen von Eris umkreisten nun den Punkt bei dem sich die Sieben Kastanien

befanden. Einer setzte bereits zur Landung an. Ein Mann auf einem Roller fuhr vorbei, hupte panisch und deutete mit seiner Hand an, sie sollten umkehren. Die beiden Mädchen ritten einfach weiter, ignorierten seine Schreie.

»Was wollen wir eigentlich tun, wenn wir da sind?«, fragte Sonja. »Ich weiß nicht. Ich... ich muss einfach da sein. Ich muss etwas tun. Du weißt wie viel mir dieser

Ort bedeutet. Ich kann nicht zulassen, dass ihm etwas passiert.« »Du bist eine Idiotin!«

Ab da sprachen sie nicht mehr miteinander, da der Weg holpriger wurde und sie es vermeiden wollten sich versehentlich auf die Zunge zu beißen. Nach einigen Minuten waren alle drei

Flugmaschinen gelandet und die Straße führte in den Wald, sodass die Sicht eingeschränkt wurde. »Was können sie nur bei den sieben Kastanien wollen?«, fragte Nadia schließlich, als die Stille zwischen ihnen so unerträglich wurde, dass selbst der Gesang der Vögel sie nicht mehr beruhigen

konnte. Sie befanden sich nun nahe an der Herberge. »Da fragst du mich was! Woher soll ich wissen, was diese bleichen Bastarde wollen? Plündern?

Wandern? Eine Antenne!« »Glaubst du wirklich, sie würden hier hoch fliegen nur wegen einer Antenne, Sonja?« »Ja, tun sie! Guck doch, du Idiotin!«

Nadia zügelte das Pferd etwas und spähte durch die Bäume, wo man bereits eine Ecke der Herberge sehen konnte. Und tatsächlich erhob sich dort ein dünnes, stählernes Gerüst, was es heute Morgen

noch nicht gegeben hatte. Als sie noch näher ritten, flog eine kleine Drohne mit einen anmontierten Maschinengewehr über ihre Köpfe hinweg. Es schwebte kurz über ihre Köpfe, bevor es dann weiter die Straße runter

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summte. Sie verlangsamten den Trott. Eigentlich hatte Nadia erwartet, dass die Pferde nun anfangen würden unruhig zu werden, doch sie zeigten keinerlei Veränderung in ihrem Verhalten.

Bei den sieben Kastanien dann erwarteten sie bereits vier Soldaten von Eris. Zwei der Flugmaschinen standen auf dem leeren Parklatz, während der Dritte auf einer nahen Weide gelandet

war. Ein Schauer ging durch Nadia, als sie vom Pferd stieg und hoch blickte zu den fremden Kriegern aus einer fernen Welt.

Ihre Körper waren komplett in dunklen, drei Meter großen Exorüstungen gekleidet, sodass sie massiv wie eine Mauer vor ihr aufragten. Sie hielten fremdartige, fast primitiv aussehende Waffen

mit beiden Händen. Einige dieser grässlich aussehenden Tötungswerkzeuge waren an den Hüften sogar mit den Rüstungen selbst verbunden. Schläuche führten zu den Helmen, deren Gesichtsplatten leer und glatt waren, mit Ausnahme eines

einzelnen, eingebauten Auges auf der rechten Seite, wo unter rotem Glas mehrere optische Sensoren zu erkennen waren. Auf den Schultern prangte das Zeichen der Allianz.

»Ah...«, machte das Mädchen, während die Soldaten sie weiterhin ohne ein Wort musterten. Hilfesuchen drehte sie sich zu Sonja um, doch das sonst hitzige Gemüt ihrer Freundin war wohl beim Anblick dieser finsteren Ritter ebenfalls erloschen. Sie hielt die Zügel verkrampft in ihren

Händen mit Schweiß auf der Stirn. Sie will wegrennen. Ich kann es verstehen. Ich will ja auch wegrennen. Aber ich kann nicht. Dies ist

mein Zuhause. Mit einem Schlucken wandte sich Nadia wieder zu den Soldaten von Eris und atmete tief ein, bevor sie zögerlich zu sprechen begann: »Also... ich bin... ihr seid... was wollt... könntet ihr...«

Ich hab vergessen zu sprechen. Ich bin tot. Drei der Ritter wandten sich einfach ab und bezogen Stellung an anderen Punkten. Der Vierte

betrachtete sie noch ein wenig, bevor er zur Seite trat und zum Eingang der Herberge deutete. »Äh, wir dürfen reingehen?«, fragte Nadia, die fassungslos auf seinen Finger starrte. Der Helm nickte.

»Das ist doch eine Falle«, murmelte Sonja, die mit zitternden Fingern ihr Pferd anband. »Wieso sollten sie uns in eine Falle locken?«, entgegnete Nadia, die dasselbe tat. Anschließend

streichelte sie das Tier dankbar und begann mit zögerlichen Schritten auf die Haupttür zuzugehen. Was ging hier vor? War erwartete sie dort drinnen? Sollte sie die Soldaten fragen? Nein, unmöglich. Sie fürchtete sich zu sehr vor diesen dunklen Rittern und wollte nur so schnell wie möglich fort von

ihnen. Die Eichenholztreppen knirschten unter ihren Füßen. Das sonst so vertraute und geliebte Gebäude

ragte nun beinahe bedrohlich vor ihr auf. Es war wie ein völlig anderer Ort. Kein Vergleich zur vertrauten Atmosphäre von heute Morgen. Sie entdeckte einige Vögel oben beim Balkon, die auf die Mädchen hinuntersahen. Schmetterlinge

flatterten bei den Büschen. Ein Hundertfüßer kroch das Geländer der Terrasse entlang. Eine Spinne baute sich ein neues Netz oben in einer dunklen Ecke.

»Wir...«, sagte sie, als sie im Eingangssaal ankam. Sie spürte Sonja dicht hinter sich und wie ihre Freundin sich an ihren Arm klammerte. Unbekannte, stählerne Kisten lagen überall herum. Aus dem oberen Stockwerk waren merkwürdige Geräusche zu hören. »Wir sind wieder hier!«

»Na endlich! Wurde auch Zeit.« Dröhnend kam Frau Zwetkow mit ihrer altbekannten Suppenkelle aus der Küche. »Beeilt euch! Wir müssen Betten beziehen und kochen! Wir haben neue Gäste!«

»Gäste?«, wiederholte Sonja ungläubig. »Ja, sie sind im Ahorn-Zimmer. Geht rein und sagt kurz Hallo. Vergesst nicht höflich zu sein! Beginnt dann sofort mit der Arbeit!«

Bevor sie beide auch nur eine Frage stellen konnten, war ihre Chefin bereits wieder in der Küche verschwunden.

»Ahorn-Zimmer«, meinte Nadia und wandte sich zur offenen Doppeltür, die zu dem großen Gemeinschaftsraum führte.

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Es war zu viel. Dies alles war zu viel. Sie wollte fliehen.

Doch es ging nicht. Sie war eine Mitarbeiterin der Sieben Kastanien und man hatte ihr eine Aufgabe gegeben.

Mit dem letzten Rest Mut, den sie in sich fand, zwang sie sich zu weiteren Schritten. Sonja gab einige leise Flüche von sich und folgte ihr dann. Als sie in den Raum trat, auf dessen nun leeren Sofas heute morgen noch all die Gäste sich an ihren

Sorgen und Ängsten verzehrt hatten, entdeckte sie eine hochgewachsene Gestalt hinten am Fenster stehend.

Der Fremde trug einen langen, schwarzen Mantel an dem diverse merkwürdige Geräte und Kabel herabhingen. Auf den Schultern waren jeweils drei silberne Streifen mit einem Stern darüber. Obwohl die beiden Mädchen kaum einen Laut von sich gegeben hatten, drehte sich der Mann

umgehend zu ihnen um. Blasse Haut schimmerte im Sonnenlicht. Kurze schwarzen Strähnen bedeckten den Kopf. Die Augen waren grau und hart, aber auch müde.

»Ah, guten Tag«, begann er mit sanfter Stimme zu sprechen und verbeugte sich elegant vor ihnen. »Ihr seid wohl die beiden Dienstmädchen dieser wunderbaren Herberge. Nadia Krylow und Sonja Grünbrunnen, nicht wahr? Es ist mir eine Freude euch kennenzulernen. Mein Name ist Namtar An.

Ich werde ab diesen Tag die sieben Kastanien beziehen. Ich freue mich auf unsere gemeinsame Zeit.«

Draußen traten zwei der Soldaten von Eris vorsichtig an die Pferde, die neugierig begannen an ihren Rüstungen zu schnuppern. Nach einer kurzen Diskussionen begannen die finsteren Ritter nervös das

Fall der Tiere zu streicheln.

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Kapitel 11:

Feinde

»Sie sind unser Feind!«, wiederholte Sonja zum vermutlich achtzehnten Mal, seitdem sie in die

Küche zurückgekehrt war, um die Kartoffeln zu schneiden.. »Falsch,junge Dame«, entgegnete Frau Zwetkow ungerührt. »Sie sind Gäste. Unsere Gäste. Sie haben ihre Zimmer hier gebucht und deswegen haben sie Anrecht auf unseren gesamten Service.«

»Sie haben alle Zimmer gebucht, Frau Zwetkow!« Während die beiden weiter stritten stand Nadia etwas abseits und bereitete den Kaffee vor, den sich

der Hochadmiral gewünscht hatte. Ihre Chefin und Mitarbeiterin hatten oft Auseinandersetzungen, doch sie spürte, dass die jetzige besonders schlimm war. Vielleicht sogar die Schlimmste, die sie jemals hatten.

Ich muss irgendwas sagen. Ich sollte versuchen die Situation zu klären. Ihre Gemüter beruhigen. Doch auf welcher Seite sollte sie sich schlagen? Wer hatte mehr recht? Es war alles so verwirrend.

Sie fürchtete sich schrecklich. Eigentlich wollte sie den Kaffee nicht ins Ahorn Zimmer bringen – dorthin wo die Menschen von Eris waren. Es war das erste mal, dass sie unwillig war einen Raum in den Sieben Kastanien zu betreten. Aber war es genug sich nur zu fürchten? Sollte sie nicht

wütend sein wie Sonja oder entschlossen und prinzipientreu wie Frau Zwetkow, die Angst nach hinten schiebend?

»Na und?«, fuhr ihre Chefin fort, die mit der Kelle die Suppe etwas kostete. »Sie sind trotzdem Gäste.« »Sie sind Invasoren! Sie sind Kriegstreiber! Sie wollen die Erde angreifen!«

»Mag alles richtig sein. Aber trotzdem sind sie Gäste und diese Herberge hat ihren Ruf. Kein Gast wird unfair behandelt. Kein Gast verwiesen, solange er nicht gegen die Hausordnung verstößt. Ein

jeder ist hier willkommen. Daran wird sich nie etwas ändern, solange ich dieses Haus leite!« »Du bist eine Verräterin!« »Wenn es dich glücklich macht, dann nenne mich ruhig so. Solange du weiter die Kartoffeln

schneidest, ist alles in Ordnung. Könntest du danach dann die Willkommensschokolade nach oben in die Zimmer bringen?«

»Das ist nicht richtig so«, murmelte Sonja und arbeitete dann mürrisch weiter. Sie war schlecht gelaunt, wütend wie nie zuvor und schien mit dem Messer jede Kartoffel zu Tode stechen wollen. Aber sie arbeitete. Das war das Entscheidende.

Sie tut so, als wären die Leute von Eris vom tiefsten Herzen her böse. Nadia mochte es simpel. Wozu sich das Leben zu kompliziert machen?

Allerdings merkte sie nun, dass es manchmal einfach kompliziert wurde, ohne dass man es wollte. Ihre Gefühle und Gedanken waren in Aufruhr. So viele Ungewissheiten plagten sie im Moment. Namtar An, der militärische Führer der Allianz, befand sich in dieser Herberge. Es war unwirklich.

Es füllte sie mit Angst. Sorgen zermarterten ihr Hirn. Die Welt stand Kopf. Doch wie lange soll dies noch weitergehen?

Sie nahm die Kaffeetasse und verließ die Küche. In der Eingangshalle lief sie dann in Kevin, der wohl gerade von der Stadt zurückkehrte. »Ich habe eine Nachricht von Frau Zwetkow bekommen«, sagte er nur. »Wir haben also neue

Gäste? Ich helfe ihr umgehend in der Küche.« Sonja nickte und trat etwas zur Seite, damit er durch konnte. Allein blieb sie zurück und sah zur Tür

vom Ahorn Zimmer. Eigentlich war dies absurd. Wieso fühlte sie sich so fremd gerade? Dies war noch immer die Sieben Kastanien. Der wunderbare, faszinierende Ort in den Bergen von Neu Moskau. Seitdem sie die

ersten Fotos damals im Netz gesehen hatte, was sie von diesem alten Gebäude verzaubert. Dies war ihre neue Heimat, die sie irgendwann einmal auch mit ihrer kleinen Schwester teilen wollte.

Mag sein, dass Namtar An vom fernen Eris stammte. Mag sein, dass er mit einer Flotte aus Kriegsschiffen aus der Finsternis gekommen war. Mag sein, dass seine Soldaten gerade Fuß auf Neu Moskau und viele andere Kolonien gesetzt

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hatten. Mag sein, dass gerade Krieg herrschte. Doch sonst wusste sie nichts. Sie war ein einfaches Mädchen, ohne Interesse an Politik. Sie wollte

die Schönheit in allem sehen und auch wenn die Ereignisse sich überschlagen hatten, so befand sich im Ahorn Zimmer gerade ein Mensch. Ein Mensch der Dunkelheit, ja, aber dennoch ein Mensch.

Ein Mensch über den sie kaum etwas wusste. Sonst ließ sie sich doch nicht von etwas Unbekannten unterkriegen! Nein! Immer wenn Gäste zu den Sieben Kastanien kamen, so freute sie sich immer auf die frischen Gesichter und die neuen

Erinnerungen. »Und er ist nun ein Gast«, begann sie leise zu sich selbst zu reden. »Und er hat auch sicher wie alle

anderen Geschichten zu erzählen. Er hat auch Träume und eine Vergangenheit. Er ist ein Mensch. Also werde ich mit ihm reden. Ich werde mich mit ihm unterhalten und ihn kennenlernen, so wie alle anderen Gäste.«

Ja, alles war simpel. Das Knäuel in ihrem Kopf würde sich sicher lösen, wenn sie nicht mehr in der Ecke kauerte, sondern heraus ins Licht trat und lächelnd zu reden begann. Die meisten lächelten

auch immer zurück. Ja, dies waren die Sieben Kastanien. Ihre neue Heimat. Die Herberge der Wunder. Und im Ahorn-Zimmer wartete gerade sicher ein neues Wunder darauf entdeckt zu werden.

Entschlossen hob Nadia den Kopf und begann mit festen Schritten den Kaffee zu Namter An zu bringen. Was hatte er wohl alles zu erzählen?

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Kapitel 12:

Kennenlernen

Der Hochadmiral von Eris, Namtar An, saß auf einem der Sofas nahe am Kamin als Nadia in das

Ahorn-Zimmer zurückkehrte. Er sah konzentriert auf ein Display vor sich und tippte manchmal rasch einige Daten ein. Seine Finger bewegten sich dabei unnatürlich schnell. Verteilt befanden sich auch die anderen drei Allianz-Befehlshaber im Raum.

Hinten in der dunkelsten Ecke stand Enkidu Ki, der Administrator des Hochadmirals. Er war hochgewachsen, mit künstlichen Armen, die wie stählerne Knochenglieder aussahen. Teile seines

schwarzes Haares waren wegrasiert, damit es Platz für Implantate gab, die er direkt mit seinem Hirn verbunden hatte und die wie kantige Geschwüre aus seinem Schädel ragten. Seine eine Hand tippte auf eine Tastatur bei seinem rechten Arm und vor seinen mechanischen, im

halbdunkel orange glühenden Augen zogen Hologramme mit fremdartigen Symbolen vorbei. Der Administrator trug ebenfalls einen eng um die Taille geschnürten, schwarzen Mantel. Seine

Schultern waren allerdings größtenteils weiß gefärbt, mit jeweils einen einzigen schwarzen Stern in der Mitte. Etwas näher am Fenster, in einem der Sessel, hatte sich der graue Flügeladmiral Martu Me

ausgebreitet, sodass er die späte Sonne genießen konnte. Sein Haar war schneeweiß, auch wenn er nicht wirklich alt aussah. Das Gesicht zeugte von Kraft, war aber gleichzeitig sehr ausgemergelt mit

wachen grauen Augen. Von einem Implantat beim Nacken abgesehen besaß er keine erkennbaren Körpermodifikationen. Auf den Schultern seines Mantels waren jeweils drei graue Streifen. Er tippte ebenfalls auf ein Display ein, hielt aber häufiger inne als Namtar und überlegte angestrengt

für mehrere Sekunden, bevor er weiterarbeitete. Und dann gab es noch Ashnan Nusku, die schwarze Flügeladmiralin. Sie stand mittig im Raum und

gab wohl den fürchterlichsten Anblick ab. Ihr Gesicht war mit einer Art Gasmaske bedeckt, von der Schläuche hinunter in ihren Mantel führten. Ihre Augen waren nur noch zwei Glaslinsen, die ähnlich wie bei Enkidu orange glühten. Auf dem Kopf trug sie eine schwarze Kappe, unter der

vereinzelte graue Strähnen heraushingen. Unnatürlich Klumpen, Beulen und schlicht Lücken die den Mantel verformten deuteten auf massive Eingriffe und Implantate an ihren Körper hin.

Auf den Schultern ihres Mantels waren drei schwarze Streifen, die weiß umrandet waren, damit sie sich besser von dem sowieso schon dunklen Stoff abheben konnten. Sie stand einfach da, ohne sich wirklich zu bewegen. Nur die Finger ihrer rechten Hand bewegten

sich, so als würde sie auf eine unsichtbare Tastatur eintippen. Nadia schluckte und vermied es in die Richtung der Flügeladmiralin zu sehen. Sie hatte keinerlei

Vorstellung, was all diese Begriffe und Ränge bedeuteten. Allerdings war es ohne den geringsten Zweifel klar, dass diese vier Menschen anscheinend die Dirigenten des gesamten Krieges waren. Während sie durch den Raum schritt fiel ihr auf, dass sich keiner miteinander unterhielt. Sie

arbeiteten ohne ein gesprochenes Wort für sich. »Hier... ist Ihr Kaffee, Mister. Mit Milch und ohne Zucker.« Sie stellte die Tasse auf den Tisch vor

dem Hochadmiral. Namtar An sah auf und lächelte freundlich. »Danke sehr, Nadia.« Sie versuchte ebenfalls zu lächeln, doch irgendwie wollten ihre Lippen nicht gehorchen und es

wurde zu einer Grimasse. »Schmeckt er?«, fragte sie dann, nachdem er einen ersten Schluck genommen hatte.

»Oh ja, er ist ausgezeichnet. Es ist furchtbar lange her, dass ich das letzte mal Kaffee getrunken habe. Auf Eris ist sowas eine richtige Luxusware. Dies ist wahrlich ein Segen.« »Freut mich zu hören, Mister.«

Okey, was jetzt? Eigentlich wollte sie sich weiter mit ihm unterhalten. Doch wie sollte sie es angehen? War es

überhaupt eine gute Idee? Immerhin wirkte er beschäftigt. Was sollte sie denn überhaupt sagen? »Was stehst du denn da, meine Liebe. Hast du noch etwas für mich?« Der Hochadmiral sah verwundert zu ihr auf.

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»Äh«, brachte Nadia nur heraus, die durch die plötzliche Frage überfordert war. Panisch suchte sie nach einer Antwort in ihrem Hirn, doch da war nur Chaos. »Ich ahne es schon«, fuhr der Mann von Eris mit einem Schmunzeln fort und legte das Display ab.

»Du hast anscheinend viele Fragen. Wenn du willst kann ich sie beantworten.« Was? Einfach so? »Äh... nun... danke... Müssen Sie aber nicht.... ähm arbeiten, Mister?«

»Nicht wirklich. Momentan kommen nur Daten rein und die bestätigen einfach nur, was ich erwartet habe. Der Plan läuft gerade wie von selbst. Ab diesem Punkt gibt es nicht viel was ich noch tun kann, bevor der Krieg in die nächste Phase geht. Außerdem hätte ich durchaus gerne etwas

Ablenkung und ein gutes Gespräch. Also Nadia, sprich ruhig. Du kannst ganz offen mit mir sein.« »Aha.« Mein Wortschatz ist wohl etwas eingeschränkt gerade. Vermutlich sieht er in mir nichts

anderes als ein dummes Bauernmädchen. »Gut. Danke. Es ist mir eine Ehre, Mister. Wenn Sie es mir erlauben, so würde ich gerne wissen wieso Sie hier sind.« »Meinst du mit hier Ganymed oder Die Sieben Kastanien?«

»Beides, Mister.« »Verstehe.« Der Hochadmiral nahm einen weiteren Schluck von dem Kaffee. »Fangen wir dann mal

mit Ganymed an. Es ist wahr, dass es für Außenstehende absurd erscheint, dass jemand wie ich mein Hauptquartier auf so einer ländlichen Kolonie errichte. Die großen Industriezentren auf Io oder die stolzen Städte auf Kallisto erscheinen auf den ersten Blick als eine bessere Optionen,

richtig?« »Ja, Mister.«

»Ich will nicht lügen. Die Fabriken auf Io und die Zentralcomupter auf Kallisto werden uns eine große Hilfe sein in der Zukunft. Allerdings fehlt ihnen etwas Wichtiges. Etwas, was für einen stellaren Krieg unumgänglich ist. Weißt du, was das ist, Nadia?«

Sie schüttelte ihren Kopf. »Ist nicht verwunderlich, da es wirklich kein Allgemeinwissen ist. Ich kläre dich nun auf. Ganymed

– oder noch genauer Neu Moskau – hat die stärksten und größten Kommunikationsanlagen vom ganzen Jupiter... ja, sogar vom ganzen äußeren Ring! Der gesamte Verkehr zwischen den Moden wird praktisch von hieraus organisiert und es ist ein wichtiger Knotenpunkt für die gesamte

Raumfahrt im Sonnensystem. Mit der Infrastruktur beim Halo kann ich wesentlich leichter meine Flotten organisieren und Befehle verteilen. Ich hoffe diese Antwort konnte etwas Klarheit schaffen,

Nadia.« Wow, dass habe ich wirklich nicht gewusst. Neu Moskau ist also so wichtig für das Sonnensystem? Habe ich nie erwartet.

»Danke Mister, Ihre Antwort konnte Klarheit schaffen«, sagte sie, zufrieden was neues über ihre geliebte Heimat gelernt zu haben.

»Nichts zu danken, meine Liebe. Kommen wir nun zum nächsten Teil. Wieso ich spezifisch hier in den Sieben Kastanien bin und nicht in der Stadt oder oben beim Halo. Wäre doch einfacher, den Krieg von diesen Orten zu organisieren, oder?«

»Ich weiß nicht wirklich, Mister. Ich kenne mich nicht mit so was aus.« »Stimmt, tut mir leid Nadia. Nun gut. Im Grunde ist es eigentlich egal wo ich mein Hauptquartier

habe, solange ich nur mit dem Kommunikationsnetz der Kolonie verbunden bin. Ich kann Daten und Befehle von hieraus genauso schnell zur Flotte schicken wie von der Stadt. Es mag sein, dass ich persönlich besser erreichbar wäre in Neu Moskau und ich werde sicher öfters dorthin fliegen,

allerdings sollte man diesen Gasthof nicht unterschätzen. Er ist abgelegen, ruhig und gut abzusichern, da es nur wenige direkte Wege hier hoch gibt. Außerdem ist da noch ein wichtiger

Grund, wieso ich gerne hier mein Hauptquartier einrichten will...« »Und der wäre, Mister?«, fragte Nadia angespannt, nachdem er einige Sekunden geschwiegen hatte. Der Hochadmiral sah zur Seite und hinaus zum Fenster. Er betrachtete den sich weit

dahinziehenden Fichtenwald eingehend für einige Zeit. Seine Augen schienen sich zwischen den Bäumen zu verlieren und das Gespräch wirkte wie vergessen bei ihm, weswegen Nadia sogar etwas

überrascht war, als er wieder zu sprechen begann: »Auf Eris gibt es keine Wälder. Heute habe ich zum ersten Mal den Duft von Kiefernnadeln gerochen. Es war herrlich. Weißt du, Nadia, als ich

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damals Bilder von diesem Gasthof gesehen habe, so war ich sofort hingezogen zu diesem Ort. Die Art wie er sich in die Natur einfügt. Die Gelassenheit, die in dem Holz der Wände liegt. Ich wollte unbedingt hierher, als der Krieg begann. Kannst du verstehen, was ich meine?«

»Ja, Mister. Ich verstehe vollkommen.« Und sie meinte es wirklich. Jedes seiner Worte hätte auch von ihr stammen können.

»Exzellent. Nun denn, ich kann vermutlich diese Gelgenheit nutzen und etwas klären. Ich habe vor hier auch Besprechungen abzuhalten, bei dem der weitere Verlauf und Strategien des Krieges bis zu unserem Sieg Thema sein werden. Ich hätte es gerne, dass du und Sonja uns dabei bedient. Diese

militärischen Meetings können lange dauern und etwas Kaffee und eine Mahlzeit dazwischen tun immer gut.«

»Äh, gerne. So etwas gehört ja zu meinen Pflichten. Aber ist es wirklich in Ordnung, Mister? Würden ich und Sonja dabei nicht wichtige Informationen mitbekommen?« »Ich kontrolliere inzwischen den gesamten Datenverkehr der Kolonie, Nadia. Selbst wenn du solche

Informationen an die Erde weiterleiten wolltest – und für so eine Person halte ich dich nicht – hättest du keine Möglichkeit dazu. Außerdem werdet ihr beide vorher einen Eid leisten, in dem ihr

schwört nichts, von dem was hier besprochen wird, nach draußen zu tragen. Und ich denke du bist ein Mädchen, das ihr Wort hält.« Nadia spürte wie sie leicht errötete und brach den Augenkontakt mit dem Hochadmiral ab. »Dies

mag... stimmen, Mister. Ich achte darauf immer ehrlich zu sein und mein Wort zu halten. Doch was ist mit Sonja? Sie scheint nicht sehr... von eurem Aufenthalt hier angetan zu sein.«

»Gegenfrage. Hältst du Sonja für jemanden, die ein Versprechen bricht?« Ach ja. Wenn ich so darüber nachdenke. Sonja beschwerte sich gerne. Sonja machte sich gerne Feinde. Sonja zeigte immer deutlich wen sie mochte und wen nicht. Doch sie war immer ehrlich

und sie hatte ihren Stolz und ihre Ehre. »Nein, würde sie nicht.«

»Damit ist das wohl geklärt«, meinte Namtar An freundlich. »Hochadmiral«, sprach nun plötzlich der Administrator Enkidu Ki, der lautlos zu ihnen herübergekommen war. »Ich habe Meldung vom Neptun bekommen. Sie sollten es sich ansehen.

Ich habe bereits eine Analyse und Vorschläge für die nächsten Operationsschritte dazugeschrieben.« »Danke sehr, Enkidu. Ich glaube damit endet wohl unser Gespräch fürs erste Nadia. Aber ich würde

mich freuen, wenn wir in Zukunft weitere Gelegenheiten bekommen.« »Natürlich, Mister«, sagte Nadia schnell und verneigte sich etwas vor ihm. »Es wäre auch mir eine Freude. Ich werde nun in die Küche zurückkehren und weiter das Abendessen vorbereiten.«

»Mach das, Liebes.« Sie eilte aus dem Ahorn-Zimmer, das Tablett eng an die Brust gedrückt und mit wild schlagenden

Herzen. Er wirkte nicht wie ein Eroberer. Nichts Böses war an ihm. Er war höflich und respektvoll. Er war ein Gast in den Sieben Kastanien.

»Und er will mit mir reden«, hauchte sie. Was würden die nächsten Wochen alles bringen? Wie würde ihr Leben an der Seite der Menschen

von Eris aussehen? Sie wusste noch keine Antworten. Nur eine Sache war klar. Sie war Nadia, eine Mitarbeiterin dieses Ortes. Dies war ihre Heimat. Sie würde ihre Pflicht tun, so wie immer und auf dem weiteren Weg

wertvolle Erinnerungen sammeln.

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Kapitel 13:

Nachtruhe

Liebe Anna, schrieb Nadia am Abend, während sie in ihrem Bett lag,

mir geht es gut. Die Soldaten von Eris haben uns nichts getan und Ganymed wurde friedlich besetzt. Du glaubst nicht, wer nun bei uns in der Herberge ist...

»Du weißt schon, dann du diese Nachrichten in nächster Zeit nicht abschicken wirst«, meinte Sonja, die auf dem anderen Bett hockte und resigniert ihre Freundin betrachtete. »Die bleichen Bastarde

werden es nicht erlauben.« »Irgendwann wird der Krieg zu Ende sein, Sonja. Und dann kann ich alles auf einmal losschicken. Anna wird sich sicher freuen. Es wird so sein, als ob sie ein ganzes Buch von mir bekommt, voll

mit all den Geschichten die ich bis dahin erlebt haben werde.« »Idiotin.«

»Ich hoffe sie macht sich keine zu großen Sorgen.« Sonja brummte nur etwas undeutliches und legte sich hin. Während sie die Decke über sich zog, drehte sie sich dabei zu Wand.

Von anderen Teilen der Herberge war noch Aktivität zu hören, da die Leute von Eris die Nacht durcharbeiteten wollten. Frau Zwetkow hatte die beiden, jungen Dienstmädchen und Kevin zu Bett

geschickt und bewirtete die neuen Gäste nun alleine. Durch das Fenster war Jupiter zu sehen, die großen Wolkenringe unberührt von den Schlachten die man im Orbit geschlagen hatte. Der gewaltige Planet drehte sich weiter um die Sonne, uninteressiert an den dummen Streitigkeiten der

Menschen. Ich denke immer der Planet ist ein alter Mann... ein Zeus mit Gehstock, müde nach so langer Zeit

des Lebens und kopfschüttelnd über die Dummheit der kleinen Kreaturen, die sich auf seinen Monden neue Heime gebaut haben. Falls Jupiter eine Stimme hat, so würde ich sie gerne hören. Was hat er wohl zu sagen? Welche Ratschläge könnte er mir geben?

»Danke Sonja.« »Für was?«

»Dass du vorhin mit mir hier hoch gekommen bist. Ich musste dich nicht einmal fragen. Du bist einfach mit geritten, obwohl wir nicht wussten was uns hier erwartet.« Sonja gab ein Geräusch von sich, das wie eine Mischung aus einem Ächzen und einem Schluckauf

klang. Sie brauchte einige Sekunden um die richtigen Wörter zu finden: »Jemand muss ja auf dich Dummerchen aufpassen.«

»Danke dafür, Sonja. Die Sieben Kastanien bedeuten dir was und du willst diesen Ort ja auch beschützen.« »Ich habe nichts anderes als diese Hütte«, antwortete ihre Freundin und die Schärfe verschwand

etwas aus ihrer Stimme. »Es gibt nur diesen Ort bis ich es zur Erde schaffe.« Mit einem verstehenden Lächeln sah Nadia wieder zum Fenster, wo erneut die Fledermäuse

Insekten jagten. Eine Eule war zu hören und einige Motten tanzten vor dem Glas. Auch die Tiere interessierten sich nicht für die Neuankömmlinge oder die Ereignisse im Sonnensystem. Sie lebten einfach weiter ihr wildes Leben.

Ob wir es nicht besser dran wären, wenn wir die Welt wie die Tiere sehen? Nur darauf achtend, was direkt vor uns liegt, während alles was über uns hinausgeht oder was uns in die Ferne locken

könnte keine Bedeutung für uns besitzt? Wir würden nicht einmal Gedanken an so etwas wie Expansion oder Krieg verschwenden. »Wieso bist du eigentlich nicht wütend auf mich?«, fragte Nadia.

»Weswegen sollte ich wütend auf dich sein?« »Ich habe nichts gegen die Soldaten von Eris gesagt. Ich bin nicht sauer wegen des Krieges. Ich will

nicht kämpfen. Ich will nichts mit dem Krieg zu tun haben. Bin ich nicht schwach und ein Feigling für dich?« »Nadia, du Idiotin. Du bist keine Kämpferin. Es liegt nicht in deiner Art. Ich habe nicht für auch nur

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eine Sekunde gedacht, dass du dich gegen die Allianz stellst. Es liegt einfach nicht in deiner Art. Du bist ein gutes, friedliches Mädchen.« »Danke, Sonja.«

»Kannst du bitte aufhören dich zu bedanken? Es wird spät und ich will schlafen. Wir müssen morgen früh aufstehen um diese dummen Pferde zurückzubringen.«

»Tut mir leid, Sonja.« Nadia klappte den Laptop zu und legte ihn auf den Nachttisch, bevor auch sie sich hinlegte. Mit hinterm Kopf verschränkten Armen sah sie dann hoch und betrachtete das einfallende Nachtlicht

von den Monden draußen. Morgen Vormittag wollte Namtar An eine Besprechung mit seinen Admirälen im Kiefern-Zimmer

abhalten. Sie und Sonja sollten dabei sein und auf Wunsch die Befehlshaber von Eris mit Essen und Getränken versorgen. Der Hochadmiral schien vorhin nicht wie ein schlechter Mensch. Sie war gespannt wie er sein

würde, wenn es darum ging den Krieg weiterzuführen. Würde er ein anderes Gesicht zeigen als bei dem Kaffee? Würde sie dann anders über ihn denken?

Es würde sich zeigen. Doch für den Moment heißt es erst einmal zu träumen.

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Kapitel 14:

Erste Besprechung

Das Kiefern-Zimmer zeigte direkt zum Wald hinaus, war wesentlich kleiner als der große

Gemeinschaftsraum des Ahorn-Zimmers und wurde häufig für Meetings von Vereinen, Firmen oder sogar dem Bürgerrat von Neu Moskau gemietet. Es gab zwar in einer Ecke ein rotes Sofa mir zwei Sesseln zum entspannen, doch dominiert wurde

der Raum von einem gewaltigen Eichentisch, an dem bis zu fünfzehn Menschen sitzen konnte. Heute traf sich hier der oberste Kader der Allianz, wobei nur Martu Me wirklich saß. Der Rest stand

einfach da, wobei Namtar An sogar aus dem Fenster schaute und zusah wie die Blätter sich im Wind wiegten. Nadia und Sonja standen bei einem Tischchen mit Snacks, Tee, Kaffee, Wasser, Saft und Wein

bereit um die vier hochstehenden Persönlichkeiten zu bedienen und ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Eine Tür führte derweil direkt zur Küche, falls den Gästen nach einem heißen

Mahl hungerte. »Ich nehme an, alle Flotten haben inzwischen Meldung gemacht?«, fragte der Hochadmiral ohne sich umzudrehen.

»Jawohl, Hochadmiral«, antwortete der Administrator Enkidu Ki knapp. »Dann fang bitte mit einer Zusammenfassung an.«

Der Mann mit den künstlichen Armen nickte und wieder begannen Symbole vor seinen synthetischen Augen von oben nach unten zu gleiten. »Unsere Eris Flotte hier bei Jupiter konnte beinahe den gesamten Orbit und alle Monde besetzen. Wir verloren im Gefecht nur einen Damu.

Ein Enki und ein Gilgamesch wurden leicht beschädigt und können noch Kampfoperationen durchführen. Von unseren einst 32 Schiffen sind also noch 31 einsatzfähig. Die 3. Flotte der Erde,

die sich uns entgegenstellte, konnte zurückgedrängt werden und befindet sich nun im äußersten Orbit, unfähig für weitere Manöver. Wir konnten von ihren 50 Schiffen 29 zerstören und 2 leicht beschädigen. Die Pluto Flotte konnte ebenfalls zusammen mit der Charon Flotte den Uranus

sichern, und verlor dabei einen Enki, wobei ein Damu leicht und ein weiterer schwer beschädigt wurde, sodass dieser für Reparatur nach Eris zurückkehren muss. Damit verbleiben von den 27

Schiffen der Flotte nur noch 25. Bei der Charon Flotte liegen die Verluste bei einem zerstörten Damu Kreuzer und einem schwer beschädigten Gilgamesch, der auch nach Eris zurückkehren muss, sodass von den 29 Schiffen nur noch 27 verbleiben. Die 9. Erdenflotte zog sich in die orbitale

Festung Brahma Seven zurück, die nun belagert wird. Von ihren 51 Schiffen konnten wir 22 zerstören, sowie einige beschädigen – darunter auch ihre drei Titanen, die nun kampfunfähig in den

Docks von Brahma Seven liegen.« »Die Asags und Ishkurs waren also effektiv«, meinte der Hochadmiral. »Sehr gut. Sprich weiter.« »Jawohl Hochadmiral. Die Orcus Quaoar Flotte konnte einen großen Sieg beim Saturn verbuchen.

Kein Schiff wurde zerstört. Ein Damu und ein Enki wurden leicht beschädigt, während ein weiterer Damu schwer beschädigt wurde und ebenfalls Reparaturen im Dock benötigt. Damit verbleiben von

den 27 Schiffen noch 26. Die verteidigende 8. Flotte der Erde verlor dagegen 28 Schiffe und 4 wurden beschädigt, was ihre Zahl von 48 auf 20 reduziert, da kein Schiff schwer beschädigt wurde. Zuletzt kommt nun die 2007 OR Flotte, der es ähnlich erging. Der Neptun ist gesichert und die

Flotte verlor dabei nur einen Damu Kreuzer und ein Gilgamesch wurde leicht beschädigt. Damit sind von den anfangs 21 Schiffen noch 20 einsatzfähig. Die feindliche 10. Flotte verlor dagegen 34

Schiffe und 2 wurden leicht beschädigt. Damit ist ihre Stärke von 51 auf gerade mal 17 geschrumpft. Sie sind nun ebenfalls im äußersten Orbit des Planeten.« »Wir haben also erfolgreich den gesamten äußersten Ring besetzt, Glückwunsch meine Herren und

meine Dame. Operation Noah kann man damit als einen vollen Erfolg ansehen«, sagte Namtar ohne das Gesicht zu verziehen, während Nadia ihm weiteren Kaffee einschenkte. Ihr Kopf tat weh von all

den Zahlen. Als sie zu Sonja zurückkehrte, war das Gesicht ihrer Freundin sehr blass. »So wenige«, flüsterte sie leise. »Sie haben so wenige verloren und die Erde so viel. Manchmal

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sogar weit über die Hälfte. Das hört sich nicht nach Schlachten, sondern nach Massakern an.« Nadia gab ihr sanft zu verstehen ruhig zu sein und stand weiter bereit. »Was tun die anderen Flotten der Erde?«, fragte der graue Flügeladmiral Martu Me, der nun eine

Waffel mit Puderzucker aß. »Die 1., 2. und 4. Flotte bei der Erde bleiben weiter in Alarmbereitschaft, zeigen aber keine

Anzeichen den Orbit zu verlassen. Das Gleiche gilt für die 5. Flotte beim Mars, die 6. Flotte bei Ceres und die 11. Flotte bei Brahma Four. Die 7. Flotte wird gerade anscheinend vom Merkur zur Venus transferiert, vermutlich um näher an der Front zu sein.«

»Die Oberadmiralin Chiang ist wohl noch im Schockstadium«, meinte der Hochadmiral. »Sie und ihr Gefolge haben noch nicht ganz die Situation und den Schaden erfasst und warten erst einmal ab.

Verständlich. Gehen wir am besten gleich zur nächsten Phase, bevor sie eine wirkliche Chance haben sich zu sammeln. Schick Nachricht zur Charon Flotte. Sie sollen den Uranus Orbit verlassen und zu uns zum Jupiter kommen. Ohne die Gefahr durch die Titanen kann die Pluto Flotte wohl

allein die Belagerung von Brahma Seven aufrechterhalten, während ich für meinen nächsten Schritt zwei Flotten benötige.«

»Der Angriff auf Ceres«, sagte Martu Me und es klang halb wie eine Frage und halb wie eine Feststellung. »Exakt. Mit Ceres kontrollieren wir den Gürtel und damit schneiden wir die Erde von einem ihrer

größten Rohstofffelder ab. Ich werde hier auf Ganymed bleiben und die Operation leiten. Ashnan, du wirst die Eris Flotte zum Angriff führen, während du Martu die Charon Flotte übernimmst und

als zweite Linie bereithältst. Für den Fall, dass der Angriff misslingt und unser Feind meint eine Gegenoffensive einzuleiten.« Die schwarze Flügeladmirälin nickte kaum sichtbar.

Der graue Flügeladmiral stopfte sich den Rest der Waffel in den Mund und nuschelte dann: »Jawohl, mach ich. Ich nehme an Operation Lucifers Fall bleibt unverändert?«

»Es gibt keinen Grund den Plan zu ändern.« »Ich freue mich darauf Chiangs Gesicht zu sehen.« Mit einem Lächeln lehnte der Mann von Eris sich zurück.

»Wir haben in den letzten Tagen beachtliche Erfolge erzielt«, begann Namtar An, »doch vergesst nicht, dass die schwerste Aufgabe noch vor uns liegt. Der Feind ist nun nicht mehr überrascht und

das innere System ist weiterhin unangetastet.« An dieser Stelle unterbrach er sich als ein Buchfink auf der Fensterbank landete. Genau wie der kleine Vogel legte der Hochadmiral neugierig den Kopf schief und lauschte dem kurzen, gezwitscherten Gesang, bevor der Besucher flügelschlagend

wieder davonflatterte. Anschließend fuhr der hochgewachsene Mann fort so als wäre nichts gewesen und auch die anderen schienen nicht im geringsten davon gestört zu sein. »Mars und Erde

gehören zu den am schwersten befestigten und verteidigten Orten im Sonnensystem und die dortigen Flotten sind um ein vielfaches stärker als diejenigen hier im äußeren System. Unsere Siege sind großartig, doch noch immer sind wir zahlenmäßig unterlegen und es gibt zwölf weitere Titanen

zu besiegen. Der Krieg ist nicht vorüber. Er hat gerade erst begonnen und das Weinen von Milliarden wird noch viele Jahre andauern. Operation Noah war nur der erste Schritt, der es uns

erlaubte überhaupt erst diesen Krieg führen zu können.« »Verdammte Scheiße«, murmelte Sonja. Ein Schauer ging durch Nadias Rücken bei den letzten Sätzen, doch sie lächelte nach außen hin

weiter. Ganz egal was hier besprochen wurde oder wie viele Fragen sie an Namtar An stellen wollte, jetzt gerade musste sie ihre Arbeit machen. Es war nicht der Ort und die Zeit um die Herrschaften

zu unterbrechen oder abgelenkt zu werden. Das Mittagessen wurde kurz darauf serviert. Es gab Algäuer Schnitzel mit Knödel, Karotten, Pilzen und Soße. Als alle Mägen gesättigt waren, wurde das Gespräch fortgesetzt. Ab da ging es in der nun

dröger werdenden Besprechung um die Positionierung der Schiffe, die Art und Weise wie Kuppelstädte am besten verwaltet werden sollten während der Kriegszeit, den Beginn der nächsten

Operationen, die besten Versorgungsrouten und andere Kleinigkeiten die Nadia mal mehr oder weniger gut verstand, die aber allgemein für ihre Ohren sehr langweilig klangen.

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Um 15:00 war die Besprechung dann beendet. Der Administrator Enkidu Ki begann Nachrichten mit den neuen Anweisungen zu den restlichen Flotten zu schicken. Namtar An und Martu Me gingen auf die Terrasse nach draußen um die Sonne zu genießen, während Ashnan Nusku einfach

stehenblieb und auf eine Wand starrte. Nadia und Sonja hielten Abstand zu der schwarzen Flügeladmiralin, während sie aufräumten.

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Kapitel 15:

Menschen von Eris

Nachdem das Kiefernzimmer fertig geputzt war trug Frau Zwetkow den beiden Dienstmädchen auf

das große Ahornzimmer etwas herzurichten. Die Besitzerin fuhr derweil runter nach Arbali, da sie eine Nachricht von dem Bäcker Herrn Schildmann bekommen hatte, der sich zusammen mit dem restlichen Dorf schreckliche Sorgen machte. Anscheinend wollte sie die Leute persönlich

beruhigen. Nadia und Sonja begannen stumm mit der Arbeit. Der Boden wurde kurz gefegt, der Kamin von

Ruß befreit und anschließend mussten die Tische gereinigt und die Kissen ausgeschüttelt werden. Die schwarze Flügeladmiralin Ashnan Nusku hatte derweil ihre Position vom Kiefernzimmer nach draußen in den Garten verlegt. Nun stand die hohe, gesichtslose Frau mit der Gasmaske unter einem

der sieben Kastanienbäume, bewegungslos wie immer. Man könnte denken, sie wäre eine äußerst bizarre Schachfigur, so steif wie sie an Ort und Stelle ruhte, darauf wartend Befehle anzunehmen.

»Die Erde hat so viele Schiffe verloren«, meinte Sonja nach einer Weile immer noch sichtlich erschüttert. »Es müssen hunderte sein. Jetzt sind sie alle nur Schrott oben im Orbit.« »Die Müllsammler haben also viel zu tun in nächster Zeit«, sagte Nadia und meinte damit die

Mitarbeiter des Raumhafens die die Aufgabe hatten den Orbit von Bruchstücken, Müll und anderen Objekten freizuhalten, die Schiffe gefährlich werden könnten. »Ich hoffe sie haben genug guten

Kaffee.« »Es würde mich nicht wundern, wenn die bleichen Bastarde sie zur Sklavenarbeit verdonnern. Wie schrecklich müssen die Schiffe der Allianz sein, wenn sie so viele von uns zerstören können und

selbst kaum welche verlieren?« Während die beiden Mädchen weiter quatschten und ihre Arbeit beendeten, so bemerkten sie nicht

wie sich ein dunkler Schemen lautlos durch den Raum bewegte. »Ich fand sie haben interessante Namen. Damu, Enki und Gilgamesch. Ich frage mich, was sie unterscheidet?«

»Und ich frage mich wieso sie nicht einfach weiter direkt zur Erde fliegen. Wenn diese Damu, Enki und Wasweißich so viel Schaden anrichten können, wieso bleiben sie hier? Sie haben die

Erdenflotten hier abgeschlachtet. Wie viel Widerstand kann die Erde noch entgegen liefern?« Um ihren Frust über die Überlegenheit der Allianz-Schiffe zu verdeutlichen trat Sonja gegen den Tisch, den sie gerade gewischt hatte.

»Der Hochadmiral hat es bereits angedeutet«, begann eine Stimme überraschend hinter ihnen zu sprechen und als die Mädchen sich erschreckt umwandten, so saß der graue Flügeladmiral Martu

Me in einem der Sessel, vor sich wieder ein Display haltend. »Seit wann sitzt er da schon?«, fragte Sonja. »Keine Ahnung. Ich habe nichts gehört.«

»Gruselig.« »Mit Ausnahme der 9. Flotte beim Uranus bestehen alle Flotten der Erde im äußeren Ring aus

veralteten Schiffsmodellen«, fuhr der Mann von Eris fort. »Manche sind über 60 Jahre alt und ihre Antriebe und Waffen gehörten einer alten Ära an und konnten uns nicht viel entgegensetzen. Die Flotten im inneren System sind dagegen moderner. Unsere Antriebe sind zwar wesentlich schneller

als alles was die Erde besitzt, doch in Hinsicht auf die Waffen besteht bei den neusten Modellen beider Fraktionen kein wirklich großer Unterschied. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass die

Erde viel mehr Schiffe hat. Wir besitzen im Moment nicht einmal 130 Schiffe. Um die Erde selbst kreisen gerade mehr Schiffe als das. Ein blinder Angriff wäre zu diesem Zeitpunkt äußerst dumm.« Damit endete er seinen Beitrag und setzte seine Arbeit fort ohne aufzusehen.

»Äh«, machte Sonja. »Vielen Dank für die Erläuterungen«, sagte Nadia etwas geistesgegenwärtiger und verbeugte sich.

»Dankesworte bringen mir nichts«, entgegnete Martu Me. »Wenn du mir wirklich danken willst, Liebes, dann hol mir bitte einen guten Earl Grey und einige Kekse.« »Sofort, Mister.« Als Nadia losging, so bemerkte sie, dass Sonja mitkam.

