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JOURNAL FUR ORNITHOLOGIE Band 109 1958 Nr. 4 Aus dem Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologfe, Vogelwarte Radolfzell Das Nesthäkchen als biologisches Problem Von Hans Löhrl, Möggingen Was verstehen wir eigentlich unter einem Nesthäkchen? Es dürfte die allgemein übliche Anschauung treffen, wenn wir sagen: ein Junges oder mehrere Junge von Nesthockeru, die deutlich kleiner oder leichter sind als die Geschwister. Es kann sein, daß das Kleinste das Jüngste ist, es kann jedoch auch so sein, daß es aus irgendeinem anderen Grunde zurücksteht. Nesthäkchen sind nicht etwa nur eine gelegentliche Erscheinung. In fast allen Fällen, wo einzelne Junge einer Brut im Nest gestorben sind, besteht der Ver- dacht, daß sie den Weg über das Nesthäkchen genommen haben. Abb. 1. 100 50 m 54,8 51 2 4g,5 22,5 13,0 1i 0 % P.major F.hy'po- P.caeru- P. ater Rcristatus P. paustris leuca leus 503 275 196 266 23 54 Br. o.V. 276 141 97 60 3 6 J.-Verl. 779 416 293 326 26 60 Br.insges Die Jungenverluste bei einigen Höhlenbrütern im Vergleich zu jeweils 100 Bruten ohne Verluste. Um einen Eindruck von der Häufigkeit von Jungvogelverlusten zu geben, habe ich in Abb. 1 dargestellt, wie viele Bruten mit eindeutigen Jungvogelverlusten jeweils auf 100 Bruten ohne Verluste entfallen. Tatsächlich sind die Verluste noch höher. Da wir bisher unsere Nisthöhlen nur alle 10 Tage kontrollierten, stellten wir in vielen Fällen eine Differenz zwischen dem Vol]gelege und der Zahl der vorgefundenen Jungen fest, ohne die Ursachen im einzelnen zu kennen, die zu den Verlusten geführt haben. Es können Eier oder Junge ausgefallen sein.

Das Nesthäkchen als biologisches Problem

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JOURNAL FUR

ORNITHOLOGIE

Band 109 1958 Nr. 4

Aus dem Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologfe, Vogelwarte Radolfzell

Das Nesthäkchen als bio log i sches P r o b l e m

Von Hans Löhrl, Möggingen

Was verstehen wir eigentlich unter einem Nesthäkchen? Es dürfte die allgemein übliche Anschauung treffen, wenn wir sagen: ein Junges oder mehrere Junge von Nesthockeru, die deutlich kleiner oder leichter sind als die Geschwister. Es kann sein, daß das Kleinste das Jüngste ist, es kann jedoch auch so sein, daß es aus irgendeinem anderen Grunde zurücksteht.

Nesthäkchen sind nicht etwa nur eine gelegentliche Erscheinung. In fast allen Fällen, wo einzelne Junge einer Brut im Nest gestorben sind, besteht der Ver- dacht, daß sie den Weg über das Nesthäkchen genommen haben.

Abb. 1.

100

5 0

m

54,8 51 2 4g,5 22,5 13,0 1i 0 % P.major F.hy'po- P.caeru- P. ater Rcristatus P. paustris

leuca leus 5 0 3 275 196 266 23 54 Br. o.V. 2 7 6 141 97 60 3 6 J.-Verl. 779 416 293 326 26 60 Br.insges

Die Jungenverluste bei einigen Höhlenbrütern im Vergleich zu jeweils 100 Bruten ohne Verluste.

Um einen Eindruck von der Häufigkeit von Jungvogelverlusten zu geben, habe ich in Abb. 1 dargestellt, wie viele Bruten mit eindeutigen Jungvogelverlusten jeweils auf 100 Bruten ohne Verluste entfallen. Tatsächlich sind die Verluste noch höher. Da wir bisher unsere Nisthöhlen nur alle 10 Tage kontrollierten, stellten wir in vielen Fällen eine Differenz zwischen dem Vol]gelege und der Zahl der vorgefundenen Jungen fest, ohne die Ursachen im einzelnen zu kennen, die zu den Verlusten geführt haben. Es können Eier oder Junge ausgefallen sein.

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Nehmen wir zusätzlich die Verluste unbekannter Ursache in die Übersicht auf, so wird der Anteil von Bruten ohne jeglichen Verlust noch geringer (Abb. 2).