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»Was ist?«, fragte ihre Freundin, als sie ihren Blick bemerkte und sie aus den Ahorn-Raum traten. »Ich bleibe nicht allein bei ihm… heilige Schei-!« Nadia schaffte es gerade noch den Mund von Sonja zu verschließen, doch auch sie japste kurz vor

Schrecken auf. Inmitten des Eingangssaals stand nun Ashnun Nusku, die sich vor einer halben Minute noch

draußen im Garten befunden hatte. Nadia war sich dessen sehr sicher, da sie die Frau noch aus dem Fenster gesehen hatte. »Können die bleichen Bastarde sich etwa teleportieren?«, knurrte Sonja, die etwas errötete.

Die schwarze Flügeladmiralin reagierte nicht auf die beiden und starrte weiter auf eine Wand. Vorsichtig und im hohen Bogen versuchten die beiden Mädchen sie zu umrunden um zur Küche zu

kommen. Fast da, dachte sich Nadia erleichtert und machte den Fehler kurz vor der Tür zu der Frau von Eris zurückzublicken. Die gläsernen, emotionslosen Augen der Maske erwiderten den Blick und das

Herz des Mädchens setzte kurz aus. »Ahrrgg«, machte sie und blieb so abrupt stehen, sodass Sonja gegen ihren Rücken stieß.

Einige Sekunden sahen die beiden sich an, bevor Ashnan Nusku mit einer überraschend leisen und sanften Stimme ein Wort murmelte: »Apfelschorle.« »Ähm, wie bitte?«

»Ich hätte gerne eine Apfelschorle. Mit Strohhalm.« »Sehr gerne, Madam«, sagte Nadia schnell. »Ich bin gleich wieder da.«

Überhastet stürzten die beiden Mädchen in die Küche. Dankbar dem Starren der mechanischen Augen zu entkommen. »Meine Güte«, fauchte Nadia. »Was ist nur los mit denen? Sie haben… gottverdammte-!«

Wieder musste Nadias Hand den kommenden Schwall an Obszönitäten aufhalten, der drohte aus dem Mund ihrer Freundin auszubrechen.

Da Frau Zwetkow fort war, so bereitete Kevin allein das Abendessen vor. Allerdings arbeitete er nicht in Einsamkeit. Denn neben ihm stand der Administrator Enkidu Ki, der hoch interessiert betrachtete wie die Zutaten bearbeitet wurden.

»Wir haben sowohl einen elektrischen, als auch einen Holzofen«, erzählte der Küchengehilfe gerade. »Ich persönlich brate das Fleisch lieber auf dem Holzofen. Es besitzt danach einen

besonderen Geschmack. Auch würde ich so viel Sonnenblumenöl nehmen um…« »Gibt es Fleischsorten, die sich besonders gut für einen Holzofen eignen?« »Nun, eigentlich nicht. Es dauert halt einfach länger warm zu machen, da man zuvor das Feuer

entzünden muss. Deswegen wird er meist für teures Wildfleisch angemacht, doch man kann auf den Herdplatten natürlich auch Schwein, Huhn oder…«

»Kevin«, krächzte Sonja fassungslos. »Was machst du da?« »Oh, hallo Sonja«, sagte der Küchengehilfe und sah auf. »Ich schneide gerade die Zwiebeln wie du siehst. Der Gast hier interessiert sich fürs Kochen und deswegen erlaube ich ihm zuzusehen und

gebe ihm Ratschläge.« »Auf Eris wird nicht viel mit der Hand gekocht«, erklärte der Administrator weiter, der fleißig alles

auf dem Gerät an seinem Arm mittippte. »Eine faszinierende Tätigkeit. Hat mich immer schon begeistert. Sag, könnte ich beizeiten mithelfen, wenn meine Pflichten es erlauben?« »Natürlich werter Herr.«

Während die beiden Männer munter weiter miteinander redeten und Nadia sich daran machte die Getränke für die anderen beiden Gäste vorzubereiten, so stand Sonja mit offenem Mund da. Ihr

Gehirn schien überladen zu sein von all dem was sich eben ereignet hatte. »Die verarschen uns alle doch nur«, murmelte sie, während ihre Kollegin ihr ein Tablett in die Hand drückte. »Die verarschen uns sicher. Das ist nicht witzig, verdammt nochmal! Meine Güte, sind

denn alle von Eris so komplett verrückt?«

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Kapitel 16:

Der Krieg

Eine Woche verging. An den Fronten passierte in dieser Zeit nicht viel, da man auf die Charon

Flotte vom Uranus wartete, um die Offensive auf Ceres zu starten. Nur an den äußeren Rändern der Orbits der Gasriesen kam es zu kleineren Gefechten mit den Überresten der besiegten Erdflotten, bei denen keine Seite wirkliche Verluste erlitt.

Doch während der eigentliche Krieg ruhte, so geschah viel anderes. Dies war natürlich nichts ungewöhnliches, da Nadia wusste, dass immer irgendwas irgendwo geschah, doch sie hatte das

Gefühl, dass diese Woche für sie besonders ausgefüllt war und sie etwas zu viel von diesem irgendwas abbekam. Sie blieb größtenteils bei den Sieben Kastanien mit Sonja und behütete die neuen Gäste. Einmal

fuhr sie hinab nach Arbali für eine weitere Versammlung der aufgelösten Dorfbewohner. Einige meinten, man solle versuchen die Allianz-Befehlhaber fortzujagen, doch nachdem man die Soldaten

in ihren schweren Rüstungen gesehen hatte, so warf man nur Biergläser nach den Störenfrieden. Man blieb bei der Entscheidung ruhig zu bleiben und die Besatzer nicht zu provozieren. Viele zeigten Sympathie mit Nadia und Sonja, da man anscheinend annahm, dass der Hochadmiral ein

schrecklicher Gast war. Auch besuchte sie zweimal Neu Moskau in dem nun große, massive Drohnen auf den Plätzen

standen. Ihr Aussehen erinnerte an die Soldaten mit ihren Exoskeletten, doch sie hatten vier Beine mit Reifen an den Enden für hohe Mobilität und vier waffenstarrende Arme. Bedrohlich thronten sie bewegungslos da und wurden bald zu beliebten Sitzorten der Tauben.

Die Bewohner der Stadt hatten sich bei ihrem ersten Besuch sämtlich zu Hause verbarrikadiert und nur einige Läden waren geöffnet. Doch ein paar Tage später trauten sich dann die ersten wieder

hinaus und man kehrte vorsichtig zum alten Alltag zurück. Die schwarzen Schiffe am Himmel und die stählernen Giganten in den Straßen ignorierte man dabei nach Möglichkeit. Fast jeden Tag gab es eine Besprechung in der Herberge, die am Vormittag begann, von einem Mahl

unterbrochen wurde und dann am frühen Nachmittag endete. Nadia und Sonja waren jedes mal dabei und bekamen so viel von den Ereignissen außerhalb von Ganymed mit.

Anscheinend gab es wieder Transportflügel für Waren im äußeren Ring, wenn auch unter den Augen der Allianz und nur zur Unterstützung des Krieges. Io und andere Industriewelten stellten ihre Fabriken so um, sodass sie Kriegsgüter für die Besatzer produzierten, wie Munition oder

Ersatzteile für die Schiffe. Bei fast allen Monden des Neptuns und einigen anderen Kuppeln hatte man die Allianz als Befreier

empfangen, sodass dort eine Besatzung kaum notwendig war. Einige der Erde feindlich gesinnte Gruppen hatten bei der Invasion des Neptun sogar einige bei den Raumhäufen angedockten Erdenschiffe geentert. So hatten sie verhindert, dass die 9. Flotte mehr Feuerkraft bekam und nun

unterstützen sie die Allianz mit ihrer eigenen kleinen, erbeuteten Flottille bei der Belagerung von Brahma Seven. Auch meldeten sich viele junge Männer für ein Freiwilligenheer um Namtar An auf

dem Boden zu unterstützen. Von der Erde kamen auch Nachrichten. Die Köpfe des Verteidigungsministers und vieler Parlamentsmitglieder rollten in Exil, doch die Oberadmiralin Chiang durfte überraschenderweise

ihren Posten behalten. Was sie nun plante war unbekannt, doch sie hatte geschworen die eroberten Welten zu rächen, die Allianz zurückzutreiben und Eris für den Verrat brennen zu lassen. Man

sprach davon Namtar An selbst an der Außenhülle eines Titan zu nageln, zusammen mit all seinen Unterstützern. »Wie reizend«, hatte Martu Me dies kommentiert. »Da ist jemand wirklich wütend.«

Weiterhin erfuhr Nadia, dass es anscheinend Bodenkämpfe außerhalb der Kuppeln auf allen besetzten Welten gab – selbst hier auf Ganymed. Wie es schien musste die Allianz die Erdmarines

noch ausmerzen um völlige Kontrolle zu erlangen. Nadia hatte zwar gewusst, dass solche Einheiten draußen in der Ödnis, geschützt durch unterirdische Bunker, existierten, doch darüber hinaus besaß sie kein Wissen über diese Soldaten, da sie niemals einen gesehen hatte.

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»Erdmarines sind anders als die lokalen Streitkräfte der Kuppel«, erzählte Frau Zwetkow am Abend dann beim Kochen. »Man hält sie absichtlich von den Kolonien fern, damit sie keinerlei Bindung zu uns aufbauen. Denn sie sollen uns nicht gegen äußere Gefahren schützen, sondern uns

unterdrücken, falls wir mal aufmüpfig werden. Angeblich haben sie auch Drogen mit denen sie leichter Kinder und Frauen töten können. Meistens versuchen wir nicht zu sehr an sie zu denken.«

Danach hatte Nadia einige Albträume und war froh, niemals einem Marine begegnet zu sein. Man konnte nur beten, dass die Gefechte niemals die Kuppel erreichten. Vieles was besprochen wurde machte immer noch kaum Sinn, doch im Nachhinein konnte sie sich

manches zusammenreimen. Außerdem bekam sie noch Erklärungen von den Allianz-Befehlshabern an einigen Punkten.

Sie hatte zwar kein wirkliches Gespräch mehr mit Namtar An seit dem Tag seiner Ankunft, allerdings war er nicht völlig verschlossen. Er liebte es anscheinend auf der Terrasse zu sitzen, den Wasserfall zu beobachten und Kaffee zu trinken, doch er war gerne bereit für kleine Erläuterungen

nach den Besprechungen. Besonders gesprächig war überraschenderweise Martu Me, der vor und nachdem man ihn bedient

hatte fast beiläufig Fragen beantwortete. Dabei wurde auch offensichtlich, dass die Herberge verwanzt war, da er Antworten zu Fragen gab, die Nadia und Sonja privat vorm Schlafengehen besprochen hatten – also an einem Ort wo er unmöglich etwas hätte mitbekommen können.

Überflüssig war es zu erwähnen, was für einen Aufstand Sonja machte, als dies klar wurde und sie musste anschließend ordentlich von Frau Zwetkow zurechtgewiesen werden.

Zumindest lernte Nadia unter anderem, worauf die Namen der Schiffe der Allianz sich bezogen. Damu's waren so etwas wie Kreuzer, Enki's Fregatten und Gilgamesch's die gewaltigen Schlachtschiffe. Es wurden weiterhin noch die Asag's und Ishkur's erwähnt, doch man ging nie ins

Detail. Martu Me sagte nur einmal kurz, diese Schiffe seien experimentell. Die Allianz besaß keine Titanen, was neben ihrer begrenzten Zahl ihre größte Schwäche war.

Von der eigentlichen Bewaffnung her besaßen sie die selben drei Methoden wie die Erde: Void-Torpedos, Ionenwerfer und elektromagnetische Katapulte, sowie Drohnen zur Unterstützung. Ashnan Nusku wiederum schien gewillt zu sein zu einer mobilen Dekoration der Sieben Kastanien

zu werden, da man sie an allen möglichen – und inzwischen auch unmöglichen – Orten finden konnte, still stehend und teilweise viele Stunden lang. Nadia fürchtete, dass sie eines Tages die

schwarze Flügeladmiralin bei sich im Zimmer vorfinden würde. Enkidu Ki begann tatsächlich mit Kevin zu kochen. Ob die Versuche erfolgreich waren, konnte nicht gesagt werden, doch einmal meinte Sonja den sonst ruhigen und gefassten Gehilfen von Frau

Zwetkow würgend zur Toilette rennend gesehen zu haben, wo er sich dann lautstark übergab. Draußen auf dem Parkplatz derweil hatte man eine Container-Barracke errichtet, in der die Soldaten

von Eris schliefen. Sie versorgten sich selbst mit Rationen, doch Nadia brachte ihnen trotzdem manchmal Getränke und etwas Süßes. Insgesamt war es nicht so viel anders als sonst. Es war nicht das erste Mal, dass so wenige Gäste in

der Herberge untergebracht waren – wenn auch zum ersten Mal zu solch einem langen Zeitraum. Sonja hielt sich nun mehr zurück in der Gegenwart der Allianz-Befehlshaber und maulte nur noch

privat herum – trotz der Verwanzung, aber anscheinend machten Namtar An und dem Rest das üble Mundwerk der einen Bediensteten nichts weiter aus, genauso wie es sie nicht kümmerte, dass die Mitarbeiter wussten, dass sie abgehört wurden.

Die Besprechungen nahmen zwar einen beträchtlichen Teil des Tages ein, doch danach waren die neuen Gäste meist sehr anspruchslos. Namtar An wollte ab und zu einen Kaffee, Martu Me liebte

seinen Tee, Ashnan Nusku bat selten mal um Apfelsaft und Enkidu Ki rief eigentlich nie nach ihnen. Auch schienen die Menschen von Eris nur alle drei Tage zu schlafen, weswegen die Betten nur selten gemacht werden mussten.

So fand Nadia sich eines Nachmittags bei ihrem liebsten Aussichtspunkt auf dem Baumstamm sitzend und auf die Ebene hinabblickend. Eigentlich wollte sie entspannen, doch irgendwie schaffte

sie es nicht sich auf die Natur um sie herum einzulassen. So viel war wie sonst, aber dennoch war alles anders und Ruhe kam nicht in ihren Geist.

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»Ach Anna«, sagte sie deswegen schließlich zum Himmel gewandt. »Geht es dir gut? Bei mir ist alles gerade so schwierig und kompliziert.« Ihre kleine Schwester war unfassbar weit weg und jeder Kontakt mir ihr unterbrochen. Es blieb nur

jeden Tag das Tagebuch zu schreiben und es ihr nach dem Ende des Krieges zu schicken. Dennoch sprach sie gerade so, als wäre das süßeste kleine Mädchen der Welt gerade bei ihr.

»Was ist nur los mit mir? Man sagt mir ständig, dass ich zu gut wäre. Viele reden davon gegen die Allianz zu kämpfen und sie zu hassen. Doch zu mir sagt man, dass ich nicht mitzukämpfen brauche. Gewalt wäre nichts für mich. Es stimmt, ich sehe nicht gerne andere leiden. Mir ist es egal ob

Ganymed besetzt ist oder nicht, solange alles nach dem Krieg nur wieder zu dem zurückkehrt wie es war. Ich finde Herrn An sogar sehr nett und höflich. Ich will mich gerne wieder länger mit ihm

unterhalten. Es macht mir sogar nichts aus, dass wir abgehört werden. Es ist eben so und ich kann nichts daran ändern. Ich bin ein schwaches Mädchen in diesem ganzen Strudel. Lass sie doch dort draußen in der Kälte kämpfen und sterben. Solange ich hier in Ruhe leben und eines Tages mit dir

hier wohnen kann, ist doch alles in Ordnung, oder? Es ist doch für uns gleich ob die Erde oder die Allianz gewinnt. Bin ich wirklich komisch, dass ich so denke? Bin ich verrückt, dass mir all dies

nichts ausmacht? Ist es nicht eher gesund? Ich will mir keine Meinung zu all dem bilden. Man sagt mir, was ich tun soll und ich tue es. Es ist meine Arbeit und ich liebe sie. Also mache ich sie weiter. Auf diese Weise will ich auch abwarten. Das ist doch die beste Lösung, nicht wahr Anna? Abwarten

bis alles vorbei ist.« Plötzlich spürte Nadia wie die innere Unruhe stärker wurde und sie rutschte nervös auf dem

Baumstamm hin und her. Um sich zu beruhigen schloss sie ihre Augen, begann tief ein und aus zu amten und lauschte dem Gesang der Vögel. Sie wurde sich mehr den Moos unter ihren Händen bewusst und und fühlte die Frische in der Luft. Ein Wind kam auf und sie wurde von diesem tiefer

in sich selbst getragen. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, die Gedanken ordneten sich und so konnte sie erkennen, was in ihr vorging. Sie war Nadia, die unschuldige Bedienstete bei den

wunderbaren Sieben Kastanien auf dem herrlichen Ganymed. Sie war höflich, gutherzig und gewissenhaft. Sie war folgsam, sagte nie Widerworte und nahm ihre Arbeit ernst. Sie wusste was sie wollte und es war nicht viel. Ja, so war sie und was nun vor sich erblickte war...

»Scheiße!« Sie sprang mit einem Schrei auf und kickte einen Stein von der Kante. Vögel flatterten hinter ihr erschrocken aus den Bäumen und ein Eichhörnchen rannte fort. Die Blätter raschelten,

doch anstatt zu einer schönen Melodie zu werden, so wirkte es nun wie gehässiges Gelächter. »Tut mir leid«, flüsterte Nadia entsetzt, nicht wissend ob sie sich bei den Tieren, der Welt oder sich selbst entschuldigte. Ihre Hand legte sich auf ihren eigenen Mund. »Oh Gott, es tut mir leid.«

Alles wirkte nun so schrecklich einsam. Der so lebendige Wald schien sich vor ihr nun zu verschließen.

Nicht in der Lage dem Spiel des Windes weiter zu lauschen trat sie ihren Rückweg an. Das Erlebnis verdrängte sie dabei mit aller Macht ihres Willens. Als sie bei der Herberge ankam, so übernahm sie für Sonja, die nun Pause machte und brachte

Kaffee zu Namtar An. »Danke sehr, Nadia«, sagte er wie immer lächelnd, »kannst du mir übrigens morgen einen Gefallen

tun?« »Was immer Sie wünschen, Mister.« »Ich habe gehört, dass du Touren durch den Wald anbietest. Wärst du bereit mich morgen den

Wanderweg hoch zum Berg zu führen? Ich würde gerne mal die Natur hier durchstreifen.«

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Kapitel 17:

Ferne

Nadia wählte den Herman Weg für den nächsten Tag. Er führte durch viele der schönsten Ecken des

Waldes und endete auf dem höchsten Berg der Kuppel – der Moskauer Nase. Es gab sonst nicht viel Vorbereitung, da sie schon viele Touristen hinaufgebracht und alle Details im Kopf gespeichert hatte. Dennoch schlief sie nicht in der Nacht und am Morgen wurde sie fest von Sonja umarmt.

»Er wird mir schon nichts tun«, hatte sie dabei gemeint und ihre aufgelöste Freundin getröstet. »Bei den bleichen Bastarden kann man nie wissen«, war die Antwort gewesen, »pass auf dich auf

Dummerchen und wenn er irgendwas versucht, dann kick ihn von der Klippe.« Frau Zwetkow machte ihnen einige belegte Brote als Mahlzeit, die Nadia in ihren Rucksack aufbewahrte, zusammen mit dem Erste-Hilfe-Koffer, Wasser und Sonnencream. Dazu trug sie

Wanderstiefel unter ihrem Dienstkleid an den Füßen. Überraschenderweise stellte sie fest, dass sie komplett alleine mit dem Hochadmiral sein würde.

Die anderen Admiräle schienen kein Interesse an einem Ausflug zu haben und selbst die Soldaten kamen nicht mit. Nadia bemerkte zwar Drohnen am Himmel als sie losgingen und vermutlich würden diese Maschinen ihr innerhalb einer Millisekunde den Schädel fortsprengen, wenn sie

irgendwas Dummes versuchte, doch da diese Dinge nur winzige Punkte im endlosen Blau waren, so wirkte es als würden nur sie zwei zusammen wandern.

Der Hochadmiral trug wie immer seinen schwarzen Mantel, benutzte heute allerdings einen ausgeliehen Gehstock von der Herberge, der ein wenig an eine verzierte, dänische Kriegsaxt erinnerte – nur nicht so scharf. Er schien es allerdings nicht zum Laufen zu brauchen, da er mühelos

über selbst die steinigsten und steilsten Pfade glitt und auch nach einigen Stunden keinerlei Schweiß auf der Stirn hatte.

Wie sonst erzählte Nadia vom Wald und dessen Wunder. Haine um die sich Legenden rankten. Verlassene Hütten, die einst von glücklichen Familien zeugten und die heute in zufriedener Ruhe zwischen den Bäumen hockten. Büsche hinter denen Reiche liegen sollten, wo die Tiere des nachts

Konferenz hielten. Äste auf denen die Götter der Katzen schliefen. Komisch geformte Steine, die von Kobolden stammen sollten, die sich damals in den Transporträumen der Kolonistenschiffe

versteckt hatten. Dann gab es die Pflanzen. Alle lokalen Blumen kannte Nadia. Sie rezitierte Gedichte die von den verschiedenen Düften handelten, erläuterte die symbolische Bedeutung der verschiedenen Blüten,

wie begehrenswert sie für Bienen waren, welche man gut der Geliebten schenken konnte und aus welchen die Feen sich die Kleider machten.

Die vielen Bäume flüsterten sich die Geheimnisse zu, die über die Jahrhunderte hinweg in der Kolonie entstanden waren. Die alten Weisen, die Laub als ihre Kronen trugen, hockten auf den Wiesen, die Wurzeln bereit wie die Knie eines Großvaters am Lagerfeuer, der seinen Enkeln

Geschichten erzählen wollte. Man musste sich nur noch setzten und lauschen. Die Nadelträger dagegen standen dicht zusammen, boten kühlen Schatten für das Leben unter sich.

Es waren die netten Nachbarn, von denen alle profitierten. Die Königreiche der Naturgeiste spannten sich zwischen ihren Ästen und ihr Harz war Ambrosia für die kleinen Götter. Insekten umgaben alles. Überall wo man trat, tummelte sich das kleine Getier in sprießendem

Leben. Die Käfer sandten Boten zu den Händlern der Mäuse. Die Spinnen blieben unter sich und zeigten voller Stolz ihre Webkunst der Welt. Die edlen Mistkäfer arbeiteten unermüdlich für die

Liebe. Die Ameisen erbauten große Zivilisationen und waren der Glanz aller Kleinwesen im Wald. Und dann gab es natürlich die Vögel. Die Vögel mit ihren herrlichen Gesang. Nadia liebte Neu Moskau mit jeder Faser ihres Leibes und sie wollte ihre Liebe mit allen teilen. Nie

würde sie müde werden von den Wundern dieser Welt zu erzählen. Alle sollten die Schönheit des Waldes kennenlernen und die Tänze der Natur betrachten. Alle sollten die Mythen der Kolonie

lauschen. Alle sollten die selbe Zufriedenheit und Ruhe spüren, wie sie es tat wenn sie hier war. Schließlich vergaß sie wen sie hier führte. Der Krieg war verschwunden aus ihrem Blicke. Die schrecklichen Gedanken von gestern suchten sie nicht mehr heim.

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Stattdessen deutete sie hinauf zu den Nestern und ließ den Hochadmiral den Gesang hören. Und so stand der Mann, der die Macht der großen Erde selbst in die Knie zwingen wollte, mit geschlossenen Augen da und öffnete seine Ohren für die Melodie der kleinen, gefiederten Wesen

über ihm. Ein Anblick von solcher Menschlichkeit, dass man in ihm nicht mehr den Eroberer und Führer sehen konnte. Nur ein Mann, der dem Moment genoss um den Alltag zu entfliehen.

»Singst du eigentlich, Nadia?«, fragte er nach einer Weile. »Ich habe auf der Erde einige Gesangsstunden genommen, Mister. Doch ich habe seit einer Weile nicht mehr geübt.«

»Wirklich? Würde es dir dann etwas ausmachen irgendwann für mich zu singen?« Bin ich nur ein hübscher Singvogel für ihn? War ich vielleicht nicht immer so etwas wie ein

Singvogel? »Dafür müsste ich wieder etwas üben, Mister«, antwortete sie ausweichend, während sie mit einem hastigen Kopfschütteln die Gedanken verscheuchte. »Nun, ich werde eine Weile hier sein. Der Krieg wird nicht morgen und auch nicht übermorgen

gewonnen werden. Ich glaube du kannst ein wunderschönes Lied singen, wenn du die gleichen Emotionen hineinlegst wie eben gerade, als du mir all diese wunderbaren Sachen erzählt hast. Ja,

ein Lied über Ganymed. Ein Lied über Neu Moskau. Ein Lied der Sieben Kastanien. Ich würde es wirklich gerne hören.« »Dann werde ich für Sie üben, Mister«, meinte Nadia, die tatsächlich ein wenig Motivation in sich

spürte. Eventuell würde es ihr guttun mal wieder zu singen? »Freut mich zu hören. Sag, als dank für die wunderbare Führung bisher, wie wäre es, wenn ich

etwas über meine Heimat, die Allianz, erzähle? Ich habe gehört, du magst es, wenn deine Gäste von den Orten erzählen, von denen sie stammen.« Dies überraschte Nadia etwas und sie brauchte wieder einen kurzen Moment um ihre Worte zu

finden: »Gerne... ich bin mir sicher es sind faszinierende Kolonien.« »Es ist vor allen Dingen eine Menge Leere«, entgegnete Namtar An. »Die Allianz ist anders als die

Verbände hier im Inneren des Sonarsystems. Der Pakt von Zeus, die Uranus Union und alle die anderen sind ja lokale Monde, die dicht beieinander um einen Gasriesen kreisen. Pluto, Eris, Makemake und die anderen Zwegplanten haben dagegen jeweils ihre eigene Umlaufbahn und

manchmal liegt das gesamte Sonnensystem zwischen ihnen. Die Allianz umkreist gewissermaßen alles und ist nicht zusammengeklumpt. Die Entfernungen werden sogar noch größer, wenn man die

Weite der Umlaufbahnen bedenkt. Der Orbit von Makemake ist genauso weit von demjenigen des Pluto entfernt, wie der Orbit des Pluto zur Sonne. Kommunikation ist deswegen schwierig und ich kann froh sein, dass genug Wille da war, damit die Allianz funktionierte. Glaub mir, die Leere

zwischen uns machte große Schwierigkeiten und nur das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber den undenkbaren Weiten führte uns zusammen, da man nicht allein in der Kälte sein wollte. Und glaub

mir, dort draußen, wo die Sonne zu einem Funken von vielen wird, ist man alleine. Schrecklich alleine, umgeben von Schwärze und Sternen, wissend, dass die nächste Kolonie in unfassbarer Entfernung liegt. Unsere Seelen wurden gestärkt, um nicht wahnsinnig zu werden und wir stählten

unsere Körper, um der rauen Umgebung zu trotzen. Ja, wir trotzten der Stärke des Weltalls, denn nichts anderes blieb uns übrig. Die Mutter Erde wollte uns nicht mehr und wir selbst wollten Wege

gehen, die kein Mensch zuvor gegangen war. Ja, die Dunkelheit selbst wollten wir unser eigen machen. Tiefer und tiefer drangen wir in die oortsche Wolke ein, fanden immer neue Dinge die um die Sonne kreisten. Namenlose, vergessene Dinge. Ja, ich selbst nahm in meiner Jugend an solch

einer Expedition teil, kühn wie ich war wollte ich die Götter zwischen den Sternen sehen. Und so sah ich... sah ich...«

Namtar An hielt inne. Alle Vögel waren inzwischen verstummt. Er stand da und legte seine Hand vor Augen. Zum ersten Mal in ihrer Gegenwart wirkte er unruhig. »Was haben Sie gesehen, Mister?«, fragte Nadia atemlos.

»Vieles Naida. Vieles was vielleicht besser in der Dunkelheit versteckt geblieben wäre. Du musst es nicht wissen. Du willst es nicht wissen. Wie dem auch sei. Meine Heimat ist kalt, finster und

höllisch. Doch es ist meine Heimat. Sie hat mich geformt und mich zu dem gemacht, was ich bin. Dafür bin ich dankbar und ich halte die Traditionen und Prinzipien der ersten Kolonisten auf Pluto

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und Eris in Ehren. Wir werden vollenden, was man sich damals geschworen hat. Die Macht der Erde wird fallen und die Menschheit befreit. Komm nun Nadia. Ich würde gerne weitergehen.« »Natürlich, Mister.«

Eigentlich wollte Nadia mehr fragen, mehr wissen. Dieser Mensch vor ihr hatte sicher noch so viel zu erzählen und noch immer war in ihr der Wunsch ihn besser kennenzulernen. Doch fürs erste

schien sein Bedürfnis für ein Gespräch befriedigt zu sein und sie wollte nicht unhöflich wirken. Also gingen sie zwei weiter durch den grünen, prächtigen Wald auf Ganymed.

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Kapitel 18:

Kunst des Krieges

Sie stiegen den Berg weiter hinauf und die Bäume wurden dabei immer weniger. Mehr Lichtungen

wurden sichtbar auf denen tausende von Blumen blühten. Schmetterlinge begannen sie in großer Zahl zu umfliegen. Naida musste mehr Wasser zu trinken, da es kaum mehr Schatten gab der sie kühlte. Namtar An schien all dies dagegen nichts auszumachen.

Auf dem Weg kamen sie an einigen Dolmen vorbei, von denen manche direkt von der Erde stammen sollten. Man hatte sie hier aufgestellt, um sich an die europäischen Vorfahren zu erinnern.

»Geschichte ist wichtig«, meinte Nadia, als sie vor einem dieser Steine standen, während im Hintergrund Kühe muhten. »Nicht nur um aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, sondern auch um zu wissen woher man kommt. Wie können wir weiter voran in die Zukunft gehen, wenn

wir den Weg hinter uns nicht mehr kennen? Man kann sonst nur Irrwege gehen.« »Ach wirklich, Nadia?«, meinte der Hochadmiral interessiert. »Ist es so? Ist mein Leben nicht mein

Weg? Was haben meine Vorfahren damit zu tun?« »Das sind berechtigte Fragen, Mister. Ich kann nur sagen, was ich denke und glaube. Unser aller Weg ist nur Teil einer wesentlich größeren Straße. Meine Vorfahren haben durch ihre Taten die

Richtung bestimmt, in die ich nun wandere und ich werde die Steine legen für diejenigen die nach mir kommen. Alles ist verbunden. Alles baut aufeinander auf. Man muss für alles dankbar sein, egal

ob es aus der Vergangenheit kommt oder in der Zukunft liegt.« »Doch gehen wir wirklich auf eine Zukunft zu, Nadia? Ist es nicht vielleicht mehr so, dass wir nur stillstehen und darauf warten, dass die Zukunft auf uns zukommt?«

»Um diese Frage zu beantworten müssten wir Zeit verstehen, Mister. Ich selbst weiß nicht genug darüber. Doch ich glaube einfach daran, dass es Bewegung geben muss... Bewegung von uns

Menschen aus. Selbst wenn die Zukunft auf uns zukommt, so müssen wir zumindest denken, dass wir es eigentlich sind, die gehen. Wie könnten wir denn sonst Dinge entdecken und Großes errichten?«

»Du wirkst nicht so, als würdest du dich für solche Sachen interessieren.« Der Hochadmiral begann weiterzugehen. Nadia blieb neben ihm.

»Meine Schritte sind halt langsamer als bei den meisten anderen Menschen, Mister. Ich mag es mir den Wegesrand anzusehen, Pausen zu machen und zu gehen, ohne zu wissen wo ich lande.« »Ganymed ist wirklich faszinierend, wenn es Menschen wie dich formt, Nadia. Das mit den

Vorfahren und dem Ort wo man herkommt sind auch für mich wichtig. Es sind Kenntnisse, die den Menschen der alten Zeit fehlte.«

»Der alten Zeit?« »Die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts, Nadia. Die Zeit des Chaos. Die Zeit wo Technologie zu einer Krankheit wurde. Die Zeit der Depression. Die Zeit der Kulturenkämpfe. Die Zeit des Blutes.

Man vergaß, wer man war und woher man stammte. Man lehnte die Vergangenheit ab, in dem Glauben auf diese Weise eine bessere Zukunft zu finden. Wie dieses falsche Denken endete wissen

wir inzwischen und nun haben wir die Regulierungen der Erde an unserem Hals, die uns knebeln und fesseln.« Sie traten wieder zwischen einigen Bäumen. Die Spuren von Rotwild waren auf dem Boden zu

erkennen. Einige Vögel tranken aus einer Pfütze. Die Luft war so herrlich klar. Während Nadia tief einatmete und die Frische in ihren Lungen genoss, so wurde ihr klar was für

eine Unterhaltung sie gerade mit dem Hochadmiral führte. Was sollte sie nun weiter sagen? Ein Bild von Ashnan Nusku flimmerte vor ihr auf. »Meinen Sie die Forschungsregulierungen der Erde, Mister? Diejenigen, die den großflächigen

Einsatz von Maschinen verbieten?« »Zusammen mit den Zoll-, Handels- und Weltraumforschungsgesetzen ist dies ein zentraler Punkt,

ja. Nachdem die Technologie im 21. Jahrhundert so viel Arbeit zerstört hatte, fristeten Zahllose auf der Straße ein Leben in Armut. Andere ertranken sich in sinnlosen Luxus um ihre freie Zeit auszufüllen. Das Ergebnis waren die Blutorgien in Saudi Arabien und andere extreme Exzesse,

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sowie diverse Aufstände. Deswegen machen die Gesetze Sinn. Solange es nicht absolut nötig ist, soll eine Arbeit lieber von einem Menschen ausgeführt werden, anstatt von einem Roboter. Als Ergebnisse dieser Regulungen wurden Berufe wie Taxifahrer, Kassenverkäufer, Handwerker,

Realeinfüller wieder eingeführt. Eine Fabrik muss eine bestimmte Quote an menschlichen Arbeitern haben. Selbst in der militärischen Flotte der Erde gibt es viele sinnlose Posten, die nur existieren um

Leuten Arbeit zu geben. Denn ohne regelmäßige, gute Arbeit werden viele Menschen unglücklich. Wir sind halt Kreaturen die Sicherheit und Stabilität brauchen. Du stimmst zu, oder Nadia?« »Ja, Mister. Ich liebe meine Arbeit über alles.«

»Wusste ich es doch. Die Gesetze machen in diesem Rahmen schon Sinn. Doch wir in der Allianz sehen sie als zu streng und unflexibel an. Wegen unserer geringen Bevölkerung ist es schlicht

notwendig, dass wir vieles automatisieren. Ganze Fabriken bei uns werden nur von einer einzigen Person geleitet und wir spucken damit auf die Gesetze der Erde. Wir ignorierten die Regulierungen nicht als Akt der Rebellion, sondern aus Notwendigkeit. Wir können diesen Krieg nur führen, weil

unsere Schiffe zehnmal weniger Personal brauchen als diejenigen der Erde. Natürlich sorgen wir dafür, dass am finalen Hebel immer ein Mensch sitzt und wir haben keinerlei Interesse daran an

künstliche Intelligenzen zu forschen, doch um zu expandieren und zu blühen müssen wir die bestehenden Gesetze abwerfen und unsere eigenen einführen. Dies ist auch mein Plan. Nach unserem Sieg darf jede Kolonie selbst bestimmen, wie sie den Automatismus behandelt, ohne

Einfluss er Erde.« Sie erreichten die nächste Wiese. Edelweiß verwandelte hier alles in eine duftende, frühlingshafte

Schneelandschaft. Nadia verspürte den Drang sich darin zu rollen und zu lachen. Zwei Adler kreisten über sie und betrachteten die Drohnen misstrauisch. Hasen guckten vorsichtig aus ihren Löchern. Ein Ziegenbock thronte stolz auf einem Felsen.

»Habe ich dich gelangweilt Nadia? Ich weiß, ich halte gerne Vorträge.« »Ganz und gar nicht, Mister. Ich fand es sehr interessant. Ich glaube ich verstehe Sie jetzt besser.

Danke, dass Sie so offen mit mir reden.« »Es ist auch für mich erleichternd. Auf Eris bekommt man meistens nicht viel Gelegenheit miteinander zu reden. Sag, Nadia, ist der Gipfel nahe?«

»In zehn Minuten werden wir ihn erreichen, Mister.« »Nun, denn nehmen wir dann mal die letzte Etappe in Angriff!«

»Sehr wohl, Mister!« Fast schon begeistert folgte sie dem Hochadmiral. Dabei realisierte sie, dass sie nicht mehr die Führerin war. Er war nun derjenige, der sie hinauf auf den Berg leitete.

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Kapitel 19:

Berggipfel

Die letzten Tannen wichen und die Blumenwiesen wurden zurückgelassen. Felsen, hohes Gras und

ein starker Wind empfingen sie, als sie den Gipfel der Moskauer Nase erreichten. Verschwitzt öffnete Nadia die Arme und ließ die starken Brisen ihren Körper abkühlen. In ihrer Fantasie stellte sie sich vor, wie der Gott dieses Berges sie willkommend in die Arme nahm.

Der Hochadmiral derweil schritt ohne irgendein Anzeichen von Erschöpfung direkt zur Kante des steilsten Abhanges und sah hinab auf die weite Ebene. Der Wald, die Weiden, die Felder und

schließlich die Stadt erstreckten sich dort unten, präsentierten all den Glanz dieser Kuppel. Ein Ring aus Wolken hatte sich um den Halo gebildet und beim Jupiter zog das kosmischen Ballett seiner Monde vorbei. Ein Falke hockte auf dem nahen Kreuz und beobachtete sie misstrauisch.

»Dies ist also deine Heimat, Nadia«, sprach Namtar An nach einigen Minuten des Schweigens. »Ja, Mister. Dies ist meine Heimat.«

»Mmh. Es wundert mich eigentlich. Wieso haben du oder Sonja nie gefragt was mit Ashnan Nusku passiert ist? Ihr Äußeres ist wahrlich nichts Normales hier.« »Solche Fragen werden meistens als unhöflich angesehen, Mister.«

»Ist dem so? Vermutlich. Es ist zumindest kein wirkliches Geheimnis. Als sie jünger war, arbeitete sie in einer Fabrik im Herzen von Eris. Wie es nun einmal so kommt, geschah ein Unfall und ihr

Gesicht wurde zerfetzt. Chemikalien lösten ihre Lunge teilweise auf und ein Großteil ihrer Haut wurde weggeätzt. Selbst mit unserer Medizin konnten wir sie beinahe nicht mehr retten. Damit sie atmen konnte, gaben wir ihr künstliche Lungen und eine Maske, die Sauerstoff in sie hineinpumpt.

Als sie sich einigermaßen erholt hatte, trat sie dem Militär bei und versteckt seitdem ihr Äußeres unter der Uniform.«

»Das klingt schrecklich, Mister. Die Arme.« »Sei am besten nicht so mitleidig in ihrer Gegenwart, Nadia. Sie hasst dies. Wieso denkst du nun habe ich dir dies eben erzählt?«

»Vielleicht, damit ich die schwarze Flügeladmiralin besser kennenlerne, Mister?« »Eventuell das auch, aber eigentlich wollte ich so nur noch einmal verdeutlichen, was der Preis

dafür ist im äußersten Ring zu hausen. Sie ist kein Einzelfall und die Leere nagt unaufhörlich an unseren Körpern, Nadia. Du bist sicher froh hier zu leben. Ich kann es verstehen. Doch vergiss nicht, dass nichts umsonst ist. Wir von der Allianz müssen die Härte weit ab von der Sonne ertragen

für unsere Freiheit. Was denkst du ist der Preis für die Ruhe und die Idylle, die du hier genießt?« Darauf wusste Nadia nun nichts mehr zu sagen. Sie blickte den Hochadmiral einfach nur verwirrt

an, während ihre Gedanken sich überschlugen. Was meinte er mit Preis? Was gab es zu bezahlen? War es nicht genug hier zu leben? War Ganymed etwa nicht dankbar dafür, dass sie auf seine Oberfläche schritt.

Namtar An lächelte und setzte sich auf einen Felsen. Er schloss die Augen und schien dann in Meditation zu versinken.

Da sie ihn nicht stören wollte, trat Nadia etwas zur Seite, trank ein wenig Wasser und legte sich in das Gras um sich zu erholten und ebenfalls etwas ihren Kopf zu ordnen. Tatsächlich half es heute vom Gesang des Windes davongetragen zu werden, während die weiche Matte an Pflanzen sie in

Ganymed selbst zu saugen schien. Sie hütete sich davor zu tief in sich selbst zu wandern und ließ stattdessen einfach den Stress und die Verwirrung ausklingen.

Sie versuchte auch nicht weiter über seine Worte von eben nachzudenken. Nein. Sie wollte einfach nur versuchen so wie früher einfach ihre Präsenz auf diesem wunderbaren Mond zu genießen. Als der Hochadmiral sich dann erhob, stand sie dann wieder bereit und gab ihm ein Brötchen zum

Essen. »Was ist eigentlich deine Meinung zum Krieg, Nadia?«, fragte er kauend, noch immer auf den Stein

hockend. Der Falke war etwas näher zu ihm gehüpft. »Wer sind für dich die Guten und wer sind für dich die Bösen? Welche Seite hat recht? Wer soll gewinnen und wer soll verlieren?« Dies waren schreckliche Fragen. Nadia wollte sie nicht beantworten. Sie wollte sich keine

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Gedanken um diese Themen machen. Sie wollte einfach weiter ihr Leben fortführen. Doch sie konnte auch nicht nichts sagen. »Solange all dies weiter existieren kann«, sie deutete hinaus auf die vor ihnen ausgebreitete

Landschaft, »kann meiner Meinung nach jede Seite gewinnen oder verlieren, Mister. Solange Neu Moskau für mich weiter bestehen bleibt, ist alles für mich in Ordnung. Mir ist es egal, ob wir

Menschen irgendwann andere Sterne besiedeln oder wer uns regiert, solange ich weiter hier leben darf.« Sie lächelte so freundlich wie sie konnte. »Aber falls es sie beruhigt, ich halte sie nicht für böse, Mister.«

»Das ist gut zu hören«, entgegnete er und sein Blick glitt über die Felder hinweg, bei denen bald die letzte Ernte eingefahren werden würde. »Ja, das ist wirklich schön zu hören. Danke dafür, Nadia.

Und danke dafür, dass du ehrlich bist. Wir werden sehen, wohin diese Ansichten dich bringen. Manche würden sagen du bist weise so zu sprechen. Andere würden dich naiv nennen.« »Ich würde eher auf die Naivität tippen«, scherzte sie und sie spürte wir ihre Zöpfe in dem Wind

wie Pendel schwangen. »Wir werden sehen.« Der Hochadmiral stand auf. »Nun kehren wir am besten zurück. Es gibt viel

zu tun. Sehr viel. Diese Wanderung hat mir geholfen, meine eigene Nervosität und Zweifel zu dämmen. Nun heißt es vorwärts. Vorwärts zum Sieg.« »Schön, dass Sie den Ausflug genossen haben, Mister«, sagte Nadia glücklich.

Und so begannen sie beide zusammen wieder den Abstieg. Seite an Seite. Am darauffolgenden Tag kam die Charon Flotte endlich beim Jupiter an und am nächsten Morgen

wurde von Ganymed aus die erste Schlacht von Ceres eingeleitet. Der bisher erstarrte Krieg wurde somit neu entfacht.

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Kapitel 20:

Ceres

Tausende Menschen hatten sich auf dem grünen Platz versammelt, als ein Teil der Allianzflottille

abhob um weitere Schlachten zwischen den Planeten des Sonnensystems zu schlagen. Ashnan Nusku flog mit ihrem Flaggschiff der Urash davon, um die Eris Flotte gegen Ceres zu führen. Martu Me wiederum übernahm von seinem Schiff, die Inanna, aus die Kontrolle über die

Charon Flotte und diente als Reserve. »Die sind wahnsinnig«, sagte Sonja, als sie zusahen, wie die Lichter zum Halo aufstiegen. »Sie

wollen gegen die Erde antreten und denken sie könnten gewinnen?« »Mmh«, machte Nadia nur, während sie für all die Seelen auf den Schiffen betete. Mögen nur wenige in dem was kommen sollte sterben.

Da nur noch der Hochadmiral selbst und der oberste Administrator in den sieben Kastanien

zurückblieben, gab es wesentlich weniger zu tun. Sonja bevorzugte es alles immer und immer wieder sauberzumachen oder bummelte unten in der Stadt. Wegen der Lage schaffte es Enkidu Ki nicht mehr mit Kevin zu kochen, sodass der Gehilfe die Zeit nutzte um einige neue Rezepte zu

entwerfen. Frau Zwetkow hielt derweil weiterhin die Dorfbewohner in Arbali auf Trab. Nadia dagegen war nun so etwas wie die private Dienern von Namtar An und stand somit ständig

im Schatten des Grünland Zimmers, aus dem man alle Möbel geschleppt und stattdessen mit Unmengen an Monitoren und Geräten ausgetauscht hatte. Der Hochadmiral stand auf einer Art Plattform vor dem größten Bildschirm auf dem eine digitale Version des Sonnensystems mit vielen

komplizierten Daten und Berechnungen abgebildet war. Er gab Befehle, die Enkidu Ki dann weiterleitete.

So bekam Nadia zum Teil tatsächlich mit, wie sich die Offensive entfaltete. Ceres war der größte Körper im Asteroidengürtel mit einer starken Industrie und großen Häfen, da

die Kolonie die wichtigste Verbindungszone zwischen dem inneren und dem äußeren Kreis darstellte. Dementsprechend war das gesamte Areal schwer bewacht und besaß eine eigene Flotte

aus Erdschiffen. Die Schlacht begann als Ashnan Nuskus die ersten Void-Torpedos abschoss und ihre Formation in die Umlaufbahn von Ceres und einigen anderen nahen Asteroiden brachte. Große Gefechte brachen

aus als die 6. Flotte der Erde Gegenangriffe startete. Für Nadia waren es nur rote und orangene Punkte auf dem Bildschirm und sie konnte nicht

nachvollziehen, wieso die Schiffe sich hierhin oder dorthin bewegten. Manchmal erlosch dann ein Punkt und war nicht mehr gesehen. Immer wenn dies geschah, betete sie ein wenig. Eines späten Abends dann, als sie mit Sonja eine Pause einlegte, bemerkte sie einen großen, hellen

Ring am Nachthimmel der flimmerte und glühte. Das Innere pulsierte dabei wie ein brennendes Herz.

»Sie benutzen Tartaros Torpedos«, erklärte Kevin, der sich zu ihnen setzte. »Nur sie lassen sich so klar aus dieser Entfernung erkennen. Bei Ceres muss es gerade fürchterlich sein, wenn sie solche Waffen benutzen.«

»Was sind Tartaros Torpedos«, fragte Nadia zaghaft. »Die stärkte Void Torpedoklasse die es gibt. Ein einzelner von ihnen kostet mehr als eine ganze

Kuppel. Sie haben einen Explosionsradius von 0.015 Lichtsekunden und können damit einen ganzen Zwergplaneten wie Eris zerreißen. Auch ein Treffer auf der Erde würde den blauen Planeten für immer verwüsten und alles Leben von ihm tilgen.«

»Schrecklich«, meinte Sonja und schüttelte sich in Unbehagen. »Wieso baut man solche grässlichen Waffen?«

»Weil ein gut gezielter Tartaros Torpedo eine ganze Flottille zerstören kann«, entgegnete Namtar An, der ebenfalls auf den Balkon trat, vermutlich auch in dem Verlangen nach einer kurzer Pause an der frischen Luft. Er rieb sich die vor Konzentration schmerzenden Schläfen. »Wir dürfen auch

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niemals zulassen, dass die Erde es schafft eine Gegenoffensive in den äußeren Ring zu starten. Ein einziger Tartaros Torpedo gegen Eris würde den ganzen Krieg beenden.« »Würdet ihr denn einen gegen Ceres benutzen?«, fragte Nadia erschüttert und starrte in den Himmel

wo erneut ein Ring des Todes sich auszubreiten begann. Es war als würde ein Teufel Teile der Hölle hierher in die Welt der Sterblichen zerren. »Oder gegen die Erde?«

Sonja atmete tief ein und wartete gebannt auf die Antwort. Kevin sah einfach ausdruckslos weiter nach oben. »Nein«, antwortete Namtar An. »Ich werde keinen Tartaros Torpedo gegen die Erde benutzen und

gegen keinen anderen Planeten. Keine Sorge.«

Nach fast fünf Tagen, dem ersten zerstörten Gilgamesch Schlachtschiff der Allianz und über zwölf abgeschossenen Tartaros Torpedos war es klar, dass Ashnan Nusku keinen Durchbruch erringen würde und sie zog sich mit geringen Verlusten zurück.

Trotz des Einsatzes so vieler Massensvernichtungswaffen hatte keine Seite es anscheinend geschafft große Teile der gegnerischen Flotten zu vernichten.