1200

600

P.major F.hypo- P.caeru- P.ater P.cristatus P.palustris leuca leus

1219 6.04 526 4 5 6 36 96 716 329 3 3 0 190 13 42 276 1.39 95 60 3 6

Abb. 2. Anteil der Verluste bei Höhlenbrütern in Südwestdeutsdaland. Obere Zahlenreihe: Bruten insgesamt Mittlere Zahlenreihe: Verluste von Eiern und Jungen insgesamt Untere Zahlenreihe: Anteil der sidaeren Verluste von Jungen

In B~NDT-MEIsE (1959) sind als mögliche Ursachen der Bildung von Nest- häkchen angegeben" Angeborene Konstitutionsschwäche, Nahrungsmangel, zu große AItersunterschiede und parasitäre Schädigungen. Dazu ist zu sagen: Mög- licherweise ist es Konstitutionsschwäche, wenn bei Singvögeln Junge während des Schlüpfens oder kurz nachher sterben. In nicht wenigen Fällen ergeben sich g~- rade am Schlüpftag Differenzen zwischen Eizahl und Jungenzahl. Diese Junger~ werden meist sofort von den Eltern aus dem Nest entfernt. Schon vor Jahren habe ich bei einer ganzen Anzahl von Halsbandschnäppern und Meisen geprüft, ob bei stark verkümmerten Nesthäkchen Konstitutionsschwäche oder endopara- sitäre Schädigungen in Frage kommen, einfach in der Weise, daß ich diese Jungen zu gleich großen oder etwas kleineren Jungen anderer Bruten setzte. Stets erholten sich die Nesthäkchen bei ausreichender Ernährung völlig und nahmen an Gewicht zu. Allerdings setzte die Federentwicklung entsprechend ihrem höheren Alter früher ein, so daß sie trotz des zunächst noch niedrigen Gewichts -- im Gegensatz zu den Stiefgeschwistern -- befiedert waren und dann auch früher als jene aus- flogen. Durch Wiederfang im nächsten Jahr habe ich den Beweis erhalten, daß ein derartiges ehemaliges Nesthäkchen des Halsbandschnäppers tatsächlich über- lebte und als Brutvogel im Frühjahr zurückkehrte.

Was nun die Altersnnterschiede angeht, so erwähnt schon LACK (1966), daß diese allein keine Benachteiligung ergeben müssen. Es fällt auf, daß z.B. bei denjenigen Meisen, die nur geringe Verluste im Nest erleiden, genau so regel-

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mäßig ein Junges später zu schlüpfen pflegt als bei den verlustreichen Arten. Bei den Sumpfmeisen etwa erkennt man schon nach wenigen Tagen nicht mehr, wel- ches Junge das zuletzt geschlüpfte war, und es gibt späterhin nur noch ein Merk- mal, um Altersunterschiede der Jungen im Nest zu erkennen: nämlich den Grad der Federentwicklung, den man vor allem an den Handschwingen ablesen kann.

Ein Beispiel dafür, wie Nesthäkchen unter guten Ernährungsbedingungen auf- zuholen vermSgen, so daß sie als solche gar nicht mehr kenntlich sind, zeigt die Tabelle 1 anhand der Gewichte junger Tannenmeisen. Wir können in Spalte 1 ohne weiteres erkennen, daß zwei Jungvögel auffallend weniger wogen als die

Tabelle l: Gewicht junger Tannen- meisen

P«rus ater. Adult-Gewicht ± 9g

7 Toge 11 Tage 15 Toge

7,0 9,8 10,7 7,4 9,6 1,0,2 5,7 9,6 10,9 5,7 9,6 11,3 6,4 10,4 11,1 7,3 10,6 1 1,6 5,6 9,7 10,9 4,7 8,4 10,7 3,8 8,6 11,8

übrigen. Doch schon 4 Tage später haben diese Nesthäkchen bemerkenswert aufgeholt. Bekannt- lich wiegen nestjunge Singvögel in einem be- stimmten Stadium wesentlich mehr als ihre El- tern. Dieser Gewichtsüberschuß sinkt vor dem Flüggewerden wieder ab. Im dargestellten Fall ergab es sich, daß dieses wahrscheinlich um 2 Tage jüngere Nesthäkchen sein Höchstgewicht erreichte, als die älteren Geschwister schon wie- der abgenomen hatten, und so hatte dieses genau nach 8 Tagen vorübergehend das Höchstgewicht unter allen Geschwistern. Jeder Jungvogel in Spalte 3 dieser Tabelle wiegt noch wesentlich mehr als ein alte Tannenmeise. Hier zeigt sich

deutlich, daß Nesthäkchen infolge späteren Schlüpfens vorübergehend auftreten können. Bei guter Ernährung können sie jedoch den Gewichtsunterschied voll- ständig aufholen.

Abb. 3. Nesthäkchen der Kohlmeise kurz nach seinem Tode, da- neben normal entwik- keltes Nestgeschwister, das hSchstens einen

Tag älter ist.

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Es bleibt also als Hauptursache für die Entstehung von Nesthäkchen .der Nah- rungsmangel, das heißt, daß aus irgend einem Grunde, der hier nicht n~her unter- sucht werden kann, die, Jungen insgesamt weniger Futter erhalten, als zu ihrer normalen Entwicklung nötig wäre. Würde nun das Futter auf alle Jungen gleich- mgl]ig verteilt, hätte dies zar Folge, daß a l 1 e Not le~den würden und unter- ernährt zum Ausfliegen kämen. Nun gibt es aber einen besonderen Mechanismus, dessen Funktion es ist, ein Junges oder auch wenige Junge als Nesthäkchen zu opfern, um den übrigen Geschwistern den notwendigen Nahrungsbedarf voll zu sichern.

Wie kommt es nun im einzelnen dazu, daß ein oder mehrere Junge geopfert werden? Die Beobachtung an hunderten von Fütternngen aus dem Versteck, d.h. aus etwa 30 cm Entfernung vom Nest, durch eine Glasscheibe hindurch, ließ beim Halsbandschngpper (Ficedula albicollis) wie beim Kleiber (Sitta europaea) fol- gendes erkennen:

Es wird stets dasjenige Junge gefüttert, das beim Erscheinen des Altvogels z u e r s t sperrt, d.h. das Junge mit der schnellsten Reaktion. Der Altvogel füt- tert einen Jungvogel auch dann zuerst, wenn dieser auch nur Brnchteile einer Se- kunde früher sperrte als die übrigen. Der am Flugloch hä.ngende Altvogel erkennt, wer der erste Sperrer ist, und füttert diesen, selbst wenn er als hinterster im Nest sitzt und alle übrigen Jungen inzwischen längst auch sperren. Zuerst sperrt offenbar stets das hungrigste Junge, d. h. es liegt förmlich auf der Lauer, bis ein Altvogel kommt. Die bei den vorigen Fütterungen gesättigten Jungen beachten die Ankunft eines Elternvogels erst etwas später und sperren später. Ein be- reits geschwächtes Nesthäkchen dagegen reagiert stets als letztes. Zu den ersten Anzeichen der Schwächung eines Jungen gehört geringere Reaktionsschnelligkeit. Ich habe dies oftmals nachgeprüft, indem ich durch ein Geräusch die Ankunft eines Altvogels vortäuschte. Alle Hälse fuhren hoch, der des Nesthäkchens immer um eine minimale Zeitspanne später.

Diese Verhaltensweise müßte nun eigentlich zur Folge haben, daß das Nest- häkchen überhaupt kein Futter mehr erhielte, was zu einem noch rascheren Ab.- sterben führen würde und damit für die übrigen Jungen von Vorteil wäre. Dem steht aber entgegen, daß das Nesthäkchen zwar verspätet sperrt, aber länger aus- harrt. Es sperrt noch, wenn die übrigen schon aufgehört haben. Nun kommt es aber gelegentlich vor, dal~ zufällig beide Altvögel am Nest mit Futter zusammen- treffen, wobei der eine draußen wartet, bis der andere fertig ist. Wenn dann der zweite Vogel das Nest anfliegt, sperrt das Nesthäkchen noch von der vorigen Füt- terung her, ist damit ,Erstsperrer" und erhält das Futter.

Die geschilderte Verhaltensweise setzt voraus, daß die Jungvögel erst auf den Elternvogel aufmerksam werden, wenn dieser die Jungen schon sieht. Ältere Jungvögel bemerken indessen oft die Annähernng der Altvögel, ehe diese sie sehen. Dies gilt vor allem für den Kldber, dessen Klettern am Stamm hSrbar ist. Hier lernen die Jungvögel das Annäherungsgergusch als Futterankündigung ken- nen und sperren bereits, wenn der Altvogel in die Bruthöhle hereinkommt. Jetzt