Die 6. Flotte der Erde versuchte noch eine Verfolgung, stieß aber gegen Marut Me und seinen Reserven. Weitere drei Tartaros Torpedos wurden eingesetzt, diesmal mit mehr Effekt. Über ein Drittel der verbliebenen Schiffe der Erde wurden dabei zerstört. Nach diesen Verlusten entschied

man sich die Allianz Streitkräfte entkommen zu lassen, die sich wieder beim Jupiter sammelten. »Auf der Erde wird man dies als großen Sieg feiern«, meinte Namtar An, als die die letzten

Nachrichten ankamen. »Sollen sie doch Sekt trinken und jubeln. Sollen sie die Stärke ihrer Flotten preisen. Soll ihre alte Überheblichkeit zurückkehren. Ich hatte nie vor diese Schlacht zu gewinnen. Es ging nur darum zu testen, wie stark ihre Verteidigungen sind, mehr nicht.«

Das bedeutet, dass er mit Ceres noch nicht fertig ist, dachte sich Nadia, als sie ihm den Kaffee servierte.

Wegen der Verluste bei der 6. Flotte beorderte Oberadmiralin Chiang die 5. Flotte vom Mars und sogar eine der drei Schutzflotten von der Erde selbst in den Gürtel. Sie nahmen nicht direkt um Ceres herum Stellung ein, sondern blieben an Punkten von wo sie leicht wieder zum Mars oder zur

Erde zurückkehren konnten falls dort etwas passierte, aber gleichzeitig immer noch nahe genug um im Falle eines zweiten Angriffs auf Ceres einzugreifen.

So kehrte der Status Quo zurück und schneller als erwartet landeten Ashnan Nusku und Matru Me wieder auf Ganymed. Natmar An trank wie immer Kaffee als er ihre Schiffe beim Landeanflug betrachtete.

Die 1. Schlacht um Ceres war offiziell beendet.

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Kapitel 21:

Die Bewohner

Nach der Schlacht um Ceres hieß es für beide Seiten wieder Wunden lecken. Obwohl die Erde es

geschafft hatte, die Allianz abzuwehren, so war als Preis dafür erneut eine Flotte praktisch aufgerieben und besaß nur noch in etwa die Hälfte ihrer ursprünglichen Stärke. Namtar An's Streitkräfte hatten zwar geringere Verluste erlitten, doch selbst diese waren fast zu viel. Nun wartete

er darauf, dass reparierte Schiffe von Eris zurückkehrten, sowie auf einige frische Gilgamesch, Damu und Enki, die kürzlich erst in den Docks fertiggestellt wurden waren. Man hatte bereits vor

dem Krieg mit deren Produktion begonnen, sodass sie nun bereit für den Einsatz sein konnten. Umgehend wurde dann natürlich mit dem Bau weiterer Kriegsschiffe begonnen. Eine weitere gute Neuigkeit für die Allianz war, dass Makemake, Sedna und Haumea sich nun

endlich auch entschlossen hatten dem Bündnis beizutreten. Somit brachten sie neue Flotten in den Krieg, die von der Orbitalstadt Hades Zero im Orbit von Makemake stammten.

Während all diese Schiffe nun auf den Weg ins innere System waren und Namtar An seine nächsten Züge plante, bekam Nadia einen Nachtmittag lang frei. Sonja würde allein die drei Gäste betreuen und so fand sie nach langer Zeit wieder Gelegenheit für einige Stunden durch Neu Moskau zu

streunen. Dabei traf sie allerhand bekannte Leute wieder und sie nahm sich wie immer die Zeit zu hören, was diese zu sagen hatten.

Denn was gab es Schöneres als die Stimmen der lächelnden Menschen dieser Kolonie zu hören? »Ach Nadia«, grüßte sie der alte Blumenverkäufer bei der Katharina-Straße, »schön dich wieder zu

sehen. Herrliches Wetter oder? Zu blöd, dass diese dummen Schiffe die Sonne verdecken, nicht wahr?«

»Liebes«, meinte die nette Frau bei der Eisbude nahe am Zarin-Platz kopfschüttelnd . »Nimm dir eine Extra-Portion. Du musst ja mit diesen schrecklichen Leuten von Eris leben. Du tust mir so leid,

Liebes.«

»Meinem Rücken geht es wieder besser«, meinte der dürre Patient, der immer vor dem Krankenhaus saß und die Passanten grüßte. »Danke der Nachfrage, Nadia.«

»Geht es Frau Zwetkow gut?«, fragte der heimlicher Verehrer, der bis zum heutigen Tag überlegte welcher Blumenstrauß das beste Geschenk abgeben würde. »Hält sie immer noch alle auf Trab? Sie

gibt sicher den bleichen Bastarden Feuer unterm hinten! Weißt du denn, wann sie das nächste Mal frei hat und in die Stadt kommt? Diesmal lade ich sie ganz sicher zum Essen ein!«

»Ich bin so neidisch auf dich«, knurrte die junge Postzustellerin, die neben ihrem Motorrad saß und Pause machte. »Du kannst den ganzen Tag oben in dieser schönen Herberge sein, lernst tolle Leute

kennen und kannst in der Natur unterwegs sein. Ich wünschte ich hätte so einen Job! Hey, dieser Admiral von dem du da erzählst. Ist der Single? Wenn ja, dann schnappe ihn dir. Eine bessere Partie wirst du nicht bekommen.«

»Sei immer dankbar für kaltes Wasser«, meinte der Bauarbeiter, der seine schmerzenden Füße in

einem der Brunnen kühlte. »Kaltes Wasser am Morgen ist das Beste was es gibt. Mehr braucht es nicht, um einen Menschen glücklich zu machen. Kaltes Wasser, das einem den Schlaf aus den Augen wäscht.«

»Gefällt dir meine neuste Kreation«, fragte der Glasbläser und hob eine gläserne Giraffe in lila und

rot hoch. »Hab die letzten drei Tage daran gearbeitet. Wenn du willst, Nadia, kannst du es haben. Aus Dank dafür, dass du mir damals Mut zugeredet hast. Du hast mir wirklich geholfen. Dank dir habe ich meine Leidenschaft wiedergefunden. Nimm! Bitte nimm!«

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»Es bringt doch nichts so zu tun, als wäre alles in Ordnung«, schimpfte der Mann im Anzug, der im Park spazieren ging. »Wieso leben sie hier alle so weiter, als wäre nichts passiert? Wir sind im

Krieg! Wir müssen kämpfen! Alle gemeinsam!«

»Es bringt doch nichts sich unnötig aufzuregen«, seufzte die Mutter, die gerade Wäsche in ihrem Vorgarten aufhing. »Die Allianz-Leute sind hier und sie tun uns nichts. Sie lassen uns leben, arbeiten und haben bisher nichts getan um unsere Freiheit großartig einzuschränken. Ja, wir dürfen

nicht mehr zu anderen Kuppeln oder Kolonien reisen, aber die meisten hier haben doch eh kein Interesse daran diesen Ort zu verlassen. Ich finde es hätte schlimmer kommen können.«

»Wegen diesen bleichen Bastarden verpasse ich die Hochzeit meine Schwester«, knurrte der Bruder, der wütend auf die Schnellbahn blickte, die sonst immer zwischen den Kuppeln auf Ganymed hin

und her fuhr. »Sie lebt in New Wolgograd. Ich frage mich, wann ich sie wiedersehen kann...«

»Sie haben mehr Schiffe verloren als sie zugeben«, murmelte der Mann mit der Dachwohnung unter vorgehaltener Hand. »Ich zähle ihre Schiffe mit meinem Fernrohr. Seit ihrer Ankunft zähle ich sie. Von Ceres sind viel weniger Schiffe zurückgekommen, als hingeflogen sind. Sie lügen über die

Verluste. Vertraue keinem Wort von diesem Admiral, Nadia!«

»Unser guter Bürgermeister ist gerade nicht da«, gähnte die gelangweilte Wache vor dem Rathaus. »Er ist isst in seinem Lieblingslokal mit Freunden zu Mittag. Versucht wohl sich zu Tode zu fressen, um dieser ganzen Situation zu entkommen. Ist jeden Tag da.«

»Ich finde ihre Soldaten schrecklich«, regte sich die alte Dame auf, die mit ihrem blauen Hut jeden

Tag durch die Stadt stolzierte. »Sie sehen hässlich aus und stehen an allen schönen Plätzen! Sie sind wie unerwünschte Pickel! Ach, wieso muss ich all dies noch in meinen letzten Tagen erleben! Pfui!«

»Ich habe gehört, dass einige der Erd-Marines entkommen konnten«, spekulierten einige

Schuljungen der höheren Klassen auf ihrem Nachhauseweg. »Die Allianz hat versucht sie alle zu töten, doch einige konnten entkommen und sollen nun in der Kuppel sein! Wer weiß, was die hier machen. Sicher nichts gutes für die bleichen Bastarde. Vielleicht wird es hier bald sehr heiß

werden!«

»Wir mögen ihn«, lachten die Kinder und deuteten zu der großen Kampfdrohne, die in der Mitte des grünen Platzes stand und an dessen Geschützrohr gerade ein Junge hin und her schwang. »Er lässt uns auf sich herum klettern. Es macht viel Spaß auf ihn zu spielen. Komm, Nadia! Komm uns guck

zu!«

»Ich hatte einen guten Traum«, sagte der Besitzer des ältesten Cafè's am Grünen Platz, während er an einem Tisch saß mit einem warmen Becher. »Einen sehr schönen Traum von meiner Jugend. Es roch nach Aprikosen. Soll ich dir von meinem Traum erzählen, Nadia?«

»Diese Stadt hat viele Geheimnisse«, flüsterte die Dame in schwarz, umgeben von Katzen. »Kennst

du das grüne Haus nahe beim Harfen-Weg? Gehe dorthin und an dem schmalen Steg den nahen Kanal entlang. Du wirst eine weiße Treppe finden. Wenn du hinaufgehst wirst du ein Wunder erblicken! Ja, diese Stadt hat viele verborgene Wunder. Hast du schon einmal den herrlichen,

kleinen Garten, versteckt bei der Matthias Kirche, gefunden?«

»Ich mag die Vögel hier«, erzählte der Soldat von Eris blechern aus seinem Helm. Auf einem seiner großen, gepanzerten Finger saß eine weiße Taube. »Auf Charon gibt es keine Vögel. Ich mag ihren

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Gesang. Wenn ich hier stehe, höre ich zu wie sie in den Bäumen zwitschern. Ein schöner Gesang ist das. Es erinnert mich an die Lieder, die meine Mutter mir damals vorgesungen hat, damit ich den Lärm der Fabriken nicht hören musste.«

Der Tag nährte sich langsam wieder dem Ende. Ein Farmer bot ihr an sie ins Dorf zurückzufahren und von dort aus brachte Herr Schildmann sie zurück zur Herberge. Sie hörte Kevin und Enkidu Ki in der Küche hantieren. Martu Me saß wie sonst im Ahorn Zimmer. Ashnan Nusku stand

bewegungslos unter der Treppe. Namtar An grüßte sie von seinem Zimmer aus, als sie hoch in den ersten Stock stieg. Sie grüßte zurück, bevor sie müde in ihr Zimmer schlich.

»Und, hast du wieder alle mit deinem Gefasel genervt?«, fragte Sonja, die bereits im Bett saß und ein Magazin las. »Es war ein herrlicher Tag«, meinte Nadia nur und begann sich umzuziehen. »Sehr herrlich. Wie

immer.« »Ich wette, die bleichen Bastarde waren das Thema Nummer eins, oder?«

»Manche haben sie erwähnt, ja.« Mit diesen Worten kroch auch Nadia unter ihre Decke, holte ihren tragbaren Computer hervor und begann alte Mails von ihrer kleinen Schwester zu lesen.

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Kapitel 22:

Anna

Mail vom 05. Mai 2274

Liebes Schwesterchen, danke für das Geschenk, was du mir geschickt hast. Die Glasblume von dem netten, alten

Glasbläser sieht wirklich schön aus. Man merkt die Liebe die er hineingepackt hat :) Weil es ein Stück von deinem geliebten Ganymed ist, werde ich es nahe am Herzen tragen. Ich

hoffe wir sehen uns bald wieder. Anna.

Mail vom 09. Mai 2274

Liebes Schwesterchen, ich finde deine Beschreibungen von Neu Moskau so schön! Ich kann mir richtig vorstellen durch

die Straßen zu gehen, so wie du es erzählst. Ich will wirklich auch bald nach Ganymed und die Stadt mit eigenen Augen sehen.

Bei uns bauen sie nur wieder neue Fabriken und Firmengebäude. Überall sind nur wieder hässliche Schornsteine. Bläh! Ich kann die Sonne kaum mehr sehen. Hoffentlich strahlt sie bei dir umso heller!

Anna

Mail vom 15. Mai 2274

Liebes Schwesterchen, heute haben Heinrich und Flora geheiratet :)

Es war sehr schön. Man hat extra Blumen aus den Grünhäusern von Petropawlowsk hergeholt und weiße Tauben aus den Zuchthäusern in Peking. Sowohl die Blumen als auch die Tauben werden hier schnell sterben, da alles so giftig ist :(

Doch ich hoffe sie haben sich darüber gefreut bei so einer schönen Hochzeit dabei gewesen sein zu können.

Heinrich und Flora wollen hier wohnen bleiben und hier ihre Kinder aufziehen. Er mag die Leute hier. Sie mag ihre Arbeit. Für sie bleibt Russland ihre Heimat. Doch deine Heimat ist Ganymed, Nadia und ich glaube immer mehr, ich möchte den fernen Mond

auch zu meiner Heimat machen. Alles was du erzählst klingt so wundervoll und hier fühle ich mich einfach nicht mehr wohl.

Du willst doch sicher in Neu Moskau heiraten, oder Nadia? Ich glaube du wirst toll in einem Kleid aussehen! Anna

Mail vom 30. Mai 2274 Liebes Schwesterchen,

in Neu Moskau scheint die Zeit anders zu fließen als hier. Jeder Tag ist bei euch eine Ewigkeit voller Wunder und Entdeckung. Jeden Tag erlebst du so viel, obwohl es nur eine kleine Kuppel ist.

Hier rennen alle Leute immer nur. Keiner hat Zeit. Man kann in wenigen Stunden von Tokio nach London, doch man fährt nur durch einen drögen Tunnel ohne irgendwas zu sehen und die beiden Städte sind auch gleich.

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Das Café von Herrn Ulson hat zugemacht. Schade, es war das letzte Café was wir hatten und ich mochte sein Eis. Doch kaum jemand wollte sich mehr hineinsetzen und was bestellen. Du sagtest auf Neu Ganymed gibt es viele Cafè's? Ich freue mich darauf sie alle zu entdecken. Ich

freue mich darauf all die netten Leute kennenzulernen.

Mail vom 6. Juni 2274

Liebes Schwesterchen, es freut mich, dass Sonja und Frau Zwetkow sich vertragen haben. Ich hoffe Sonja hat daraus etwas

gelernt und sie wächst weiter. Sie wäre sicher ein so tolles Mädchen wie du, wenn sie nicht immer so zornig wäre :) Allerdings wäre sie auch nicht mehr Sonja, wenn sie nicht mehr zornig ist. Ich glaube ich werde

viel Spaß haben mir dir und ihr. Anna

Mail vom 8. Juni 2274

Liebes Schwesterchen,

viele hier sind besorgt wegen der Leute, die man zur Allianz geschickt hat. Man hört nichts mehr von ihnen. Wird bei euch auch so viel über Eris und Pluto gesprochen? Ich hoffe nicht. Es sind nämlich immer

sehr öde Gespräche. Die alte Dame in deiner letzten Mail klang so nett. Sie ist sicher auch eines der vielen Wunder von

Neu Moskau. Und sie hat Recht! Du bist Zuhause wo dein Herz dich hinzieht :) Anna

Mail vom 14. Juni 2274

Liebes Schwesterchen, ich finde es schön, wie du dem jungen Glasbläser geholfen hast. Er schien wirklich nicht zu wissen,

ob es für seinen Beruf noch einen Platz gibt. Dabei ist doch alles so schön was sie machen! Ich passe noch immer gut auf die Blume auf, die du mir geschickt hast.

Anna.

Mail vom 19. Juli 2274

Liebes Schwesterchen, man hat sich heute über mich und dich lustig gemacht in der Schule. Sie alle finden es komisch, dass du zu einer Kolonie wie Neu Moskau gegangen bist und sie haben auch über mich gelacht,

weil ich zu dir kommen will :( Ich habe fast geweint. Ich bin ihnen nicht böse, Nadia, aber ich finde es trotzdem Schade, dass sie

so denken. Ich hoffe sie finden ihr Glück hier, aber ich werde nicht traurig sein wenn ich sie zurücklasse. Hast du damals auch so gedacht, Nadia?

Anna

Mail vom 2. Juli 2274

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Liebes Schwesterchen, ich war heute wieder in dem Stadtzweig im Süden. Alles war so laut und groß. Da war gar kein

Himmel mehr. Nur Beton und Glas. Sogar den Park hat man weggerissen und stattdessen einen Versammlungsplatz draus gemacht :(

Auf alten Bildern sah diese Gegend so schön aus, doch nun hat man alles zugebaut. Schade. Ich hoffe auf Ganymed wird es niemals so werden. Anna

Mail vom 6. Juli 2274

Danke für die vielen tollen Fotos, Schwesterchen. Ich liebe dich. Ich liebe dich wirklich.

Anna

Mail vom 10. Juli 2274

Auch hier gibt es Schönheit, Schwesterchen. Überall gibt es Schönheit. Ich habe in einem leeren Gebäude gespielt, an dessen Wänden man Bilder gemalt hat. Es waren schöne Bilder.

Auch Wassertropfen, die nach einem starkem Regen vom Drahtzaun fallen sind schön. Oder Blumen die es trotz allem es schaffen zwischen den Ritzen in der Straße zu wachsen. Sie sind besonders schön.

Überall wo es Menschen gibt, kann es Schönheit geben. Ein toller Gedanke, oder? Doch ich will die Schönheit von Ganymed sehen. Bin ich undankbar deswegen?

Bald kannst du mich zu dich holen, oder? Ich freue mich sehr darauf. Anna

»Das war die letzte Mail?«, fragte Sonja. »Ja«, seufzte Nadia und klappte den Laptop zu. »Wenige Tage später begann der Krieg.« »Klingt nach einem dummen, naiven Mädchen wie dich.«

»Danke, Sonja.« »Sieh das nicht als Kompliment! Außerdem was war mit der Mail, wo sie mich wütend nannte? Was

erzählst du über mich?« »Nur die Wahrheit, Sonja. Nur die Wahrheit. Es ist auch nicht so schlimm. Die Art wie du wütend wirst, ist doch ganz süß oder?«

»Ach, halte doch die Klappe! Schlaf jetzt, morgen ist die verfluchte Ernte.« Lächelnd kuschelte sich Nadia ein. Es war schade, dass sie nicht mit Anna schreiben konnte. Sie

hoffte ihrer kleinen Schwester ging es gut. Wenn der Krieg zu Ende war, wollte sie sie auf jeden Fall hierher holen. Der Hochadmiral gab ihr auch genug Trinkgeld, damit sie sich das Ticket kaufen konnte.

Doch bis dahin war viel zu tun. Die Zeit raste.

Und Morgen war bereits die große Ernte.

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Kapitel 23:

Die Ernte

Es war Spätsommer und somit würde die Kuppel bald auf ihr Herbstprogramm umschalten. Die

Temperaturen würden sinken, das Wetter neu reguliert, sodass es mehr regnet und die Bäume in tausenden von Farben erstrahlen. So viele Spielarten von Rot, Braun und Gelb, wie man es sich kaum vorstellen konnte. Der gesamte Wald würde ruhiger werden, während die Blätter in sanfter

Zufriedenheit zu Boden fielen, froh ihren Zweck erfüllt zu haben und mit ihrem Tod Nahrung für die Pflanzen im nächsten Frühling zu dienen. Die Kinder in der Stadt würden beginnen Mützen zu

tragen und der Duft bratender Kastanien in der Luft liegen. Die Nacht der zehntausend Laternen würde auch kommen. Doch bevor all dies sollte die große Ernte kommen. Das große Ereignis, das den Übergang vom

Sommer auf den Herbst markierte. Der letzte Weizen auf den Feldern im Osten würde eingefahren werden und anstatt mit

Erntemaschinen, würden die Bewohner der Kolonie mit Sicheln und Sensen ans Werk gehen. Am frühen Morgen machten sich unzählige Familien auf den Weg zu den Bauernhöfen, sei es mit dem Auto, dem Rad, der Bahn oder auch zu Fuß. Auch von den sieben Kastanien brach man auf. Neben

den Mitarbeitern wanderten auch die Admiräle der Allianz zusammen mit zehn Leibwächtern mit. Namtar An hatte sein Interesse gezeigt und wollte unbedingt mitkommen.

Zwei Stunden später erreichten sie das Feld vom grummligen Georg, der ein wenig südlich von Arbali wohnte. Einige der Mütter bereiteten bereits die Picknick-Decken für den Mittag aus, während die Väter den jüngeren Kindern zeigten wie man mit den Werkzeugen umging. Am

Himmel schwebten einige der Kampfdrohnen der Allianz um ihren Hochadmiral zu beschützen. »Diese Tradition soll den Zusammenhalt der Kuppel stärken, Mister«, erzählte Nadia, nachdem sie

einige Grüße ausgetauscht hatten. »Durch gemeinsame Arbeit soll man sich besser kennenlernen und das Gefühl bekommen, dass man etwas erreicht hatte. Am Abend dann gönnt man den Muskeln etwas Ruhe oder tanzt um die Feuer, die nach Beendigung der eingefahrenen Ernte entzündet

werden.« »Eine wunderbare Tradition«, meinte Namtar An nur, während Enkidu Ki hinter ihm einen

Sonnenschirm aufspannte. Martu Me setzte sich auf ein Klappstuhl und lächelte zu einigen jungen Mädchen in der Nähe hinüber, die dies zum Anlass nahmen eilig das Weite zu suchen. Ashnan Nusku verwandelte sich

wieder einmal zu einer starren Statue und nahm alles scheinbar teilnahmslos in sich auf. Sonja ächzte als sie mit Kevin einige der schweren Wasserflaschen aus den Laster hievte. Es würde

harte Arbeit werden und sie brauchten viel Flüssigkeit. »Unglaublich, dass ich jedes Jahr diesen Mist mitmachen muss«, stöhnte die Mitarbeiterin und wischte sich den Schweiz vom Gesicht.

»Niemand zwingt dich, Sonja. Du hättest auch bei der Herberge bleiben können.« »Ich wäre dann aber die einzige gewesen, Nadia, Das wäre doch peinlich und ganz sicher will ich

nicht die Außenseiterin sein über die man quatscht.« »Man quatscht doch ständig über dich, Sonja.« »Dann sollen sie zur Hölle fahren! Es wäre einfach blöd nicht mitzukommen! Ach, verdammt. Am

liebsten würde ich diese ganze dumme Tradition ganz in die Tonne werfen.« »Aber solche Traditionen sind wichtig«, entgegnete Namtar An, der interessiert zugehört hatte.

»Nicht nur schaffen sie regionale Identität und stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl, sie prägen auch deinen eigenen Charakter.« »Du hast mir gar nichts zu sagen«, knurrte Sonja, doch so leise, dass nur Nadia sie hörte.

»Manche der post-expatriation Denker auf der Erde würden das absolut gar nicht so ansehen«, meinte Martu Me, der anscheinend Lust hatte auf eine kleine Diskussion. »Sie wären gegen die

Formung einer regionalen Identität und solche Traditionen. Sie stehen ja rein für individuelle Identität und alles darüber hinaus führt immer nur zu Gruppenbildung und damit Konflikte.« »Es gibt einen Grund wieso es kaum noch solche Philosophen gibt, Martu. Sie dachten man könnte

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alles hinterfragen und einreißen. Sogar die Logik selbst wollten sie verformen. Und was war das Ergebnis? Trotz aller Versuche der Hyperindividualisierung im 21. Jahrhundert bildeten sich dennoch Gruppierungen, man hasste sich und man bekämpfte sich. Auf den Straßen floss Blut und

man versank in Ideologiekämpfe. Am Ende war der Glaube an die Hyperindividualisierung auch nur eine Ideologie von vielen, die kein anderes Meinugnskonstrunkt neben sich tolerierte. Und weil

man nun jede Seite eine andere Logik benutzte, konnte man sich nicht einmal mehr verständigen. Es gibt einen Grund, wieso die Menschen nach den Zusammenbruch wieder völkischer wurden. Nationale oder kulturelle Identität nahm wieder Stellenwert bei den Menschen ein. Dies änderte

sich auch nicht bei der Gründung der Kolonien außerhalb der Erde, wo wie von selbst Menschen aus relativ gleichen Kulturkreisen in eigene Kuppeln zogen, wie hier in Neu Moskau die Russen

und Russlanddeutsche. Oder bei Iaptus, wohin ausschließlich Deutsch-Türken auswanderten. Wie von selbst bildeten sich neue Traditionen wie diese hier. Ja, wahrlich faszinierend, das sich immer verformende Bild der Kulturen und Völker der Menschen. Bestimmte Denker des 21. Jahrhunderts

wollten dieses Bild einreißen oder so sehr alles vermischen, dass nur noch farblose Grütze übrig blieb. Doch schlussendlich kratzen sie sich die Finger blutig.«

»Meine Güte, was für eine Rede«, murmelte Sonja. »Was brabbelt er da?« »Ich glaub er findet es einfach toll, was wir hier machen«, vermutete Nadia. »Will nichts dagegen sagen«, lachte Martu Me. »Ohne eine nationale Identität würde es unsere

Bewegung auf Eris und die Allianz ja gar nicht geben. Doch ich würde auch gerne fragen, wieso solche Denkrichtungen überhaupt noch am Leben sind.«

»Ideen sind schwer zu töten, mein Freund und das ist gut so. Aber wenn du meine Überlegungen dazu hören willst...« An dieser Stelle entschieden sich Nadia und Sonja zu gehen. Sollen die beiden Männer doch allein

weiter reden. Frau Zwetkow wartete schon beim grummeligen Georg auf sie. Doch die Mitarbeiterin der sieben Kastanien wurde schon nach einigen Schritten von Ashnan Nusku

aufgehalten, deren unter synthetischem Stoff verborgene Hand plötzlich ihre Schulter gepackt hatte. Niemals zuvor war Nadia so kurz davor gewesen vor Schreck zu sterben. »Wieso?«, röchelte sie.

»Wieso was, Madam?«, ächzte Nadia zurück, die sich die Brust hielt. »Wieso habt ihr hier einen Herbst? Wieso die Mühe? Wäre es nicht besser, das ganze Jahr Sommer

über zu haben? Mann kann mehr arbeiten. Mann kann mehr ernten. Wieso der Herbst?« »Nun, Madam.« Sie war nun verwirrt. Wie sollte man bitte darauf antworten? »Der Herbst ist halt schön.«

»Der Herbst ist schön?« »Ja. Haben Sie nie einen Herbst erlebt, Madam?«

»Nein.« »Nun... dann warten Sie doch bis die Blätter sich verfärben. Setzen Sie sich auf unsere Veranda und sehen Sie zu, wie die Welt sich verändert. Sie werden dann sicher sehen, wieso der Herbst so schön

ist und wieso wir ihn haben wollen, Madam.« Keine Antwort. Nadia blieb noch einige Sekunden stehen, bevor sie sich aus den Griff löste und

sich vorsichtig davonschlich. Ashnan Nusku blieb mit erhobenen Arm stehen wo sie war. Als die Ernte losging, arbeitete sich Nadia mit einem kleinen, süßen Sichel vorwärts. Eine Handvoll

Weizen nach dem anderen schnitt sie ab. Neben ihr war Sonja, die sich gleich eine Sense genommen hatte und nun ihren inneren Sensenmann ausließ. Es schien als wollte sie sich an jedem

Korn persönlich für ihr Schicksal rächen. Oben auf den Hügel stand Frau Zwetkow mit einem Megafon und trieb mit donnernde Stimme die Arbeitenden an. In ihrer Nähe ruhten die drei Admiräle und der oberste Administrator unter dem

Sonnenschirm und sahen zu. Ab und zu pfiff Martu Me aufmunternd herunter. Irgendwann begannen sie alte Volkslieder zu singen und die ersten machten Pause. Man lächelte

sich immer zu und Wasser wurde herumgereicht. Namtar An persönlich kam einmal herunter um Nadia und Sonja Flaschen zu geben.

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Zwei der Soldaten von Eris fragten ihre Vorgesetzten zur Mittagszeit dann ob sie mithelfen könnten. Man erlaubte es ihnen und so traten die Männer in den Exorüstungen nach unten, nahmen sich vorsichtig Sensen und arbeiteten dann mit. Zuerst waren die Menschen etwas verstört deswegen,

doch als es immer wärmer wurde und die Anstrengung sich mehr und mehr auf den Gesichtern zeigte, so war man einfach nur dankbar für jede helfende Hand. Man lachte sogar angesichts ihrer

Ungeschicklichkeit bei dieser ungewohnten Arbeit. In Abständen aßen die verschiedenen Familien dann auch zusammen auf den Picknick-Decken. Krähen sahen neugierig von der Scheune her zu. Kühe muhten beim Gehege und Sonja wurde bei

lebendigen Leibe von Mücken gefressen. Gegen Abend war das Feld fertig. Müde und verschwitzt ließ sich Nadia ins Gras fallen. Frau

Zwetkow drückte ihr, Sonja und Kevin ein Eis in die Hand als Dank für die gute Arbeit. Jemand in der Nähe begann Gitarre zu spielen und die Männer hievten das Korn zum Hof. Zum Abschluss entzündete man ein Feuer um das dann einige Menschen zu tanzen begannen. Wein

wurde ausgeschenkt, die Stimmung wurde heiterer und man lachte umso lauter. Man konnte weitere Feuer von den andern Feldern sehen. Die gesamte Ostseite der Kuppel glühte heute in dem Schein

der Flammen und es schien vergessen, dass fremde Truppen gerade Ganymed besetzt hatten und es Krieg gab. Nadia stand irgendwann auf und sah zu wie die Glühwürmchen mit den Funken tanzten.

Irgendwann tippte jemand auf ihre Schulter und als sie sich umdrehte stand dort lächelnd Namtar An. Er hielt ihr die Hand entgegen und lud sie zum Tanz ein.

Fast ohne Zögern nahm sie an und zog mit ihm Kreise um das Feuer. Ganz in ihrer Nähe war Kevin der mit seiner Verlobten tanzte. Sonja stritt sich lautstark im Hintergrund mit dem grummligen Georg.

Frau Zwetkow brüllte freudig und küsste dem Bäcker Herrn Schildmann auf die Wange, der dadurch vor Glück fast in Ohnmacht fiel.

Martu Me warf sich lachend in seinem Stuhl hin und her, während er ein Glas Wein nach dem anderen trank. Enkidu Ki zeigte den faszinierten Kindern einige Hologramme von Drachen und Greifen von seiner

Hand aus. Selbst Ashnan Nusku hatte sich etwas näher herangetraut und wippte nun im Takt der Musik.

Es war eine der schönsten Nächte die Nadia seit langer Zeit gehabt hatte. All die dunklen Gedanken und Selbstzweifel waren vergessen. Tiefe Freunde am Leben durchfloss sie. Ja, sie weinte vor Glück.

So sollte jeder Tag sein. Unvergesslich. Spät fuhren sie zu den Sieben Kastanien zurück und schliefen ausgiebig.

Eine Woche später begann die große Schlacht um den Saturn.

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Kapitel 24:

Operation Inanna

Es war als die ersten Blätter sich verfärbten im Jahre 2274, als eine große Gruppe von Allianz-

Schiffen, den Orbit um Uranus verließ, wo Brahma Seven weiterhin belagert wurde. Die kleine Flotte von Sedna war erst wenige Tage zuvor in den Orbit des Gasriesen angekommen und flog nun weiter, anscheinend mit Schiffen der dort stationierten Charon Flotte im Gepäck. Sie waren auf den

Weg zum Jupiter, genau wie die Makemake und die Haumea Flotte. Anscheinend bereitete Namtar An einen zweiten, noch gewaltigeren Angriff auf Ceres vor, mit der größten Konzentration an

Schiffen, die die Allianz jemals an einem Ort zusammengezogen hatte. All dies wurde aufmerksam vom Militär der Erde beobachtet und die 11. Flotte verließ ihre Stellung bei Brahma Four im Asteroiden-Gürtel vier Tage später und hielten Kurs auf Neptun. Zuvor hatte

sie Informationen von einem Agenten beim Neptun bekommen, dass die Charon Flotte mehr Verluste beim Angriff gegen die Titanen erlitten hatte, als die Allianz es zugeben wollte. Zuerst

hatte man dies mit Skepsis betrachtet, doch nach einer genauen Untersuchung hatten die Sensoren tatsächlich gezeigt, dass nur wenige Schiffe die Belagerung aufrecht erhielten und weitere Quellen vom Widerstand auf den Monden des Gasriesen bestätigten die Information.

Nun die Chance sehend einen Planeten im äußeren Ring zurück zu erobern und die 9. Flotte mit ihren wertvollen Titan-Schiffen bei Brahma Seven zu befreien, griff die 11. Flotte mit aller Macht

an. Vor dem Krieg hatte sie aus 4 Schlachtschiffen, 10 Fregatten, 13 Zerstörer und 21 Kreuzer bestanden, doch nach der 1. Schlacht um Ceres war diese Zahl reduziert. Nun besaßen sie nur noch 3 Schlachtschiffe, 7 Fregatten, 9 Zerstörer und 15 Kreuzer. Allerdings gesellten sich zu ihnen die

Überreste der 3. Flotte vom Jupiter, die Überbleibsel der 8. Flotte vom Saturn und die Scherben der 10. Flotte vom Uranus. Mit aller Macht, die die Erde im äußeren Ring noch besaß, wollten sie der

Allianz die erste vernichtende Niederlage beibringen. Die überraschten Flotten von Namtar An reagieren langsam und die Sedna Flotte drehte umgehend um, war aber bereits zu nahe am Jupiter und erlitt durch dieses plötzliche Manöver Schäden bei den

Antrieben mehrerer Schiffe. Wissend, dass sie nicht viel Zeit zur Verfügung hatten, bevor die wesentlich schnelleren Schiffe der

Allianz reagierten und zur Hilfe kamen, stürzte die nun verstärkte 11. Flotte zum Uranus und drang in dessen Orbit ein. Die Schlacht begann offiziell als die Charon Flotte ihre ersten Verteidigungsschüsse abgab und

mehrere der sich nährenden Schiffe der Erde zerstörte. Hier zeigte sich dann wieder die Unterschiede in Technologie zwischen den beiden stellaren Mächten, doch die Allianz-Streitkräfte

wurden schnell von der puren Überzahl des Feindes zurückgedrängt. In der belagerten Festung Brahma Seven bemerkte der heißblütige Kommandant der 9. Flotte natürlich die Schlacht und entschied sich dafür ebenfalls mit allen kampffähigen Schiffen

anzugreifen und so die Allianz von zwei Seiten zu zermalmen. Als die Meldungen von diesen Ereignissen Oberadmiralin Chiang erreichten öffnete sie eine

Flasche ihres besten Whiskys, protzte ihrem Befehlsstab zu und gratulierte ihnen für den baldigen Sieg, bei dem die Charon Flotte zerstört werden würde – eine der Stärksten der Allianz. Die goldene Flüssigkeit ergoss sich dann aber direkt auf den Tisch vor ihr, als kurz darauf eine

weitere Nachricht ankam. Nach Monaten hatte man nun wieder Kontakt mit der eingekesselten 9. Flotte aufgenommen und diese zeigte sich verwirrt, da sie nichts von den hohen Verlusten wusste,

die sie der Charon Flotte zugefügt haben sollte. »Ich habe mir große Mühe gegeben, dass die geleakten Informationen wirklich authentisch wirkten«, meinte Namtar An, der auf Ganymed auf der Veranda einen Kaffee trank und wieder

einmal mit Nadia quatschte. In der kälter werdenden Luft lag der Geruch nach bratenden Kastanien und man konnte die Igel dabei beobachteten, wie sie ihre Schlafstätten für den Winter vorbereiteten.

Es gab keinen Grund für ihn zum Kommandoraum zurückzukehren im Moment. Es lief alles nach Plan und so besaß er die Freiheit die für ihn ungewohnte Veränderung in der Natur zu genießen. »Und sie haben den Köder, hungrig nach Siegen, geschluckt.«

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Beim Uranus stiegen derweil weitere Schiffe der Charon Flotte von den Monden auf. Seit der Eroberung des Systems hatten sie sich auf der Oberfläche dieser Himmelskörper versteckt und nun strömten sie von allen Seiten gegen die überraschten Formationen der Erde. Noch überraschender

derweil war, dass zu ihnen die Schiffe der Sedna Flotte gehörten, die eigentlich gerade beim Jupiter sein sollte.

Zur gleichen Zeit flogen einige Reparaturschiffe zu eben jener Flotte beim Jupiter, da inzwischen weitere der Antriebe ausgefallen waren. Beim Näherkommen bemerkten die Crew's dann, dass die Gefährte zwar auf den ersten Blick aussahen wie Allianz-Schlachtschiffe, doch meist nichts mehr

waren als einfache Fähren oder Gütertransporter, die man umgekleidet und mit billig hergestellten Allianz-Triebwerken ausgestattet hatte, sodass sie für Instrumente so aussahen wie eine Streitmacht

aus der Finsternis des Sonnensystems. Auf den letzten Teil der Strecke war es dann offensichtlich geworden, dass Erdenschiffe nicht gut mit Allianz-Antrieben umgehen konnten, doch sie hatten ihren Zweck der Täuschung bereits erfüllt.

In einer unvorhergesehen Wende waren die 11. und 9. Flotten der Erde nun eingekesselt und wurden langsam aber sicher aufgerieben. Zwei Tartaros-Torpedos detonierten und verzerrten alle

Instrumente. Kurz darauf kehrte ein beschädigtes Schiff der Erde nach Brahma Seven zurück und bat darum anzudocken. Nachdem man der Aufforderung nachkam ergossen sich rekrutierte Kämpfer von den Uranus Monden und Soldaten der Alliamz aus der gekaperten Fregatte und

strömten in die Festung. Mit hoher Geschwindigkeit begannen sie das Bollwerk der Erde zu übernehmen.

Als die Besatzung der Festung beschloss die beschädigten, noch angedockten Titan-Schiffe zu sprengen, damit sie der Allianz nicht in die Hände fielen, so erkannten die kämpfenden Erdflotten, dass Braham Seven nicht zu retten war. Ein Schlachtschiff versuchte noch zurückzukehren und der

Festung zu helfen, wurde dann aber von den inzwischen übernommenen Verteidigungsanlagen zerstört.

»Ob wir das Militär der Erde gehackt haben?«, fragte Namtar An, als Nadia sich wunderte, wie ein gekapertes Schiff bei der Festung andocken konnte. »Natürlich, obwohl hacken so ein dummes Wort ist. In jahrelanger Arbeit haben wir Informationen gesammelt und gestohlen, bevor wir die

geheimen Kanäle kannten, über die die Agenten der Erde Daten aus den äußeren Ring zum Hauptkommando sendeten, sowie Authentizitätscodes, die Schiffe senden müssen um bei Brahma

Seven einzulaufen. Mehrerer meiner IT-Experten knackste das Gehirn durch, während sie sich in unendlicher Langsamkeit durch die Firewalls der Erde schlichen. Doch dank ihrer Opfer befand sich beides am Ende in unserem Besitz und nun habe ich diese Trumpfkarten auch eingesetzt.

Leider werden sie mir in Zukunft nichts mehr nützen, da die Erde wohl beides ändern wird. Aber es hat mir den Uranus und das äußere System gesichert.«

Eine Woche lang wurden die Flotten der Erde geschlachtet, bevor die letzten Schiffe entkommen konnten. Die 11. und die 9. Flotte hatten praktisch aufgehört zu existieren, so wenig war von ihnen übrig.

Die von der Allianz benannte und bereits lange vor dem eigentlichen Start des Krieges geplante Operation Inanna war ein durchschlagender Erfolg.

Oberadmiralin Chiang ordnete an, dass alle Schiffe den äußeren Kreis verlassen sollten. Man überließ das komplette Gebiet jenseits des Gürtels nun der Allianz, die nun keine feindlichen Schiffe im Orbit der Gasriesen mehr fürchten musste. Die kläglichen überlebenden Schiffe, die in

den inneren Kreis zurückkehrten, wurden in die 6. Flotte bei Ceres integriert. Teile davon wurden nach Brahma Four geschickt, um die Festung wieder zu besetzten, doch es wurde angenommen,

dass die Erde nicht ernsthaft versuchen würde die Anlage zu verteidigen im Falle eines Angriffs und sich stattdessen weiterhin mehr auf Ceres konzentrierte. »Es hört sich nach einem großen Sieg an«, meinte Nadia lächelnd und servierte eine Flasche mit

Weißwein zur Feier des Tages. Sie freute sich wirklich für den Admiral, doch ein Teil von ihr erkannte mit Entsetzen, dass sie sich über den Verlust vieler tausend Leben freute. Schnell versuchte

sie es zu korrigieren: »Vielleicht wird dies den Krieg beenden.« Der Hochadmiral lachte und sah mit Vorfreude in den Wald, wo Eichhörnchen sich um die Nüsse

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stritten. »Es wäre schön, wenn endlich Einsicht bei Chiang und dem Parlament einkehren würde. Aber leider ist unsere kleine Oberadmiralin stur. Die mächtigen Schutzflotten der Erde sind noch unangetastet und sie besitzen auch noch den gesamten inneren Kreis mit dessen gewaltigen

industriellen Kapazitäten, Nadia. Nein, es ist noch lange nicht vorbei. Damit dieser Krieg enden kann, muss ich das Blutvergießen leider direkt bis vor ihrer Haustür bringen. Zur Erde selbst. Bald

gibt es wieder viel zu tun. Die zweite Schlacht von Ceres steht bevor, wo wir uns ein Tor ins innere System sichern!«

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Kapitel 25:

Sauna

Als die Tage begannen kälter zu werden, begann man damit die Sauna beim Gasthaus Die Sieben

Kastanien herzurichten. Es war zwar nicht klar, ob die Admiräle solch eine Einrichtung besuchten, doch die Mitarbeitet taten es auf alle Fälle und manche Gewohnheiten gingen bis in die Knochen und blieben auch dort.

Nach der Schlacht beim Uranus wartete Namtar An darauf, dass die beschädigten Schiffe bei Eris und Makemake repariert wurden und zurückkamen. Bei der Erde wiederum hatte man die

Orbitalstädte Heaven One und Two komplett umgestellt, sodass sie nun ausschließlich für den Bau neuer Kriegsschiffe benutzt wurden um die katastrophalen Verluste der letzten Monate zu ersetzen. Die Allianz wollte den Krieg beenden, bevor die Produktion sich voll entfalten konnte.

Dementsprechend planten Natmar An und die anderen gerade die zweite Schlacht bei Ceres. Das Sonnensystem war erneut in Entsetzen gehüllt nach der Vernichtung zweier Erdflotten, doch

Chiang versprach, dass die Erdregierung obsiegen und die Allianz zerdrücken würde. Das Parlament entschied mit überwältigender Mehrheit, dass Eris und alle anderen bewohnten Kolonien im äußersten Kreis bombardiert und ausgerottet werden sollten, da sie eine dauerhafte Bedrohung

für den Frieden darstellten. All dies wirkte aber wie eh und je so fern von Ganymed.

An einem Nachmittag strich ein besonders eisiger Wind über die Berge und Nadia und Sonja dürften als erstes die Sauna nutzen. »Ah, das tut gut«, seufzte Sonja, lehnte sich zurück und streckte die Arme über den Kopf, nachdem

Nadia Wasser über die Kohlen gekippt hatte und der Dampf aufstieg. »Schade, dass es noch nicht Winter ist. Ich würde mich hiernach so gern mit Schnee einreiben.«

»Ja, das wird herrlich«, stimmte Nadia zu, deren rot-blondes Haar nun frei über ihren Rücken fiel. »Ich kann es kaum erwarten Schneemänner zu bauen.« »Du bist siebzehn Nadia!«

»Na und? Was hat Alter damit zu tun Schneemänner zu bauen?« »Ich gebe es auf. Na ja. Schade auch, dass gerade keine hießen Jungs in der Herberge sind. Wir

hätten sie hierzu einladen können.« »Weißt du denn nicht mehr, wie das letztes Jahr schiefging, Sonja?« »Ach, sei leise. Mein Körper hat sich seitdem mehr entwickelt! Und diese Bastarde hatten ein loses

Mundwerk und dachten nur an große...« »Ich finde so viel hat sich nicht an dir verändert, Sonja.«

»Halt endlich den Mund, okey Nadia?« Während sie auf ihren Handtüchern saßen und schwitzen, so musste Nadia an alte finnische Sagen denken, nach denen ein Besuch in der Sauna dazu genutzt wurde um die eigenen Sünden rein zu

waschen. Dies gab ihrem besorgten Geist, sowie den angespannten Muskeln etwas Erleichterung. In den

letzten Wochen hatte sie in ihrer Unsicherheit viele unschöne Sachen gedacht. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt sich auf irgendeine Seite zu stellen, doch desto mehr Zeit sie mit Namtar An verbrachte, desto mehr freute sie sich über die Siege der Allianz. Dies tat sie nicht,

weil sie an die Gründe und Überzeugungen der Allianz glaubte, sondern simpel weil sie den Hochadmiral mochte.

Dies war schrecklich, da in den Schlachten doch viele tausend Menschen starben. Jedes Leben war für sie kostbar und wenn jemand einging in die Reiche des Himmels, so bedeutete dies, dass die Person so viel Schönheit dieser Welt verpasste und Trauer zurückließ. Im Vergleich zu Planeten

oder Sternen lebten Menschen so kurz und sie fühlte immer einen Stich, wenn jemand zu früh gehen musste.

Aber diese Menschen auf den Schlachtschiffen starben für das, woran sie glaubten. Es waren Soldaten, die du nicht kanntest. Nadia vertrieb diese inneren Wörter mit einem Kopfschütteln und meditierte weiter, während Sonja

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erneut Wasser nachgoss. Sie war eine einfache Angestellte in einem friedlichen Gasthaus. Die große Politik des Sonnensystems war normalerweise ohne Interesse für sie und vermutlich auch für 99% aller

anderen Menschen. Dies änderte sich erst als der Krieg ausbrach und plötzlich kam von allen Seiten unbewusster Druck, der sie dazu drängte sich für eine Seite zu entscheiden und eine klare Position

zu zeigen. Keiner hatte es wörtlich verlangt und manche hatten sie sogar davon abgeraten, doch unter den gutmütigen Gesichtern konnte sie trotzdem erkennen, dass man doch etwas von ihr erwartete.

Und ihr eigene Unentschlossenheit hatte sie selbst zermürbt... und nun... »Träumst du wieder von rosa Wolken, Nadia?«, fragte Sonja, die sie beobachtet hatte.

»Nein, Sonja«, seufzte Nadia und öffnete wieder die Augen. Sie musste sich demnächst am besten irgendwo im Wald auf einen Baumstamm setzen. Eine Weile saßen die beiden Mädchen nebeneinander. Man hörte draußen schwach wie Kevin

Feuerholz für den Hauptkamin schlug. »Was machen wir, wenn die bleichen Bastarde die Erde erreichen?«, fragte Sonja dann.

»Wie meinst du das?« »Verflucht noch mal! Ich will es nicht zugeben, aber die Allianz scheint doch eine Chance zu haben diesen Krieg zu gewinnen und ich habe Angst deswegen, Nadia. Fürchterliche Angst.«

»Wieso hast du Angst, Sonja?« Ihre Freundin strafte sie mit einem giftigen Blick. »Deine kleine Schwester ist auf der Erde. Machst

du dir etwa keine Sorgen darüber, was die bleichen Bastarde der Erde antun könnten?« Sie zog ihre Beine hoch und vergrub den Kopf in ihren Knien. »Was sie unserer aller Mutter antun könnten. Die Erde ist unsere Heimat. Wie kann jemand nur sich dafür entscheiden gegen die eigene Mutter zu

kämpfen.« »Weil Kinder irgendwann aus dem Schutzschirm ihrer Eltern treten und alleine weitergehen

müssen«, meinte eine Stimme und ein frischer Windzug zog durch die Sauna. Eine Familie von Fledermäusen, die draußen unter der Regenrinne des Saunahäuschens geschlafen hatte, wurden unsanft von Sonja's Schrei geweckt und protestierten die Störung dadurch, dass sie

um Kevins Kopf zu fliegen begannen und wütend fiepten. Die Mitarbeiterin der Sieben Kastanien griff nach einem schweren Holzeimer, während sie mit ihrer

freien Hand versucht das wichtigste zu verdecken – komplett vergessend, dass sie sich in einer Sauna befanden, wo es einem nicht peinlich sein sollte nackte Haut zu zeigen – und wollte diesen nach dem gerade eintretendem Namtar An werfen. Ein Schwall an Flüchen drohte dabei mit durch

den Raum zu fliegen. Die Kaskade an Schimpfwörtern blieb ihr allerdings im Hals stecken und der Eimer fiel ihr aus der

Hand. Auch Nadia, die ruhig da gesessen hatte, ächzte bei dem Anblick. Der Hochadmiral schloss die Tür hinter sich und trat zu den Bänken. Sein Körper... war kaum ansehbar.