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zeigte sich ein zweiter, entsprechend wirkender Mechanismus: Wenn alle Jungen bei der Ankunft der Eltern sperrten, wurde stets das am h ö e h s t e n sperrende Junge bevorzugt. Auch dabei genügen kleinste Unterschiede, und es ist hier ebenso eindrucksvoll, wie der fütternde Altvogel an den heftig sperrenden Schnäbeln vor- übergeht, um den Höchstsperrer zu füttern. Es ist kaum nötig, zu betonen, daß ein zurückgebliebenes Junges nie der Höchstsperrer sein kann, weil es kleiner ist als die anderen. Bei den besprochenen Höhlenbrütern besteht demnach ein Mechanismus, der darauf abzielt, bei Nahrungsmangel ein oder mehrere Nest- häkchen zu opfern, und so einem Teil der Jungen das Durchkommen ermöglicht. Von den Jungen wird bevorzugt gefüttert und hat die größte Überlebenschanee, wer entweder am schnellsten sperrt oder sich beim Sperren am höchsten reckt.

Wie ein Nesthäkchen, das geopfert werden muß, immer weniger gefüttert wird, zeigt die folgende Übersicht:

In einem Nest mit fünf jungen Halsbandschnäppern erhielt das Nesthäkchen Futter:

Im Alter von 8 Tagen jede 8.-- 9. Fütterung (7 von 59) Im Alter von 10 Tagen jede 15. Fütterung (3 von 45) Im Alter von 12 Tagen jede 19.--20. Fütterung (6 ven 117)

Bei gleichmäßiger Verteilung des Futters hätte jeder Jungvogel durchschnittlich bei jeder 5. Fütterung berücksichtigt werden müssen. Statt dessen erhielt das Nest- häkchen bei 117 Fütterungen am letzten Tag nur noch sechsmal Futter. Sein Ge- wicht betrug an diesem letzten Lebenstag 5,6 g, während die Geschwister durch- schnittlich 13,1 g wogen.

Bei einer Kleiberbrut wog das noch lebende Nesthäkchen 4,0 g, die übrigen im Durchschnitt 12,4 g; dabei war es nur einen knappen Tag jünger.

Es ergibt sich von selbst, daß dieser Benachteiligung des Nesthäkchens eine entsprechend höhere Fütterungsrate der übrigen Jungvögel gegenübersteht. Wenn das Nesthäkchen endlich gestorben ist, erhalten sie allein die gesamte Nahrung.

Man könnte einwenden, daß diese Methode nur für die beiden bisher beschrie- benen Arten, den Kleiber und den Halsbandschnäpper, zu gelten brauche, obwohl diese gewiß nicht nahe miteinander verwandt sind. Inzwischen hat aber -- an einer leider schwer zugänglichen Stelle -- MACKRODr (1966) den Brutverlauf bei der Blaurneise, Parus caeruleus, beschrieben, wobei er, wie wir, von einem Versteck aus in die Bruthöhle Einblick nahm. Ohne auf die Prob]einstellung einzugehen, schreibt MAC-KRO»T, daß derjenige Jungvogel das Futter bekam, ,der zuerst sperrte oder den Schnabel am weitesten emporreckte". Das Schicksal des Nesthäkchens veranlaßte MACKRODT ZU einer Hilfsaktion, die als Experiment wertvoll ist: Er stellte fest, daß das Nesthäkchen nicht, wie die übrigen Jungen, sich drückte, wenn es Fremdgeräusche hörte. Sah er nun einen Altvogel kommen, so räusperte er sich, was zur Folge hatte, daß sich die größeren Jungen im Nest drückten, wäh- rend zunächst nur das Nesthäkchen den ankommenden Altvogel ansperrte. Es war dadurch Erstsperrer und bekam das Futter. MACKRODT verhalf so dem Jüng-

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sten zu einer hguiigoren Fütterung. Als jedoch die übrigen Jungen ausflogen, blieb es im Nest zurück und verhungerte.

Es ist klar, daß als etwaige Nesthäkchen zunächst einmal diejenigen prädesti- niert sind, die als letzte geschlüpft and daher jünger als ihre Geschwister sind. Dies muß vor allem bei deI1 Meisen nicht davon herrühren, daß sie schon vor Ablage des letzten Eies mit dem Brüten beginnen, wodurch dann die zuletzt ge- legten Eier verspätet schlüpfen. Ich kenne n~mlich eine Reihe von F~llen, wo das Vollgelege tagelang unbebrütet blieb, so daß dann sicher sämtliche Eier vom gleichen Zeitpunkt ab bebrütet waren. Trotzdem schlüpften die Jungmeisen nicht gleichzeitig. Dies geht wohl darauf zurück, daß bei den außerordentlich großen Gelegen von Kohl- und Blaumeisen niemals alle Eier vom Körper des Altvogels bedeckt sein können. Das reichlich mit Tierwolle ausgepolsterte Nest muß hier als Ganzes so durchw~rmt werden, daß keines der Eier ganz abkühlt. Durch das ständige Verschieben der Eier gelangen alle mehr oder weniger h~ufig in die optimale W~rme. Doch ist ein gleichförmiger Wechsel nicht gewährleistet und Eier, die lange am Rand liegen, mögen eine langsamere Entwicklung haben.