So normal sein blasses Gesicht auch war, fast alle Haut unterhalb des Halses war mit Verwachsungen, Narben und Entzündungen bedeckt. Viele Stellen glitzerten feucht und an anderen

schien das blutige Fleisch direkt offen in der freien Luft zu liegen. Anschlüsse, Verteiler und andere mechanische Erweiterungen ragten aus ihm heraus und waren umgeben von rötlichen Beulen aus denen Eiter tropfte. Kabel zogen sich wie Adern unter der geschändeten Haut dahin.

Es schien keinen Quadratzentimeter unter seinem Hals zu geben, der gesund wirkte. Das war die ganze Zeit über unter dem Mantel, den er trug?

Sonja gab ein Würgen von sich, während Nadia einfach in Schock auf die offen Wunden starrte, die in seiner Brust prangten. Sie wollte ihn nicht weiter betrachten, doch sie konnte den Blick einfach nicht abwenden.

Ist das Weiße da ein Teil seiner Rippe? »Ich darf mich doch setzen, oder?«, fragte der Hochadmiral.

»Wir sind zufälligerweise noch hier drin«, entgegnete Sonja, die sich nun sehr für eine Stelle an der gegenüberliegenden Wand interessierte und versuchte sich wieder zu sammeln.

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»Macht das irgendwas? Ich dachte eine Sauna ist auch ein Ort der Versammlung.« »Wir sind zwei junge Mädchen!« »Na und? Was macht das?«

Ahnend, dass die Diskussion nirgendwo hinführen würde, machte Nadia eine versöhnende Geste und sagte: »Bitte, Mister. Setzen Sie sich.«

»Danke, Nadia.« Namtar An legte das Handtuch auf die Bank und setzte sich mit einem Seufzen genau zwischen den beiden Mädchen.

So verharrte er dann für fünfzehn Minuten mit geschlossenen Augen. Nadia goss ab und an etwas Wasser nach. Die beiden Angestellten schwiegen ebenfalls und versuchten ihn nicht anzusehen.

Dennoch hing der Geruch nach antiseptischen Mitteln, der von ihm ausging, bald schwer in der Luft. Sie sollten relativ bald hier raus gehen. »Dies ist also eine Sauna«, sagte er, als die beiden Mädchen sich gerade mit Blicken darüber

geeinigt hatten den Raum zu verlassen. »Wirklich angenehm. Ja, wahrlich, ich spüre wie die Energie in meine Glieder zurückkehrt und die Sorgen gedimmt werden. Es ist besser sogar als eine

gute Tasse Kaffee, würde ich sagen.« Mit einem Lächeln drehte öffnete er wieder die Lider und sah zu Nadia. »Aber ich glaube ich hab euren Aufenthalt hier verdorben. Ich habe vergessen, dass ein Körper wie der meinige kein alltäglicher Anblick hier ist.« Er hob seinen Arm und betrachtete die

wunden Stellen. »Dies ist einer der Preise dafür, wenn man im äußersten Ring leben will. Man bringt sowohl seinen Geist als auch seinen Körper zuerst an die physischen Grenzen und dann mit

technischen Möglichkeiten sogar darübern hinaus.« »Wie kann man sich nur entscheiden an einem Ort zu leben, der so etwas mit einem anstellt?«, fragte Sonja.

»Weil man frei sein will. Genauso, wie man sich gegen Eltern stellt, wenn sie einen unterdrücken wollen. Es überrascht mich, dass du eben gefragt hast, wie man sich gegen die eigenen Eltern

stellen kann, Sonja. Nach unseren Nachforschungen hattest du ja ebenfalls seinen schweren Bruch mit deinen Eltern.« Die Luft vibrierte in der aufkommenden Beleidigung, die in Sonja schwellte. Mit einem Schlucken

hielt sie sich aber zurück und sagte stattdessen: »Das ist was anderes.« Der Hochadmiral sagte nichts weiter dazu, lächelte aber wissend und nahm ein anderes Thema auf:

»Du hast dich entschieden und das ist gut so. Das Leben besteht aus Entscheidungen. Man muss wählen und jede Wahl bedeutet Konsequenzen. Ich und die Allianz haben uns entschieden und nun ertragen wir die Konsequenzen.« Er ballte seine Hand zur Faust.

»Aber was ist, wenn man sich nicht entscheiden will?«, fragte Nadia. »Nun, dass ist auch eine Wahl. Man wählt einfach nicht zu wählen. Doch nach Kierkegaard

bedeutet so eine Entscheidung die Selbstaufgabe, die Selbstlüge. Man legt eine Maske auf und geht in der Masse unter. Man ist nicht man selbst und wenn dieser Zustand andauert, vergisst man auch wer man einmal war. Nur wenn man ständig wählt, wird man zu sich selbst.«

»Doch manche Entscheidungen sind so schwer, kaum erträglich und viel so groß für jemanden wie mich.«

Der Hochadmiral lachte über die Worte. »Ach, so gern wäre ich in deiner Postion dies sagen zu können, Nadia. Auf dir lastet keine Bürde und nicht das Leben vieler. Frag dich selbst, was du willst und entscheide dann so, wie du denkst, dass es richtig ist. Und wenn du etwas länger dafür brauchst,

so sei es. Aber nimm diesen Ratschlag von mir an: Verharre nicht zu lange im Raum des Nicht-Entscheidens. Es bringt nichts Gutes mit sich.« Damit erhob er sich wieder und nahm das Handtuch

an sich, an dem nun rote Flecken sichtbar waren. »Nun muss ich wieder zu meinen Pflichten. Doch nun wirken sie nicht so erdrückend wie zuvor. Ich habe das Gefühl, dass die Sauna etwas von mir gewaschen hat. Etwas Dunkles. Ja, eine faszinierende Erfindung..«

Er lächelte noch einmal zu ihnen und ging hinaus. »Ich werde solche Albträume heute haben«, meinte Sonja. »Verdammter Bastard! Und was ist

eigentlich mit euch beiden? Denkst du nicht, du bist etwas zu freundschaftlich mit ihm?« »Mmh«, machte Nadia nur, lehnte sich zurück und blendete die Welt um sich herum aus, indem sie

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wieder die Augen schloss.

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Kapitel 26:

Gilgamesch

»Denkst du wirklich, dass dies eine gute Idee ist?«, fragte Sonja, als der Heli der Allianz vor ihnen

auf den grünen Platz aufsetzte und einige der gepanzerten Soldaten ausstiegen. »Glaubst du etwa, dass man uns entführen und auf Eris lebend sezieren wird«, scherzte Nadia, die allerdings auch etwas Nervosität verspürte. Hinter ihr gähnte Kevin, auf seiner Wange wieder die

roten Umrisse einer Hand sichtbar. »Außerdem ist es jetzt zu spät zum Ablehnen.« Es war ein sonniger Tag und vermutlich einer der letzten warmen, bevor die Kuppel vollkommen

zum Herbst umschaltete. Kinder waren noch in Shorts und kurzärmligen T-Shirts unterwegs und viele holten sich noch ein letztes Eis bei vielen der Cafés nach der Arbeit. Eine tuschelnde Menschenmenge versammelte sich in der Nähe und einige deuteten auf sie, während der oberste

Administrator Enkidu Ki mit dem Piloten redete. Gestern war Natmar An überraschend zu ihnen gekommen und hatte gefragt ob sie nicht Lust hätten

sein Flaggschiff, die Sargon, zu besichtigen. Er meinte es wäre ein Ausgleich für all die wunderbaren Sachen, die sie ihm bisher auf Ganymed gezeigt hatte. So könnte sie etwas mehr von seiner Welt sehen.

Die Einladung kam so überraschend, dass Nadia zuerst aus reinem Instinkt Ja geantwortet hatte – denn sie sagte normalerweise bei so etwas niemals nein – und so auch Sonja und Kevin zu diesem

Ausflug verdammt. Frau Zwetkow hatte es geschafft sich herauszuwinden und genoss nun den Tag in Arbali, während die Admiräle sich im Rathaus mit Viktor Orlow trafen.

»Ihr könnt nun einsteigen«, meinte Enkidu Ki, der sich angeboten hatte sie zu führen. »Ist das wirklich in Ordnung?«, fragte Sonja in ihrer Verzweiflung, während Kevin umgehend

einstieg. »Wir haben euch gescannt und abgecheckt. Hochsicherheitsbereiche werden wir euch nicht zeigen. Sonst beherrschen wir weiterhin den gesamten Datenstrom von Ganymed. Egal was ihr also sieht

und später aufschreibt, es wird niemals diesen Mond verlassen – zumindest nicht bevor der Krieg zu Ende ist. Bitte, steigt nun ein.«

Und so blieb ihnen keine Wahl als in den Heli zu klettern, sich festzuschnallen und dann abzuheben. Nadia versuchte ein wenig Vorfreude in sich zu sammeln. Immerhin besuchte sie einen neuen, fantastischen Ort. Dies sollte doch eigentlich ein Grund sein vor Aufregung zu hüpfen. Sie würde

etwas Neues kennenlernen. Sie würde auf eine Entdeckungstour gehen. Sie würde etwas über fremde Menschen lernen. Sie würde...

Der Schatten des mächtigen Gilgamesh Schiffes legte sich über sie und jegliche freudigen Gedanken, die sie sich eingeredet hatte, verschwanden umgehen. Stattdessen schluckte sie, als sie zu dem dunkelgrauen Ungetüm aufblickte.

Ich will wieder zurück und ein Eis essen. Man vergaß schnell, dass diese Schiffe 1.2 Kilometer lang waren, wenn man sie vom Boden aus

betrachtete, doch desto näher man kam, desto erdrückender wurde die schiere Größe des Kolosses. Es war als hätte jemand einen Berg aus nacktem Stahl geschliffen und in den Himmel gesetzt. Der kantige, langezogene Zentralkörper nahm mehr und mehr ihr Sichtfeld ein. Die Stahlgerüste an den

Seiten, die die elektromagnetischen Katapulte beherbergten, ächzten in dem Wind und es war wie ein dunkler Gesang, der sie willkommen hieß.

Der einzige Schmuck, der goldene geflügelte Mann mit der Krone ganz vorne, blickte auf sie herab und seine leeren, königlichen Augen straften sie mit Bedeutungslosigkeit. Nichts Schönes oder Beruhigendes lag in dieser Galionsfigur.

Monolithisch ruhte der Gilgamesch dort im Blau und seine Präsenz umpackte ihre Seele und ihre Gedanken, ließen sie klein fühlen im Angesicht der kühlen Ambitionen, die dieses Monstrum

gebaut hatten. Keine Glorie und keine Erhabenheit wie bei den Erdenschiffen, nein. Dieses Ding zeigte so viel Gefühl wie ein von einem grausamen Gott geworfener Meteor, der dabei war hinab zu regnen um zu alle zu töten.

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Als sie im Hanger landeten – der im Weltall geschlossen sein würde – fegte ein heftiger Wind sie fast von den Füßen. Enkidu Ki erlaubte ihnen einige Fotos von der Stadt unter sich zu machen, bevor die Führung begann. Die Gruppe war sehr still geworden zu diesem Zeitpunkt.

Die ersten Korridore waren hoch und breit, damit auch die Soldaten mit ihren Exoskeletten durchpassen konnten. Doch nachdem sie die Umkleidekabinen passiert hatten, wurde alles sofort

enger und schmaler. Nadia musste an alte U-Boote aus dem fernen zweiten Weltkrieg denken. Grau und schmucklos waren sie, mit Röhren und Kabeln die an der Decke entlangliefen. Nur wenige blasse Bewohner der Allianz kreuzten ihren Weg und die meisten trugen schwarze Anzüge mit

Helmen, die die Gesichter verdeckten. Enkidu Ki erzählte ab und an etwas über das Schiff, doch das meist war technisch und

unverständlich für die Mädchen. Nur Kevin schien wirklich interessiert zuzuhören und er bemerkte einmal, wie Schade es war, dass seine Verlobte nicht mitgewollt hatte. Der Handabdruck an seiner Wange ließ dabei vermuten, dass sie nicht nur dagegen gewesen war mitkommen, sondern es wie

Sonja für eine sehr schlechte Idee gehalten hatte. Die beiden Mädchen liefen schweigend mit, die Köpfe geduckt und dem mechanischen Stampfen

lauschend, das hier über allem lag. Dies war keine Umgebung in der sie sich wohl fühlten. Die Brücke war eine weite Röhre an deren Ende Sitze mit Terminals kreisförmig vom Boden hoch zur Decke angeordnet waren. Im Gegensatz zu zivilen Schiffen mit ihren Zentrifugen hatten die

meisten Militärschiffe nichts - außer Beschleunigung - um Schwerkraft zu erzeugen. Somit würden die Steuermänner und Schützen von Eris im Weltall leicht hoch zu ihren Sitzen kommen. In der

Mitte war ein Podest auf dem Nadia sich sehr gut Natmar An vorstellen konnte. In der Schwärze vor den Sitzen mit ihren Terminals waren laut Enkidu Ki große Monitore, die gewaltige Mengen an Daten und Karten vom Sonnensystem zeigen würden, wenn das Schiff wieder

abhob. Doch nun waren sie alle abgeschaltet. Von da begannen sie ihren umständlichen Weg nach hinten zum Maschinenraum. Es gab nicht

wirklich viel zu sehen. Winzige Kajüten mit Betten voll mit Anschlüssen und Kabeln. Kleine Aufenthaltsräume mit Automaten für Nahrung und Wasser, sowie einigen angeschraubten Tischen und Stühlen aus Blech. Die Toiletten sahen aus wie moderne Folterinstrumente.

Es war ein langer, unbequemer Marsch durch das Schiff, das zu 80% aus Treibstoff und Munition bestand, was nur wenig für die darin dienenden Menschen übrigließ. Eine Maschine, nur dazu da

um zwischen Sterne zu reisen und den Tod zu bringen. »Der Hauptmechaniker freut sich bereits euch zu sehen«, meinte Enkidu Ki, als vor ihnen die Tür zum Maschinenraum geöffnet wurde. »Er kriegt selten Besuch. Seid bitte nett zu ihm.«

»Hängt er etwa die ganze Zeit da drin ab?«, murmelte Sonja, die versuchte ihren Stress mit mehr giftigen Kommentaren zu überdecken. Sie schubste Kevin beiseite, der neben ihr ein Sandwich aß

und ging als erstes in den Raum, aus dem rotes Licht drang. »Bringen wir es hinter uns und...« Sie brach ab und erstarrte. Ihr Mund fiel nach unten und ihr Schultern begannen zu zittern. Vorsichtig quetschte Nadia sich an ihrer Freundin vorbei und sah, was vor ihr lag.

Es war ein kleiner runder Raum, mit kastenförmigen Maschinen an den Seiten. Am anderen Ende war etwas was fast so aussah wie ein sehr hoher Schmelzofen und rotes Glühen kam aus den

verschiedenen Öffnungen. Tausende von Rohren führten hinauf zur Decke wie bei einer Kirchenorgel. Weiter oben war dazu ein Ring an dem dutzende von mechanischen Armen herunterhingen, die meisten mit grässlich aussehenden Werkzeugen bestückt.

In der Mitte des Raums ragte ein dünnes Podest auf und darauf thronte eine schrecklich entstellte Gestalt. Sonja, deren Beine schwach geworden waren, lehnte sich gegen Nadia, die selbst kaum den

Schock verkraftete. Unfassbar dünn, ohne Beine und mit unnatürlich langen Armen sah das Wesen auf sie herunter. Anstatt Finger liefen Kabel von den Händen herab. Das meiste Fleisch war vom Körper gekratzt,

sodass man an vielen Stellen die Knochen sehen konnte, sofern Stahl sie nicht verdeckte. In einem Plastikbeutel pumpte das Herz das wenig verbliebene Blut durch die Adern. Metallstifte ragten aus

dem blanken Rückgrat und der Schädel besaß weder Haar, Haut, Ohren, Nase oder Unterkiefer. Schläuche führten von dem Ort weg, wo eigentlich der Mund hätte sein sollen. Eine dunkle

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Membran spannte sich über das eine Auge und das andere war blutunterlaufen und besaß künstliche Lieder aus Plastik. »Willkommen«, sagte eine metallische Stimme die von überall zu kommen schien. »Willkommen in

meinen Leib.« »Was«, ächzte Sonja mühevoll hervor, »was bist du?« Mehr schien sie nicht herausbringen zu

können. »Der Hauptmechaniker der Sargon. Von 145 Bewerbern wurde ich ausgewählt Teil dieses Schiffes zu werden. Eine Ehre, die mich bis heute mit Stolz erfüllt.«

»Du bist Teil des Schiffes«, wiederholte Nadia, schüttelte dann aber rasch den Kopf und verneigte sich ungeschickt. »V-verzeihung. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, M-mister. Mein Name ist

Nadia Krylow. Danke, dass Sie uns in den Maschinenraum gelassen haben.« Kevin machte ein Foto hinter ihr. »Höfliches Mädchen«, hallten die Worte durch den Raum. »Sehr höflich. Danke. Ich kenne aber

bereits eure Namen. Keine Notwendigkeit, dass die anderen sich vorstellen. Ich freue mich euch hier begrüßen zu können. Es war nett vom Admiral euch hier vorzulassen. Trotz der Wichtigkeit

meiner Position kann es einsam hier werden, besonderen wenn ein Großteil der Crew unten in der Kolonie gerade haust.« »Du kannst dieses Schiff also nicht verlassen?«, fragte Sonja.

»Nein. Ein Hauptmechaniker in einem Schiff der Allianz zu werden, bedeutet einen Großteil seines alten Körpers auf ewig aufzugeben und dafür einen wesentlich mächtigeren Leib zu bekommen. In

der Schlacht spüre ich den Schmerz der Sargon und weiß wie man ihn lindern kann. Ich atme mit dem Stahl. Ich genieße den herrlich kühlen Wind der Kolonie, der gerade über die Panzerung streift. Ich bin der Zorn, der die Waffen lenkt. Der Wille, der die Triebwerke vorantreibt. Die Logik des

Hauptrechners. All dies bin ich.« »Bis zu deinem Tod?«

»Bis zu meinem Tod.« »Wie kannst du...«, brachte Sonja hervor. »Wie kann überhaupt jemand sich für so ein Gefängnis entscheiden.«

»Sonja?«, flüsterte Nadia besorgt und griff nach ihrer Freundin. »Der Admiral hat von dir berichtet, Kleine. Du bist diejenige, die die Freiheit so hoch schätzt.

Diejenige, die nach dem Krieg diese Kolonie verlassen will. Sei unbesorgt. Ich habe zwar vieles aufgegeben, doch dafür Neues bekommen. Ich kann nun nicht mehr Gras unter meinen Füßen spüren, Vögeln lauschen oder Wein genießen. Doch dafür höre ich die Musik der Planeten. Ich

gleite über den Staub der Sonne. Ich schwebe in der Leere des Universums und sehe in die Schwärze, wo die Götter hausen. Und wenn der Krieg eines Tages zu Ende ist und die Sargon noch

besteht, so werde ich irgendwann sogar die Grenzen dieses Sonnensystems verlassen.« So wie er sprach musste Nadia an einen Priester denken, der in einer Kathedrale predigte. Eine Gewalt lag dahinter, die ihr den Atem raubte. Kurz vergaß sie sogar seinen schrecklichen Anblick,

der sogar den des nackten Namtar An übertraf. »Kleine Nadia«, redete der Hauptmechaniker weiter und sie zuckte zusammen, als sie ihren Namen

hörte. »Der Admiral erzählte du hättest einen Mund aus Gold und ein Herz rein wie Quellwasser. Er sagte, du würdest all die Schönheit dieser Kolonie repräsentieren und nun wo du vor mir stehst, muss ich ihm zustimmen. Bitte, erzähl mir von deiner geliebten Kolonie. Erzähl von deiner Heimat.

Erzähle, wie du es dem Admiral erzählt hast. Bitte. Es wäre ein Freude dir zuhören zu können.« Diese Bitte traf sie wie ein Schlag. Fast taumelte sie sogar.

Wie soll das tun? Hier? Vor dir und inmitten all dieser Hässlichkeit? Sie schluckte und sah sich um. Verzweifelt suchte sie nach Wörtern in ihrem Inneren, doch da war nur Chaos und Entsetzen.

Plötzlich spürte sie Sonjas Atem auf ihrer Wange. »Willst du hiernach ein Eis haben, Nadia?«, fragte sie mit zitternde Stimme, die Schwierigkeiten ihrer Freundin bemerkend. »Du hast doch

dieses neue Café gefunden? Zeig es mir doch. Ich würde es gerne probieren« Kevins Hand legte sich auf ihre Schulter und er zeigte ihr auf seiner Kamera ein Foto von Neu

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Moskau aus der Luft, vermutlich von vorhin als sie noch beim Hangar gewesen waren. Sie konnte weiße Tauben darauf sehen, die über die grünen Dächer flogen. Viele der Straßen und Plätze erkannte sie. So häufig war sie über den dortigen Pflaster getanzt. Und ja, nun wo Sonja es

erwähnt hatte erinnerte sie sich an das herrliche kleine Cafè im Norden mit dem dicken Besitzer, der gut in eine Alpenhütte passen würde. Was für eine nette Atmosphäre er in seinem winzigen, privaten

Reich erzeugt hatte. Ja, sie musste es Sonja unbedingt später zeigen. All die Bilder kamen nun herauf. Die Stadt wurde bald verdrängt von den Feldern, Wiesen und Wäldern außerhalb bis sie gedanklich auf der Terrasse der Sieben Kastanien vor dem Wasserfalls

stand. Der Wind und das Rascheln der Blätter vertrieben alle Panik und Ekel. »Danke«, sagte sie erleichtert, nun wieder gefasster. Sie genoss noch etwas das Bild der geliebten

Stadt vor sich, bevor sie die Kamera wegschob. Sie amtete einmal tief ein und trat vor. Sie sah hoch zu dem Hauptmechaniker und dessen verbliebenem Auge. Obwohl ein Gesicht fehlte, so entdeckte sie den Stolz darin, sowie einen

unbrechbaren Willen. Doch da war auch ein Funken Traurigkeit und das Vertreiben von eben solcher Traurigkeit gehörte zu ihrem Job. Sie konnte später Eis essen, er nicht. Also würde sie mit

ihren Worten nun so viel zu ihm bringen, wie sie konnte. Sie lächelte ihn an und begann zu erzählen.

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Kapitel 27:

Ishkur

Alle Bäume in Neu Moskau färbten sich golden, braun oder rot. Der Wind besaß mit jedem

Streifzug über die kalte Landschaft mehr Blätter als Gast. In den Dörfern bereitete man sich auf die kommenden Laternenfeste vor. Die Admiräle von Eris waren damit beschäftigt den zweiten Angriff auf Eris zu planen und an

manchen der Besprechungen durften nicht einmal Nadia und Sonja teilnehmen. Die Menschen begannen sich dicker anzuziehen, die ersten Schals wurden getragen und am Rande

der Wälder hörte man das Schlagen von Feuerholz. Sehr bald würde man auch die Feuer in den Kaminen der Sieben Kastanien entzünden und so mit heißer Schokolade eine wohlige Atmosphäre schaffen. Es blieb offen, wie empfänglich die Besucher vom äußersten Kreis des Sonnensystems für

so etwas waren. Ab und an besuchte Nadia weiter den Hauptmechaniker der Sargon. Es flogen mehrmals am Tag

Helis hoch zum Schiff und Namtar An hatte es erlaubt, sie sogar dazu ermutigt. Sie brachte jedes Mal auch Geschenke mit wie Ahornblätter, Kastanien oder ein selbstgebastelter Windfang. Er hängte alles immer um sich herum in seinem Raum auf, der so immer bunter und heimischer wirkte.

Sonja fragte eines Tage überraschend ob sie nicht auch mitkönnte. Sie brachte eine gestrickte Blume mit, die sie ihm überreichte.

»Ist das auf eurer Kolonie ein Symbol von Verlobung?«, fragte der Hauptmechaniker mit einer stählernen Stimme, als er das Kleinod annahm.. Eine halbe Minute des Schweigens folgte.

»Das war ein Witz«, meinte er dann in genau demselben Tonfall. Vermutlich war er nicht in der Lage seine Stimme zu verändern oder ihr Nuancen zu verpassen.

Ein paar Treffen später und Nadia bemerkte, dass Sonja nun meistens mit ihm redete und nicht mehr sie. Es ging um die Sterne, das Sonnensystem und das Reisen durch die Galaxie. Er dachte weit hinaus, während sie weiter auf der Erde behaftet blieb. Trotz dieses Gegensatzes stritten sie

sich nie. Es war eher so, dass sie aufeinander aufbauen. Aus der Sicht von Nadia wirkte es so wie zwei Hälften die zusammenkamen und was wunderbares ergaben. Dies traf sowohl auf die Themen

als auch auf die beiden Sprechenden zu. Mit Faszination stand Nadia daneben und hörte zu. Ein klein wenig Neid schlich sich dabei in ihr Herz, da sonst sie es ja war die Freude in die Herzen der Menschen brachte. Doch sie verdrängte

dies schnell und versuchte sich stattdessen für Sonja zu freuen. »Bald wird die Eris Flotte aufbrechen, zusammen mit der Makemake und Haumea Flotte«, sprach

der Hauptmechaniker eines Nachmittags. »Die zweite Schlacht um Ceres wird anders sein als zuvor. Der Admiral denkt, dass die Erde diesmal Titanen gegen uns schicken wird.« Sonja schwieg daraufhin. Für einige Zeit hörte man nur noch das rhythmische Dröhnen der

Maschinen im Schiff. »Wünschst du dir, dass die Erde gewinnt und ich dort sterbe?«, fragte der Hauptmechaniker dann.

»Natürlich«, antwortete das Mädchen nach einem Zögern. Doch es fehlte ihre gewohnte Kraft und sie blickte zu Boden. »Ihr werdet in eure Schranken verwiesen.« »Ich verspreche ich komme wieder, Mädchen.«

Nach dem Besuch shoppten die beiden Mädchen noch etwas in der Stadt. Nadia kaufte sich

Wanderstiefel, während Sonja ein neues Paar Ohrringe fand. Trotz der stärker werdenden Kälte war es ein sonniger Tag und viele Menschen waren in ihren langen Mänteln unterwegs. »Machst du dir Sorgen um ihn?«, wollte Nadia wissen, als sie sich in ein Café setzten um was

Warmes zu trinken. »Fang jetzt nicht auch noch damit an!«

»Tut mir leid.« Eine unangenehme Stille breitete sich anschließend aus. Ihre Getränke wurden geliefert. Nadia nippte an ihrer heißen Schokolade und betrachtete ihre Freundin vorsichtig. Sonja dagegen rührte

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mit ihrem Löffel lustlos in ihren Kaffee-Latte herum, den Kopf auf den Arm gelehnt und nachdenklich aus dem Fenster starrend. Gepanzerte Fahrzeuge von Eris fuhren draußen vorbei. Irgendwo weiter hinten im Laden zerbrach

eine Tasse. »Titanen«, sagte Sonja plötzlich und Nadia sprang fast von ihrem Stuhl. »Die Erde wird wirklich

Titanen schicken um Ceres zu verteidigen? Glaubst du die Sargon kann gegen einen Titanen gewinnen? Was hat die Allianz um gegen solch schreckliche Kriegsmaschinen zu bestehen?«

»Das hat sie tatsächlich gefragt?«, meinte Namtar An erstaunt, als Nadia ihm am Abend von dem Gespräch erzählte. Er hatte sich an einem Tisch im Ahorn Zimmer gemütlich gemacht. Vor sich

einige Bücher aus der Dorfbibliothek, die Namen hatten wie Paradies Lost oder Der Prozess. Gleichzeitig arbeitet er an seinem Tablet und trank Kaffee. »Ja, Mister«, antwortete Nadia. »Und da wollte ich wissen, wie...«

»Wie wir sie beim Neptun besiegt haben?« »Ja.«

Namtar An lehnte sich überlegend zurück und sah aus dem Fenster zu den leuchtenden Monden des Jupiters am Himmel. Die Fledermäuse begannen ihren nächtlichen Tanz. »Als David ins Tal von Elah hinabstieg um den gewaltigen Goliath zu besiegen, so hatte er eine

Schleuder dabei. Ein gepanzerter Ritter konnte von dem kleinen Zacken einer Hellebarde niedergestreckt werden. Ein Koloss ist mächtig, aber nicht unbesiegbar. Suche die Waffe gegen die

er schwach ist. Und wenn es keine Waffe gibt, so erfinde eine.« Er öffnete einen Ordner auf dem Tablet und warf das robuste Gerät dann auf dem Tisch. Mit einer Handgeste erlaubte er Nadia dann drauf zu sehen.

Auf dem Bildschirm war das Bild eines Raumschiffes irgendwo im Vakuum, im Hintergrund das endlose Meer der Sterne. Doch es war anders als alle Schiffe, die sie bisher gesehen hatte.

Es wirkte wie ein langes, kantiges U. Die Hörner schienen die meiste Masse auszumachen. Eine Art Kugel war an der Oberseite des Verbindungsstückes angebracht mit dem Antrieb kurz dahinter. Im großen und ganzen wirkte die ganze Apparatur sehr merkwürdig.

»Ähm«, begann sie und sah ihn hilfesuchend an. Namtar An's Lächeln wurde etwas breiter, als er sich über ihre Reaktion amüsierte. »Ich glaube ich

kann es dir ruhig sagen. Das dort ist ein Ishkur. Wir haben nur drei solcher Schiffe im Moment und sie sind eines unserer größten Schätze. Das Schiff ist Zweihundertneunzig Meter lang. Zweihundertdreißig davon nehmen die Arme ein. Es ist ein einziges, riesiges elektromagnetisches

Katapult, das Ziele im Gürtel von hier aus ins Visier nehmen kann. Man könnte sagen es ist das gewaltigste ballistische Geschütz, das jemals von Menschen gebaut wurde. Wir haben sie nach

Neptun größtenteils zurückgehalten, doch bei Ceres werden wir sie wieder aussenden. Die Ishkur, liebe Nadia, ist unser Titanenkiller.« Nadia hatte das Gefühl, das ein schwerer Glockenschlag durch sie vibrierte. Die Worte des

Hochadmirals klangen so als ob er etwas Großartiges offenbart hätte. Erwartungsvoll sah er sie an. Weiterhin auf den Bild starrend versuchte sie irgendeinen klugen Kommentar

zusammenzubekommen. Nun, vielleicht wird dies Sonja etwas beruhigen. Wissend, dass so etwas die Sargon beschützt. »Äh... das ist sehr interessa...«

Sie wurde im Wort unterbrochen als die Tür aufflog und Enkidu Ki hineineilte. »Ist etwas passiert?«, fragte Namtar An umgehend und stand auf.

»In der Stadt gab es eines Auseinandersetzung, Hochadmiral. Es endete in einer Geiselnahme.« »Mit Stadt meint er doch nicht etwas Neu Moskau?« Nadia merkte kaum wie sie die Worte aussprach. Ihre Hand legte sich sorgenvoll auf ihren Mund und sie trat in Schock etwas zurück. Sie

dachte an die Geschäfte und weißen Fassaden zurück, an denen sie vorhin mit Sonja vorbei spaziert war.

Die beiden Männer von Eris ignorierten sie. »Wer?«, wollte der Hochadmiral wissen.

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»Die Marines, Hochadmiral. Die Marines von der Erde. Wir haben sie aufgespürt. Wie erwartet waren sie nicht bereit in Gewahrsam genommen zu werden.«

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Kapitel 28:

Das Jammern von Nimrod

»Eine unserer Sucheinheiten hat es geschafft die Erdmarines in der alten Kanalisation von Neu

Moskau zu finden«, erklärte Enkidu Ki den Admirälen im abgedunkelten Mondzimmer. Er stand vor einem großen Monitor, auf dem eine sterilisierte Stadtkarte abgebildet war. »Es waren sehr alte Schächte aus der Zeit der ersten Kolonialisation, als es noch ein Minenstation war und somit nicht

in den offiziellen Plänen verzeichnet. Es war purer Zufall, dass die Einheit den Eingang bei einem der kleineren Seitenkanäle bemerkte.«

Er meint das Reich des stillen Wassers, dachte sich Nadia, die schwarzen,starken Kaffee servierte. Einer der vielen Wunder der Stadt. Glänzendes Wasser und ein wunderbares Orchester, bestehend aus den vielen tausenden Tropfen die da immer fallen. Besonders die Katzen haben es da immer

gemocht. Ich ging dort früher gerne mit Sonja hin. »Wie erwartet zeigten die Mariens sich unwillig zu kapitulieren. Es folgten Kämpfe in denen mehr

und mehr unserer Streitkräfte verwickelt wurden. Irgendwann verlagerten sich die Auseinandersetzungen an die Oberfläche nachdem die Schächte eingestürzt waren. Dabei zeigte sich, dass wir die Zahl der überlebenden Marines unterschätzt haben. Mindestens 130 von ihnen

stellten sich uns in den Straßen. Wir konnten die Zahl auf 73 reduzieren. Sie alle haben sich nun in sechzehn Häuserblocks im Stadtteil Friederichsheim verschanzt und 231 Zivilisten als Geiseln

genommen, größtenteils Rentner und Kinder.« Vermutlich Großeltern, die auf ihre Enkel aufpassen, während ihre Eltern arbeiten. Nadia sah zu, wie die Karte auf einen bestimmten Teil der Stadt beim Fluss heranzoomte. Man sah in den grauen

Umrissen der Gebäude kleine rote Punkte; Wärmesignaturen der Menschen im Inneren. Viele waren in bestimmten Zimmern zusammengeklumpt und wurden bewacht. Um die Häuserblocks war ein

Ring wesentlich größerer Punkte – die Kriegsmaschinen von Eris. »Was sollen wir tun?«, fragte Martu Me. »Verhandlungen starten?« »Nein«, antwortete Natmar An, mit einer Stimme die Nadia nie so bei ihm gehört hatte. Die Worte

schnitten wie ein Eisstrum durch die Luft. »Wir haben keine Zeit für so einen Blödsinn. Ashnan, du wolltest doch eine Gelegenheit dein neues Spielzeug zu probieren? Ich glaube, dies ist eine gute

Gelegenheit, findest du nicht?« Die schwarze Flügeladmirälin nickte stumm. »Sag deinen Einheiten beschied. Sie sollen den Nimrod vorbereiten.«

»Ich wusste doch, so kommen wir nahe dran«, meinte der neunjährige Karl zufrieden, als er und

seine Freunde aus einem aufgebenden Abwasserschacht kletterten, der zu eng für Erwachsene war. »So haben wir Spitzenplätze!« »Mein Kleid ist schmutzig!«, beschwerte sich Marie.

»Mein Knie ist aufgeschlagen«, jammerte Nikolai. »Ruhe jetzt!«, harsche Karl seine Freunde an und robbte zur niedrigen Mauer, bei der Büsche

wuchsen. Über ihnen flog ein Heli von Eris in hoher Geschwindigkeit dahin. Es herrschte Krieg! Die Action hatte endlich Neu Moskau erreicht! Nie im Leben wollte er dies verpassen. Es gab zwar keinen Weg in die Umzingelung, aber so waren sie zumindest im

eigentlichen Ring, den die Soldaten von Eris um die Erdmarines errichtet haben. Vorsichtig schob Karl einige Blätter zur Seite und spähte über den Rand der Mauer.

Vor ihm war eine kleine offene Fläche, die zum Fluss führte, an dessen gegenüberliegenden Ufer sich die Häuserblocks befanden in denen die Erdmarines sich verschanzt hatten. Drohnen flogen über das Gebiet. Fast direkt vor ihm waren einige der Soldaten von Eris in ihren coolen

Exorüstungen. Sie bauten gerade etwas auf. »Was ist das?«, fragte Marie neben ihm.

»Psssh! Leise. Keine Ahnung. Werden wir gleich sehen.« »Falls es überhaupt was macht«, grummelte Nikolai. Es wirkte wie ein sehr langes, dickes Gewehr, das entlang des Laufs mehrmals im Boden verankert

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war. Das eine Ende stach etwas hinaus in den Fluss. Das andere endete bei einem der Soldaten und war mit der Vorderseite seiner Rüstung verbunden, die an den Armen rot gefärbt war. Allerhand Kabel hingen an ihm herab. Neben ihm pickten einige Tauben in den Resten eines umgeworfenen

Crêpe-Standes .

»Es tut mir leid, Nadia«, sagte Namtar An plötzlich direkt an sie gewandt. Seine Stimme war weiterhin so erbarmungslos wie zuvor. »Es waren schöne Zeiten bisher auf Ganymed. Ich verstehe, dass du und andere da denken könnten, dass wir nicht mehr sind als Gäste. Doch dem ist ja leider

nicht so. Wir sind Angreifer. Wir sind Invasoren. Wir sind Besatzer. Wir haben unsere Agenda, unsere Pläne. Widerstand muss ausgemerzt werden. Wir müssen Signale der Stärke senden. Wir

müssen gefürchtet werden. Wir kamen nicht hierher um Teil von euch zu werden. Überschätze nicht, wie hoch wir euer Leben einschätzen. Es ist Krieg, Nadia. Oh, so weinen die Götter, es ist Krieg und mit Krieg kommen die blühenden Felder der Grausamkeit. Ich entschuldige mich.«

»Nimrod ist bereit«, erklärte Enkidu Ki. »Sollen wir feuern?«

Karl bemerkte erst jetzt die Bolzen an den Füßen der Soldaten von Eris, mit denen sie sich nun am Boden verankerten. Der Offizier der Gruppe hob die Hand. »Was zum...«, begann Nikolai. Ein Summen begann die Luft zu erfüllen.

Einer der Krieger in den Exorüstungen sah direkt zu ihnen. Seine Sichtivisier war direkt auf Karl gerichtet. Mit seiner gepanzerten Hand zog er den Daumen über seinen Hals.

Die drei Kinder spürten einen Schaudern der durch ihren Rücken ging. »Ich entschuldige mich für das Klagen, was nun diese Kuppel füllen wird«, sprach Natmar An

weiter, während er Enkidu Ki's Frage abnickte. »Ich entschuldige mich heute die Ruhe dieses Ortes zu stören. Ich entschuldige mich für den Hass, der nun kommen wird. Nun lasset es uns hören,

meine Kameraden. Lasset uns die Musik hören. Das Jammern von Nimrod!« Die Tauben flogen auf, so als hätten sie ein unsichtbares Signal gehört. Die Drohnen über den

Häusern auf der anderen Flussseite klärten den Himmel. Die Hand des Offiziers von Eris senkte sich wieder. Die merkwürdige Waffe feuerte.

Noch im Aufstieg verwandelten sich die Tauben in rotes Geschmiere. Die Rüstungen der Soldaten hielten dem gerade so stand. Als die Druckwelle Karl und seine Freunde erreichte, wurden ihre Trommelfälle sofort zerrissen. Die Kinder erblindeten und wurden zurückgeworfen.

Als das Projektil aus dem Lauf schnellte teilte es den Fluss und praktisch sofort wurden die Häuserblöcke auf der anderen Seite zermalmt. Zeugen berichteten später wie sich die Wände und

Dächer einfach vor ihren Augen auflösten als ein hauchfeiner Schrapnell sie zerschredderte. Alle lebende Materie in diesem Bereich verschwand einfach. Das einzige was übrig blieb waren feine Bluttropfen, die vom Wind fortgeweht wurden. Die Erdmarines, die freundlichen Großeltern,

die kleinen Kinder. Alles war in kaum einer Sekunde fortgewischt. Zurück blieb nur eine kleine, geschleifte Ebene an deren Rande die Soldaten von Eris still standen.

»Ich bin kein erbarmungsvoller Mann« erzählte Namtar An, als auf dem Bildschirm alle roten Punkte verschwunden waren. »Die Leere treibt einem jedes Erbarmen aus den Herzen.«

Nadia hörte nur halb zu. Ihre Hände waren vor Entsetzen über ihrem Mund gefaltet, als sie erschreckt einige Schritte zurücktrat, fassungslos auf all das vernichtete Leben blickend. All die

Flecken. All die Wärmesignaturen. Es waren lebende Wesen gewesen. Atmende Menschen mit Freunde und Zukunft im Herzen und einer Familie, die gehofft hatte sie am Abend wiederzusehen. Doch nun waren sie alle weg. Verschwunden.

»Nadia«, sprach der Hochadmiral mit scharfer Stimme und sie blickte erschreckt in seine Richtung. Er hab seine Tasse. »Ich hätte gerne einen weiteren Kaffee.«

Als der Abend über Neu Moskau anbrach, hörte man bereits das Weinen der Menschen. Väter und

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Mütter wollten zum Ort des Geschehens um nach ihren Angehörigen zu suchen, nur um gesagt zu bekommen, dass nicht übrig geblieben war was man beerdigen konnte. Frauen fielen auf ihre Knie. Männer schrien in Tränen die Soldaten an. Geschwister standen in

Schock an der Seite. Passanten schüttelten im Unglauben die Köpfe. Karl, Marie und Nikolai kamen ins Krankenhaus, verstümmelt und kaum noch am Leben. Schnell

verbreitete sich die Geschichte dieser drei, die man einfach ignoriert hatte, während man den Nimrod feuerte. Düsteres Geflüster erhob sich überall. Man warf neue Blicke auf die Menschen von Eris. Blicke

voller Finsternis und Abscheu. Die großen Schiffe blieben wo sie waren. In großer Höhe schwebten sie über die Stadt, warfen ihre

langen Schatten auf die Dächer. Es war ein Anblick, an dem man sich gewöhnt hatte. Er war alltäglich geworden. Doch heute waren sich die Menschen wieder bewusst, was diese Kolosse aus Stahl eigentlich bedeuteten.

Es war Krieg.

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Kapitel 29:

Schatten

»Ich bin ehrlich überrascht, dass alle so entsetzt sind«, meinte Sonja mit einer zittrigen Stimme,

während sie zusammen mit Nadia die Stadt von einem Aussichtspunkt im Wald aus betrachteten. »Ich habe doch die ganze Zeit gesagt, dass sie Invasoren sind und nicht unsere Interessen im Sinn haben. Verdammte Idioten, allesamt!«

Es war Abends und normalerweise sollte man ein herrliches Glitzern von Neu Moskau aus sehen. Das Blau der Straßenlaternen, die die Wege in ein ruhiges, fülliges Meer zu tauchen schienen. Das

einladende goldene Licht der Fenster, hinter denen Familien aßen und zusammensaßen. Die grünen Feuer beim grünen Platz, bei dem Menschen guten Wein genossen. Die roten Hinterleuchten der wenigen Laster, die in den späten Stunden fuhren.

Heute war allerdings alles in ein ungesundes, orangenes Glühen getaucht, als Aufstände in den Straßen herrschten. Viele Mülleimer und Fahrzeuge brannten und angeblich hatten einige

Randalierer Molotowcocktails geworfen. Niemals hatte Nadia die Stadt so gesehen und so wie ihre herrliche Heimat gerade blutete, so schmerzte ihr Herz entsetzlich. »Hast du gewusst, dass so etwas passieren würde?«, wollte Nadia wissen. »Hast du gewusst, dass so

viele sterben würden?« Sonja schüttelte ihren Kopf. »Wie sollte ich so etwas voraussehen? Ich habe nie großartig darüber

nachgedacht, okey? Ich habe nur gesagt, dass sie Feinde sind. Doch wie sollte ich wissen, dass sie...« Sie brach ab und sah zu Neu Moskau. »Ich hoffe meinen Eltern geht es gut.«

Nach dem Ereignis mit der Nimrod-Kanone brauchte es nur drei Tage bis zum Ausbruch der Aufstände, die die beiden Mädchen vom fernen Hügel aus beiwohnten.

Am ersten Abend war Nadia erschöpft in ihr Bett gekrochen, nicht wissend was sie denken sollte. Stattdessen hatte sie einfach in Trauer über die Verluste und durch den Nimrod zerstörten Familien geweint. Als Sonja einige Zeit später hereinkam, hatte sie nichts gesagt, sondern war nur zu ihr ins

Bett gekommen, um sie tröstend in den Arm zu nehmen. Die nächsten Tage ging die Arbeit wie gewohnt weiter. Die Betten wurden gemacht, die Tische

geputzt, das fallende Laub vor der Tür wegfegt, Essen gemacht und die Admiräle bedient. Alles war allerdings stiller als zuvor. Nadia vermied es Namtar An in die Augen zu sehen und der Hochadmiral selbst verzichtete darauf Gespräche zu beginnen. Selbst Kevin verbrachte nicht mehr

seine freie Zeit mit Enkidu Ki in der Küche. Frau Zwetkow betrachtete all dies kopfschüttelnd und sie wirkte müder als zuvor.

»Ich habe gehofft, dass der Krieg glimpflich für uns ausgeht«, meinte die alte Frau eines Nachmittags in der Küche. »Ich habe gehofft, dass die Allianz irgendwann einfach wieder geht und alles so wird wie früher. Aber leider leben im Sonnensystem nur Schwachmaten. Ich kann kaum

noch die Leute im Dorf zurückhalten. Wie es wohl in der Stadt ist?« Sie schnaubte und knallte ihren Löffel auf den Tisch. »Sei's drum. Wir sind eine Herberge und nach wie vor sind die Admiräle

unsere Gäste. So lange sie hier sind, stehen sie unter meinem Schutz ist das allen hier klar?« Nadia sprach kaum in dieser Zeit.

Am zweiten Abend ging sie hinunter nach Arbali, um bei Dennis Schildmann mal wieder einen Kaffee zu trinken. Es wurde zu erstickend in den Sieben Kastanien. Sonja ging nach Neu Moskau

um den Hauptmechaniker der Sargon zu besuchen. Nadia traute sich nicht mit. Zum ersten mal seit ihrer Ankunft auf Ganymed hatte sie Angst die Stadt zu betreten. Der Bäcker war ebenfalls still und stellte ihr nur wortlos eine Tasse mit einigen Keksen hin. Es war

noch nicht so kalt und so saß sie draußen und lauschte dem Plätschern des Stroms, der durch das Dorf floss. Sie spürte von den Fenstern her Blicke auf sich, doch niemand kam um Hallo zu sagen

wie früher. Zwei Herren, die ihr irgendwie bekannt vorkamen, spazierten vorbei und nickten ihr kühl zu. Als sie etwas weiter die Straße entlanggegangen waren begannen die beiden dann miteinander zu reden.

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Vermutlich dachten sie, dass Nadia inzwischen außer Hörweite war oder vielleicht war es ihnen einfach egal, ob sie es mitbekam. »Ist das nicht die Mitarbeiterin in der Herberge oben? Da wo die bleichen Bastarde wohnen?«

»Wie kann sie nur diese Mörder bedienen.« »Vermutlich ist sie eine Helferin von ihnen.«

»Ja, sicher liebt sie es die Beine breit zu machen für diesen Admiral. Ekelhafte Verräterin.« »Irgendwann knöpfen wir sie auf. Ganz sicher.« Nadia verließ das Dorf ohne auch nur einen einzigen Schluck Kaffee getrunken zu haben.

»Die Admiräle haben heute den Termin für ihre nächste Offensive auf Ceres festgelegt«, meinte

Sonja später, als sie beide auf ihrem Zimmer waren. »Sie wollen fünf Tage vor dem Laternenfest starten.« »Mmh«, machte Nadia nur, die mit dem Gesicht voran auf ihrem Kissen lag. Sie fühlte sich

schlecht. »Die Erde liegt schon auf der Lauer. Sie rechnen natürlich mit einem neuen Angriff. Ich frage mich,

was Namtar An diesmal vor hat.« »Mmh.« »Du bist irgendwie ganz grummelig heute, Nadia.«

»Nichts, Sonja.« Mit einem Seufzen setzte sie sich auf und blickte zu ihrer Freundin. Es war an der Zeit das Thema zu wechseln. »Sag was bastelst du da eigentlich?«

»Ähm... nichts!« Schnell versuchte sie zu verstecken woran sie gerade arbeitete. »Ist das nicht eine weiße Glückslilie? Die bastelt man doch nur, wenn man jemanden viel Glück wünschen will. Für wen machst du dir denn die Mühe...« Nadia hielt inne und ein schelmisches

Lächeln kam über ihr Gesicht. Vielleicht war es an der Zeit die Stimmung mal wieder aufzulockern. »Ist es für den Hauptmechaniker der Sargon vielleicht?«

»Und wenn dem so wäre? Was macht es?« »Ich wusste gar nicht, dass du eine romantische Ader hast, Sonja. Und ausgerechnet bei jemandem von Eris. Das habe ich nicht erwartet.«

»Es ist nicht so wie du denkst!« »Ach nein?«

»Nein!« Sonja funkelte sie an, bevor sie mehrere Male tief einatmete und mit ruhiger Stimme fortfuhr. »Nein, Nadia. Ich habe schon darüber nachgedacht. Wie soll das denn klappen? Er hat mir selbst gesagt, dass die Liebe zu einem anderen Menschen eines der Dinge war, die er aufgegeben

hat als er Teil des Schiffes wurde. Man kann mit ihm auf kein Date gehen, ihn nicht umarmen, ihn nicht küssen, nicht Zärtlichkeiten mit ihm teilen. Trotz der vielen Wochen fällt es mir immer noch

schwer mich geborgen bei ihm zu fühlen. Ihm fehlen auch Teile die meiner Meinung absolut nötig sind für eine funktionierende Beziehung.« »Was für Teile?«

»Tue nicht so unschuldig Nadia! Selbst du kannst nicht so naiv sein.« »Oh.«

»Wo war ich? Ach ja. Ich sehe ihn zumindest nicht auf diese Weise. Er ist ein... Freund. Ein sehr guter Freund. Anders als du, keine Sorge.« »Jeder Freund ist anders, Sonja. Jeder bringt etwas für den anderen mit. Ich bin nicht eifersüchtig.«

»Fang jetzt nicht mit deinen dummen Sprüchen an!« »Tut mir leid, Sonja.«

»Meine Güte.« Sie räusperte sich. »Er hat mir zumindest etwas gezeigt. Er hat so viel aufgegeben für das woran er glaubt. So viel hat er zurückgelassen. Ganze Möglichkeiten für seine Zukunft sind ihm verschlossen, weil er fest davon ausging, dass der eine Weg für ihn der Richtige ist. Dies hat

mich zum Nachdenken angeregt. Habe ich eigentlich jemals überlegt, was ich aufgeben müsste, wenn ich zur Erde will?« Sonja sah hinaus zum Fenster, hoch zum Jupiter. »Was ich zurücklassen

muss? Kann ich so stark sein wie er? Habe ich dieselbe Willenskraft? Oder bin ich nur eine Zicke mit einem losen Mundwerk und nichts dahinter.«

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»Was sagte er?«, fragte Nadia vorsichtig. »Dass ich wie er an etwas glaube und somit den ersten Schritt schon gemacht habe.«

»Sag, Nadia«, fragte Sonja am nächsten Abend, als sie die fernen Aufstände betrachteten. »Was denkst du nun eigentlich über Namtar An? Hat sich zwischen euch was verändert? Verachtest du ihn

jetzt?« »Ich weiß es nicht, Sonja.« »Vielleicht solltest du es langsam mal wissen.«

»Ja, vielleicht sollte ich es.« »Aber ich habe auch Angst, dass die süße, unschuldige Seite von dir dabei verloren geht. Ich bin

mir auch unsicher, Nadia.« »Alles scheint unsicher zu sein gerade, Sonja.« »Amen.«

Die beiden Mädchen rückten etwas näher zusammen und sahen zu wie der dunkle Qualm der Feuer von der Stadt aufstieg. Der Rauch brandete wie Wellen gegen die Schiffe der Allianz und legte

langsam aber sicher weitere ungute Schatten über die Kolonie von Neu Moskau.

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Kapitel 30:

Lucifers Fall

Wie zuvor blieb Namtar An auf Ganymed, während die Eris, die Makemake und die Überreste der

Charon und die Haumea Flotten mit Martu Me und Ashnan Nusku an der Spitze den Angriff auf Ceres durchführten. Die Aufstände in Neu Moskau waren inzwischen niedergeschlagen mit zwar viel Materialschaden, aber glücklicherweise nur einigen Verletzten und dreihundert Festnahmen. In

New Wolgograd und Hannover Three schien es allerdings noch Straßenkämpfe zu geben und Gerüchten zufolge wurde in einer dieser Kuppeln ein weiteres Mal der Nimrod eingesetzt.

Insgesamt schienen die Unruhen auf Ganymed dem Hochadmiral allerdings nichts auszumachen. Seine ganze Konzentration galt der Operation Lucifers Fall, die gerade stattfand. »Wie zuvor ist die Masse des Feindes zu groß für meine Flotten«, meinte Natmar An in den Mond-

Raum hinein, während er zusah wie auf dem Monitor seine Schiffe langsam wieder von Ceres fortgedrängt wurden. Wenn man nach draußen trat konnte man am Nachthimmel die fernen

Explosionen vom Gürtel sehen. »Ashnan stößt immer wieder vor und reißt Stücke aus den feindlichen Verbänden, wie typisch für sie. Martu Me zeigt sich dagegen wieder als exzellenter Verteidiger. Dennoch sind es nur kleine Tropfen auf dem heißen Stein. Die Oberadmiralin Chiang

hat eindeutig dazugelernt. Ihre Formationen sind flächiger, aber dennoch nicht zu ausgebreitet. Sie können so besser auf die Schnelligkeit meiner Allianz-Schiffe reagieren. Ihnen hilft wohl auch, dass

sie diesmal drei Titanen-Schiffe haben, den einen von der Mars-Flotte und zwei von den Schutzflotten der Erde. Ihre Feuerkraft ist wahrlich beachtlich.« Es gab keinen Grund wieso er dies laut aussprach. Enkidu Ki wusste all dies bereits und welchen

Grund hatte er dies alles Nadia und Sonja offen darzulegen? Wie immer wirkte er kühl und gefasst, doch nach den letzten Monaten in seiner Nähe wusste Nadia

inzwischen, dass er nervös war und sich die Sorgen von der Seele reden musste. Im Laufe des nächsten Tages breiteten sich die Kämpfe über einen großen Teil des Gürtels aus, bevor die Allianz-Flotten den Rückzug begannen. Die Ceres-Flotte begann umgehend die

Verfolgung und Rückzugsgefechte sorgten dafür, dass der Strom an Toten nicht abbrach. Die Oberadmirälin Chiang ordnete an, dass weitere Flotten sich dem Gegenangriff anschließen sollten.

Die 7. Flotte, die den Venus bereits verlassen hatte und nun nahe am Mars war, verband sich mit der dortigen 5. Flotte. Von der Erde kamen die 1. und 4. Flotte. Insgesamt hielten nun 10 Titanen und fast 250 reguläre Erdschiffe auf den Jupiter zu.

»Es ist die größte Ansammlung an Kriegsschiffen, die es jemals in der Geschichte der Raumfahrt gegeben hat«, sprach Namtar An, während die roten Punkte auf dem Monitor immer mehr und mehr

wurden. »Chiang hat ganz spontan eine der größten Offensiven in der Menschheitsgeschichte gestartet. Fast alle verbliebenen Titanen beteiligen sich an dieser Offensive. Sie kommen hierher.« »Und hier lauern die Ishkur-Schiffe«, wagte es Sonja zu sprechen, die in letzter Zeit mehr mit dem

Hochadmiral redete als Nadia. »Exakt. Sie sollten großen Schaden bei den Titanen anrichten.«

»Aber wird es ausreichen?« »Wir werden sehen, Sonja.« Nadia schenkte etwas Kaffee nach und überreichte es ihrer Freundin. Diese brachte diesen dann

zum Admiral. »Ich erinnere mich, Mister«, sagte sie dabei. »Sie haben einmal mit den anderen Gästen die Asag-Schiffe erwähnt. Doch bis heute haben Sie nie gesagt, was es mit ihnen auf sich

hat. Sind es auch Wunderwaffen wie die Ishkur?« »Gutes Gedächtnis«, meinte der Admiral und trank einen Schluck. »Ja, man könnte sie so bezeichnen. Sag dir was. Nach der Schlacht wirst du wissen, was die Asags sind. Denn nach dieser

Operation werden sei kein Geheimnis mehr sein.«

Die fernen Explosionen kamen mit jedem Tag näher und dies sorgte für mehr Missgunst in der Kolonie. Man dachte zurück an den ersten Tag des Krieges und wünschte sich nicht, dass die Kämpfe erneut den Jupiter erreichten.

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Eines Nachmittags nahm Namtar An sich eine Pause auf der Terrasse. Inzwischen waren alle Blätter der Bäume komplett verfärbt und der Wasserfall wesentlich kälter. Der angenehme Geruch des Laubs lag in der Luft und fast sämtliche Igel hatten ihre Winterquartiere fertiggestellt.

»Sag Nadia, morgen ist doch das Fest der tausend Laternen«, fragte der Hochadmiral, der geduldig betrachtete wie die Bäume immer lichter wurden. »Kannst du mir erzählen was es damit auf sich

hat? Hat es etwas mit dem St. Martins Tag auf der Erde zu tun?« Sonja hatte gerade Pause und somit blieb Naida nichts anders übrig als mit ihm zu reden. Er war ja nach wie vor ein Gast. Sie nahm sich so gut es ging zusammen und begann zu sprechen. »Nur

teilweise, Mister. Der St. Martins Tag ist später im Jahr und wir feiern ihn hier auch nicht. Das Laternenfest ist auf jeden Fall aber trotzdem davon inspiriert. Wir entzünden mehrere Arten von

Laternen an dem Tag. Alle aus Papier. Einige werden von den Kindern getragen, andere in die Luft gelassen. Viele können sogar schwimmen und fließen die Flüsse hinab. Wir erhellen die gesamte Kolonie. Früher war es ein Zeichen der ersten Kolonisten um der Dunkelheit der Weltalls zu sagen,

dass wir noch hier sind und die damaligen harschen Bedingungen sie nicht in die Knie gezwungen haben. Heute ist es mehr ein Fest um den Übergang in den Herbst zu feiern und um sich zu

besinnen. Man entzündet mit den Laternen Feuer, um ein letztes Mal an die Wärme und das Licht des Sommers zu erinnern, bevor die kalten Jahreszeiten über uns kommen. Außerdem erinnert es an die Gründung der Kolonie und wir danken den damaligen Kolonisten, dass sie diesen wunderbaren

Ort erbaut haben.« »Es ist immer gut den Vorfahren zu danken, für ihre Opfer und für das was sie für uns erreicht

haben. Ja, es klingt nach einem guten Fest. In der Vergangenheit verwurzelt, aber auch hoffnungsvoll für die Zukunft, so wie es sein sollte. Es ist wahrlich faszinierend, wie sich die Kulturen gerade auf all den Kolonien neu formen.«

»Ich habe einmal bei einem Dichter gelesen, dass die Menschheit ein sich ständig neu malendes Gemälde ist voller schöner Farben, Mister. Jeder Flecken und jede Schttierung steht für eine eine

Kultur, die auf ihre eigene Weise wunderbar ist und so das Bild weiter vervollständigt.« »Ein schöner Vergleich. Es ist gut, dass sich die Menschheit wieder auf so etwas besinnt hat. Deswegen war der gewaltige, ja fast gezwungene Multikulturalismus im 21. Jahrhundert so ein

Versagen, da er drohte das Gemälde der Menschheit in farblose Pampe zu verwandeln, weil sich alles drohte ineinander zu vermischte und so sein Besonderes verlor. Die schrecklichen

Kulturkämpfe waren die Folge.« Der Hochadmiral schüttelte in Enttäuschung den Kopf. »Verzeih den kleinen Ausbruch, Nadia. Es ist ein Thema mit dem ich mich sehr beschäftigt habe und es ist ein Fehler von dem ich hoffe, dass wir ihn nicht so schnell wieder wiederholen.«

Nadia war überrascht, dass sie das Gespräch so sehr genoss. Es erinnerte sie daran, wie sie mit dem Hochadmiral die Moskauer Nase bestiegen hatte. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Mister.

Ich höre mir gerne an, was sie über die alte Zeit zu sagen haben. Es erweitert ja meinen Horizont. Wollen Sie eigentlich auch am Fest der Tausend Laternen teilnehmen, Mister?«, fragte sie mit einem Anflug von Optimismus.

»Das geht leider nicht, Nadia. Die Schlacht tobt noch und ich kann es mir nicht leisten zu lange meinen Pflichten fort zu bleiben.«

»Ah, ich verstehe.« »Aber ich bin froh.« »Weswegen Mister?«

»Du klangst eben wirklich enttäuscht, dass ich nicht teilnehmen kann.« Er lächelte und stand auf. »Komm, gehen wir wieder rein. Der Krieg wartet auf mich.«

Am nächsten Abend, wo des Festes stattfand, glühte der gesamte Himmel im Licht der näher kommenden Explosionen. Dennoch traten die meisten Bewohner von Neu Moskau nach draußen;

für diese Nacht den Groll, die Furcht und den Hass vergessend. Alle Straßenlampen waren ausgeschaltet und in den Häusern brannte kein Licht.

Nadia, Sonja, Kevin mit seiner Verlobten und Frau Zwetkow traten gemeinsam zu einer Kante am Rande des Baches, bevor es in den Wasserfall überging, jeder eine Fluglaterne aus leichtem Holz

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und Papier in der Hand. Sie hatten Dankessprüche für die Gründer von Neu Moskau und Wünsche für die Zukunft daraufgeschrieben, zusammen mit Gedichten die den Herbst priesen. Bald würden sie sie in den Himmel entlassen.

Es war die Tradition, dass man dies schweigsam tat und so zündeten sie wortlos die Kerzen an. Nadia bemerkte dabei einige Mäuse, die vom Waldrand aus zu ihnen hinüber sahen und lächelte

schwach in ihre Richtung. Die Tierchen rannten fort. Danke dafür, dass ihr der Menschheit diesen wunderbaren Ort geschenkt habt, ihr Erbauer der Vergangenheit.

Die Wärme der Flammen stricht über die Finger. Einige Sekunden betrachtete sie das friedliche Flackern, bevor sie den anderen zunickte und zusammen entließen sie Laternen in den Himmel. Die

Augen von Eulen in den Bäumen reflektierten das nun aufsteigende Licht. Und bitte wachet über uns. Lasset die Zukunft wieder hell und friedlich werden. Hinter ihr im Bach begannen andere Laternen vorbei zu schwimmen, von den Menschen die tiefer

im Wald wohnten. Sie fielen über den Fall und manche überlebten und führten ihre Reise den Hügel hinab fort.

Unten in der schwarzen Ebene begannen überall Lichter aufzuflammen. Es war als würde sich ein zweiter Sternenhimmel entfachen und hinaufströmen zu ihren Brüdern und Schwestern jenseits des Jupiters. Millionen und Abermillionen von Menschen ließen ihre Dankbarkeit und ihre Hoffnungen

los und füllten so die gesamte Kuppel. Es waren Flüsse aus Licht, die Erde und Himmel miteinander verbanden.

Es war ein Anblick wie es ihn so nicht ein zweites Mal im Sonnensystem gab. Nadia faltete die Hände zusammen und sah zu wie ihre Laternen mit den anderen aufstiegen. Ihr Herz erbebte. Früher hatte das Fest dem Leuchten der Milchstraße selbst Konkurrenz gemacht.

Doch nun... nun überstrahlte das Toben der fernen Schlacht alles. All die Millionen Lichter, die voll waren mit den Träumen aus den Herzen der Menschen, verblassten im Angesicht der Explosionen

der Void-Torpedos. »Es ist so weit«, erklärte Eknidu Ki vom Terminal aus.

Namtar An, der bis jetzt das Aufsteigen der Laternen draußen betrachtet hatte, zog die Vorhänge wieder vors Fenster und trat zurück in die Mitte des Raums. »Wir können also mit der zweiten

Phase beginnen?« »Ja, Hochadmiral. Der Feind ist weit genug von der Erde fortgelockt. Dies ist der beste Augenblick.«

»Es gibt kein Zurück mehr, wenn wir diesen Befehl erteilen.« »So ist es, Hochadmiral.«

»Man wird mich hiernach wahrlich für immer als Monster ansehen.« »Höchstwahrscheinlich, Hochadmiral.« »Aber so ist manchmal der Preis für das was nötig ist. Manchmal braucht die Freiheit ihre Monster.

Es tut mir Leid Nadia. Ich werde meine eigenen Lichter diese Nacht entfachen und sie werden dir das Herz aus der Brust reißen. Verzeih mir. Gehen wir nun Kamerad. Gehen wir hinab den Pfad in

die Dunkelheit. Werden wir zum düstersten Schatten im Gemälde der Menschheit. Leite den Befehl weiter. Die zweite Phase von Lucifers Fall soll beginnen.« »Jawohl Hochadmiral.«

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Kapitel 31:

Für Eris...

Während auf Ganymed die Lichter hoffnungsvoll zum Himmel stiegen, in den Kanälen von Neo

Venezia auf Mars die Undinen ihre Gondeln singend durchs Wasser gleiten ließen, in den Kellern von Little Afrika auf Merkur der Widerstand geplant wurde und das Leben im Sonnensystem trotz aller Schlachten weiterging, so regte sich etwas im dunklen Gürtel und kam zurück ans Licht der

Sonne. Die großen Flotten der beiden Mächte hatten sich von Ceres entfernt und waren nun auf dem Weg

zum Jupiter. Man konnte die Detonationen sehen. Die Erde ließ fast nichts zurück zur Verteidigung. Und so stiegen neue Schiffe ungestört von mehreren kalten, unbewohnten Asteroiden auf. Es waren Allianzschiffe, Teile der Charon Flotte, die sich seit der ersten Schlacht um Ceres mehrere Monate

zuvor hier versteckt hatten. Im Lichte der damaligen Tartaros-Explosionen, die alle Instrumente betäubten, hatten sie sich ungesehen niedergelassen, fast alle Maschinen abgeschaltet und die Crew

sich in eine Art Wachkoma begeben. Nun war das Signal der Aktivierung gekommen und die kleine Flottille begann umgehend die Reaktivierung, während bei den fernen Hauptkämpfen gerade die Ishkur-Kreuzer mit ihren

gewaltigen Elektromagnetischen Katapulten begannen die Titanen unter Beschuss zu nehmen. Kapitän Nippur vom Gilgamesch Schiff Akschak spürte wie die Wärme in seinen Körper

zurückkehrte und die Monitore der Brücke vor ihm aufleuchteten. Die Daten der Sensoren füllten sein Hirn und er bekam einen ungefähren Überblick über die momentane Situation von Lucifers Fall. Anschließend gab er den Befehl die Plasmaantriebe anzuwerfen.

Träge begann die kleine Flottille sich zu bewegen, während die Gilgamesch Brocken von den Asteroiden hinter sich herzogen. Doch schnell beschleunigten sie und als die Erde sie bemerkte war

es längst zu spät. Mit Entsetzen sahen die Mannschaften der Sensorstationen dann, dass diese Gruppe aus Allianzschiffe nicht auf Ceres zuhielt.

Anna Krylow hatte sich aus dem Haus geschlichen und machte einen morgendlichen Spaziergang

nachdem sie dem Sonnenaufgang zugesehen hatte. Ihr Com-Gerät hatte sie dabei zuhause gelassen, da sie nicht gestört werden wollte. Leichter Schnee fiel und ihre Schritte knirschten angenehm unter ihr als sie den Hügel bestieg. Es gab einen direkten Weg der in einer geraden Linie hoch zur

Aussichtsplattform führte, doch sie präferierte den längeren Pfad durch das einzig verbliebene Wäldchen dieser Region. So hätte es ihre große Schwester Nadia auch gemacht.

Munter wanderte sie den kleinen, vereisten Bach entlang und blieb bei einem Baum mit tiefhängenden, zugeschneiten Ästen stehen, der fast so etwas wie ein Iglu über ihr bildete. Hier begann sie eine kleine Schneefamilie zu bauen, die hier wohnen konnte. Als sie fertig war, klopfte

sie ihre pinken Handschuhe ab und seufzte. Sie sah in den leeren Wald hinein, in dem sich nichts regte. Alle Tiere schliefen oder waren fort.

Es müsste Herbst auf dem fernen Ganymed sein. Sie hoffte es ging Nadia dort gut, da den Gerüchten zufolge der schreckliche Natmar An dort gerade war. Jeden Abend betete sie, dass dieser dumme Krieg bald zu Ende sein würde.

Sie setzte sich auf einen Stein, aß einen Keks und dachte nach. Vielleicht hatte ihre große Schwester den bösen Mann von Eris schon getroffen? Vielleicht hatte sie es geschafft ihn lieb zu machen, so

rein wie ihr Herz war? Anna lächelte bei diesem dummen Gedanken und und lehnte sich etwas zurück, sodass sie nach oben sehen konnte.

Sie stutzte. Selbst tagsüber waren Lichter neben der Sonne am Himmel. Es gab viele Raumstationen im Orbit

der Erde und allein die Städte Heaven One und Two glitzerten ständig. Doch jetzt stimmte irgendwas nicht. Dort waren mehr Lichter als sonst und einige von ihnen wirkten merkwürdig... Von der Stadt erklang plötzlich das Jammern der Alarmsirenen, die endlos weit durch den stillen

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Wald echoten. Die Allianz besaß Tarnschiffe.

Diese Erkenntnis war die letzte, die viele der Verteidigungsposten im äußersten Orbit der Erde hatten, gerade als sie zerstört wurden. Wie aus dem Nichts donnerten aus nächster Nähe

Ionenstrahlen, Geschosse und Raketen auf sie ein, ohne dass man ihren Ursprung feststellen konnte. Die Gilgamesch entließen ihre mitgebrachten Asteroiden, die auseinanderbrachen und gegen die verbliebene 2. Flotte und weitere Schutzstationen krachten. Überall funkelten kleine Detonationen

auf. Man hatte den nahenden Angriff bis jetzt der Zivilbevölkerung verschwiegen, da man zuversichtlich

gewesen war die wenigen Allianz Schiffe abzuwehren und man wollte eine Massenpanik vermeiden. Als nun der Verteidigungsring durchbrochen war, schlug man viel zu spät Alarm. Kapitän Nippur jagte mit seiner Flottille so tief in das Netzwerk aus Stationen, Habitaten und

Satelliten hinein wie er nur konnte. Seine Frontgeschütze zerstörten einige versprengte Kreuzer und Fregatten der Erde, die ihm im Weg waren. Einige seiner Schiffe lösten sich vom Verband und

griffen die Orbitalstädte Heaven One und Two an. Mit drei Gilgaemsch und den kleineren Damu und Enki bezog er in einem hohen Orbit über die Erde Stellung. Eine Karte der unteren Sensoren öffnete sich vor seinem inneren Auge. Dort waren Asien, Europa, Teile Afrikas und Indonesien.

Die 2. Flotte des Feindes rückte heran, darunter auch einige der zurückgelassenen Titanen die nicht an der gewaltigen Gegenoffensive teilnahmen. Es musste nun schnell geschehen.

»Mögen alle Götter, die dieses Unglück betrachten, uns verzeihen«, sprach Kapitän Nippur. »Der Hochadmiral hat uns eine der schwersten Aufgaben dieses Krieges gegeben. Eine Aufgabe die schwer auf uns lastet. Doch wir dürfen ihn nicht enttäuschen! Wir dürfen keine Schwäche zeigen!

Baden wir in den Unehren dieser Tat! Für die Allianz! Für Eris!« »Für Eris!«, wiederholten alle auf der Brücke mit lauter Stimme.

Die Schiffe entließen simultan ihre Orbitalbomben. Während Anna schnell zurück nach Hause lief wurde eines der Lichter über ihr heller und heller.

Sie blieb stehen und sah angstvoll wieder hoch zum Himmel, der zu brennen schien. Etwas kam mit hoher Geschwindigkeit nach unten und schien alles in seinem feurigen Glühen

verschlingen zu wollen. Nadia... Sie bewegte sich nicht mehr. Etwas in ihr sagte ihr, dass es sie keinen Schritt mehr zu tun brauchte.

Um sie herum flogen Raben von den Bäumen auf. Sie hatte die Vögel bisher nicht bemerkt. Du hast den bösen Mann von Eris wohl nicht lieb gemacht, Nadia.

Das Licht jagte in die Stadt nicht weit von ihr. Helligkeit brandete über sie hinweg. Ich hätte dich gerne auf Ganymed besucht. Ich hätte gerne mit dir Neu Moskau besichtigt. Ich hätte gerne in den Sieben Kastanien gearbeitet. Ich kann mich kaum noch an deine warme Stimme

erinnern... Die Schockwelle erfasste sie und sie wurde fortgetragen.

Man fand ihre zerfetzten und verbrannten Überreste später viele dutzend Meilen entfernt in den Ästen eines halb aus den Boden gerissenen Baumes. Ein Rabe nutzte sie als Mahlzeit. Man erkannte sie nur anhand der pinken Handschuhe, die sie nach wie vor trug.

»Die Flotten der Erde befindest sich in Aufruhr«, berichtete Enkidu Ki am nächsten Tag. »Wir

konnten zwei Titanen zerstören und mindestens drei beschädigen. Auch scheinen sie Nachricht von den Ereignissen auf der Erde bekommen zu haben. Weder Chiang noch ihre Admiräle schienen auf so was vorbereitet gewesen zu sein. Ashnan Nusku nutzte diese Verwirrung für einen gezielten

Gegenangriff, bei dem sie fast ein dutzend feindlicher Schiffe zerstören. Sie beginnen nun ihren Rückzug nach Ceres um sich wieder zu sammeln.«

»Was ist mit Nippurs Flottille?«, fragte Namtar An. »Wir haben nur zwei Asag-Kreuzer verloren, doch dafür hat der Rest der Flottille 50% Verluste

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erlitten. Kapitän Nippur blieb mit seinem Flaggschiff Akschak persönlich zurück um den Rückzug des Rests zu sichern. Er ließ dabei sein Leben.« »Er wird posthum das schwarze Kreuz von Eris bekommen. Wie groß ist der Schaden den er

angerichtet hat?« »Der Angriff auf Heaven One konnte abgewehrt werden, doch dafür es gelang es Kapitän Nippur

die Docks bei Heaven Two zu beschädigen. Das Bombardement der Erde wiederum hat große Teile des Stadtgeflechts Chinas getroffen und reichte von Vietnam bis hoch nach Sibirien. Weitere Bomben trafen Teile Europas und Afrikas. Auch wenn wir es noch nicht verlässlich einschätzen

können, so sind mindestens mit zweihundert Millionen Toten zu rechnen.« Die Zahl hing für einige Zeit stumm in dem Raum.

»Ich weiß nicht ob es angebracht wäre, ein „Ausgezeichnet“ dazu zu sagen«, murmelte Natmar An. Orbitalbomben waren am Ende nichts weiter als massive Stahlkugeln, die mit hoher Wucht nach unten geschleudert wurden. Solange die Geschwindigkeit hoch genug war so konnte alles mit der

Kraft einer Wasserstoffbombe irgendwo aufschlagen. Und die Megastädte auf der Erde waren Ziele die man nicht wirklich verfehlen konnte.

Der in Gedanken versunkene Hochadmiral bemerkte, dass sein Administrator anscheinend noch etwas sagen wollte, was ungewöhnlich war. Normalerweise war Enkidu Ki immer sehr direkt. »Gibt es noch etwas?«

»Nun, Hochadmiral. Es scheint, dass mindestens eine der Bomben das Gebiet traf in dem Frau Krylows kleine Schwester lebt. Zwar besteht eine Chance, dass sie den Aufschlag überlebt hat, aber

dennoch wäre es eventuell unklug optimistisch zu sein und...« »Was hat diese Information mit dem Ablauf von Operation Lucifers Fall zu tun?«, unterbrach Namtar An ihn kalt.

Enkidu Ki drehte sich bei diesem Worten um und sah seinen Hochadmiral einige Sekunden starr an. Die Luft wurde dabei schwerer. Dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder seinen

Daten zu. »Nichts, Hochadmiral. Verzeihen Sie.« Namtar An betrachtete den Rücken des Administrators eine Weile bevor er seufzte und nach seinem Kaffee greifen wollte. Doch da war keiner.

Nadia und der Rest bereiteten wohl gerade erst das Frühstück vor. Bald würde er ihr wieder gegenüberstehen. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft sah er ohne Vorfreude auf das nächste Treffen

mit dem Dienstmädchen. Es wird wohl eines meiner schwierigsten Gespräche werden, die ich jemals geführt habe.

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Kapitel 32:

Klinge

Eine Welle des Entsetzens und des Aufruhrs durchfuhr das Sonnensystem im Angesicht der

unermesslichen Zerstörung auf der Erde. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass jemand tatsächlich ein orbitales Bombardement durchgeführt hatte und die ständig ansteigenden Todeszahlen bewirkten bei vielen Unglauben.

160 Millionen. 200 Millionen.

230 Millionen. 290 Millionen. Man konnte auf den Bildschirmen überall sehen, wie die Nummer immer größer wurde, bis sie sich

schließlich bei 315 Millionen einpendelte und somit die erste grobe Schätzung von Enkidu Ki weit überholte. Selbst in den schrecklichen Kulturkämpfen in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts

waren nicht so viele Menschen gestorben. Die Megastadt-Sturktur um das ehemalige Peking war nun nichts weiter als eine Wüste aus Kratern, Staub, zerborstenem Beton, zersplittertem Glas und verbogenem Stahl, aus der man zerfetzte Körper herauskratzte.

In vielen Kuppeln, die von er Allianz besetzt waren, kam es zu heftigen Aufständen, die von Kampfdrohnen und Nimrod-Gewehren in Stücke gerissen wurden. In der Uranus Union und

anderen Anti-Erd-Welten bejubelte man dagegen die erfolgreiche Bombardierung. Viele angstvolle Augen im Sonnensystem wandten nun den Blick aufwärts zu den Flotten aus Schlachtschiffen. Die Furcht breitete sich aus, dass auch sie bald vom Angesicht ihrer Heimat gewischt werden könnten,

von einer Waffe gegen die sie sich nicht verteidigen konnten.

Von all dem bekam Nadia allerdings kaum etwas mit. Stattdessen saß sie Tag und Nacht vor ihrem Laptop im Bett und besah die sich ständig aktualisierten Todeslisten. Die Erde strahlte über alle Kanäle und Com-Stationen ständig Updates aus und die Allianz ließ

diese durch, damit auch Angehörige in den besetzten Gebieten Möglichkeit bekamen sich Gewissheit zu verschaffen.

Für Nadia war dies eine Periode des schrecklichen Wartens, wo Tag und Nacht an Bedeutung verloren. Sie arbeitete nicht. Sie besuchte nicht den Wald. Sie ging nicht nach Arbali. Sie betrachtete nicht

den mächtigen Jupiter. Sie sah nicht nach Neu Moskau, das erneut von Straßenkämpfen erschüttert wurde.

Stattdessen wartete sie und hoffte. Hoffte, dass der eine Name nicht in den Listen erschien. Hoffte, dass sie verschont wurde. Die Möglichkeit, dass eines Tages die verhängnisvollen Buchstaben dort vor ihr stehen könnten, schloss sie komplett aus. Es war zu fürchterlich darüber nachzudenken.

Sonja kam immer wieder hoch und brachte ihr schweigend Essen oder etwas zu Trinken. Ab und zu wurde sie von Kevin oder Frau Zwetkow begleitet. Sie sagten Worte, doch diese Worte erreichten

Nadia nicht. Ihr Herz war so verschlossen wie der Garten Eden, ließ nichts hinein und nichts hinaus, rottete langsam dahin. Die Admiräle kamen nie.

Die Kastanien draußen waren kahl und schwarz, als sie eines Nachtmittags schließlich aus dem Bett kroch. Mit dumpfer Miene stand sie da und starrte auf den erbarmungslosen Bildschirm, der die

schreckliche Wirklichkeit verkündete. Ihr Geist war nicht bereit und konnte zuerst nicht die Information verarbeiten. Ganz langsam tropfte die Erkenntnis in sie hinein, wie Gift in eine blutige Wunde.

Anna Krylow. Dort stand es. Unverrückbar. Unauslöschlich. Kalt. Mitleidslos.

Nadia blinzelte mehrere Male, doch der Name blieb. Er blieb und bohrte sich in sie hinein, sodass sie sogar mit geschlossenen Augen noch die Buchstaben vor sich sehen konnte. Ihre kleine Schwester war tot. Geschlachtet von den orbitalen Bomben.

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Sie drehte sich um und verließ das Zimmer. Der kleine Gang draußen war leer und die Dielen quietschten unter ihren blanken Füßen. Ihre Schritte waren beinahe mechanisch und sie wusste nicht, wohin ihre Beine sie trugen.

Die schmale Treppe hinunter, dann die Galerie entlang. Vom Dach über ihr konnte man das Blasen eines heftigen Windes hören. Auf der Haupttreppe die runter in die Eingangshalle führte stand

Ashnan Nusku wie so häufig bewegungslos auf den Stufen. Naida umrundete die Admirälin ohne ein Wort. In der Eingangshalle passierte sie dann Sonja, die vor Überraschung ihren Korb mit Wäsche fallenließ. Nadia ging aber einfach weiter, direkt in die Küche hinein.

Was tue ich hier? Etwas kochte im Topf auf dem Herd, doch Kevin war gerade nicht hier.

Als Nadia erneut blinzelte fand sie sich vor dem Messerständer sehen. Ah, deswegen. Langsam zog sie eine der Klingen hinaus und betrachtete sich in der Reflexion des kalten Metalls.

Hatte ich immer solche Augenringe? Mein Haar ist ja ganz durcheinander. Sie macht sich daran die Küche zu verlassen.

»Mein Gott, sie hat ein Messer!« Jemand packte sie am Arm und als sie den Kopf drehte, war dort Sonja mit einem wahrhaftig erschütterndem Blick in ihren Augen.

»Anna ist tot«, sagte Nadia nur. »Lass mich los. Ich muss zu ihm.« Ihre Freundin schien zuerst zurückgestoßen von dieser Eröffnung, doch dann festigte sich ihr Griff

nur weiter. »Willst du damit etwa zu Namtar An? Willst du versuchen ihn umzubringen? Du wirst tot sein, bevor du auch nur in seine Nähe kommst!« »Lass mich los, Sonja!«

Es war nicht ihre Stimme. Sie klang zu wütend, zu hasserfüllt. Aber dennoch kamen diese Worte unzweifelhaft von ihren Lippen. Der Tonfall war fürchterlich. Kurz hatte sie Angst vor sich selbst.

Sonja allerdings ließ sich davon nicht beunruhigen. »Werde ich nicht! Verdammt, beruhige dich, Nadia. Tue dies nicht. Bitte! Kevin! Kevin, du Bastard wo bist du? Komm her, ich brauche dich!« Die beiden Mädchen begannen miteinander zu ringen. Nadia versuchte verzweifelt zur Tür zu

kommen, damit sie hoch in Namtar An's Zimmer stürmen konnte, während Sonja sie mit aller Kraft zurückhielt und ihr das Messer aus der Hand nehmen wollte.

»Lass mich! Er hat meine kleine Schwester getötet! Er hat sie getötet! Ich will ihn nun töten!« »Das bist nicht du, Nadia!« »Fick dich, Sonja!«

»Was höre ich da? Die liebreizende Nadia kann so obszön fluchen?« Sie beide hielten inne, als eine Stimme von der Tür kam.

Namtar An selbst stand dort, von dem Lärm nach unten gelockt, den schwarzen Mantel wie sonst tragend und mit einem Blick in dem weder Unruhe noch Schuld zu erkennen waren. Hinter ihm standen Martu Me und einer der gepanzerten Soldaten.

»Du«, grollte Nadia. Sie mochte es eigentlich Menschen zu sehen. Jedes Treffen bedeute ja nette Gespräche und schöne neue Erinnerungen. Doch diesmal war da nur grenzenloser Abscheu in ihr.

»Lass sie los«, sagte der Hochadmiral an Sonja gewandt. »Was, aber...« »Sie will zu mir. Lass sie los. Sie soll tun, was sie begehrt. Sofort!«

Martu Me zog eine Pistole aus seinem Mantel und deutete sie warnend auf Sonja. Man hörte Kevin im Hintergrund, doch er wurde von dem Soldaten einfach weggestoßen.

»Bitte, lass mich«, flüsterte Nadia zu ihrer Freundin. »Das ist es nicht wert. Ich will nicht, dass du zu Schaden kommst.« »Und ich will nicht, dass du verreckst!«

»Du wirst mich nicht umstimmen!« Nadia konnte nicht sagen was in ihren Augen lag. Doch was immer es war, es reichte aus um Sonja

zum loslassen zu bewegen, als sie sie direkt ansah. »Bitte, tue das nicht«, wimmerte ihre Freundin allerdings noch.

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»Was nun, Nadia?«, wollte Namtar An wissen. »Willst du mich aus Rache für deine kleine Schwester nun niederstechen?« »Mörder!«

»Das war ich schon, als ich auf Ganymed ankam. Doch damals schien es dir egal gewesen zu sein, denn immerhin waren durch meine Hand und meine Befehle damals nur Fremde gestorben, die dir

nichts bedeuteten.« »Ich habe für ihre Seelen gebetet!« »Sehr schön. Aber das ändert nichts daran, dass du für all diese vielen hunderttausend, die vor

deiner kleinen Schwester umkamen, niemals zum Messer gegriffen hast. Lassen wir nun aber die Worte. Ich werde dich nicht umstimmen können und will es auch nicht. Komm nun.« Er breitete die

Arme einladend aus. »Ich werde mich nicht wehren und keiner meiner Soldaten wird dir etwas zu Leide tun. Tue was du tun musst.« Und so stand er dort. Wartend auf sie.

Nadia wollte umgehend nach vorne schnellen und ihm die Klinge so lange in den Körper stechen, bis das Metall abbrach. Er hatte Anna getötet. Er hatte eines der unschuldigsten und süßesten

Lebewesen im Sonnensystem ausgelöscht, zusammen mit Millionen anderen. Der Topf auf dem Herd kochte über, genau wie der Nadias Geist, der sich unaufhörlich drehte in diesem Moment.

Sie hatte sich immer gesträubt, sich eine klare Meinung über ihn zu bilden, Sie hatte versucht den Krieg soweit es ging von sich zu halten.

Sie hatte versucht keine Seite zu wählen. Sie hatte versucht in ihm nichts anderes zu sehen als einen neuen, sympathischen Gast, der die Sieben Kastanien besuchte.

Doch nun ging das nicht mehr. Ihr Kopf war klar und ohne Träume. Sie sah den Mann vor sich und was er war.

»Ich hasse dich«, sagte sie, doch Worte kamen nur wimmernd heraus. Ihre Füße machten keinen Schritt nach vorne. »Ich hasse dich so sehr. Wieso musstest du hierher kommen? Wieso?« Anna war fort.

Anna würde nicht hierher nach Ganymed kommen. Nie mehr. Das Messer klapperte zu Boden und Nadia fiel auf die Knie. Die Tränen kamen nun ungebremst

heraus und sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sonja kam umgehend zu ihr herunter und nahm sie in die Arme. Namter An blieb über sie stehen und betrachtete die Szenerie eine Weile. »Es tut mir leid wegen

deines Verlustes, Nadia«, sprach er dann. »Ist das alles?«, fauchte Sonja ihn an.

»Was gibt es mehr zu sagen?« Damit drehte der Hochadmiral sich um und verließ mit Martu Me und dem Panzersoldaten die Küche. Der graue Flügeladmiral warf zum Abschluss allerdings noch kichernd seine Pistole zu ihren Füßen und es stellte sich heraus, dass sie aus billigem Plastik

bestand. Eine Spielzeugwaffe. »Wieso bin ich so schwach?«, schluchzte Nadia, während sie sich mit aller Kraft an Sonja festhielt.

»Wieso konnte ich ihn nicht töten?« »Weil du Nadia bist«, antwortete Sonja nur. »Und Nadia würde niemals einen Menschen töten. Ich bin so froh darüber. So unendlich froh. Ich hatte solche Angst um dich eben. Bitte, ich flehe dich an.

Tue so etwas nie wieder. Nie.« In diesem Augenblick spürte sie, wie auch Sonjas Tränen auf sie niederfielen.

Kevin trug Nadia zurück in ihr Zimmer. Sonja blieb dabei die ganze Zeit an ihrer Seite und kroch auch mit ihr wieder ins Bett, um ihr Trost zu geben.

Verdient irgendein Mensch eine Freundin wie sie? Irgendwann in der Dunkelheit versiegten die Tränen und Nadia kuschelte sich enger an Sonja,

während sie die streichelnde Hand ihrer Freundin auf ihrem Kopf spürte. Irgendwie schaffte diese einfache, wortlose Geste es Wärme in ihr erkaltetes Herz fließen zu lassen.

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Was soll ich tun? Ich kann ihn nicht töten. Ich kann es nicht. Doch wie soll ich es sonst ertragen? Was kann ich stattdessen für meine kleine Schwester tun? Was? Oh was? Meine kleine Anna...

Und irgendwann kam der Schlaf mit seinen schrecklichen Albträumen.

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Kapitel 33:

Pfeife

Es war Ende November als auf Merkur die Aufstände ausbrachen. Die Basen der Erdmarines

außerhalb der Kuppeln wurden plötzlich von Raketen getroffen und in den eigentlichen Kolonien wurden die Polizeistationen und Rathäuser angegriffen. Die Erdregierung schickte umgehend Truppen, musste aber feststellen dass die Rebellen Waffen

von de Allianz besaßen, die Namtar An Monate vor dem Ausbruch des eigentlichen Krieges hineingeschmuggelt hatte. Mit dieser Unterstützung gelang es den Kolonisten die Erde

zurückzudrängen und 80% des Planeten unter ihre Kontrolle zu bringen. Man eröffnete dem Sonnensystem offiziell, dass man sich der Allianz angeschlossen hatte. Dies nicht tolerierend könnend schickte die Oberadmiralin Chiang die 7. Flotte vom Gürtel zurück

ins innere System um die Situation zu klären.

Weit entfernt von diesen Ereignissen auf Ganymed saß Nadia, eingepackt in einer warmen Jacke, beim Wasserfall auf einer Holzbank in der unzählige Liebespaare ihre Initialen geritzt hatten und ließ die kalten Winde über sich streifen. Die Kiefern knarrten in diesen Böen und manchmal fielen

einige Äste herunter. In den kahlen Laubbäumen wurde sie aufmerksam von den Krähen betrachtet. Ihr teils natürlich blondes und teils rot gefärbtes Haar hing in einer großen Kaskade an ihrem

Rücken herab, da sie sich nicht mehr die Mühe machte die Strähnen zu Zöpfen zu flechten. Sie wusste nicht ob sie diese Einsamkeit gerade mochte oder nicht. Es war schwierig gerade irgendwas zu empfinden.

»Na, traust du dich wieder hinaus?« Nadia zuckte erschreckt zusammen als Frau Zwetkow plötzlich ihre ganze Fülle neben sie auf die

Bank hievte und ihr einen Tonbecher mit heißer Schokolade in die Hand drückte. »Ich dachte ich bräuchte mal wieder frische Luft«, antwortete sie mit einem schwachen Lächeln, nachdem sie sich etwas erholt hatte.

»Eine gute Idee. Du hast ja dein Zimmer kaum noch verlassen.« Die ältere Dame begann ihre hölzerne Pfeife zu stopfen, die der Bäcker Dennis Schildmann ihr geschnitzt hatte. »Geht es dir

wieder gut?« »Nein«, antwortete Nadia ehrlich. »Aber besser,... glaube ich.« »Du hat deine kleine Schwester wirklich geliebt?«

»Sie war mir das teuerste auf der Welt, Frau Zwetkow.« »Da werde ich neidisch. Ich habe mich mit meinen Geschwistern gestritten und geprügelt wann

immer unsere Eltern gerade nicht aufpassten. Ich habe sie gehasst und einige hasse ich immer noch.« Sie holte ihr großes, massives Feuerzeug heraus, zündete die Pfeife an und begann zu paffen. »Nimm dir ruhig mehr Zeit. Ich, Sonja und Kevin schaffen es auch alleine. Unsere

momentanen Gäste sind ja erstaunlich simpel und haben keine hohen Ansprüche.« »Es tut mir leid, dass ich euch soviel Umstände mache, Frau Zwetkow.«

»Brauchst du nicht.« Und so saßen sie da und sahen zu, wie das Wasser über die Kante floss. Die Wärme der heißen Schokolade durchwanderte angenehm Nadias Körper, während Frau Zwetkow fröhlich neben ihr

rauchte und einmal sogar Brotstücke für die Krähen auswarf. Die Vögel kamen dann auch freudig heran geflogen und begannen zu essen.

»Schöne Tiere«, meinte die Besitzerin der Sieben Kastanien nach einer Weile. »Haben manchmal einen schlechten Ruf, wie viele Lebewesen die Aas essen, aber sie sind sehr intelligent und raffiniert. Egoistisch? Natürlich, aber so sind ja auch die meisten Menschen. Allerdings hat eine

Krähe den Vorteil, dass sie meist eleganter aussieht, wenn sie ein Arschloch ist als die meisten Leute die ich kenne. Sie haben wenigstens Stil in ihrem Federkleid.«

Nadia drehte überrascht den Kopf. Es war selten, dass Frau Zwetkow ein obszönes Wort benutzte. Eine Taube kam heran und wollte anscheinend auch am Mahl teilhaben, wurde dann aber von den Krähen weggejagt.

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Die ältere Frau lachte bei dem Anblick und nahm einen tiefen Zug aus ihrer Pfeife. »Übrigens Nadia. Damit du es weißt. Kevin wird im Frühjahr nicht hier sein. Er will nämlich seine Verlobte im Februar endlich heiraten und dann einige Monate Flitterwochen machen.«

»Schön für ihn«, meinte Nadia und versuchte so viel Freude für ihren Mitarbeiter in sich zusammen zu kratzen wie sie nur konnte.

»Vermutlich hätte er es gerne länger hinausgezögert, aber sie ließ sich wohl nicht mehr hinhalten. Der arme Bastard. Es ist erschreckend was eine Ehe mit einer Person anstellen kann. Deswegen war ich nie verheiratet, wenn man mal von den Sieben Kastanien mal absieht.« Die Brotkrümmel waren

nun alle aufgegessen. Einige Krähen hüpften noch etwas auf und ab, in der Hoffnung dass mehr kommen würde. Als dies nicht der Fall war, so verschwendeten sie keine weitere Zeit mit den

Menschen und flogen hinauf in den Himmel. Frau Zwetkow betrachtete wie die die schwarzen Vögel Richtung Neu Moskau zogen. »Wenn wir beim Thema sind. Du liebst die Sieben Kastanien ja auch, nicht wahr Nadia?«

»Das tue ich, Frau Zwetkow.« »Und du willst auch hierbleiben?«

Hier zögerte Nadia etwas. Sie sah über die Schulter zu dem mächtigen, hölzernem Haus. Sie hatte sich in den letzten Wochen keine Gedanken über die Zukunft gemacht. Nun, wo Anna nicht mehr war, so wirkte die Welt ganz anders und was einst klar erschien, war nun ungewiss. »Ich weiß

nicht.« »Es würde mich freuen, wenn du bleibst. Lass mich mal was erzählen. Wusstest du, dass die erste

Herberge mit Namen Sieben Kastanien schon kurz nach der Gründung der Kolonie gebaut wurde? Damals war es nicht mehr als eine Röhre im Boden, in der die Schürfer schliefen. Aber mit dem Bau der Kuppel begannen die damaligen Besitzer es hierher in die Berge zu verlegen. Einige

Generationen vergingen und mein Onkel kaufte die Sieben Kastanien. Er baute sie dann so um, wie du sie heute siehst. Irgendwann erbte ich sie dann, nachdem ich einige Jahre hier gearbeitet habe.«

Mit einem langen Zug ließ sie den Rauch entweichen und wartete bis dieser sich in der kalten Luft auflöste. »Und nun wo ich älter werde, so überlege ich die Herberge an dich weiterzugeben, wenn ich in den Ruhestand gehe.«

Bei diesen Worten fiel Nadia beinahe von der Bank. »Was?«, entfuhr es ihr, alle Höflichkeit vergessend. »Ich? Wieso? Ich kann doch nicht...«

»Wer denn sonst, Nadia?«, unterbrach Frau Zwetkow sie. »All meine Verwandten reden kaum noch mit mir und sie haben alle keine Ahnung von Gastwirtschaft. Kevin ist ein guter Junge, aber ich fürchte manchmal ist er so unflexibel und verschlossen. Und Sonja... nun, ich glaub wir können uns

alle einig sein, dass sie trotz ihrer durchaus vielen guten Seiten nicht wirklich geeignet ist. Du dagegen bist aufmerksam und eine gute Seele. Du empfängst jeden Gast mit einem Lächeln und

freust dich wirklich auf die gemeinsame Zeit mit ihnen. Du kamst von der Erde hierher nach Ganymed, etwas was eher wenige machen würden. Und die liebst diesen Ort mehr als ich. Es gibt keinen, dem ich lieber die Schlüssel dieser Herberge in die Hand drücken würde, Liebes. Keine

Sorge wegen der Bürokratie. Der gute Bürgermeister schuldet mir noch ein paar Gefallen und er wird dir sehr entgegenkommen. Außerdem ist die Buchführung nicht so schwer und Kevin und

Sonja bleiben ja auch hier und werden dir helfen.« »Aber ich dachte Sonja wollte zur Erde?«, wunderte sich Nadia. »Pah, sie wird hier bleiben und sie wird hier glücklich werden, dass garantiere ich dir! Und wenn

sie trotzdem zur Erde geht, so wird sie sehr schnell zurück gekrochen kommen. Ich kenne Menschen, die in der Lage waren ihre Heimat hinter sich zu lassen und irgendwo neu zu starten –

du gehörst dazu. Aber Sonja nicht. Sie ist nicht für so etwas geschaffen. Außerdem bist du hier. Du bist für sie die wichtigste Person in ihrem Leben. Sie wird dich niemals alleine lassen, egal wie oft sie über dich meckert.« Der Blick von Frau Zwetkow verdunkelte sich und sie kaute etwas an ihrer

Pfeife herum. »Auch fürchte ich, dass nach diesem Krieg nicht viel auf der Erde übrig bleiben wird was es wert ist besucht zu werden.«

Nadia wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Die Offenbarung von eben hatte ihr ohnehin wackliges mentales Gleichgewicht zu stark ins Wanken gebracht.

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Frau Zwetkow klopfte ihre Pfeife aus und begann umgehend neuen Tabak hineinzustopfen. »Nun, Nadia, lass es dir durch den Kopf gehen. Das Angebot steht fürs erste. So schnell werde ich ja nicht von hier weg seien. Du hast also noch Zeit darüber nachzudenken. Aber erlaube mir, dir heute mal

eine kleine Lektion zu predigen. Ich mag unsere momentanen Gäste nicht. Absolut nicht. Ehrlich gesagt, mochte ich viele Gäste in der Vergangenheit nicht. Ich konnte oft nicht verstehen, wie du so

offen auf manche dieser Leute zugehen konntest.« »Das habe ich nie bemerkt, Frau Zwetkow.« »Weil es Gäste waren, Nadia. Natürlich ließ ich mir nichts anmerken! Viele Menschen machen sich

die Welt unnötig kompliziert. Ein Fehler, wie ich denke. Man sollte alles simpler sehen und so besser leben. Wenn jemand über die Schwelle der Sieben Kastanien tritt, so ist er ein Gast und ich

habe mir Regeln gesetzt, wie man Gäste behandelt. Diese Regeln sind Teil meines Lebens. Sie sind Teil von mir selbst. Ich könnte sie niemals verraten. Und egal wie widerlich ein Gast ist. Wie schrecklich. Wie bösartig. Was immer seine politischen Ansichten auch sind. Sie sind bei mir

willkommen und ich werde mein Möglichstes tun um ihnen ein angenehmen Aufenthalt zu bieten. Manche mögen mich deswegen hassen und meinen diese Leute verdienen es nicht. Mir ist es aber

egal, was man über mich denkt und wer was verdient. Wer in den Sieben Kastanien ist, ist ein Gast. Mehr gibt es für mich nicht zu wissen. Alles andere ist unwichtig in meinen Augen. Weißt du, Nadia? Ich verlange nicht, dass du dem Hochadmiral verzeihst oder ihn weiter bedienst. Doch

dieser Krieg wird irgendwann enden und die Sieben Kastanien werden weiter existieren. Neue Gäste werden kommen und ich habe Angst, dass du sie von nun an anders betrachten wirst... dass

du einen deiner schönsten Funken im Herzen verloren hast. Man muss manchmal Dinge im Leben tun, die einem nicht gefallen um sich selbst nicht zu verraten. Also Nadia, bitte tue mir den Gefallen und versuche darüber nachzudenken wer du sein willst, was du bereit bist aufzugeben und was

nicht. Was für Regeln und Prinzipien willst du folgen? Manche der alten Denker sagten Menschen seien wie Wasser, doch ich meine, dass jeder Fluss auch ein paar feste Steine braucht um die der

Strom sich teilen muss.« Mit diesen Worten stand Frau Zwetkow auf und ging zurück zur Herberge. Nadia blieb eine weitere Stunde draußen. Einmal kurz weinte sie, doch die restliche Zeit waren ihre

Augen auf die Leere zwischen den Bäumen gerichtet. Kevin kam vorbei und brachte ihr wortlos eine weitere Tasse Schokolade. Sonja kam ebenfalls in ihrer Pause, setzte sich für zehn Minuten

schweigend neben sie und lächelte sie warm an als Nadia den Kopf drehte. Als der Abend kam und die Krähen zurückkehrten stand sie dann auf und ging hoch in ihr Zimmer. Dort wusch sie sich das Gesicht, flocht sich wieder Zöpfe und legte ihr grünes Arbeitskleid an.

Nach einer kurzen Betrachtung im Spiegel ging sie dann hinunter zum Mond-Zimmer in das Sonja gerade gehen wollte.

»Ich übernehme«, sagte Nadia und nahm ihrer verblüfften Freundin das Tablett ab. Ohne auf eine Erwiderung zu warten trat sie ein in den dunklen Raum. Dort waren sie. Wie immer in den selben Postionen. Enkidu Ki hinten bei den Monitoren. Marte Me

in einem Sessel mit seinem Tablet. Aschnan Nusku in einer dunklen Ecke. Und Namtar An in der Mitte des Raums auf einem Podest, zu dem zahllose Kabel führten.

»Ah, Nadia«, meinte der Hochadmiral und drehte sich zu ihr um. »Schön dich wiederzusehen. Geht es dir besser?« »Ein wenig«, antwortete sie und reichte ihm eine Tasse Kaffee ohne ihn anzusehen. »Wie ist

momentan die Lage, Mister? Läuft der Krieg weiterhin zu eurem Vorteil?« »Nett, dass du fragst Nadia. Ja, es gab eben eine wunderbare Entwicklung. Die Erde hat wie geplant

die Kolonien Little Africa, Izanagi und San Albino auf Merkur orbital bombardiert um ein Exempel zu setzen. Die Kuppeln wurden geknackt und einige Zehnmillionen sind gestorben. Der restliche Widerstand in den anderen Kolonien ist zusammengebrochen. Damit hat Chiang ein ähnliches

Verbrechen verübt wie ich und und es herrscht wieder einigermaßen moralisches Gleichgewicht zwischen unseren beiden Seiten. Die Menschen im Sonnensystem werden es wieder schwerer haben

sich für eine Seite zu entscheiden.« Nadias Hände hielten kurz inne als sie dies hörte, doch mit einem energischem Willensakt machte

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sie sich umgehend weiter daren den Tee für Martu Me vorzubereiten. »Ihr hättet den Rebellen auf Merkur helfen können, oder Mister?« »Das hätte ich tun können, ja. Doch so tief im inneren System war es keine Garantie, dass eine

Flotte von mir Erfolg hätte und ich kann es mir nicht leisten gerade viele Schiffe aufs Spiel zu setzten. Es war nicht das Risiko wert. Auch haben die Widerstandskämpfer auf Merkur so schon

ihren Zweck erfüllt.« Nadia beließ es dabei. In ihrem Herzen waren Dinge, die sie ihm sagen wollte. Ungemütliche Dinge. Doch er war der Gast. Also hielt sie sich zurück und machte weiter ihre Arbeit mit größter

Sorgfalt. Keiner sollte jemals sagen, dass sie eine schlechte Gastgeberin war. Drüben bei der Tür spähten Sonja und Kevin ungläubig hinein.

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Kapitel 34:

Weihnachtsmarkt

Die gesamte Kuppel Neu Moskau war eingepackt in einer dicken Decke aus Schnee, als man den

traditionellen Weihnachtsmarkt beim grünen Platz aufmachte. Es gab vorher Bedenken ob die Besatzer von Eris dies erlauben würden nach den letzten Ausschreitungen, doch Namtar An schien der Meinung zu sein, dass der Markt etwas Stress und Anspannung aus der Bevölkerung vertreiben

würde und so gestattete er es. Mit dem Kommen der Festtage sollten nun eigentlich Ski-Fahrer und Winterwanderer in den

Sieben Kastanien sein, doch die Admiräle zeigten wenig Interesse an beidem. Doch da sie weiterhin die einzigen momentanen Gäste waren, so sollten sie Geschenke von der Herberge bekommen, wie es jedes Jahr gemacht wurde. Frau Zwetkow warnte dabei, dass bitte ernsthafte Sachen geholt

werden sollten und nichts, was die vier Leute von Eris verspottete. Sonja wurde aufgetragen loszugehen um welche zu kaufen. Als Nadia dies hörte, wollte sie

unbedingt mitkommen. »Du willst Geschenke für die bleichen Bastarde kaufen?«, fragte ihre Freundin leicht verwundert. »Und Glühwein trinken«, fügte Nadia noch an und zog ihre wärmste Jacke an.

Die Landschaft war Zuckerwatte, als sie mit dem Zug zur Stadt fuhren. Es war das erste Mal seit Operation Lucifers Fall, dass Nadia nach Neu Moskau ging. Die ganze Kuppel war stiller. Die

meisten Tiere befanden sich im Winterschlaf, die Zugvögel waren in ihre wärmeren Winterquartiere gereist, die man in kleineren Subkuppeln eingerichtet hatte und die Menschen bevorzugten es zuhause bei ihren Öfen zu sein. Nur ein paar Mal sahen sie Kinder mit Schneebällen werfen als sie

durch Dörfer passierten oder Leute mit ihren Hunden auf den Feldwegen neben den Gleisen Gassi gehen.

In der Stadt verbarg der Schnee die Narben der letzten Ausschreitungen. Nur hier und da konnte man Brandspuren an den weißen Wänden erkennen. Auch hatte man sich große Mühe gegeben die Schäden zu beseitigen. Alles wirkte puffiger und auf jeder etwas größeren freien Fläche hatte man

einen Weihnachtsbaum platziert. »Also, was sollen wir den bleichen Bastarden kaufen?«, fragte Sonja, nachdem sie den fünften

Weihnachtsmann mit Glocke abgewimmelt hatte. »Mmh«, überlegte Nadia und legte nachdenklich die Finger auf die Unterlippe. Zuerst kauften sie für Ashnan Nusku ein unscharfes Katana von Georg dem Schmied. Die

schwarze Flügeladmirälin war eine Frau, die ihre ganze Existenz in diesen Krieg legte und diese Waffe symbolisierte gut ihre innere Stärke.

Für Martu Me holten sie ein seidenes Sitzkissen mit dem ein gestickten Bild einer Tasse, da er seine Sessel sehr zu mögen schien und trotz seines derbes Humors der wohl entspannteste Admiral war. Und vermutlich würde er gerade wegen seines Humors das Geschenk lieben.

Enkidu Ki brauchte nichts mehr als ein Kochbuch voller hausgemachter Rezepte von der guten alten Nanny Grafenzollen deren Künste mit der Kelle sogar die von Frau Zwetkow übertrafen. Dazu

war sie sehr genau in ihren Anweisungen, was dem Administrator sicherlich freuen würde. Und für Namtar An... Hier zögerte Nadia etwas. Sie stellte fest, dass es bisher Spaß gemacht hatte für die Menschen von

Eris Geschenke auszusuchen, die zu ihren Persönlichkeiten passten. Doch nun wo sie bei ihm angekommen waren, wurde ihr wieder klar wer diese Leute waren.

Es sind unsere Gäste, so wie Frau Zwetkow gesagt hatte, doch kann ich wirklich für Namtar An... Unschlüssig ging sie an einem Antiquitätengeschäft vorbei als ihr im Schaufenster ihr etwas ins Auge fiel. Es war eine gebrauchte Taschenuhr, deren Glas einen Riss hatte, doch die Zeiger tickten

unermüdlich weiter. Bevor sie es besser wusste war sie bereits im Inneren und hielt das kleine Artefakt in den Händen. Nun konnte sie auch die Verzierungen der Klappe sehen, die aus einem

dunklen Metall bestand. Mit silbernen Linien zeigte es eine Sanduhr, gehalten von einer knöchernen Hand. Ein Schmetterling saß darauf. Die Ränder der Uhr waren mit kleinen Steinen von der Grenze des Sonnensystems besetzt.

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Es war schön gearbeitet, dennoch wirkte es kalt und uneinalend. Es wirkte, als hätte der Macher in Trauer daran gearbeitet. Selbst der Riss im Glas passte gut zum gesamten Erscheinungsbild. Nadia wollte es von sich stoßen, konnte aber gleichzeitig nicht aufhören auf das unbarmherzige

Voranschreiten der Zeiger zu starren. Es ist perfekt für ihn.

Nachdem die Geschenke erledigt waren gingen sie zur einer der kleineren Kirchen wo sie Teelichter für die Opfer des Krieges entzündeten. Nadia betete dabei länger für die Seele von Anna. Anschließend gingen sie zum Weinachtmarkt, wo dichtes Gedränge zwischen den hölzernen

Ständen herrschte,von denen Wärme und Gelächter drang. Ein riesiger, geschmückter Baum erhob sich im Zentrum, um den eine kleine Lokomotive voller Kinder fuhr. Irgendwo sang ein Chor und

mehrere Mädchen des Josefine-Gynasiums gingen als Engel verkleidet umher und verteilten Süßigkeiten. Rotwangige Männer mit Schnauzern tranken Biere in einem großen Zelt und in dem Riesenrad hielten sich Paare an den Händen. An den Häuserwänden entlang des grünen Platzes

waren Drohnen der Allianz gekrallt, die mit ihren Geschützen alles überwachten, doch man beachtete diese kaum.

Dies war ein Ort der Freunde, den man errichtet hatte um den Sorgen der Welt zu entkommen. Man wollte ihr Zauber entfachen und man würde sich nicht dabei stören lassen. Auch Kevin war hier, der mit seiner Verlobten von einem Crêpe-Stand zum nächsten gezerrt wurde

und am Ende fast eine halbe Stunde in der Kälte stehen musste, während ein Straßenkünster ein Portrait von ihnen anfertigte. Sie hielt ihn dabei die ganze Zeit unbarmherzig am Arm fest, damit er

nicht entkommen konnte. Nachdem Nadia und Sonja einige belgische Waffeln mit Puderzucker gegessen hatten, gingen sie von einer Hütte zur anderen, um die Getränke zu probieren. Glühwein, Feuerzangenbowle und

heiße Schokolade mit Rum. Es fehlte nicht an Auswahl. Irgendwann wurde es dunkler und die Lichterketten wurden über ihren Köpfe entzündet. Es gab

auch ein großes Feuer, um das einige tanzten wie damals beim Erntefest. Nadia, als ehemalige Bewohnerin von Sibirien, war relativ trinkfest und konnte so mehrere Buden ohne Probleme abarbeiten. Sonja dagegen nicht.

»Ich mag deinen Hut nic... nic.... nich!«, lallte sie nach einer Weile eine Statue von Katharina der Großen an, die ihre Krone trug. »Ist total altmodisch! Hol dir mal wat moderneres!«

Schweigen war die Antwort. »Du willst wohl Ärger oder wat? Ich ver... ver... versuch doch dir zu helfen! Kein Manne will dich doch... so... so wie du ausschaust!«

»Ich glaube es ist am besten wir gehen jetzt«, meinte Nadia lächelnd und zog ihre Freundin fort. Die Rathausglocken schlugen zehn Uhr. Ein Schlitten behangen mit Glöckchen, gezogen von einem

Rentier, schlitterte die Straße entlang mit einer begeisterten Familie im Rücksitz. »Ich war noch... noch... noch nicht fertig, Nadia!« »Doch, du bist fertig.«

»Denkste?« »Denke ich.«

»Ok... wenn du es sagst.« Als sie mit dem Bus zum Bahnhof fuhren schaffte es Sonja kaum noch aufrecht sitzen zu bleiben. Immer wieder sackte sie nach vorne weg und musste aufgefangen werden. Am Ende gab sie es ganz

auf und lehnte ihren Kopf gegen Nadias Schulter. »Hattest du Spaß diesen Abend?«, fragte sie müde.

»Ja, hatte ich«, meinte Nadia und sie meinte es. Wie unzählige Male zuvor war es ein schöner Aufenthalt in Neu Moskau gewesen. Viele neue angenehme Erinnerungen. Viele nette Leute getroffen. Sie hatte sogar gelacht. Dennoch war es anders gewesen. Es fehlte die strahlende

Helligkeit und sie fühlte sich nicht mehr so nahe an allem dran wie zuvor. Früher, vor dem Krieg und vor Lucifers Fall, war die Glückseligkeit wie ein endloser Strom in sie hineingeflossen, doch

nun war es ein stetiges Tropfen durch eine große Finsternis. Allerdings war es ein Tropfen wie von edlem, schimmerndem Wein und von einzigartiger Kostbarkeit. Der Spaß dieses heutigen Abends

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war irgendwie tiefer gewesen, vermutlich wegen der großen Leere die in ihr aufgeklafft war, und gerade deswegen irgendwie wertvoller für sie. Konnte Glücksseligkeit reifen? Sie hatte das Gefühl diese Nacht wieder gut schlafen zu können.

Ich wünschte ich könnte Anna davon berichten. »Das is gut«, murmelte Sonja. »Ich freu mich für dich. Sehr sogar.«

»Danka Sonja.« »Sach mal, Nadia. Wieso arbeitet du wie... wie... wieder für die blei... blei... bleichen Bastarde?« »Was soll ich sonst tun, Sonja? Mich weiter auf meinem Zimmer verkriechen?« Sie schüttelte

ihren Kopf. »Es hilft mir zu arbeiten. Es lenkt mich ab. Ich muss weniger nachdenken.« »D... du könntest auch wo anders arbeiten.«

»Könnte ich, will ich aber nicht. Die Sieben Kastanien sind mein Ort.« »Trotz allem?« »Trotz allem, Sonja.«

»Das gut.« Der Bus fuhr über einen Buckel und sie sprangen kurz von ihren Sitzen. Dies schien Sonja allerdings nicht daran zu hindern kurz davor zu sein einzuschlafen. »Hab ich schon gesagt

wie f-f-furchteinflößend du mit'em Messer aus... aus... ausgesehen hast? Man bekam da richtig Angst.« »Auch ich hab meine Krallen«, witzelte Nadia.

»I-ich wünschte ich könnte so stark wie du sein, Nadia.« Bin ich das?

Sie dachte nach. Was hatte sie alles in den letzten Monaten ertragen? Über wie viele schlimme Dinge hatte sie nachgedacht? Wie viel Schmerz und Trauer waren gerade in ihr? Und trotzdem arbeitete sie immer noch in den Sieben Kastanien. Trotzdem war sie immer noch in der Lage Freude

zu empfingen. War dies wunderbar oder pervers?

Es war so schrecklich kompliziert. »Vielleicht ist es manchmal besser schwach zu sein«, meinte sie. »Dann scheint alles einfacher. Außerdem bist du doch auch stark, Sonja. Auf deine Weise«

»Idiotin«, hauchte Sonja nur noch und war dann eingeschlafen. Das regelmäßige Atmen ihrer besten Freundin neben sich spürend lächelte Nadia, lehnte sich

zurück und genoss den holprigen Rest der Fahrt.

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Kapitel 35:

Festtage

Vier Tage vor Weihnachten machte Nadia sich daran den Weihnachtsbaum in der Eingangshalle der

Herberge fertig zu schmücken. Die untere Hälfte bereitete dabei keine Schwierigkeiten, doch bei der oberen wurde es dann problematisch. Auf Zehnspitzen versuchte sie mit der Girlande einige der oberen Äste zu erreichen, doch sie

berührte nur immer die äußersten Nadeln der Tanne, egal wie sehr sie sich streckte. Als sie schließlich aufgeben und einen Hocker holen wollte, erschien Ashnan Nusku plötzlich hinter ihr.

Wie sonst bekam Nadia fast einen Herzinfarkt, als sie das mechanische Atmen im Nacken spürte und sprang etwas zur Seite. Egal wie häufig dies passierte, man konnte sich einfach nicht daran gewöhnen.

»Verzeihen Sie, Madame«, begann sie noch immer außer Atem vom Schock. Diese Entschuldigung war inzwischen auch schon Gewohnheit. »Ich habe Sie nicht...«

Die hochgewachsene schwarze Flügeladmirälin nahm ihr wortlos die Girlande ab und hängte sie auf dem Baum. Anschließend drehte sie sich mit ihren gläsernen Augen zu Nadia. Auch wenn man bei ihr nie Emotionen lesen konnte, so schien sie darauf zu warten, dass es weiterging.

Ein wenig verdattert reichte Nadia ihr eine Weihnachtskugel. So begannen sie beide wortlos den Baum weiter zu schmücken. Sie kamen schnell voran und bald

blieb nur noch die Spitze übrig, die selbst für Ashnan Nusku zu hoch war. Die Frau von Eris löste dieses Problem aber einfach indem sie eine erschreckte Nadia in einer raschen Bewegung auf ihre Schultern hob.

Eben war ich auf dem Boden und jetzt plötzlich so hoch! Die schwarze Flügeladmirälin musste eine unfassbare Kraft haben, die vermutlich von

synthetischen Muskeln herrührte. Es war immer wieder erschreckend auf was für Weisen die Bewohner der Allianz ihre Körper modifizierten. »Danke«, sagte die Mitarbeiterin der Sieben Kastanien und befestigte schnell den Engel am

höchsten Punkt des Baumes. Als dies getan war, wurde sie umgehend wieder nach unten gelassen und sie beide betrachteten ihr schillerndes, farbenprächtiges Werk. Es war eine schöne Tanne, doch

irgendwo konnte Nadia sich gerade schwer aus sie einlassen. Stattdessen bemühte sie sich die momentane Atmosphäre zwischen ihr und der Frau von Eris zu deuten. »Ich habe nie ein richtiges Weihnachten gefeiert«, sprach Ashnan Nusku plötzlich mit ihrer sanften

Stimme, die nicht zu ihrem Erscheinungsbild passen wollte. »Es wird mein erstes Mal sein.« War sie auf eine Konversation aus? Dies war ungewöhnlich, doch Nadia sah keinen Grund nicht

darauf einzugehen. »Also ist es bei euch kein Feiertag, Madame?« »Wir haben keine Feiertage auf Eris.«

»Oh.« »Ich mag den Schnee.« Ein recht abrupter Themenwechsel.

»Das ist... schön zu hören, Madame.« »Könnte ich eine Apfelschorle haben?« »Gerne Madame.«

Nicht wissen wie sie das Gespräch eben bewerten sollte, eilte Nadia zur Küche. Sie blieb aber kurz stehen, als die schwarze Flügeladmirälin noch etwas sagte: »Es tut mir leid wegen deiner

Schwester. Ich war diejenige die den Angriff auf die Erde vorgeschlagen hat.« Unfähig sich zu bewegen starrte die Mitarbeiterin nur nach vorne. Ihr Atem wurde etwas heftiger. »Für den Angriff werde ich mich aber nicht entschuldigen. Er war notwendig.«

300 Millionen Tote waren also notwendig. Es klang nicht einmal zynisch in ihren Gedanken. Bei der Logik der Menschen von Eris war es

vermutlich notwendig gewesen um den Krieg schneller zu beenden. »Haben Sie fest an diesen Angriff geglaubt, Madame?«, fragte Nadia und war überrascht von der Härte in ihrer Stimme. »Haben Sie keine Sekunde gezweifelt? Standen Sie mit ganzer Seele

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dahinter?« »Ja.« »Dann haben Sie nichts für das man sich entschuldigen müsste, Madame. Wenn Sie mit solch

Überzeugung dahinter standen, ist eine Entschuldigung ohne Belang. Ich werde mich auch nicht dafür entschuldigen, dass ich versuchte den Hochadmiral zu erstechen.«

Mit diesen Worten rannte sie regelrecht in die Küche. »Ich werde Weihnachten bei meinen Eltern verbringen«, verkündete Sonja am nächsten Abend auf

ihrem Zimmer. Das Buch über Rechnungswesen, was Nadia sich von der Dorfbücherei ausgeliehen hatte, fiel zu

Boden. »Wie kommts?«, fragte sie erstaunt. Soweit sie zurückdenken konnte war Sonja auf dem Kriegsbein mit ihren Eltern, die anscheinend jede Lebensentscheidung und Traum ihrer Tochter bisher

missbilligt hatten. »Ich habe mit dem Hauptmechaniker der Sargon geredet.« Sonja zuckte mit den Achsen. »Seine

Eltern flogen eines Tages mit einem Schiff tief in die oortsche Wolke und kehrten nie wieder. Die Finsternis hat sie gefressen. Sie haben sich im Streit getrennt und so konnte er nie alles wieder gut machen. Er fragte mich, wie lange ich schon nicht mehr mit Mama und Papa redete und ob ich zu

den Festtagen nicht doch mal einen Versuch machen sollte mich mit ihnen auszusöhnen.« »Normalerweise bekommst du doch einen Wutanfall wenn jemand dieses Thema aufbringt?«

»Versuch mal auf den Typen länger wütend zu sein. Er ist die Ruhe selbst und guckt einen immer so an wie ein trauriger Welpe!« »Tut er das?«, wunderte sich Nadia und dachte zurück an das halbe Skelett voller Kabel und einem

blutunterlaufenen Auge. »Ich weiß was du denkst, Nadia. Hör bitte auf damit. Es war metaphorisch gemeint. Zumindest hat

er mich am Ende überzeugt.« »Das ist wunderbar Sonja! Wirklich wunderbar! Ich bin so stolz auf dich.« Sie spürte einen kleinen Stich in sich, da nicht sie es gewesen war die ihre beste Freundin überreden konnte die Versöhnung

mit ihren Eltern zu suchen. Doch sie erkannte schnell wie lächerlich dies war und freute sich stattdessen ehrlich. Sie stand auf, ging hinüber zu Sonja und umarmte sie fest.

»Hey! Pass auf! So großartig ist das nun auch wieder nicht! Milliarden haben sich schon mit ihren Eltern in der Vergangenheit versöhnt!« »Ja! Und es ist jedes mal wunderbar! Ich drücke dir die Daumen, Sonja!«

Das andere Mädchen brummte nur etwas undeutliches und ihr Blick wurde etwas ernster. »Und was ist mit dir, Nadia? Kevin wird ja bei seiner Verlobten sein über die Feiertage. Das heißt nur

Frau Zwetkow bleibt zurück und vermutlich fährt auch sie an Heiligabend für einige Stunden runter zu Herrn Schildmann. Du wirst alleine mit den bleichen Bastarden hier sein... an Weihnachten.« Darüber hatte Nadia bisher noch gar nicht nachgedacht. Stimmt, sie besaß auf der Kolonie

keinerlei Familie und sie würde sicher nicht in die Weihnachtsfeiern ihrer Freunde hereinplatzen. »Willst du zum Dorffest gehen?«, fragte Sonja.

»Nein.« Nadia schüttelte ihren Kopf. »Ich glaube im Dorf bin ich gerade nicht gerne gesehen.« »Arschlöcher! Willst du dann...« Sonja unterbrach sich als sie Nadias Finger auf ihren Lippen spürte.

»Shhh, Sonja. Du machst dir wieder zu viele Sorgen um mich. Sehe ich etwa gerade traurig aus? Nein. Ich werde mir einen schönen Abend machen, glaub mir. Versöhne du dich mit deinen Eltern!«

Zu ihrer eigenen Überraschung meinte sie jedes Wort ernst. Die Aussicht auf ein Weihnachten allein betrübte sie nicht im Geringsten.

Die vier Gäste verzichteten auf spezielle Wünsche am 24. Dezember. Sie arbeiteten ausnahmsweise mal nicht, sondern genossen ihre Zeit im Ahorn Zimmer beim Kamin. Martu Me zeigte ein

überraschend gutes Können in der Violine. Ashnan Nusku fand Gefallen an heißer Schokolade. Enkidu Ki servierte einen selbstgemachten Weihnachtsbraten. Und Namtar An betrachtete all dies

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mit einem zufriedenen Lächeln. Zuerst ging Sonja um nach Neu Moskau zu ihren Eltern zu fahren. Dann fuhr Kevin los. Dabei nahm er etwas Kuchen für die Soldaten draußen mit.

Später am Abend verabschiedete sich auch Frau Zwetkow. Und als Nadia schließlich mit einer heißen Tasse warmer Zitrone hoch zu ihrem Zimmer ging, so

fand sie sieben Geschenke vor ihrer Tür. Ihr Herz machte einen erfreuten Sprung und sie nahm sie alle mit hinein und begann sie sorgfältig auszupacken. Von Frau Zwetkow bekam sie einen selbstgestrickten Pullover mit einem Muster aus

Schneeflocken. Kevin schenkte ihr einen großen Beutel mit selbst gebackenen Plätzchen, die wohl bis Februar

reichen würden. Sonja gab ihr ein selbstgemachtes Buch mit alten, slawischen Märchen und begleiteten Bildern, wo Nadia meist die immer lächelnde Hauptfigur darstellte.

Von Enkidu Ki bekam sie ein Set äußerst hochwertiger Küchenutensilien. Von Martu Me's Händen fand sie eine hölzerne Spieluhr vor, die eine elegante Melodie abspielte,

die der graue Flügeladmiral wohl selbst komponiert hatte. Ashnan Nusku schenkte ihr ein überrascht feminines Kleid aus weißem Stoff und mit schwarzer Spitze.

Und Namtar An... Hier zögerte Nadia kurz und überlegte ob sie es nicht lieber aus dem Fenster oder unten ins Feuer

werfen sollte. Doch mit einem Ruck zwang sie sich es auszupacken. Das Geschenk vom Hochadmiral war eine kleine Schatulle. Darin lag eine silberne Halskette, an der ein Schmetterling herunterhing und dessen Flügel wie Kastanienblätter aussahen. Herrlich

gearbeitet. Nachdem Nadia es eine Weile betrachtete, legte sie das Schmuckstück in ihre Schublade. Es würde

eine Weile dauern, bis sie in der Lage war dies zu tragen. Anschließend zog sie sich den wärmenden Pullover über und setzte sich mit der heißen Zitrone an den Tisch. Sie sah eine Weile hoch zum Jupiter, bevor sie begann in Sonjas Buch zu lesen. Dabei

lauschte sie der Melodie der Spieluhr und knabberte an den Keksen. Auch machte sie Pausen in denen sie überlegte was sie alles mit dem neuen Utensilien kochen sollte oder freute sich auf den

Frühling, wo sie das Kleid tragen konnte. Irgendwann holte sie dann auch den Laptop hervor und betrachtete Fotos von Anna. Etwas später dann las sie mit einigen stillen Tränen viele der Emails von ihrer kleinen Schwester.

Es war eins schöner Abend. Ruhig und entspannend. Es störte sie wahrlich nicht gerade alleine zu sein. Sie glaubte, dass es ihr sogar gut tat gerade.

Solange es nicht zu einer jährlichen Gewohnheit wird, dachte sie mit einem kurzen Schmunzeln. Als sie zu Bett ging, fragte sie sich dann noch ob die anderen sich über ihre Geschenke genauso freuten wie sie gerade.

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Kapitel 36:

Das neue Jahr

Das Jahr 2275 begann unspektakulär – zumindest wenn man die letzten Monate zuvor als Standard

nahm. Namtar An wartete auf neue Schiffe von den Docks in den Orbitalstädten Hephaistos und Hades Zero, da seine Flotten für die kommenden großen Schlachten Verstärkung brauchten. Sämtliche Gefechte waren nun auf Scharmützel und schnelle Stoßangriffe mit den Asag-Kreuzern,

den Tarnschiffen der Allianz, beschränkt. Bei den Besprechungen sahen Nadia und Sonja nun auch Bilder von diesen zuvor mysteriösen Schiffen.

Ein Asag war in etwa achtzig Meter lang mit einer geschwungenen, pfeilartigen Form und einer schwarzen Oberfläche, die das Sternenzelt nachbilden konnte wie ein Chamäleon. Dies war aber nicht der Haupttrick mit dem dieses Schiff praktisch unsichtbar war, sondern eher die Tatsache, dass

es die Ausstöße seines Triebwerkes verbergen konnte, sowie kaum Wärme abgab. Und da selbst dies kaum genug war, wurde es vor einer Schlacht meist mit einem orbitalen Katapult in Richtung

des Feindes geschleudert, sodass es für Scanner nicht mehr war als ein kalter Brocken der durchs All schoss und man aktivierte die Maschinen erst kurz vor dem Kontakt. Die Erdflotten wurden so immer wieder überrascht und diese zahllosen Stichangriffe nagten

langsam an ihren Verbänden. »Wir sind immer noch zahlenmäßig unterlegen«, meinte Namtar An, nachdem ein weiterer Überfall

geglückt war. »Doch so langsam wirkt es nicht mehr so erdrückend.« Die Erde selbst sendete ununterbrochen Propaganda, wo sie die zerstörten Städte in Asien zeigte, sowie die fast eine Milliarde Obdachlose, die zusammengekauert in Containern und Zelten schlafen

mussten. Man berichtete von Hunger und der Rückkehr von Krankheiten, die man eigentlich vor Jahrhunderten schon verbannt geglaubt hatte.

Gleichzeitig hütete man sich davor, die Zerstörung zu zeigen, die man auf dem Merkur angerichtet hatte. Die Oberadmiralin Chiang brauchte gerade nicht mehr negative Presse. Die industriellen Kapazitäten der Erde wiederum waren nur gering eingeschränkt. Heavon Two

wurde repariert, während Heavon One keinerlei Schäden durch Lucifers Fall erlitten hatte. Beide Orbitalstädte waren nicht auf Güter von der Erde angewiesen, sondern erhielten alle Rohstoffe vom

Gürtel, weswegen es den Docks dort gleich sein konnte wie viel Verwüstung auf dem blauen Planeten unter ihnen herrschte. Einige Abgeordnete des Erdparlaments schlugen nach Monaten voller schrecklicher Verluste vor

Friedensgespräche mit der Allianz zu beginnen. Als Reaktion nagelte man ihre Körper an die Hülle der Sun Tzu – dem Flaggschiff aller Erdflotten.

»Man hasst uns gerade zu sehr«, kommentierte Namtar An, als er Nachricht von diesem Ereignis mitbekam. »Wir haben ihnen eine Reihe erbärmlicher Niederlagen verpasst und ihre Macht ins Wanken gebracht. Diese Männer und Frauen können nicht akzeptieren, dass jemand ihre Position

im Sonnensystem herausfordert. Nach ihrer Meinung sind sie wie Monarchen, die per Gottes Wort über alle Menschen herrschen müssen. Solch eine Arroganz kann man nur besiegen, indem man sie

endgültig in den Schlamm tritt und sie nicht wieder aufstehen lässt.« »Es wirkt irrational«, meinte Sonja, die ihm den Kaffee servierte. »Bisher haben Sie doch so gut wie jede Schlacht gewonnen, Mister. Langsam müssen sie doch ihre Lektion lernen.«

»Ist dir eigentlich klar, wie sehr die Allianz gerade ausgedünnt ist?«, fragte Namtar An im Gegenzug. »Wir sind nur ein paar Millionen gegen Milliarden. Unsere ganze Ökonomie ist gerade

auf den Krieg eingestellt und jeder Tote auf unserer Seite können wir nicht so schnell ersetzen wie die Erde. Auch kann Heaven One alleine in einem Monat mehr Schiffe produzieren als Hephaistos und Hades Zero zusammen in einem Jahr. So gewaltig sind die dortigen Fabriken und Docks in

Vergleich zu unseren. Wir können dies nicht mehr lange weiterführen und die Erde weiß das. Deswegen muss ich die Entscheidung bald herbeiführen.«

Beide Seiten planten also ihre nächsten Züge. Nadia derweil verbrachte ihre freie Zeit damit durch den winterlichen Wald zu wandern. Auf allen

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Pfaden ließ sie ihre Fußspuren zurück, nur damit diese im nächsten Schneefall wieder verschwinden konnten. Doch dies war gut so. Auch wenn es nichts gab, was daran erinnerte, dass sie vorher hier gewesen war, so konnte sie die Pfade immer neu gehen. Denn mit jede gefallenen Flocke sah der

Wald etwas anders aus und bot neues zu entdecken. So wie kein Fluss immer derselbe Fluss war, so war auch jeder Pfad nicht immer derselbe Pfad.

In tausend Jahren wird man sich noch an Namtar An erinnern. Der Mann, der die Erde erschütterte. Seine Fußspuren werden lange brauchen um zu verschwinden. Mit einem kleinen Anfall an Mut sprang Nadia auf eine niedrige Mauer, die zu einem aufgegeben

Jäger-Häuschen gehörte, das an einem Abhang stand. Mit ausgebreiteten Armen begann sie darauf zu balancieren. Ein Eichhörnchen huschte über ihr einen Ast entlang um zu seinem Nahrungsvorrat

zu kommen. Ich werde vergessen sein, obwohl ich in in seiner Nähe geweilt habe. Genauso wie auch Anna vergessen sein wird. Wir sind im Vergleich zu ihm unwichtig.

Doch es ist nicht schlimm. Auch wenn meine und ihre Fußspuren nicht mehr zu sehen sind, so waren sie dennoch da.

Auch will ich nicht erinnert werden, so wie man sich an ihn erinnern wird. Als General. Als Krieger. Als Mörder. Leiber werde ich vergessen sein. Nadia machte einen Sprung und landete sicher wieder auf den Füßen. Ein dicker Tropfen traf dann

ihre Mütze. Es begann bereits zu tauen.

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Kapitel 37:

Hochzeit

Kevins Hochzeit fand statt, als die ersten Schneeglöckchen aus der immer dünner werdenden

weißen Schicht brachen. Es war die Zeit wo die Bäche und Flüsse beinahe überquellten vor Tauwasser, die Eisschichten auf den Seen verschwanden und die ersten Tiere sich vorsichtig aus ihren Winterquartieren trauten. Dies

war die Lieblingszeit der Braut, wo die Kälte schwand und das Leben kurz davor war zurückzukehren.

Das Fest war bei einer kleinen Holzkirche im Dorf Motygino, umgeben von jungen Linden. Nur eine sehr kleine Gruppe Gäste war anwesend. Die Familien und einige alte Schulfreunde der beiden Verlobten, sowie die Mitarbeiter der Sieben Kastanien und sogar die vier Admiräle von Eris.

»Wieso hast du sie eingeladen?«, hatte Sonja am Abend zuvor gefragt. Der Gehilfe zuckte als Antwort nur mit den Schultern. »Ich wollte, dass sie es sehen. Ich wollte,

dass sie dabei sind.« »Du hast wieder einen roten Handabdruck an der Wange, Kevin. Deine Verlobte war anscheinend wieder mal nicht deiner Meinung.«

»Ich konnte sie überzeugen.« »Wie viel deiner Seele musstest du dafür verkaufen?«

Hochzeiten auf Ganymed waren nicht pompös. Kevin trug den alten Anzug seines Vaters, während seine Verlobte ein fast schlichtes weißes Kleid trug, das ihre Schwestern für sie gemacht hatten. Als

die beiden bei der Trauung dann die Ringe austauschten und sich küssten applaudierte Nadia mit einem glücklichen Lächeln. Martu Me pfiff laut im Hintergrund und Sonja bekam neben ihr den

geworfenen Blumenstrauß ins Gesicht. Früher wäre sie sicher aufgeregter und entzückter gewesen. Sie konnte die alte Nadia praktisch vor sich sehen, die unruhig auf der Stelle stand und begeistert in alle Richtungen sah in dem Versuch so

viel von der Atmosphäre einzusaugen wie nur irgend möglich. Ich bin definitiv etwas ruhiger geworden, dachte sie amüsiert, während sie sich still weiter erfreute.

Nach der Trauung ging man nach draußen um zu essen und zu trinken. An einem weißen Piano spielte eine alte Kalssenkamerdin von Kevin und nach den herzhaften Glückwünschen, sowie dem Kuchenschneiden begannen die Leute untereinander zu reden.

»Natürlich hab ich als Mädchen davon geträumt zu heiraten und Kinder zu haben«, meinte Frau

Zwetkow mit ihrer Pfeife im Mund. »Ich habe sogar einige Jahre auf den Mister Perfekt gewartet. Was bekam ich dann? Die Sieben Kastanien. Es gab wohl niemals eine glücklichere Ehe in der Geschichte der Menschheit.« Sie lachte daraufhin so laut, dass die weißen Tauben erschreckt das

Weite suchten.

»Wie kann man nur so unverantwortlich sein und in einem Krieg heiraten?«, maule ein älterer Herr, mit langen dürren Beinen, die ihn kaum zu tragen schienen. »Die Zukunft ist ungewisser als jemals zuvor und die Liebe zerfällt gerade zu Staub im Angesicht des Stahls und der Feuer, die um uns

herum toben. Seht euch den Jungen doch an! So jung, hat sich kaum die Sporen verdient. Zu früh zum heiraten würde ich sagen. Aber was hab ich alter Mann denn noch zu sagen?«

»Ich finde es wunderbar, dass sie trotz des Krieges heiraten«, meinte die Ehefrau des älteren Herren einen Tisch weiter. »So viel Schreckliches ist passiert und so viel Schreckliches wird sicher noch

passieren, aber diese beiden zeigen uns, dass man trotzdem noch schöne Erinnerungen machen kann. Ach, ich erinnere mich, wie mein Nichtsnutz von einem Mann damals um meine Hand

angehalten hat. Er war so ein nervöser Bube, der meinte ein richtiger Kerl zu sein nur weil er für ein paar Monate in einem Stahlwerk auf Io gearbeitet hat.«

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»Ich meine mich zu erinnern gehört zu haben, wie die Ehen im 21. Jahrhundert sehr kurzlebig waren«, sprach der Pastor, der an einem Stück Käse knabberte. »Teilweise gab es Zeiten wo jede zweite Ehe zerbrach, mit vielen einsamen Kindern, Bitternis und geschlagenen Schicksalen als

Konsequenz. Heute halten Ehen ein wenig länger, ja viele sogar wieder ein Leben lang. Die jungen Leute scheinen verantwortlicher zu sein und sich wirklich zu überlegen, wen sie heiraten wollen.

Ich finde es gut. Zwar kann Unheil immer noch selbst das glücklichste Paar befallen, aber ich wünsche ihnen alles Beste für die Zukunft.«

»Wie Schneeflocken sind Menschen«, sprach jemand, den Nadia in den Schatten bemerkte und der kurz darauf wieder verschwunden war. »Sie werden von gewaltigen Winden umher geweht, unfähig

sich zu wehren. Sie kommen zusammen, doch werden mit der nächsten Böe nur wieder auseinander geweht, egal wie eng man glaubt sich einander zu halten. So ist der Lauf der Dinge seit dem ersten Kuss. Am Ende werden wir alle von der grausamen Sonne geschmolzen. Dies mag hart klingen,

doch dies bedeutet nicht, dass man kein Glück empfinden kann in der Zeit, die einem zusammen gegeben ist. Und manchmal, ja manchmal, sind die Winde gnädig.«

»Da werden Erinnerungen wach«, sinnierte Martu Me, der sich einen festen Platz beim Buffet erkämpft hatte. »Es erinnert mich an meine eigene Hochzeit auf Eris. Ein wahrlich glücklicher Tag

und noch bessere Flitterwochen auf Charon!« »Alle reden darüber wie schön es hier gerade ist«, seufzte Sonja. »Doch ich wette meine eigene

Hochzeit wird eine Katastrophe... Moment mal, Sie sind verheiratet?« Man konnte das Schnappen ihres Nacken hören, als sie den Kopf in Überraschung blitzartig zum grauen Flügeladmiral drehte. »Natürlich bin ich das! Man kann das Leben im äußersten Ring besser ertragen, wenn man

jemanden an seiner Seite hat. Außerdem, sehe ich für dich wie jemand aus, der gerne alleine ist? Unser Hochadmiral kann es vielleicht aushalten sein ganzes Leben lang ein Eremit zu sein, aber ich

nicht! Hier, ich zeig dir ein Foto von ihr.« Er holte sein Tablet hervor und zog ein Bild hoch. Als er es dann zu Sonja drehte, wurde sie leichenblass und begann zu Würgen. Bei dieser Reaktion lachte er wieder mal laut auf.

»Liebe ist eine chemische Reaktion im Gehirn«, kommentierte Enkidu Ki, der vorsichtig ein Stück

von der Torte probierte, die er mitgebacken hatte. »Reaktionen, die man theoretisch auch manipulieren kann. Dies wird meist vergessen. Es kling halt unromantisch. Menschen denken gerne, dass sie rational und realistisch sind, doch viele der hässlichen Fakten werden meist

ignoriert. Man bevorzugt es einige Illusionen aufrecht zu erhalten. Alle Menschen leben zum Teil in einer selbst erbauten Scheinrealität.«

»Auch Sie?«, fragte Nadia. »Auch ich«, antwortete der Administrator, der zu den beiden Vermählten blickte. Er hob seine Hand und legte sie dorthin, wo sein Herz sich befand.

»Ich würde gerne heiraten«, sagte Ashnan Nusku, die mit den Fingern über ihre kalte Maske strich,

die gleichzeitig auch ihr Gesicht war. »Gerne würde ich in Weiß vor einem Altar stehen und der Welt mein Lächeln zeigen. Doch diese Hoffnung starb mit so vielen anderen damals, als Eris mich verkrüppelte. Man kann träumen. Man kann träumen, dass jemand kommt und mich so akzeptiert

wie ich bin. Doch ich fürchte dies wird nie geschehen. So erbarmungsvoll ist die Welt nicht. Eris hat mich in seinen Armeen gebraucht und mich gewaltsam zu sich geholt. Den Altar musste ich

dabei zurücklassen. Ich kann niemals mehr lächeln, da ich keine Lippen mehr habe. Mir bleibt nur noch der Weg des Krieges.«

»Willst du später mal heiraten, Nadia?«, fragte Namtar An. Dies kam überraschend. »Früher ja, Mister«, antwortete sie vorsichtig.

»Jetzt nicht mehr?« »Ich weiß nicht, Mister. Ich kann mich nicht mehr wirklich in einem Brautkleid sehen. Ich weiß

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nicht ob ich einen Ehemann noch Glück geben oder selbst von ihm Glück empfangen kann im Moment.« »Mmh. Was ist mit dir Sonja? Willst du heiraten?«

»Nicht solange ich auf diese Idiotin aufpassen muss«, grollte die Dienerin der sieben Kastanien und schlug mit der Handkante sanft auf Nadias Hinterkopf. »Wenn ich nicht an ihrer Seite bin, so kriegt

sie gar nichts auf die Reihe. Guckt sie euch doch mal an! Sie wird sich noch in einen Grufti verwandeln, wenn ich weggehe!« »Wenn du es sagst«, lächelte Nadia, die ihre Hände auf den Kopf legte, so als würde es tatsächlich

wehtun. »He, was meinst du damit?«

Der Hochadmiral betrachtete sie einige Sekunden nachdenklich bei ihrem Wortgefecht. Schließlich schien er zu einem Schluss gekommen zu sein und begann wieder zu reden: »Wenn das so ist, könnt ihr beide ja heiraten.«

Das Geräusch was Sonja als Reaktion darauf machte wirkte so, als ob sie versuchte ein ganzes Buch voll an Wörtern auf einmal aus dem Rachen zu bekommen, doch es blieb alles einfach im Hals

stecken. In ihrem Gesicht mischten sich Zorn, Schock und ein wenig Röte. Wissend, dass es besser war nicht zu tief die Reaktion ihrer Freundin zu deuten oder zu fragen ob der Hochadmiral es als Witz meinte oder nicht, so schmunzelte Nadia einfach im Angesicht der

witzigen Szenerie vor sich. Er ist derjenige, wegen dem Anna sterben musste und du lachst?

Dieser Gedanke schnitt durch sie und sofort erstarb jede Freude. Sie spürte wie ihre Schultern nach unten sackten und sie es vermied ihn weiter anzusehen. »Was ist mit Ihnen, Mister? Planen Sie jemals zu heiraten?«

»Nun, ich würde nicht sagen, dass ich dem abgeneigt bin.« »Haben Sie jemanden?«

»Ich würde nicht sagen, dass ich jemanden habe. Es ist eher so, dass es jemanden in meinem Blick gibt. Jemanden, den ich gelernt habe sehr wertzuschätzen. Doch leider ist es eine verfluchte Beziehung, bei der niemals Hoffnung bestand mehr zu werden.«

»Niemals?« »Niemals, Nadia. Selbst bevor ich diese Person kennenlernte war da keine Hoffnung, denn es war

wohl vom Schicksal vorhergesehen, dass ich ihr wehtue. Wie Feuer, dass versucht den Schnee zu heiraten. Der Lebensweg den ich für mich gewählt habe führt zu so viel Leid für so viele. Da bleibt mir nicht viel Glückseligkeit für die Zukunft.«

»Mmh«, machte Nadia nur. Vermutlich sollte sie es nun ruhen lassen. Sie zog die noch immer erstarrte Sonja mit sich.

Das Brautpaar begann zu tanzen, während die Gäste sich in einem großen Kreis um sie versammelten. Martu Me war nun am Piano und spielte eine simple, aber doch sehr schöne Melodie. Das weiße Kleid von Kevins Ehefrau wehte den lockeren Schnee am Boden in die Luft.

Die Flocken glitzerten im Sonnenlicht. Der Frühling war dabei zu kommen.

Ein paar Tage später schickte Namtar An eine Kriegsflotte zum Mars.

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Kapitel 38:

Mars

Durch eine Reihe von Manövern gelang es Namtar An die 5. Flotte der Erde etwas vom Mars fort

zu locken, da der lokale Admiral es satt hatte Katz und Maus zu spielen und nun versuchte eine kleine Flotille von der Allianz direkt zu stellen. Die gesamte Charon-Flotte nutzte dies für einen Blitzangriff bei dem sie es schaffte einige

Orbitalbomben über den Mars abzuwerfen und drei der Kuppeln zu zerstören, darunter die Größte im gesamten Sonnensystem: Neo-Venezia. Das blaue Juwel, das sein eigenes Meer besaß und eines

der größten Touristen-Zentren darstellte. Während die Wassermassen verdampften und die dünne Atmosphäre des roten Planeten in die geknackte Kuppel eindrang, zog sich die Charon-Flotte bereits zurück, bevor die 5. Flotte

zurückkehren konnte. Der Krieg hatte neue, unschuldige Opfer gefunden.

»Eigentlich ein Jammer«, meinte Namtar An, nachdem die letzten Meldungen durchgekommen waren. »Ich wäre gerne mal auf einer Gondel mit einer Undine durch die Kanäle gefahren. Es soll die schönst Stadt im Sonnensystem gewesen sein. Ein kleiner Trost ist immerhin, dass diesmal die

Bevölkerung eine Vorwarnung hatte und sich größtenteils in Bunkeranlagen in Sicherheit bringen konnte. Die Stadt kann also wieder aufgebaut werden. Wie viel Schaden haben wir nach deinen

Berechnungen angestellt, Enkidu?« »Mindestens 40 bis 43 Millionen tote Zivilisten...«, antwortete der Administrator und fuhr dann monoton fort mit Schäden an der Infrastruktur und der Industriekapazitäten des Mars, doch Nadia

hörte nicht mehr zu. Mindestens 40 bis 43 Millionen. Sie sagen es so, als wäre es nichts.

Neo Venezia hatte einen legendären Ruf im ganzen Sonnensystem. Manche sagten es wäre die schönere Schwester von Neu Moskau, mit prächtigen weißen Gebäuden, romantischen Kanälen und vielen netten Menschen. Einige Zeit hatte Nadia auch überlegt dorthin zu ziehen um eine Undine zu

werden – also eine weibliche Gondelführerin, die auch als Fremdenführer und Sängerinnen tätig waren – doch der Wald von Neu Moskau hatte ihr am Ende mehr zugesagt. Auch wenn sie das Meer

mochte, so fühlte sie eine größere Verbindung mit den Wurzeln in der Erde als mit den Wellen des Ozeans. Dennoch hatte sie vorgehabt die legendäre Stadt auf dem Mars einmal zu besuchen, doch wie es

schien war dieser Wunsch nun durch die Wucht einer orbitalen Bombe fortgeblasen.

Die Reaktionen auf die Bombardierung des Mars waren heftig. Auf der Erde kam es erneut zu einem Aufschrei und die Oberadmirälin Chiang wurde unter Druck gesetzt endlich etwas gegen das Wüten der Allianz zu unternehmen. Die anderen Kolonien schäumten ebenfalls über mit Schock

und Wut. Der Mars war immerhin nicht die Erde und man verspürte eine engere Verbindung zu den Kuppeln dort als zu den Megastädten in Asien. Auch hatten mehr Leute Verwandte dort, als auf der

Erde. Die Folge waren neue Ausschreitungen. Sogar in Arbali sammelte sich ein wütender Mob, da die Tochter von Boris dem Fleischer in Neo Venezia umgekommen war und außer sich begann er die

Menschen zum Widerstand aufzurufen. Frau Zwetkow fuhr umgehend hinunter ins Dorf um die Leute zu beruhigen.

Nadia bediente derweil weiter den Hochadmiral, der wieder einmal auf der Teeasse saß, Kaffee trank und die ersten Knospen an den Bäumen beim Wachsen zusah.

»Ich bin ein Mörder«, sagte er irgendwann in einem Tonfall bei dem man meinen könnte er bespräche Aktienkurse. »Nicht nur irgendein Mörder, sondern ein Massenmörder. Der schlimmste

bisher in der Geschichte. Das denkst du doch gerade, oder Nadia?« »Ja, Mister.« Sie sah keinen Grund es zu verheimlichen. »Wahrlich, man hat mir eine schwere Last auf den Schultern gelegt. Viele Geschichtsbücher im

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ganzen Sonnensystem werden mich als den Bösen in diesem ganzen Debakel darstellen und sie haben allen Grund, wenn man sieht was ich angerichtet habe. Geschleifte Städte und ein Trauma, das sich sicherlich für Dekaden durch die ganze Menschheit ziehen wird. Ich habe es geschafft

Hitler in den Schatten zu stellen, etwas womit man sich wirklich nicht rühmen kann. Doch leider ist gerade darin der Fluch der Geschichte erkennbar.«

»Wie meinen Sie das Mister?« »Nun, wusstest du das Dschingis Kahn prozentual damals mehr von der Weltbevölkerung getötet hat als Hitler oder Stalin? Er war ebenfalls ein fürchterlicher Massenmörder. Dennoch wird er in der

Mongolei verehrt und man errichtet Statuen von ihm. Selbst Hitler wird nun anders betrachtet. Nach dem zweiten Weltkrieg hat man sich gesagt: nie wieder. Niemals vergessen. Man errichtete

Denkmäler für die Opfer, man drehte unzählige Filme und Dokumentationen. Die Gräuel des dritten Reiches wurden konsequent in Erinnerung behalten für Jahrzehnte. Doch irgendwann starben dann die letzten Veteranen und die letzten Holocaust Überlebenden. Die großen Kulturkämpfe begannen

mit neuen Völkermorden und der zweite Weltkrieg rückte mehr und mehr in die Ferne. Heute werden Hitler und das dritte Reich wesentlich kühler und analytischer betrachtet, ohne emotionale

Aufladung. Zahlen und Statistiken mit einigen Fotos, mehr ist es nicht für die heutige Generation. Auschwitz ist heute soweit ich weiß ein Supermarkt. Ich habe diesen Krieg nicht begonnen um Ruhm und Ehre für mich zu gewinnen, Nadia und die Erde wird sicherlich ihr möglichstes tun um

mich für lange Zeit als ein Monster darzustellen. Doch mit dem Fließen der Zeit und dem Vergehen der Jahrhunderte wird sich dies ändern. Es mögen Zeiten kommen, lange nach meinen Tod, wo ich

ebenfalls als Held verehrt werde, ganz egal ob ich dies wollte oder nicht. Und wenn noch mehr Zeit vergeht, so bin ich irgendwann vergessen und neue Monster, die später zu Helden werden, erheben sich aus dem Staub der Geschichte.« Er beendete seine Rede. Sein Blick war düster und auf den

dunklen Blau des Himmels gerichtet. Eine frühe Biene landete neben seiner Tasse, wo der Kaffee langsam kalt wurde. Schließlich lächelte der Hochadmiral und sah zu Nadia auf. »Aber du wirst

mich sicher bis zum Ende deines Lebens hassen, oder? Du willst doch, dass ich für meine Verbrechen bestraft werde?« Nadia erwiderte nichts, sondern goss einfach heißen Kaffee nach.

Von Neu Moskau steig derweil erneut Rauch auf.

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Kapitel 39:

Dorfgemeinschaft

»Die Erde plant einen Großangriff«, stellte Namtar An am Ende einer Besprechung fest, nachdem

Eknidu Ki eine Reihe von Daten und Aufklärungsberichte vorgetragen hatte. »Man will Vergeltung. Man will Rache. Man will endlich Erfolge sehen. Auch wenn eine langsamere Strategie gegen uns vernünftiger ist, so lastet auf Chiang wohl inzwischen soviel Druck, dass sie gewillt ist alles gegen

uns zu werfen, nur um zu zeigen, dass sie aktiv ist und das zurückerobern will, was man der Erdregierung genommen hat. Heaven One hat ein frisches Set neuer Schiffe fertiggestellt,

ausgestattet mit modernster Erdtechnologie. So gestärkt werden sie bald eine Offensive starten, wie man sie noch nie gesehen hat.« »Sie werden gegen das äußere System ziehen«, grinste Martu Me. »Jupiter, Saturn, Neptun, Uranus.

Alle Gasriesen werden ihr Ziel sein.« Bei ihm klang so als würde eine große Party anstehen, der es gilt vorfreudig entgegenzufiebern.

»Und damit öffnet sich für uns ein Fenster diesen Krieg endlich zu beenden«, verkündete der Hochadmiral. Nadia verließ in diesem Moment das Mondzimmer, um neue Kekse zu holen, sowie die Karaffe mit

Wasser nachzufüllen. Es füllte sie mit Ekel den Menschen von Eris zuzuhören, wie sie eine neue Schlacht herbeisehnten.

In ihrem raschen Gang zur Küche bemerkte sie dann aber den Aufruhr der draußen vor der Tür herrschte. Was ist da los?

Sie hielt kurz inne und überlegte ob sie es ignorieren sollte. Immerhin hatte sie eine Pflicht zu erfüllen gegenüber den Gästen. Frau Zwetkow war sicherlich schon dabei es zu klären.

Ein plötzlicher Anschwellen an wütenden Rufen endete diesen Gedankenstrang aber. Sie ließ das Tablett auf einen der kleinen Tischchen in der Eingangshalle und eilte nach draußen auf die Veranda.

Drei der Panzersoldaten blockierten die Treppe, die hoch zum Haupteingang der Herberge führte. Sonja stand verloren im Schatten dieser stählernen Riesen und schien nicht zu wissen was zu tun

war. Frau Zwetkow dagegen hatte sich, gleich einem wütenden Drache, mit den Rücken vor den Rittern von Eris platziert. Vor brandete eine Menschenmenge.

Das sind doch die Bürger von Arbali, oder? Zuerst hatte sie all die Gesichter nicht erkannt, da diese nicht wie sonst lächelten oder entspannt

waren, sondern grimmig und manchmal sogar vor Hass verzerrt starrten. Es waren praktisch alle erwachsene Männer vom Dorf, zusammen mit vielen Teenagern und auch einigen der Frauen. Nach ein paar Sekunden realisierte Nadia dann auch mit Entsetzen, dass viele Waffen mit sich

trugen. Sensen, Fleischermesser, Pistolen, Jagdgewehre und sogar einige moderne Halbautomatik-Waffen, die eigentlich für zivile Hände verboten waren.

Ganz vorne standen der schwitzende Bäcker Herr Schildmann und Boris der Fleischer, der ein Beil und eine Schrotflinte mit sich führte und diskutierten mit der wütenden Frau Zwetkow. »Seid froh, dass man mir die Chance gegeben hat mit euch zu reden!«, kreische die Besitzerin der

Sieben Kastanien die Menge an. »Man hätte sonst schon längst auf euch geschossen! Geht nun nach Hause!«

»Ich habe es schon versucht«, bettelte Dennis Schildmann. »Aber sie hören nicht! Sie wollen...« »Millionen sind tot«, unterbrach ihn Boris, hob sein Beil und zeigte mit diesem auf die Ritter von Eris, die wie Statuen dastanden. »Meine Tochter ist von mir gerissen. Die Erde und der Mars sind

verwüstet. Derjenige der dafür verantwortlich ist, ist dort drinnen. Wir werden ihn töten!« »Ihr werdet abgeschlachtet, bevor auch nur einer von euch einen Fuß auf diese Treppe setzen kann!

Seid doch vernünftig!« Nadia schluckte. Ihr Blick wanderte zu den gewaltigen Waffen, die die Soldaten trugen, dann hoch zum Himmel, wo sie die Drohnen sehen konnte die immer engere Kreise zogen.

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Nicht hier, nicht bei den Sieben Kastanien. Bitte nicht hier. Bitte vergiftet nicht auch noch diesen Ort für mich. Fühlend, dass ihr höchstens Heiligtum in Gefahr war, trat Nadia nervös nach vorne. Sonja schüttelte

entsetzt den Kopf, doch sie ging einfach weiter, flehende Blicke auf die Menschen vor sich richtend. Sie musste etwas sagen, sie musste etwas tun. Sie kannte all diese Leute. Sie mussten doch

auf sie hören. »Ihr seid alle Verräter!«, rief jemand. »Ihr helft den bleichen Bastarden! Wir sollten euch alle aufknüpfen!«

»Ich wette deine beiden Mädchen schlafen mit den Mördern, oder? Du leckst ihnen sicher den Arsch damit sie dich schön entlohnen, wenn dieser Krieg zu Ende ist, nicht wahr?«

Rosa Kirschblüten von einem Baum beim Bächlein wehten über die Menge, die nun laut zu rufen begann. Es war als ober der Wald versuchte, sie mit seiner Schönheit zu beruhigen, doch kein einziger hob den Blick.

Frau Zwetkow ertrug all die Beschimpfungen gelassen, doch für Nadia stach jedes Wort tief in ihr Fleisch und sie zuckte zusammen. Einige bemerkten sie nun hinter den Soldaten und die Blicke, die

sich nun auf sie richteten waren unversöhnlich und voller Abscheu. »Hure«, meinte jemand. »Du bist eine Schande für uns alle, Erdenschlampe.«

»Wir hätten dich nie hier willkommen heißen sollen, Miststück.« Ich kann nichts..., dachte sie mit zitternden Beinen. Ich kann nichts sagen. Ich kann einfach nicht.

Der Wind frischte auf und mehr Kirschblüten wehten heran. Die Stämme der Kiefern knarrten und es klang wie ein traurige Jammern. »Das führt doch alles zu nichts«, rief Dennis Schildmann. »Wir haben doch beschlossen, nichts

gegen die Invasoren zu unternehmen! Ihr bringt uns gerade alle in Gefahr.« »Halts Maul, Feigling!«

»Er mag ein Feigling sein, aber dafür ist er nicht so hirnlos wie ihr«, entgegnete Frau Zwetkow. »Aus dem Weg«, knurrte Boris nur. »Nein.«

Der Fleischer brummte etwas unverständliches und machte einen Schritt nach vorne. »Was hat es mit dieser kleinen Versammlung auf sich?«, sagte jemand hinter Nadia und als sie sich

umdrehte, standen dort Natmar An, Martu Me und Ashnan Nusku im Haupteingang. Die Menge wurde umgehend leiser, als sich der immer ruhige Blick des Hochadmirals auf sie legte. Einige Waffen senkten sich sogar und man begann zu murmeln. Viele hatten wohl nicht so weit

überlegt, dass sie ihm tatsächlich gegenüberstehen würden. »Mister«, sagte Nadia zu ihm. »Es wäre vielleicht besser, wenn Sie wieder hineingehen und...«

»Du hast meine Tochter getötet«, sagte Boris laut und ungebrochen. »Habe ich das?«, erwiderte Namtar An. »In dem Fall entschuldige ich mich. Ich kann dir gerne eine größere Summe als Entschädigung überweisen.«

»Ich pisse auf dein Blutgeld.« »Du weißt was passiert, wenn du versuchst hier hoch zu kommen, oder?«

Der Fleischer grunzte und schwang sein Beil durch die Luft. »Solange ich das hier in deine Brust rammen kann, ist mir alles gleich.« »Wieso seid ihr alle solche Schwachmaten!«, brüllte Frau Zwetkow weiter. »Du hast noch einen

Sohn! Viele von euch haben Kinder! Wollt ihr noch mehr Trauer bringen? Ihr werdet meinen Gästen kein Haar krümmen, dass garantiere ich euch! Jetzt haut ab und wir vergessen diese ganze

Geschichte.« »Wir sollen vergessen?«, meinte Boris daraufhin mit gefährlich kalter Stille. »Wir sollen all die Toten vergessen? Wir sollen vergessen wir ihre Schiffe über uns schweben und uns den Schlaf

rauben? Wir sollen vergessen, wer unseren Frieden gestört hat? Wir sollen Erde und Mars vergessen? Fick dich. Wir tun jetzt was getan werden muss.«

Einige in der Menge schienen noch unentschlossen, doch durch die Worte des Fleischers war der Willen bei den meisten neu entfacht und sie drängelten sich nach vorne. Nadia hörte wie in den

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Exo-Rüstungen der Soldaten etwas zu Summen begann. Namtar An schüttelte in Enttäuschung den Kopf. »Nein!«, rief sie in Verzweiflung aus als Boris sein Beil in Richtung des Hochadmirals warf.

Alles was folgte geschah sehr schnell. Einer der Ritter blockierte die Flugbahn der Klinge mit dem Arm. Das Fleischerwerkzeug prallte wirkungslos am Stahl ab. Einer der anderen Soldaten feuerte

seine Waffe mit der Geschwindigkeit eines Skorpions der den Stachel in ein Opfer bohrte. Ein lauter Knall hallte über den Parkplatz. Sämtliche Vögel in den Bäumen flogen davon. Der Wald selbst hielt den Atem an.

Zwei Körper fielen zu Boden. Der eine war Boris, der zur Seite gestoßen wurden war.

Die andere war Frau Zwetkow, die ihn geschubst und das Projektil für ihn abgefangen hatte. Beinahe die gesamte rechte Hälfte ihres Körpers fehlte nun. Organe und Blut klatschten dampfend zu Boden. Viele in der vordersten Reihe bekamen einen roten Sprühregen ins Gesicht.

Eine tausendjährige Stille breitete sich aus. Zumindest kam es Nadia wie tausend Jahre vor. Alle starrten auf den Leichnam, unfähig zu begreifen was eben geschehen war.

Der erste der sich schließlich rührte war Dennis Schildmann, der vor Frau Zwetkow auf die Knie fiel. Er schüttelte ihre verbliebene Schulter einmal, dann ein weiteres Mal. Dies wiederholte sich einige Male. Nie kam eine Reaktion.

Langsam begreifend, dass sie nicht mehr war griff der Bäcker mit beiden Armen nach unten und hielt den zerrissenen Körper in Händen. Ein ohrenbetäubendes Jammern entrang seiner Kehle. Es

war kein Laut, den je einer der Anwesenden von einem Menschen oder überhaupt irgendeinem Lebewesen gehört hatte. Die langen, unerträglichen Schreie gingen durch Mark und Bein und rüttelte nach und nach alle wach.

Manche rannten. Manche übergeben sich. Andere waren erstarrt und blass wie Geister. Die harte Miene war von Boris Gesicht gewichen, während er auf das starrte was er angerichtet hatte.

Frau Zwetkow... Nadia war unfähig ihre Muskeln zu bewegen. Ja, ihr Körper selbst schien verschwunden zu sein. Sie spürte nämlich nichts mehr. Ihre Gedanken waren erstarrt.

Die Frau die sie hier willkommen geheißen hatte. Die Frau, bei der sie die Freuden der Arbeit in den Sieben Kastanien gelernt hatte.

Die Frau, die wollte, dass sie diese Herberge eines Tages erbte. Diese starke, stolze Frau, die wie ein Berg über allem gethront hatte, konnte doch nicht dort liegen? Konnte doch nicht dieses blutige etwas sein, über das Herr Schildmann gerade weinte.

Frau Zwetkow... »Seid ihr zufrieden?« Alle zuckten zusammen, als erneut eine Stimme über den Platz donnerte.

Sonja trat zwischen den gepanzerten Soldaten hervor, die Wangen rot und mit Tränen in den Augen. Doch ihre Schritte waren fest und ihr Ausdruck entschlossen. Sie stellte sich vor dem Leichnam. Einige der Menschen wichen erschreckt zurück.

»Seid ihr jetzt zufrieden, wo das erste Blut vergossen wurde? Oder wollt ihr immer noch mehr?« Sonja breitete ihre Arme aus. »Tja, dann hört mal gut zu. Wenn ihr weiter versuchen wollt unsere

Gäste anzugreifen, dann müsst ihr mich schon in Stücke hacken. Denn ich werde euch ganz sicher nicht durchlassen! Kommt her! Was, seid ihr Memmen? Seid ihr zu feige, um das zu Ende zu bringen was ihr begonnen habt?«

Keiner antwortete. Man blickte sie nur mit leeren oder dumpfen Augen an. Viele senkten ihre Waffen.

Sonja betrachtete nach und nach all die Gesichter, bevor sie auf Boris hinabblickte. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme müder: »Geht endlich nach hause. Ihr habt heute genug angerichtet. Geht.« Und so verließ die Dorfgemeinschaft die Sieben Kastanien. Wortlos und mit gesenkten Köpfen.

Keiner sah zurück. Boris der Fleischer versuchte derweil immer hektischer das Blut von sich zu wischen, doch es war bereits in jede Faser seiner Kleidung gesickert.

Das Klagen von Herrn Schildmann hielt ein. Sonja stand noch etwas da und funkelte den Bewohnern von Arbali hinterher, bevor auch sie

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zusammenbrach. Nadia fand wieder Kraft in ihren Beinen und rannte hinunter zu ihrer Freundin, um sie aufzufangen und zu halten. Und oben bei der Treppe, hinter den drei Panzersoldaten, standen die vier Admiräle von Eris und

sahen hinab auf die Tragödie, die sich ereignet hatte. Auch sie sagten kein Wort mehr.

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Kapitel 40:

Das Ende des Sturms

Kevin, der im Angesicht der neusten, tragischen Ereignisse mit seiner Verlobten verfrüht aus den

Flitterwochen gekommen war, hatte überall in den Sieben Kastanien Kerzen aufgestellt und das restliche Licht etwas abgedämmt, sodass es nun mehr wirkte wie ein Kathedrale anstatt einer einladenden Herberge. In der Eingangshalle war nun ein kleiner Altar mit einem Bild von Frau

Zwetkow, umrahmt von Alpen-Edelweiß, der Lieblingsblume der nun ehemaligen Besitzerin. Das gesamte Gebäude strahlte nun eine wesentlich düstere und kaum mehr heimliche Atmosphäre aus.

Nadia bemerkte erst jetzt wirklich die vielen Kabel der Allianz, die sich über die letzten Monate hinweg angesammelt hatten und sich wie Schlangen durch alle Gänge schlängelten. Da die Wände drohten sie zu erdrücken und zu ersticken, verließ sie die Herberge eines

Nachmittags. Sie rannte nach draußen, wo ein kühler Frühlingswind sie empfing. Sie folgte einem kleinen Waldpfad bis zu einer Bank, nicht weit vom Gebäude entfernt. Die Kiefern standen hier

hoch und man konnte durch das Gitter aus dünnen Stämmen bis zum Bach sehen, an dessen Rand Laubbäume wuchsen. Junge Farne bedeckten den Boden und man hörte bereits das erste zaghafte Zwitschern der Vögel. Ältere oder kränkliche Gäste, die meist nicht die Kraft für längere

Wanderungen gehabt hatten, waren meist hierher gekommen um die Natur zu genießen. Frau Zwetkow ist fort.

Mit geschlossenen Augen saß Nadia da und ließ die Erkenntnis weiter in sich hinein sickern. Sie versuchte an das sehr breite Lächeln oder das ständige Geschimpfe der alten Frau zu denken, doch das einzige was hochkam war das Bild ihrer zerfetzten Leiche in Herrn Schildmanns Armen.

Ihr Magen drehte sich. Anna. Die Aussicht, dass ihre kleine Schwester eines Tages zu ihr kommen würde. Frau Zwetkow.

Die Stadt. Der Himmel.Ihre Erinnerungen und alles was sie jemals an Neu Moskau wertgeschätzt hatte. All dies war nun fort oder vergiftet und nicht mehr erreichbar. »Genießt du den Vormittag, Nadia?«

Schritte ließen die Äste auf dem Boden knacken. Als sie ihre Augen öffnete, stand Natmar An vor ihr.

»Es ist Frühling, Mister. Im Frühling geht man nach draußen und sieht zu wie die Welt wieder erwacht.« »Das ist wahr.« Der Hochadmiral bückte sich und strich mit den Händen über den Boden. »Dies ist

gutes Land. Es will Leben spießen lassen. Viel Leben. Schade, dass ich es nicht miterleben kann. Ich hätte gerne noch einen richtigen Frühling miterlebt.«

»Sie werden bald aufbrechen, Admiral?« »Muss ich. Oberadmiralin Chiang hat die Offensive begonnen. Die Flotten der Erde sind gerade auf dem Weg ins äußere System. Sie will mit einem Schlag alles zurückerobern, was ich ihr genommen

habe. Sie will meine Flotten überwältigen indem sie an allen Fronten zustößt. Ich werde mit der Eris-Flotte die Möglichkeit nutzen und die Erde direkt angreifen. Eine bessere Chance werde ich

nicht mehr haben. Der Feind ist geschwächt und hat noch keine Antwort auf meine Asag-Kreuzer. Ich bin gerade in meiner stärksten Position. Ich muss angreifen.« »Doch müssen Sie den Angriff selbst leiten?«

»Es wird die letzte und wohl bedeutendste Schlacht im ganzen Krieg. Ich kann da nicht hier auf Ganymed bleiben. Ich muss direkt dort sein, wenn wir gegen die Sun Tsu antreten.«

Nadia fühlte einen kalten Wind im Rücken, als dieser Name gesagt wurde. Zusammen mit der Konfuzius und der Laotse war die Sun Tsu der bekannteste Titan in der Flotte der Erde und das Flaggschiff aller Streitkräfte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Erdschiffen, war die Sun Tsu

schwarz, mit silbernen Verzierungen die meist Knochen und Skeletten mit Sensen zeigten. Anstatt Glorie und Reichtum hatte es immer eine dunkle, gefährliche Aura von sich gegeben. Immer wenn

sie Bilder von diesem Schiff im Fernsehen oder im Netz gesehen hatte, glaubte sie den bedrohlichen Schatten dieses Kolosses auf sich zu spüren. »Wer wird Jupiter verteidigen, wenn Ihr fort seid?«, fragte sie.

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»Die Charon Flotte bleibt hier.« »Aha.« Nichts daran beruhigte sie wirklich, da sie sowieso keine Angst gespürt hatte. Mit erschreckender Gleichgültigkeit nahm sie die Neuigkeit auf, dass eine riesige Erdflotte gerade auf

den Weg hierher war und die Verteidigung der Allianz geschwächt sein würde. Wieso hatte sie überhaupt gefragt?

»Ich habe gehört, dass Frau Zwetkow in ihrem Testament dir die Sieben Kastanien vermacht hat.« Nadias Finger gruben sich in das Holz. Es war wie ein Schlag ins Gesicht gewesen, als man ihr dies gesagt hatte. Ohne eine Wahl gehabt zu haben oder es ganz durch überlegen zu können, war sie nun

die Besitzerin. Beinahe war sie sogar wütend deswegen, wenn nicht die Trauer und die Müdigkeit so überwältigend wären.

»So ist es Mister«, antwortete sie kühl. »Unter anderen Umständen würde ich dich beglückwünschen, aber ich fürchte, dass die Situation dies nicht erlaubt.«

»Sie haben es erkannt, Mister. Die Umstände sind mehr als ungünstig.« Ihre Stimme war scharf und ohne die vertraute Wärme. Wie damals, als sie das Messer genommen hatte, erkannte sie sich selbst

nicht mehr. »Wie geht es dem Herrn Schildmann?«, fragte Namtar An. »Weiß niemand. Er weigert sich sein Haus zu verlassen.«

»Ist dem so? Nun, ich hoffe er erholt sich. Er scheint Frau Zwetkow sehr nahe gestanden zu haben.« »Sie haben kein Recht über ihn zu sprechen, Mister.« Nadia spürte das Gift in ihren Worten, doch

sie hatte kein Interesse es zurückzuhalten. »Vermutlich hast du recht damit, Nadia.« »Müssen Sie nicht langsam gehen, Mister?«

»Ja, muss ich wohl. Sag, Nadia. Wenn ich dir sagen würde, dass ich nervös bin, würdest du mir glauben?« Er wartete eine Weile, doch sie blickte in den Wald hinein und vermied seinen Blick. So

seufzte er am Ende nur und wandte sich ab. »Wenn die Götter dir hold sind und auch nur einen Funken Gerechtigkeit besitzen, so besteht bei die Chance, dass ich bei dieser Schlacht sterbe. Ich hoffe, dies wäre in deinem Sinne.«

Mit diesen letzten Worten begann der Hochadmiral den Pfad zurückzugehen. Seine Schritte wurden leiser und leiser. Kurz darauf stieg von der Herberge ein Heli auf und fuhr in Richtung der Sargon,

die etwas näher herangeschwebt war. Nadia verließ die Bank und wanderte zur nächsten Aussichtsplattform, von der sie dann zusah wie die Schiffe der Allianz hoch zum Halo aufsteigen.

»Viel Glück Admiral«, flüsterte sie.

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Kapitel 41:

Wald II

Anderthalb Wochen nachdem Namtar An fortgeflogen war traf die Kriegsflotte der Erde beim

Jupiter ein. Darunter waren auch neuere Schiffe aus den Werften von Heaven One, die man in aller Eile produziert hatte und somit kaum Verzierung besaßen, was ihnen ein wesentlich schlichteres und praktikableres Äußeres wie bei der Allianz gab. Zu dieser Zeit fand bereist die finale Schlacht

im Orbit der Erde statt. Viele Bewohner der Kolonien waren somit zuhause, betrachteten die Nachrichten und beteten, dass keine Orbitalbombe auf sie hinabgeworfen werden würde. Die

Ereignisse auf dem Mars waren ihnen noch frisch im Gedächtnis. Nadia dagegen war bei ihrer liebsten Stelle im Wald, ohne wirkliche Furcht. Die vertraute, offene Fläche mit dem alten Baumstamm, der ihr als Sitzfläche diente und von wo sie die gesamte,

geliebte Ebene der Kuppel überblicken konnte. Während am Himmel die großen Explosionen der Void-Torpedos erneut zwischen den Monden aufleuchteten, so saß Nadia da und ließ den Wind über

ihre Wangen streichen. Sie lauschte dem Knarren der unzähligen Kiefern um sich und atmete die reine Luft ein. Vom Halo stiegen keine Schiffe herab und auch die Drohnen von Eris waren fort. Somit gab es nur die Vögel

die im Moment den Himmel beherrschten. »Euch ist es egal was dort draußen geschieht, oder?«, meinte Nadia und betrachtete einen Falken,

der über ihr schwebte und nach Beute Ausschau hielt. Einige Spatzen flogen dicht an ihr vorbei. In der Ferne war ein Schwarm Gänse. »Euch ist es egal, dass gleich alles hier in Rauch aufgehen könnte. Ihr jagt, lebt und sterbt ohne zu wissen, was für schreckliche Dinge geschehen. Ihr

betrachtet die Welt von so weit oben, sucht nach Plätzen für eure Nester, einen schönen Bach zum saubermachen oder einen guten Ast um zu ruhen. Die Belange von uns Menschen schenkt ihr dabei

nur Interesse, wenn es Futter gibt von uns. Es klingt so wunderbar einfach, oder? Keine Kriege die euch so viel nehmen können, keine großen Veränderungen die euren Blick für immer ändern und keine Schlachten innerhalb von euch selbst. Ich beneide euch.«

Mit diesen Worten schloss sie ihre Augen, lehnte sich zurück und versuchte in sich zu gehen. Der äußere Wald wurde von einem Inneren abgelöst, leuchtend hell und für ewige Wanderschaften

bereit. Nadia verbrachte nur kurz hier, da sie diesmal wieder tiefer wollte. Ins Erdreich ging sie, den feuchten Wurzeln herab, bis sie auf der anderen Seite in Schwärze hervorbrach. Sie folgte dem stetigen Tropfen ihrer Gedanken in das endlose Meer ihrer Seele weiter hinab. Es gab kaum Wellen

als sie durch die Oberfläche brach, es war ein stilles Meer. Tiefer und tiefer tauchte sie in die Finsternis. Früher hatte es hier Lichter gegeben, doch diese waren nun alle erloschen. Dunkle

Gestalten schwammen hier, Gestalten vor denen sie sich einst gefürchtet hatte. Gewaltig waren sie und Nadia konnte nur kleine Teile von ihnen sehen. Man konnte diesen Wesen Namen geben wie Trauer, Verachtung oder sogar Hass, doch es wäre

genauso als würde man einen Stein als Berg bezeichnen. Sie waren so viel mehr. Dunkles, menschliches, etwas das zu jedem gehörte. Nadia hatte versucht sie im blendenden Lichte der

Sieben Kastanien und ihres Gemüts zu verbannen, doch durch Namtar An und dem Krieg waren sie hervorgekommen, ins unermessliche gewachsen und nun fester Teil von ihr. Anna. Frau Zwetkow. Ich vermisse euch.

Sie hatte sich verändert. Sie wollte nicht darüber sinnieren, ob zum guten oder zum schlechten. Sie war einfach anders.

Nadia tauchte so weit herab, bis die Finsternis zu dicht wurde und der Ozean sie nicht weiter ließ. Sie hatte den Punkt erreicht, an dem ihr Bewusstsein die Grenze zog. Sie verabschiedete sich von den Wesen und kehrte zurück. Zuerst wieder zur Oberfläche, dann wieder den Wurzeln entlang zum

inneren Wald und von dort aus den kurzen Schritt in die Realität. Eine ganze Stunde war vergangen als Nadia die Augen wieder öffnete. Einige Insekten krabbelten

bereits neugierig über ihren Arm. Vergnügt wischte sie die kleinen Kreaturen ab, stand auf und begann ihren Weg zurück zu den Sieben Kastanien. Einige Tulpen wuchsen am Wegesrand. Mehrere waren von den Wildtieren zertreten. Sie fand eine

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tote Wildmaus, aus deren offenem Magen bereits die Maden quollen. Eine Spinne in ihrem Netz wickelte gerade einen gefangenen Schmetterling ein. Von einem Baum hingen einige lose Äste herab, die wohl vom letzten Sturm fast abgerissen wurden waren. Wieso hatte sie all diese Details

früher nicht bemerkt? All dies Neues betrachtete Nadia mit Interesse als sie mit langsamen Schritten wanderte.

Einmal erleuchtete eine besonders nahe Explosion den gesamten Himmel und der Lichtblitz schreckte viele der Vögel auf. Nur die Raben blieben ruhig auf ihren Ästen sitzen. Als sie bei der Herberge ankam, erhob diese sich düster vor ihr. Alles wirkte wie immer. Nichts

hatte sich wirklich verändert. Doch für Nadia war dies ein fremdes Gebäude, was sie neu für sich entdecken musste.

Sonja wischte die Veranda mit einem Besen sauber, ihr Gesicht war dabei gesenkt und zeigte einen traurigen Ausdruck. Ihre Züge erhellten sich aber, als sie aufblickte und Nadia die Treppe hochkommen sah.

»Ah, Chefin«, meinte sie mit einem Salut. »Schön dich wieder hier zu sehen.« »Du brauchst mich nicht Chefin zu nennen«, entgegnete Nadia. »Du hast auch nie Frau Zwetkow so

genannt.« »Wie soll ich dich sonst nennen? Frau Krylow passt einfach nicht wirklich und es erscheint mir nicht richtig dich weiter Nadia zu nennen. Immerhin bezahlst du jetzt mein Gehalt. Chefin passt da

besser.« Nadia wurde etwas nervös als sie dies hörte. Sie sah hinein in die Eingangshalle, wieder

realisierend, dass all dies nun ihr gehörte. Sie war verantwortlich dafür, dass Frau Zwetkows Erbe weitergeführt wurde. Es war ihre Aufgabe diese Herberge wieder in ein gemütliches Heim zu verwandeln, in dem jeder sich wohlfühlen konnte.

Sie zitterte kurz im Angesicht der Verantwortung. Doch sie spürte Sonjas Hand auf ihrer Schulter, die beruhigend drückte.

»Hey, ganz ruhig. Ich und Kevin sind ja noch da. Außerdem hab ich vorhin die Seite wieder für Buchungen geöffnet. Der Admiral hat mir dies erlaubt. Allein auf Ganymed wollen fünfzig Leute in den nächsten Wochen einige Nächte hier verbringen. Anschneidend wollen viele Menschen in der

Herberge sein, in der die Oberbefehlshaber der Allianz gelebt haben. Man könnte wirklich Profit daraus schlagen. Vielleicht sollten wir überlegen in einem der Zimmer ein Museum einzurichten. «

»Ja, vielleicht sollten wir das«, witzelte Nadia mit, dankbar für die Unterstützung ihrer Freundin. »Auch wollen meine Eltern hierherkommen.« »Deine Eltern?«

»Ja.« Sonja sah zur Seite und wirkte etwas beschämt. »Sie wollen sehen, wie ich hier arbeite.« »Das ist wunderbar, Sonja.« Nadia legte nun ihre eigenen Hände auf die Schultern von Sonja. »Das

ist wirklich wunderbar für dich.« »Ich fühle mich schlecht.« »Wieso?«

Ihre Freundin antwortete nicht sofort. Sie zögerte etwas und sah hoch zum Himmel, wo der feurige Ring der letzten Explosion noch außerhalb der Kuppel glühte. »Ich habe das Gefühl, dass mir trotz

allem gute Dinge passiert sind. Ich habe den Hauptmechaniker der Sargon getroffen und mich mit meinen Eltern versöhnt. Kevin hat geheiratet. Doch du... du hast so viel verloren und kaum etwas bekommen.«

»Ach, Sonja.« Diesmal nahm Nadia sie direkt in den Arm. »Du machst dir wieder mal zu viele Sorgen... viel zu viele. Sei doch froh! Also ich freue mich für dich. Siehe doch. Ich lächele. Trotz

allem lächele ich.« »Dein Lächeln ist anders als zuvor, Nadia.« »Zum guten oder zum schlechten?«

»Früher hätte solch ein Lächeln nicht zu dir gepasst.« Sonja seufzte. »Doch jetzt passt es zu dir. Besser kann ich es gerade nicht beschreiben. Ich war nie gut mit Worten.«

»Danke, Sonja.« »Wofür? Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich die alte Nadia vermissen soll oder nicht.« Sie

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legte den Besen zur Seite. »Hey, Kevin will runter nach Arbali fahren. Wollen wir mit? Die Herberge ist gerade ziemlich leer und ein wenig gruselig. Alles ist so fürchterlich still.« »Was willst du denn in Arbali tun?«

»Nun, Frau Zwetkow ist ja nicht mehr hier. Also muss ich nun die Idioten da anbrüllen.« In diesem Augenblick kam Kevin, gefolgt von seiner Ehefrau, aus dem Haupteingang. Sie trugen

einige leere Kaffee-Kisten mit sich. Der Hochadmiral schien eine regelrechte Koffeinsucht entwickelt zu haben. Gemeinsam gingen sie zum Laster. Kurz bevor Nadia einstieg bemerkte sie den Schwarm Gänse am

Himmel, der nun in Richtung der Moskauer Nase flog. Vielleicht sollte sie demnächst wieder hinaufsteigen.

Der Wald hier war ja so wunderschön und nun sah sie mehr als jemals zuvor. Sie setzte sich neben Sonja, der Motor wurde gestartet und sie fuhren hinab ins Tal.

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Kapitel 42:

Dorf II

Arbali lag friedlich und idyllisch zwischen den Hügeln und Wäldern wie eh und je. Die vielen

kleinen Vorgärten sprossen über mit Blumen des Frühlings. Die Bienen der Imker wanderten wieder durch die Luft und die Kinder rannten spielend über das Kopfsteinpflaster. Es war als wären die Ereignisse bei den Sieben Kastanien einige Wochen zuvor niemals passiert.

Als ob man kollektiv versuchte zu vergessen und zum alten Leben zurückzukehren. Alles scheint wie immer. Doch gleichzeitig ist alles anders.

Es war wie ein schönes Bühnenstück, bei dem Nadia zusah. Sie gehörte nicht mehr zum Ensemble, sondern war nur noch jemand der im Schatten saß und betrachtete. Keiner der Einwohner sah in ihre Richtung, als sie mit Sonja durch die Straße lief. Die Kinder

kamen nicht wie sonst zu ihr. Sie hörte kein einziges Wort des Grußes. Ein Mädchen hielt kurz inne als sie Nadia bemerkte und machte Anstalten zu ihr zu rennen. Doch

ihre Mutter erschien dann in der Tür und rief die Kleine zu sich. Dabei warf sie einen angstvollen Blick hoch zu den Explosionen am Himmel, bevor sie für einige Sekunden giftig zu den beiden Mitarbeiterinnen der Sieben Kastanien starrte und die Tür schloss, nachdem ihre Tochter nach

drinnen gerannt war. Vermutlich sind die Kinder wieder abgehauen, dachte sich Nadia lächelnd.

Kevin und seine Verlobte holten neue Vorräte. Sie argumentierten, dass sie heute keine langen Schlangen zu befürchten hatten. »Alle hier sind rückgratlose Bastarde«, meinte Sonja seufzend, nachdem sie ein Weile gegangen

waren ohne zu miteinander oder überhaupt mit jemanden reden. »Es sind einfache Menschen, Sonja. Sie wissen es nicht besser und bevorzugen es die Welt einfach

und simpel zu sehen.« »Gibst du ihnen denn keine Schuld an Frau Zwetkows Tod?« »Tue ich, aber ich bin deswegen nicht wütend auf sie. Denn tief in ihrem Inneren bereuen sie ihre

Tat, auch wenn noch nicht alle es zugeben wollen. Auch gebe ich ihnen nicht die alleinige Schuld. Es war... ein großes Unglück, das wohl wie eine Flutwelle kam. Unaufhaltsam.«

»Ach, verdammt Nadia. Wieso bist du so nett. Die Leute hier hassen uns.« »Dann müssen wir halt daran arbeiten, dass sie uns eines Tages wieder mögen. Eines Tages werden sie uns schon wieder vertrauen. Da bin ich ganz sicher. Frau Zwetkow hätte auch sicher nicht

gewollt, dass wir die guten Bürger von Arbali verachten, oder?« »Wenn du meinst.«

Sie erreichten die Bäckerei von Herrn Schildmann. Alle Fenster waren mit Vorhängen verdeckt und sein kleiner Hund Robert bellte aufgeregt, während eine kleine Menge vor der Tür stand und zu diskutieren schien. Viele hatten besorgte Ausdrücke auf ihren Gesichtern und schienen die

Raumschlacht über sich nicht wirklich wahrzunehmen im Moment. »Ich gucke mal, was da gerade passiert«, meinte Sonja. »Die Idioten brauchen anscheinend ein

starkes Wort. Wenn ich mit ihnen fertig bin fahre ich wieder zurück. Was ist mit dir?« »Ich glaube ich bleibe noch etwas hier und fahre dann in die Stadt. Ich war lange nicht mehr da.« »Wie du meinst... und Nadia.« Wie aus dem nichts umarmte Sonja sie plötzlich fest. »Du bist

wirklich das beste, was den Sieben Kastanien je passieren konnte.« »Danke Sonja.« Eine angenehme Welle ging durch den Ozean ihrer Seele, als sie die Worte ihrer

Freundin hörte. Es war beinahe überwältigend und sie hoffte, dass niemand sah wie ihre Augen kurz feucht wurden. »Und du bist eines der besten Dinge, die mir hier auf Ganymed passiert sind.« Nach ihrer Verabschiedung ging Nadia in eine der kleineren Gassen und setzte sich für eine Weile

auf eine Bank. Sie überlegte dabei was sie für die Leute im Dorf tun könnte um deren Vertrauen wiederzugewinnen und auch was sie bei Frau Zwetkows Beerdigung sagen sollte. Als Erbin der

Herberge musste sie ja irgendwie eine kleine Rede halten. Das fällt mir ein. Anna hatte bisher auch noch keine Beerdigung. Mit einem Stich im Herzen beschloss sie demnächst ein Kreuz für ihre kleine Schwester im

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Hintergarten der Herberge zu errichten. Ob man den Leichnam nach dem Krieg hierher transportieren konnte? Sicher hätte ihre kleine Schwester gewollt in der Erde von Neu Moskau ihre letzte Ruhe zu finden.

Eine Tür wurde in der Nähe geöffnet und Boris der Fleischer kam heraus. Stimmt, hier ist ja sein Haus.

Angstvoll wich Nadia etwas zurück und überlegte aufzustehen und wegzurennen, als der muskulöse Mann näher kam. Doch dann sah sie seine Augen in denen wieder Aggressivität noch Feindlichkeit lagen. Sein Blick war einfach unendlich müde. Er legte wortlos eine warme Tasse Kaffee neben ihr

ab und ging dann zurück nach drinnen. Das ist für mich, oder?

Vorsichtig hob sie die Tasse und trank einen kleinen Schluck. Es tat gut. Etwas Anspannung fiel von ihren Schultern. Vielleicht war der Weg nicht so schwer wie gedacht.

Sie schrieb auf einem kleinen Zettel ein Dankeschön und legte diesen zusammen mit der Tasse auf die Fensterbank des Fleischers. Anschließend ging sie zum Bahnsteig um nach Neu Moskau zu

fahren. »Und ruck«, sagten drei der Männer gleichzeitig und öffneten mit einem Brecheisen die letzte Tür.

Robert rannte sofort bellend hinein. Sonja folgte vorsichtig mit einer Taschenlampe, während ein ekelerregender Geruch ihr entgegenschlug. Hinter ihr rückten auch die restlichen Leute näher, um

hinein zu spähen. »Oh großer Gott!« Niemand wusste wer diesen Ausruf ausgestoßen hatte, doch es war auch egal. Alle starrten mit

Entsetzen in den Raum. Ein Körper hing vom Dachbalken herab. Durch den Luftzug, der hereinkam, begann er leicht hin

und her zu pendeln. Unter den leblosen Füßen lagen überall Fotos von Frau Zwetkow auf dem Boden. Robert begann laut zu jaulen und an dem Bein seines Herrchen zu zerren, während die

Taschenlampe auf die Dielen fiel.

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Kapitel 43:

Stadt II

Nun wo der Schnee geschmolzen war, konnte man die Schäden sehen, die die Aufstände in Neu

Moskau angerichtet hatten. Dazu kamen die noch nicht beseitigten Überbleibsel der letzten Straßenschlachten, die nach dem Angriff auf den Mars ausgebrochen waren. Verbrannte Mülleimer und sogar einige Autowracks schwärzten die einst puren Straßen. Aus den

Gehwegen waren Steine gerissen und Straßenlaternen aus dem Boden gehebelt. An einigen der weißen Mauern waren Spuren von Blut. Unrat floss die einst so reinen Kanäle und Flüsse hinab.

Viele der Statuen bei den unzähligen magischen Brunnen waren durch Schüsse verunstaltet. Tote Katzen lagen in den Gassen und wurden von Ratten gefressen. Mehr noch als in Arbalit versteckten sich die Menschen in ihren Häusern, während am Himmel die

zweite Schlacht um den Jupiter tobte. So wanderte Nadia allein durch die Straßen und betrachtete die Zerstörung.

Du hast auch deine Narben davongetragen, nicht wahr?, sprach sie in Gedanken zu Neu Moskau. Tiefe Narben. All diese äußeren Schäden kann man beseitigen, doch der Schmerz in deinem Inneren wird noch lange andauern, genauso wie bei mir.

Sie trat in eine überfüllte Kirche, wo einige hundert Menschen leise beteten, sei es für den Sieg irgendeiner der beiden Seiten oder das der lange Schrecken einfach endlich sein Ende fand. Die

Mitarbeiterin der Sieben Kastanien zündete erneut Kerzen für Anna, Frau Zwetkows und all die anderen Opfer an und verharrte einige Minuten in stiller Andacht, bevor sie wieder nach draußen ging.

Auf ihren weiteren Weg bemerkte sie wie die Fensterscheiben vieler ihrer liebsten Cafés und Läden zerschmettert waren und überall die »Geschlossen«-Schilder hingen. Auf den großen Plätzen

standen still die mächtigen Kriegsdrohnen von Eris. Nun, nachdem sie in den Straßenschlachten ihre Macht gezeigt hatten, wirkten sie wesentlich bedrohlicher und mit längeren Schatten. Keine Kinder spielten mehr auf den Stahlkolossen und stattdessen hatten manche übereifrige Jugendliche

Graffiti auf sie geschmiert. Nach einer Weile fand Nadia ein kleines Restaurant, das sie vorher noch nicht gekannt hatte und das

tatsächlich geöffnet war. Nur der Koch arbeitete zur Zeit und er zuckte schlicht mit den Schultern, als sie fragte wieso er nicht geschlossen hatte. »Seit zwanzig Jahren arbeite ich hier und seit zwanzig Jahren war dieses Lokal niemals

geschlossen. Heute wird es ganz sicher auch nicht passieren. Komm nun Kleine, setz dich. Ich mach dir was Leckeres. Siehst ja fürchterlich müde aus.«

Gerne kam sie der Aufforderung nach. Sie bestellte ein Schnitzel mit Steinpilzen und als sie begann die gemütliche Inneneinrichtung genauer zu betrachten, so bemerkte sie eine Gestalt in der hintersten Ecke, die vor einem Berg aus Biergläsern saß.

Es war Viktor Orlow, der amtierende Bürgermeister von Neu Moskau. Der einst rundliche Mann war nun wesentlich dünner und sein Gesicht von großer Erschöpfung

gezeichnet. Sein Atem roch nach Alkohol, als er begann mit Nadia zu sprechen. »Du bist ein gutes Mädchen«, grummelte er nach einem lallendem Gruß. »Frau Zwetkow tat gut dir die Sieben Kastanien zu hinterlassen. Wunderbare Frau war sie! Wahrlich wunderbar! Wusstest du,

dass ich und fast jeder andere Junge der Kolonie in unserer Jugend versucht haben ihr den Hof zu machen? Keiner hatte Erfolg. Sie war hart wie ein Diamant. Nur Dennis war dumm und stur genug

um es weiter zu versuchen. Ha! Wie geht es dem armen Bäcker denn gerade? Ich wollte ihn auch mal wieder besuchen, doch wie es scheint werden wir uns erst bei der Beerdigung unserer alten Dame wiedersehen.« Er schluchzte und trank einen großen Schluck Bier. Nadia nippte an den Gin,

den er ihr ausgegeben hatte. »Komm zumindest immer zu mir, wenn du was brauchst. Ich habe genug verdammte Schlipsträger, die dir mit dem Papierkram helfen können. Das schulde ich der

alten Dame!« »Danke, Herr Bürgermeister.« Ein helles Licht erstrahlte draußen, als erneut eine Explosion aufblitzte. Dies war das erste richtige Gespräch, dass sie mit Viktor Orlow führte und sie wusste

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nicht wirklich, wie es weitergehen sollte – besonders in seinem Zustand. »Sagen Sie Herr Bürgermeister, was haben sie eigentlich vor, wenn die Leute von Eris wieder gehen? Sie haben uns ja Unabhängigkeit von der Erde versprochen. Wollen Sie vielleicht...«

»Komm mir nicht damit! Dieser Blödsinn kann mein Nachfolger machen. Ich kann nicht mehr. Ich hätte das verdammte Amt niemals annehmen sollen! Wenn der Krieg zu Ende ist haue ich hab. Gehe

zurück zum Bauernhof meiner Eltern, wenn es sein muss!« Nadia wich vor den lauten Worten zurück. Ihr Blick fiel dabei auf die Prothese aus Metall und poliertem Edelholz, die der Bürgermeister trug. Er war früher Landwirt gewesen, bevor er seinen

Arm bei einem Arbeitsunfall verloren hatte und sich dann der Politik zuwandte, da er glaubte dort weniger in Gefahr zu sein. Wie es schien, hatte er seine Meinung diesbezüglich inzwischen

geändert. Wenn er aber abdanken will, wie will er mir dann mit den Sieben Kastanien helfen? Sie verzichtete darauf, diese Frage laut zu stellen.

»Die Sieben Kastanien ist eine gute Herberge«, grunzte er weiter. »Sehr gut. Ich besuche euch auch einmal, versprochen ja?«

Damit kippte er mit dem Gesicht nach vorne auf den Tisch und begann laut zu schnarchen. Leise borgte sie sich vom Besitzer des Restaurants ein Kissen und schob es vorsichtig unter den Kopf des Bürgermeisters.

Nachdem sie gegessen hatte ging Nadia wieder nach draußen und wanderte stundenlang durch die

Straßen und Alleen. Es gab keinen Ort zu dem sie gerade hinwollte und auf ihre Art hatten diese gezeichnete und scheinbar menschenleere Stadt auch ihren Charme. Morgen würde all dies wieder ganz anders sein. In der gewaltigen Ruhe, die gerade herrschte, ließ sie ihre Gedanken hoch zu den

Sternen schweifen, wo er in diesem Moment kämpfte. Wie ging es Namtar An wohl gerade?

War er tot? Was passierte bei der Erde? Wie viele würden heute sterben?

Wie würde das Sonnenystem morgen sein? Wie würde Ganymed morgen sein?

Wie würde sie selbst morgen sein? »Alles fließt«, meinte sie an einer Reling gelehnt, hinunterblickend auf den träge dahinfließenden Fluss. »Aber momentan fließt mir alles zu schnell.«

Es war bereits Abend, als sie an einem Haus mit Pier vorbeiging. Das Fenster war weit geöffnet. Weiße Gardinen wehten in der Brise. Der Himmel der Kuppel färbte sich golden. Die Explosionen

erstarben langsam. Vom Wohnzimmer eines Hauses, wo eine Familie eng umschlungen die Nachrichten betrachtete, hörte Nadia dann die Meldung, die aus dem offenen Fenster getragen wurde.

Die Schlacht war vorbei. Namtar An hatte bei die der Erde dominiert und den blauen Planeten ein zweites Mal orbital bombardiert. Die Sun Tsu war zerstört. Oberadmiralin Chiang und die

Erdregierung verkündeten die vollständige Kapitulation. Alle Streitkräfte sollten sich ergeben. Der Krieg war vorbei.

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Kapitel 44:

Das Lied [Ende]

Die Erde war in Ruinen. Das erneute Bombardement hatte alle Kontinente erfasst und sogar die

unterirdischen Metropolen in der Antarktis waren nicht verschont. Man sprach diesmal von Milliarden von Toten. Auch Heaven One und Two waren nicht mehr. Aller Glanz und alle Macht waren gewichen und es blieben nur noch Klagen, Trauer, Zerstörung und die Hoffnung auf den

Wiederaufbau. Das restliche Sonnensystem war frei. Große Teile der ausgeschickten Erdflotte kehrten zurück zum

blauen Planeten, doch manche Flottillen hielten auf andere Körper im Sonnensystem zu und erklärten, dass sie nun diese oder jene Fraktion unterstützen würden. Merkur verkündete seine Unabhängigkeit und bat bei der Allianz um Unterstützung beim

Neuerrichten der zerstörten Kuppeln. Venus hatte als einziger Planet des inneren Systems keine Bombardierung ertragen müssen, doch nun brach dort ein Bürgerkrieg aus zwischen Loyalisten

gegenüber der Erde und planetaren Nationalisten. Mars vergoss noch immer Tränen um Neo Venezia, schwor Rache an die Allianz und blieb in einem Bündnis mit der Erde. Ceres im Gürtel koppelte sich ab und hoffte ein freier Handelsstaat zu werden.

Im äußeren System sagten sich viele Monde, die zuvor loyal zur Erde gewesen waren, ab und traten den lokalen Bündnissen bei.

Der Pakt von Zeus hoffte, dass sie eine dauerhafte Neutralität in der Politik des Sonnensystems erreichen konnten und wollten sich wie Ceres auf Handel und Tourismus konzentrieren. Der Bund von Mimas beim Saturn, der beinahe wieder an die Erde zurückgefallen war in der letzten

Schlacht und nur die Kapitulation der Erde hatte die Vernichtung der dortigen Orcus Quaoar Flotte der Allianz verhindert, hieß die Monde Titan, Phoebe und Dione willkommen und hoffte, dass es

von einer der schwächsten Fraktionen im Sonnensystem zu einer stärkeren Instanz aufsteigen konnte. Die Uranus Union war trunken im Siegesrausch und wollte ein dauerhaften Bündnis mit der

Allianz. Sie planten eine große Militarisierung mit eigener Flotte und Orbitalstadt. Mit der eroberten Festung Brahma Seven hatten sie in dieser Hinsicht bereits einen Vorteil.

Das Bündnis von Triton beim Neptun schließlich war zerrissen. Nicht wissend ob sie volle Unabhängigkeit wollten oder sich der mächtigen Allianz in direkter Nachbarschaft annähern sollten, drohten Konflikte wie diejenigen die gerade auf Venus herrschten. Um dies zu verhindern begannen

hektische und lange Verhandlungen zwischen allen Parteien des fernen, blauen Gasriesen.

Während all dies sich entfaltete und die Trümmer der zahllosen zerstörten Schiffe Ringe um die Planeten des Sonnensystems bildeten, kehrte Namtar An ein letztes Mal zurück nach Ganymed um alle Soldaten und Ausrüstung zu holen – sowie um sich zu verabschieden.

Er und Nadia trafen sich auf einer hölzernen Aussichtsplattform, die etwas über eine Klippe hinausragte, nahe bei den Sieben Kastanien. Bänke mit Tischen waren hier, bei denen Wanderer

pausieren oder essen konnten. An dem Geländer hatte man Fernrohre befestigt mit denen man die Ebene und Neu Moskau betrachten konnte. Es war ein herrlicher, warmer Tag. »Ich werde diesen Ort vermissen«, meinte der Hochadmiral, nachdem sie zu zweit eine Weile dort

gestanden und die Kolonie betrachten hatten. »Das sagen alle«, meinte Nadia, deren Zöpfe leicht schwangen in der Brise. Robert, der Hund des

nun verstorbenen Dennis Schildmann, schlief in der Nähe unter einem der Tische. Er würde ab nun bei den Sieben Kastanien bleiben. »Alle wollen immer wiederkommen, eines Tages. Es erfreut mich jedes Mal, wenn ich dies höre.«

»Ich werde auch dich vermissen, Nadia.« »Mmh.«

»Dich, Sonja, Kevin, die arme Frau Zwetkow. Ihr habt mir einen wahrlich angenehmen Aufenthalt beschert.« »Habt Ihr auch etwas dabei gelernt Mister?«

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»Vieles, Naida«, antwortete der Hochadmiral. »Mehr als ich zählen könnte. Ich glaube ich werde Eris anders sehen, wenn ich zurückkehre. Zuvor habe ich immer nur gesagt, es wäre meine Heimat. Doch nun spüre ich, wie Eris nach mir schreit. Ich weiß nun mehr als jemals zuvor, dass ich dorthin

gehöre. Dort, in die Ferne. In die Dunkelheit. So wie ich hier mit dir die Schönheit im Lichte gesehen habe, freue ich mich nun die Schönheit in der Finsternis zu erforschen.«

»Mmh.« Das Gespräch erstarb erneut. Der Wind frischte auf, zerrte an ihre Kleidung. Zwei Amseln landeten auf dem Geländer und betrachteten die beiden Menschen neugierig. Die Kiefern in ihrem Rücken

knarrten. Der Wald war so lebendig wie eh und je und atmete Fruchtbarkeit und Zerfall aus. Martu Me baute wohl gerade mit den Soldaten die Antenne bei der Herberge ab, während Enkidu

Ki sich ein paar letzte Kochtipps von Kevin holte. Ashnan Nusku war nicht nach Ganymed zurückgekehrt und würde auch nicht nach Eris reisen. In der letzten Schlacht im Orbit der Erde hatte sie sich geopfert um den restlichen Schiffen die Möglichkeit zu geben die Sun Tsu zu

zerstören. Die Überreste ihres Leichnams waren dann in der Atmosphäre verglüht. »Ich war manchmal frustriert«, begann Nadia wieder zu sprechen. »Von allen Seiten drang man auf

mich ein. Sollte ich Sie als Feind oder Freund ansehen, Mister? Was hätte ich tun sollen? Hätte ich Sie töten sollen, nachdem meine kleine Schwester gestorben war? Hätte ich versuchen sollen Ihnen den Krieg auszureden? Hätte ich fragen sollen mit Ihnen zu kämpfen? Irgendwas? Irgendwas, um

meine kleine Rolle in dieser großen Geschichte mehr Bedeutung zu geben?« »Es gibt keine unbedeutenden Rollen im Leben, Nadia.«

»Ich weiß und weil ich es wusste, hat es mich noch mehr frustriert. Aber jetzt ist mir klar, dass meine eigene Geschichte erst jetzt richtig losgeht.« Sie sah zurück zum Wald, wo sie zwischen den Baumwipfeln etwas weiter den Hügel hoch Teile vom Dach der Sieben Kastanien sehen konnte.

»Immerhin habe ich jetzt eine große Verantwortung. Eine, die ich vorher nicht hatte.« »Eine Verantwortung, die du nur wegen mir jetzt tragen musst.«

»So ist es halt gekommen«, meinte sie achselzuckend. »Ich werde es akzeptieren und nicht davonlaufen. Natürlich hätte ich es mir anders gewünscht, aber so ist es nun mal.« »Verstehe. Manche meinen, man findest seinen Platz in der Welt. Ich behaupte dagegen, dass der

Platz einen findet und man kann ihn entweder akzeptieren und weiterleben oder ihn von sich stoßen und zu Grunde gehen. Ich wünsche dir viel Erfolg bei deinem Abenteuer.« Er klappte die

Taschenuhr auf, die Nadia ihm geschenkt hatte. »Die anderen warten wohl schon auf mich. Gibt es noch etwas was du mir sagen willst? Es wäre deine letzte Möglichkeit.« Den Blick nach vorne auf die Eben gerichtet, antwortete Nadia nicht sofort. Sie hatten diesen Tag

kommen sehen und sich lange überlegt, wie sie beide sich trennen sollten. Ihm wegen Anna ins Gesicht spucken? Ihn umarmen? Weinen? Schreien? Schweigen?

Sie drehte sich entschlossen zu ihm und verbeugte sich tief. »Vielen Dank, dass Sie die Sieben Kastanien besucht haben. Ich hoffe Sie hatten einen angenehmen Aufenthalt. Bitte kommen Sie niemals wieder.«

Der Wind wurde noch stärker. Die beiden Amseln flogen davon. Namtar An sah lange auf sie hinab, bevor er die Augen schloss. »Ja, dies sollte wohl machbar sein.

Leb wohl.« Und der Hochadmiral von Eris, der Dämon aus der Dunkelheit, verließ sie. Die Sargon schwebte heran und bald stiegen von den Sieben Kastanien Helis hoch zum

Schlachtschiff. Erst jetzt kehrte Nadia mit Robert zur Herberge zurück. Sie hörte Kevin und dessen Ehefrau in der

Küche arbeiten. Sie bereiteten wohl das Abendessen vor. Oben in ihrem Zimmer zog sie das weiße Kleid an, was Ashnan Nusku ihr geschenkt hatte und legte auch die Halskette von Namtar An um. Durch das runde Fenster ihres Zimmers sah sie hinunter in den Hinterhof, wo die Kastanien der

Herberge ein neues, prächtiges Blätterkleid trugen. Frisch angekleidet wie sie war ging Nadia wieder nach draußen. Sie hörte das Klappern von

Pferdehufen. Sonja kehrte wohl zurück. Sie hatte sich in der Stadt vom obersten Mechaniker verabschiedet, als die Sargon dort die Drohnen eingesammelt hatte.

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Nadia wanderte zu ihrem liebsten Punkt im Wald und stellte sich neben dem Baumstamm. Das lange Gras um sie herum strich über ihr Kleid. Ihr Blick war nach oben gerichtet, als die Schiffe von Eris zum Halo strebten. Ihre Hände waren über ihre Brust gefaltet.

Sie erinnerte sich. Vor vielen Monaten, die auch Jahrhunderte hätten sein können, war sie mit Namtar An den Berg hinaufgestiegen. Auf dem Gipfel hatte er sie gefragt, ob sie nicht eines Tages

für ihn singen würde. Also sang sie nun. Mit fester Stimme sang sie den Schiffen hinterher und die Silben hallten durch die Wälder und

Felder der Kolonie. Sie sang von den Blättern im Wind, von den Tropfen in den Flüssen, von den Skeletten im Boden

und von den Herzen der Menschen. Sie sang von den Seelen der Toten, von der Trauer der Lebenden, vom Entstehen und vom Vergehen.

Sie sang vom vergangen Reichtum der Erde, von den Meeres des Mars, den Wolken der Venus und der Hitze des Merkur.

Sie sang von den ehrwürdigen Gasriesen in deren Schatten so viele wundervolle Kolonien der Menschen sprießen durften. Sie sang von Trennung und neuen Horizonten.

Sie sang von den fernen Welten Pluto, Eris und Makemake, wo das Leben hart und der Wille stark war.

Sie sang von der unfassbaren, schrecklichen Finsternis, die zwischen dem Wundern der Sterne lungerte, dort wie die Götter der Leere Era, Nagrath'Lekur, Ky'o, Arkyronthep und viele mehr existierten. Dort wo Ba'al und sechs weitere Wesen der alten Zeit auf das Kommen der Menschheit

ins Unermessliche warteten. Die Strophen von Nadia wanderten und wanderten, über die Kuppel hinaus in die Unendlichkeit bis

in die ferne Zukunft, in die schreckliche Zeit der sieben großen Nationen, wo Konrad der Götterschlächter und Lythia, die Erwählte vom Ende der Zeit, sich erheben würden. Ja, die große Reise begann erst.

Die Erde würde vergessen werden. Die Allianz verschwinden.

Die Galaxien in Schatten gehüllt. Und irgendwann alles zerbrochen im Nichts vergehen. Und Nadia im hier und jetzt, nicht wissend von all dem, sang ihre letzte Strophe über ihr

schmerzendes Herz. Sie brach vor Erschöpfung zusammen, die Kehle wund, die Wangen nass mit Tränen, das sterbende Licht der untergehendem Sonne in ihrem Haar und am Himmel waren die

Schiffe der Allianz längst nicht mehr auf Ganymed. Fort waren sie. Fort in die Dunkelheit.

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Sonderkapitel 1:

»Ich will von einer Zeit erzählen, meine lieben Freunde. Von einer Zeit, von der man zuerst dachte

es wäre eine goldene Zeit. Eine Zeit des Friedens, des Wohlstandes, der sozialen Gerechtigkeit, der Toleranz und der absoluten Selbstverwirklichung eines jeden Einzelnen. Ja, man dachte all dies

wäre gut und würde nur noch besser werden. Doch am Ende belügte man sich wie so oft selbst und das goldene Äußere war bereits im Inneren verrottet. Wie konnte man die sozialen Konflikte nicht vorhersehen? Wie konnte man die sich anbahnenden Kulturkämpfe nicht bemerken? Die brütenden

Völkermorde? Der Hass? Die Verachtung? Die Vereinzelung des Selbst? Dasjenige, was gerade Glück brachte, würde bald zum Schrecken werden. Wer immer dies hört, mag es morgen oder in

tausend Jahren sein, so lernt aus den Fehlern die man gemacht hat. Ich sage nicht, dass das heutige Leben der Menschen ewig halten wird und perfekt ist, doch ich glaube ernsthaft, dass es besser ist als damals. Damals als man zusehen musste, wie der Reichtum der Elterngeneration einfach

verfloss. Damals als die Maschinen begannen dem Menschen seine Bedeutung in der Gesellschaft zu rauben. Damals als man sein Inneres digitalisierte und der Welt alles preisgab, obwohl die Welt

nicht gefragt hat. Damals als ein jeder besonders sein wollt und somit am Ende alle ohne Besonderheit waren. Ein traurige Parade geschmückter Clowns, die durch den brennenden Zirkus rannten, lachend weil sie lachen mussten, denn wenn sie nicht lachten, so würden sie zeigen, dass

ihnen etwas fehlte. Was fehlte ihnen? Alles. Ihre Wurzeln. Ihren Platz. Ihr Innerstes.Von all dem hatten sie nichts und somit fehlte ihnen jede Stütze. Diejenigen die nicht in Armut dahin wucherten

wandten sich dem grenzenlosen Nihilismus und Materialismus zu, um den endlosen Abgrund in sich zu füllen. Andere versanken in Religionen und Ideologien. Der Hunger wuchs, genau wie die Wüsten. Dies traf sowohl auf die wirkliche Welt als auch auf die Welt der Seelen zu. Die Menschen

begannen zu wandern. Zu Millionen begannen zu wandern, sprengten Grenzen und so oft auch von oben herab versprochen wurde, dass alles gut werden würde, so waren es am Ende nur leere Worte.

Um tolerant zu bleiben, so wurde man intolerant. Um zu lieben, begann man zu hassen. Um in die Zukunft zu gehen, so riss man die Brücke unter sich fort. Die Verachtung wuchs, man erkannte seine Heimat nicht wieder. Die Maschinen erschienen überall. Wo war die Arbeit? Du sollst lernen

sagte man und so lernte man, man lernte bis man man zerbrach. Und diejenigen die nicht mehr konnten wurden im Dreck zurückgelassen. Die Erfolge der wenigen wurden als Inspiration

hochgehalten, obwohl die meisten auf ewig im Dreck kriechen mussten, mit nur einem feinen Faden Hoffnung vor sich. Die Schönheit der menschlichen Liebe und Güte wurden überall präsentiert, doch auch dies waren kleine Tropfen des Lichts in einem unaufhaltsamen Wirbel des

Untergangs. Ein Untergang der nicht zu vermeiden war. Nach und nach brach alles zusammen. Der Einfluss der ersten UN schwand, die Mächtigen, die den Lauf der Massen in ihren utopischen

Visionen formen wollten, verloren ihre Kontrolle. Die Demokratien versagten. Man wollte Heimat. Man wollte Sicherheit. Man wollte die andere Seite vernichten. Alte Kriege brachen auf. Ethische Konflikte, von denen man dachte sie seien gelöst wurden, kamen zurück und Blut rann durch

Straßen und Häuser. In den großen Städten begann man zu kämpfen. Rechts, links. Fanatisch, rational. Gut, böse. All dies ist heute ohne Bedeutung, da damals alle Seiten trunken waren im

Wahn und ihre Widersacher nicht tolerieren konnten. Rote und schwarze Flaggen wurden geweht. Hier wurden sogenannte Nazis aufgeknüpft, dort augenscheinliche Kommunisten erschossen. Die Fronten waren verhärtet und die Armeen wuchsen. Bomben gingen hoch, alle Freude war fort.

Manche schrien in Unglauben, wir alle seien doch Menschen, wieso hassen wir und wieso kämpfen wir? Ja, wir sind alle Menschen, doch unser größter Fluch und größter Segen ist, dass wir ungleich

sind. Eine Welt voller Gleichheit wäre eine Hölle, die ich nie erreichen will und wegen dieser Ungleichheit ging damals alles zugrunde. In den gläsernen Städten von Saudi Arabien herrschte die Lust. In China vertraute niemand mehr dem Nachbarn oder sogar der eigenen Familie und so

zerhackten sie sich gegenseitig. In Südamerika begannen Kriege und der Fortschritt Afrikas zerschellte. Oh, wie die Kinder damals weinten. Oh, wie die Wolken damals weinten. Nordamerika

zerbrach und die großen Kreuze wurden errichtet. In Europa zerfleischte man sich, bis nichts mehr da war und aus der Asche erhoben sich die französischen, deutschen, schwedischen und englischen Kalifate. Die alten Bewohner flohen nach Osten, tief hinein in Russland, wo die Wälder noch

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unberührt und der Schrecken fern war. Alles lief Amok. Rot mit Hammer und Sichel sollte die Welt werden. Nein, widersprachen andere, unsere Rasse, sei es weiß oder schwarz, soll dominieren und ewigen Fortschritt und Perfektion herbeiführen. Nein, entgegneten andere, die Welt muss von Geld

und Fleiß beherrscht werden. Nein, sagten wiederum andere, unterm Halbmond und dem Worten des Propheten sollte die Welt ewiges Glück erlangen. Alle waren falsch und in ihren Versuchen

Milliarden von Menschen zu vereinheitlichen gingen sie zu Grunde. Ich will nicht weiter von den Schrecken dieser schwarzen Epoche reden. So bitter ist es. So viel ging verloren. Die Mona Lisa verbannte, der Eiffelturm verrostete, die Freiheitsstatue versank, die verbotene Stadt geschleift,

Jerusalem in Asche verwandelt. Oh, wie wird mir das Herz schwer. Oh, wie wird es mir schwer im Angesicht all dessen was noch verloren gehen wird. Niemand weiß mehr, wer damals die

Atombomben auf Medina und Mekka abwarf. Niemand weiß mehr, wer die Regierung in Peking stürzte. Niemand weiß mehr, wer veranlasste, dass die automatischen Fabriken abgeschaltet werden sollten. Niemand weiß mehr, wann die Kraft zum weiteren Tränenvergießen verlorenging. Am Ende

erhob sich die neue UN, nervös, vorsichtig und im Schock. Die Welt war zu müde um noch zu kämpfen und wurde vereint, doch nicht mehr sollte versucht werden die Menschheit unter einem

einzigen ideologischen und kulturellen Banner zu einigen. Stattdessen sollte wieder zum eigenen zurückgekehrt werden, während alles schädliche fort geschoben wurde. Die Traditionen der einzelnen Völker wurden wieder in den Vordergrund gestellt. Keine Menschengruppe und Nation

sollte mehr Schuld empfinden. Es gibt keine Individualität ohne die Wurzeln. Stolz sollte man sein auf die Geschichte seiner Vorfahren. Richtige Bedeutung sollte wieder ins Leben treten. An die

Fließbänder ließ man wieder Menschen. Fortschritt wurde verlangsamt und viele Technologien verflucht. Der Koran wurde zensiert, Automatismus zurückgeschraubt, Politiken eingeführt bei denen nicht mehr die Wirtschaft im Vordergrund stand, Randgruppierungen im Auge behalten und

viele Philosophen in die Unbedeutenheit verbannt. All dies mag nun gut klingen und zuerst war es auch gut. Die Erdregierung konnte viele der alten Schäden korrigieren. Nicht alle natürlich. Im

nahen Osten gibt es noch viele Jihadisten, die rachsüchtig um Mekka trauern. Europa ist größtenteils noch immer ein von Armut heimgesuchtes Pestloch voller Slums. Noch immer gibt es Träumer von einer Weltrevolution. Manche Völker betrachten sich noch immer misstrauisch. Doch

alles dies konnte kontrolliert werden und es war gut so. Doch leider war die Erdregierung nie darauf vorbereitet gewesen, dass die Menschheit sich ausbreiten würde. Wenn wir alle noch immer auf

einem Planeten sitzen würden, so würden solche Regulierungen und Vorschriften Sinn machen. Allerdings strömt die Zeit dahin und bringt Veränderungen. Nun gibt es viele Planeten voller Menschen. Nicht mehr besteht Gefahr, dass der Zusammenbruch einer Welt die gesamte

Menschheit gefährden oder versklaven kann. Wir sind nicht mehr nur die Erde. Unsere Grenzen und Möglichkeiten haben sich vergrößert. So steht es meiner Meinung nun jedem Planeten frei seinen

eigenen Weg zu gehen. Die Angst vor neuen Kulturkämpfen, vor neuen Maschinen und vor neuen Zeiten der Trauer mag zwar vorherrschen, doch wie alle Imperien, wie die erste UN, die EU und andere Organisationen der Einigkeit ist die Erdregierung nun fett und arrogant geworden. Freiheit

ist ein Gut, was immer und immer wieder erkämpft werden muss. Sei es an den Stränden der Normandie, in den Massen eines Volkes, in den Hallen eines verfaulten Parlaments oder im

Zusammenbruch. Meine Warnung ist, dass der Versuch, die Menschheit unter einem Banner zu vereinen, unter einer wurzellosen Idee, einem Glauben an die Gleichheit, einem Glauben an die Ungleichheit, einem höhnenden Frieden, einem Seelen zermalmenden Wohlstand oder einer von

Beginn an verfluchten Sicherheit immer auf Kosten der Freiheit und der Identität des Einzelnen als auch der Völker geschieht. Und Freiheit darf niemals verloren gehen. So stehe ich hier und kämpfe

gegen die einstigen Bringer der Freiheit. Mag die Erdregierung damals nach den schweren Zeiten neue Perspektiven und Hoffnungen gebracht haben, so ist sie heute überflüssig und ihre einst großzügigen Vorschriften sind nun zu eng geworden. Also kämpfe ich. Ja ich kämpfe. Mag ich

genauso viel zerstören oder vielleicht sogar noch mehr als in den Kulturkämpfen. Mögen meine Nachfolger gegen mich streiten wie ich gerade gegen die Erdregierung. Mag ich ein Monster sein.

Ich bin ein Monster der Freiheit. Und bis zum Tode werde ich kämpfen. Danke sehr.«

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Naida klatsche höflich als Namtar An geendet hatte und vom Podium stieg. Der Medientechniker der Allianz schalteten die Kameras ab. »Eine sehr beeindruckende Rede, Mister«, meinte sie und reichte dem Hochadmiral ein Glas

Wasser. »Danke, Nadia«, sagte er und trank einige Schlücke. »Ich hoffe ich habe nicht so weit

ausgeschweift.« »Oh nein, ich fand es durchweg sehr interessant. Und sie wollen die Rede durch das ganze Sonnensystem senden?«

»Ja. Senden, aber auch mit Drohnen ins Weltall ausschicken oder Kopien in Satelliten oder auf Asteroiden lagern, wie bei Zeitkapseln. Heute mag es selbstverständlich sein, was ich hier eben

gesagt habe und vielleicht ist es in der Zukunft irrelevant. Aber dennoch... Vielleicht schaffe ich es irgendwann einmal mit meinen Worten jemanden zu beeinflussen und davon abzuhalten einen vergangenen Fehler zu begehen.«

»Man kann immer hoffen, Mister. Wollen wir nun zurückkehren zur Herberge?« »Sehr gerne. Lieber würde ich mir da die Aufnahme ansehen als hier. Ich glaube ich hätte für den

Abend gerne eine gute Gemüsesuppe.« »Ich werde gleich Kevin anrufen und Bescheid sagen, dass er die Zutaten vorbeireiten soll, Mister.« Und so traten sie beide aus dem kleinen Studio, das die Mitarbeiter gerade begannen abzubauen.

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Sonderkapitel 2:

Die Sterne funkelten ihren Abschied durchs Fenster als Sonja frustriert ihren achten Brief zerknüllte

und ihn in den Papierkorb ihres gemeinsamen Zimmers mit Nadia warf. Anschließend seufzte sie erschöpft und ließ ihren Kopf auf den Tisch fallen.

Sie war einfach nicht gut in so etwas. Der Morgen dämmerte bereits und in zwei Stunden würde sie nach Neu Moskau aufbrechen um dem obersten Mechaniker der Sargon Lebewohl zu sagen. Später würde das Flaggschiff der Allianz

zwar auch zu den Sieben Kastanien fliegen, dabei aber nur die Admiräle und die Ausrüstung einsammeln und sofort losfliegen. Nur in der Stadt, wo gerade das ganze schwere Material

eingeladen wurde, würde sie noch etwas Zeit mit ihm haben. Mit einem gemurmelten Fluch zog Sonja ein neues Blatt hervor. Nadia könnte ihr sicher hierbei helfen, doch die Arme hatte gerade genug um die Ohren und sie wollte sie nicht stören. Dies musste

sie alleine schaffen. Einen guten Beginn würde sie nicht hinkriegen, es war zum Haare ausreißen. Scheiß also drauf! Es

geht ja nicht um schöne, erst Worte! Hallo, schrieb sie so gut sie konnte mit ihrer krakeligen Handschrift,

ich weiß nicht wie ich dich nennen soll. Ein paar Mal dachte ich daran dir einen Spitznamen zu geben, aber mir fiel nichts gutes ein.

Soweit so gut! Sie musste sich nun zwingen weiterzumachen. Nicht aufhören, bis das Blatt voll war!

Du wirst bald aufbrechen und ich bleibe hier zurück. Hier auf diesen Brocken, den ich einst glaubte

zu hassen. Die Erde ist zerstört. Alles was ich an ihr geliebt habe und sehen wollte ist nun Schutt und Asche. Der Wiederaufbau wird wohl den Rest meines Lebens andauern und ich habe somit keinen Grund

mehr dorthin zu reisen. Ist das nicht ein schrecklicher Gedanke von mir? Die Erde war für mich immer ein Ort, wo es mehr gab. Größere Städte. Prachtvolle Monumente.

Wilde Parties. Unendliches Shoppen. Das Glanzstück des ganzes Sonnensystems. Ursprung und Zenit der Menschheit. So dachte ich. Teilweise ekele ich mich nun vor mir selbst, dass ich so oberflächlich bin. In

manchem habe ich mich geirrt. Vielleicht bist du und der Rest der Allianz der wahre Zenit der Menschheit? Ihr wollte ja unsere

Grenzen so weit ausdehnen. Ich könnte nun auf Io ziehen, immerhin ist da auch eine große Stadt. Oder ich könnte mit dir gehen, zum Rande des Sonnensystems und dann darüber hinaus. Du willst ja so weit in das Meer der

Sterne greifen. Nach allem was passiert ist, wäre es nicht beste, wenn ich wirklich Ganymed verlasse?

Mit diesen Gedanken spielte ich die letzten Tage. Aber ich weiß inzwischen, dass ich so etwas niemals tun könnte. Denn was wird dann aus der armen Nadia? Soll ich sie alleine lassen? Das kann ich einfach nicht.

Sie ist zwar ein starkes Mädchen, auch wenn man dies manchmal nicht vermutet, aber trotzdem braucht sie Unterstützung. Ich werde bei ihr bleiben, hier in den Sieben Kastanien.

Früher wäre mir dieser Gedanke unerträglich gewesen, doch nun, wo das Sonnensystem sich verändert hat, habe kaum noch Gründe zu gehen. Zumindest keine Gründe, die wirklich gewichtig sind. Muss man einen Neuanfang immer an einem anderen Ort machen? Geht nicht auch ein

Neuanfang in den eigenen Gedanken? Sag, hättest du es gerne gehabt, wenn ich mit dir gekommen wäre? Vermutlich nicht.

Ich erinnere mich wie wir immer darüber diskutiert haben, wohin mit der Menschheit. Wartet die Galaxie wirklich nur darauf, von uns entdeckt und besiedelt zu werden? War es vielleicht sogar ein Fehler, die Erde zu verlassen, zusammen mit den Wurzeln die unserer Rasse dort hat? Kann man

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diese Wurzeln überhaupt jemals aufgegeben? Lange mussten wir sprechen, aber ich glaube du hat mich auf den richtigen Weg geführt. Manche sind dazu geboren auszuziehen und die Grenzen zu erweitern. Manche sind dazu geboren zu Orten

mit Bedeutung zu gehen und dort etwas Bedeutsames zu tun. Aber ich gehöre nicht zu beiden. Und hier, auf diesen Brocken, ist etwas sehr Bedeutsames für mich.

Ich will dir danken. Auch wenn du aussiehst wie ein Skelett das es mit einem Supercomputer getrieben hat, so waren die Gespräche mit dir sehr angenehm. Ich glaube ich weiß jetzt mehr darüber wo ich bin und wohin ich will.

Danke. Vielleicht können wir im E-Mail-Kontakt bleiben bevor du deine große Reise beginnst?

Übrigens, um deine Frage vom letzten Treffen zu beantworten: Nein. Mehr kann ich nicht dazu sagen. Ich bete für dich und ich hoffe du findest was Interessantes in der Leere.

Ich bleibe hier. Deine Sonja.

Sie legte den Stift beiseite und massierte ihr verkrampfte Hand. Sie hatte das Gefühl, dass es nicht genug war. Eigentlich müsste sie Bücher schreiben, um all ihre Gedanken auszudrücken. Doch was

genau mehr dazukommen sollte, konnte sie auch nicht wirklich sagen. Also musste dies reichen.

Sie faltete den Brief zusammen und sah zum Papierstapel. Noch war sie allerdings nicht fertig. Sie musste noch einen Brief für ihre Eltern schreiben und vielleicht auch einen für Nadia.

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Technische Notiz 1:

Die ersten Kolonisten des Sonnensystems mussten schnell feststellen, dass ihre Kinder durch die

geringere Erdanziehung ihrer neuen Heimat entweder tot oder sehr stark verformt und unfruchtbar zur Welt kamen. Um diesem Problem, was die Zukunft der Weltraumforschung selbst bedrohte da

man so nicht langfristig besiedeln konnte, zu beheben suchte man eilig nach Lösungen. Die zuerst einleuchtendste war eine Rückkehr zum verfluchten Transhumanismus und genetischer Veränderung. Allerdings waren diese Konzepte gefährlich und von der Erdregierung teilweise sogar

verboten. Glücklicherweise machte ein japanischer Physiker namens Prof. Dr. A. Takashi dann eine

erstaunliche Reihe bedeutender Entdeckungen in den Jahren 2109 bis 2111, die eine Manipulation der Gravitation erlaubte. Mit seinen Technologien war die Herstellung von sogenannten Grav-Öfen möglich, die unter den Kolonien platziert wurden und einen Pull erzeugten, der in den Kuppeln für

erdähnliche Schwerkraft sorgte. Falls man falsch kalibrierte konnte dies zu Erdbeben und aufgerissenen Planetenkrusten führen, doch nach ersten Experimenten und vorsichtigen

Berechnungen wurden die Öfen gefahrlos im ganzen Sonnensystem benutzt. Auch sah man schnell weiteres Potential in diesen Entdeckungen. Anstatt Plasmaantribe könnte man Schiffe ja direkt mit Gravitation durchs All bewegen, genauso wie Projektile mit Grav-

Kanonen abschießen. Man erhoffte sich viel von dieser Technologie in jener Zeit, doch diese Hoffnungen blieben unerfüllt.

Prof. Dr. Takashi brachte sich im Jahre 2111 um. In seinem Notizheft, das neben seiner Leiche gefunden wurde, fand man unbekannte Schriftzeichen sowie einige nichtssagende Namen wie Era, Nagrath'Lekur oder Arkyronthep. Weiterhin wurde ersichtlich, dass er selbst nicht seine eigene

Technologie verstand und vor irgendwas Angst zu haben schien. Bis heute wurde das Mysterium nicht gelöst und auch wenn man weiterhin Grav-Öfen herstellen

kann, so wurde die Technologie nie ganz entschlüsselt. Selbst die Allianz zeigt sich in dieser Hinsicht unfähig das bereits Entdeckte weiterzuentwickeln. Wer oder was Prof. Dr. Takashi damals bei seinen Forschungen geholfen hat gilt nach wie vor als

eines der größten Rätsel im Sonnensystem.

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Technische Notiz 2:

Klassen von Kriegsschiffen der Distant Light Alliance:

Kreuzer (Damu Klasse):

Die kleinste Schiffsklasse in der Allianz. Aufbau: Fünfundsiebzig Meter lang und besitzt eine simple Röhrenform, bei der die hinteren Triebwerke absurd groß erscheinen. Hat an den Seiten eckige Anbauten die die gesamte

Bewaffnung beherbergen. Besitzt eine eisengraue Farbe. Mannschaft: Nur zehn Mann.

Bewaffnung: Jeweils einen Raketenwerfer und einen Torpedowerfer in den seitlichen Anbauten, sowie fünf Orbitalbomben. Auch wenn der Kreuzer offensive Raketen besitzt, so besteht seine Hauptaufgabe darin Abfangraketen zu zünden, die feindliche Geschosse

zerstören. Deswegen bilden diese Kreuzer meist einen Schutzring um die größeren Schiffe der Allianz.

Kreuzer (Asag Klasse):

Ein Spezialkreuzer, der mit einer Tarntechnologie an den Feind heranrücken soll.

Aufbau: Ist achtzig Meter lang und besitzt eine gekrümmte, geschwungene Form mit zwei Triebwerken an den Seiten. Die Farbe ist schwarz und die Panzerung glatt. Es kann das

Sternenzelt nachbilden, sowie seine Wärme und beinahe alle anderen Ausstoßungen verbergen, sodass man den Asag sowohl optisch, als auch mit Sensoren kaum entdecken kann – außer wenn es zu spät ist.

Mannschaft: Achtzehn Mann. Bewaffnung: An der Unterseite befindet sich zwei kleine Elektromagnetische Katapulte und

ein Ionenwerfer. Beide sind Umbauten die auf maximalen Schaden in kurzer Entfernung ausgelegt sind. Dazu kommen noch zwei Raketenwerfer. Damit ist der Asag nur nützlich, wenn er es schafft sich dicht an den Feind heranzuschleichen.

Enki:

Die Fregatte der Allianz. Aufbau: Dreihundertachtzig Meter lang. Besitzt eine lange, dünne, rechteckige Form mit zwei Kastenförmigen Anbauten an den Seiten, sowie dem Ionenwerfer, der unter dem

Hauptmodul angebracht ist. Hat eine stahlgraue Farbe. Mannschaft: Siebenunddreißig Mann.

Bewaffnung: Vier Tropedowerfer. Acht Raketewerfer. Jeweils zwei kleine Ionenwerfer in den seitlichen Anbauten und der große Ionenwerfer in der Mitte. Dazu vierzig Kampfdrohnen und zwanzig Orbitalbomben.

Ishkur:

Ein Spezialschiff der Allianz von dem es nur drei Stück gibt. Aufbau: Zweihundertneunzig Meter lang. Zweihundertdreißig Meter davon werden vom großen elektromagnetischen Katapult bestimmt, dessen zwei Beschleuniger wie Hörner in

die Leere ragen. Dahinter ist die Nachladestation und darüber das Kugelförmige Hauptmodul, mit der Brücke die bei diesem Schiffstyp hinten und nicht vorne gelegen ist.

Mannschaft: Neunundzwanzig Mann. Bewaffnung: Neben dem großen elektromagnetischen Katapult, besitzt die Ishkur noch einige Raketenbatterien, zwanzig Orbitalbomben und zwanzig Kampfdrohnen zur

Verteidigung.

Gilgamesch: Das größte Schiff in der Allianz. Aufbau: 1.2 Kilometer lang. Besitzt eine rechteckige,schmale Kastenform, wobei die oberen

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Kanten etwas geschwungen und geglättet sind. Hat zwei Seitenanbauten mit elektromagnetischen Katapulten. Der große Ionenwerfer ist im Hauptmodul, wo die Mündung vorne wie ein gewaltiges zyklopisches Auge die graue Glätte der Außenhülle

durchbricht. Hat an der Seite in silbern das Symbol der Allianz. Mannschaft: Hundertzwanzig Mann.

Bewaffnung: Ein großer Ionenwerfer, zwei elektromagnetische Katapulte, acht Torpedowerfer, vierzehn Raketenwerfer, hundert Orbitalbomben und hundert Drohnen.

Klassen von Kriegsschiffen der Stellaren Vereinigung (auch bekannt als die Erdregierung): Die Flotte der Erdregierung ist alt und es gibt viele verschiedene Schiffsklassen aus verschiedenen

Epochen. Manche sind modernisiert und manche nicht. Meist haben sie allerdings eine weiße Farbe mit geschwungen, welligen Formen. Sie sind mit Statuen aus Marmor verziert und haben Muster

aus Gold und Silber, die oft Blumen oder mythologische Figuren zeigen. Auch wenn die Erdregierung eine gewaltige Überzahl besitzt, so sind viele Schiffe veraltet und selbst die Bewaffnung der Modernsten kommt nur knapp an diejenige von den Schiffen der Allianz

heran. Es hat sich eingebürgert, dass man beim Starten von Schiffen, die auf Mission gehen, ein Fest mit

Feuerwerken und Tänzen veranstaltet. Wegen der großen Vielfalt werden nur grundlegende Daten wiedergegeben mit allgemeiner

Bewaffnung, die allerdings nicht immer zutreffend sind:

Kreuzer: Zwischen 30 und 100 Meter lang. Zwischen 15 und 47 Mann Besatzung

Bewaffnung: 1 Raketenwerfer, 1 Torpedowerfer Zerstörer:

Zwischen 120 und 230 Meter lang Zwischen 79 und 150 Mann Besatzung Bewaffnung: 4 Raketenwerfer, 2 Torpedowerfer, 1 elektromagnetisches Katapult, manchmal

auch Ionenwerfer und Drohnen Fregatte:

Zwischen 350 und 1 Kilometer lang Zwischen 420 und 1050 Mann Besatzung Bewaffnung: 4 Raketenwerfer, 4 Torpedowerfer, 4 elektromagnetische Katapulte, 100-200

Drohnen, manchmal Ionenwerfer Schlachtschiff:

Zwischen 1.5 und 2 Kilometer lang Zwischen 1500 und 2300 Mann Besatzung Bewaffnung: 10 Raketenwerfer, 6 Torpedowerfer, 8 elektromagnetische Katapulte, 500

Drohnen, zwei Ionenwerfer, acht Orbitalbomben Titan (feste Daten):

Die größten und am schwersten bewaffneten Schiffe der Erdregierung. Sie sollen die Menschen auf den Kolonien allein durch ihre Präsenz einschüchtern und gelten als unbesiegbar. Sie dienen meist als Sitz eines Admirals.

Aufbau: 4 Kilometer lang. Hat 500 Meter breite, geschwungene Flügel, die sogar mit den Mustern von Federn geschmückt sind. Am Kopf des Hauptmoduls breitet es sich zu einem

Halbkreis aus, in dessen Mitte sich die mächtige Ionenkanone befindet. Im hinteren Drittel gibt es noch eingefasst in der mächtigen Hülle eine dreihundert Meter große Zentrifuge die

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für Schwerkraft in diesem Teil des Schiffes sorgt und wo sich die Aufenthaltsräume befinden. Besatzung: 5000 Mann

Bewaffnung: 40 Raketenwerfer, 10 Torpedowerfer, jeweils 10 elektromagnetische Katapulte in den Flügeln, jeweils 4 kleine Ionenwerfer in den Flügeln, ein großer Ionenwerfer im

Zentrum. 1300 Drohnen. 50 Orbitalbomben.

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Technische Notiz 3:

Liste aller offiziell besiedelten Planeten und Monde mit deren Bevölkerungzahl vom letzten

Zensus (vor Ausbruch des Krieges):

Innerer Kreis

Erde: 13 Milliarden

Orbitalstadt Heaven One: 4 Millionen

Orbitalstadt Heacen Two: 1.3 Millionen

Erdmond/Luna: 200 Millionen

Mars: 1 Milliarde

Venus: 45 Millionen

Merkur: 12 Millionen

Ceres (Gürtel): 1 Million

Jupiter Monde:

Io: 8 Millionen

Europa: 5 Millionen

Ganymed: 14 Millionen

Kallisto: 7 Millionen

Amalthea: 100.000

Himalia: 80.000

Elara: 20.000

Pasiphae: 19.000

Sinope: 10.000

Lysithea: 6.000

Saturn Monde:

Mimas: 30.000

Enceladus: 20.000

Tethys: 1 Million

Dione: 800.000

Rhea: 500.000

Titan: 5 Millionen

Hyperion: 30.000

Iaptus: 2 Millionen

Phoebe: 400.000

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Uranus Monde:

Ariel: 600.000

Umbriel: 500.000

Titania: 1.3 Millionen

Oberon: 1.1 Millionen

Miranda: 100.000

Portia: 40.000

Puck: 43.000

Sycorax: 32.000

Neptun Monde:

Triton: 2 Millionen

Nereid: 200.000

Proteus: 30.000

Larissa: 3.000

Galatea: 5.000

Despina: 3.500

Äußerer Ring:

Pluto: 1.4 Millionen

Charon: 500.000

Eris: 1.1 Million + Hephaistos: 70.000

Makemake: 800.000 + Hades Zero: 40.000

Haumea: 700.000

Sedna: 200.000

Quaoar: 230.000

Orcus: 100.000

2007 OR: 500.000

Notiz: Dies sind alle offiziellen Kolonien. Allerdings haben viele offiziel nicht besiedelte Monde

auch Forschungsbasen, Militärstützpunkte, Wellness Oasen, Handelsposten oder inoffizielle Gemeinschaften von gesellschaftlichen Aussteigern.