Vor allem bei kleineren Gelegen kommt es indessen vor, daß keines der Jungen entscheidend später schlüpft als die übrigen. Trotzdem bilden sich auch in solchen Bruten oft sehr rasch Nesthäkchen heraus. Es kann sich dabei um Jungvögel han- deln, die vielleicht infolge einer geringfügigen, unbekannten Schädigung oder auch wegen einer kurzfristigen Benachteiligung in der Fütterung gegenüber ihren Ge- schwistern ins Hintertreffen kamen. Sie können daraufhin in ihrer Reaktions- f~higkeit nachgelassen und damit den vollen Mechanismus in Gang gesetzt haben. Wie gut dieser Mechanismus auch dann funktioniert, wenn zu Beginn anscheinend völlig gleichwertige Jungvögel vorhanden waren, geht aus einer Arbeit von DECKERT (1964) hervor: Danach gingen nach dem Ausbleiben des M~nnchens von acht Jungen der Kohlmeise in kurzer Zeit drei ein, w~hrend die übrigen fünf bei bester Gesundheit aufgezogen wurden.

Beispiele von Nesthäkchen beim Star finden wir bei SCHNEIDEn (1954), ferner bei HUDEC und FOLK (1961). Danach scheint es, daß sie hier meistens schon im Alter von 1--3 Tagen sterben. Hier ist ein Mechanismus vielleicht schon rascher wirksam, aber noch nicht untersucht worden. Bei Staren fliegen andererseits viele Vögel mit Untergewicht aus. Diese werden h~ufig eine Beute zahlreicher Feinde. Selbst M~usebussarde bevorzugten dann im Favoritepark Ludwigsburg solche flugunf~hig herumhüpfenden Jungstare.

Eine zweifellos bedeutende Rolle spielt die Verminderung der Jungen auf dem Weg über das Nesthäkchen bei der Mehlschwalbe, Delichon urbica. Sobald schlech- tes Wetter eintritt, bleiben einzelne Junge zurück und verlieren an Gewicht. Wenn rechtzeitig wieder sonniges Wetter einsetzt, können sich solche JungvSgel über- raschend schnell wieder erholen. Anderenfalls gehen sie ein und werden meist aus dem Nest geworfen. Die Zahl der Schwalbenbruten, in denen einzelne Junge ein- gehen, ist oft größer als die Zahl der Bruten ohne Verluste. Je nach der Dauer

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der Schlechtwetterperiode gehen dabei auch mehrere Junge ein, während der Rest einen normalen Eindruck macht.

Diese Vorgänge können erst näher untersucht werden, seit es möglich ist, Schwalben in Kunstnestern anzusiedeln und laufend Einblick zu nehmen.

Bei der Ranchschwalbe, Hirundo rustica, sind Nestlingsverluste wesentlich seltener.

In welcher Weise bei Schwalben die Nesthäkchen benachteiligt werden, ist noch nicht bekannt, v. VIETrNGttOFF-RIEsCtt (1955) erklärt diesen Vorgang einfach so: ùNoch häufiger kommt es vor, daß eines der zurückgebliebenen Jungen, weil es seinen Rachen nicht entgegenzustrecken vermag, bei der Fütterung ganz über- sehen und immer mehr abgängig wird".

Ein ähnliches Prinzip herrscht offenbar auch bei den Mauerseglern. Ihre Sterb- lichkeit in Schlechtwetterperioden hat vor allem LÆc~ (1966) untersucht und als Beispiel dafür herangezogen, daß bei ansreichenden Nahrungsverhältnissen alle Jungen aufgezogen werden können, während bei Nahrungsverknappung alles Futter nur den größten Jungen gegeben wird, bis sie satt sind, während die Schwächlinge leer ausgehen.

Der bisher geschilderte Ablauf kann natürlich nur für solche Vogelarten gelten, bei denen das Futter in Portionen von den Altv5geln verteilt wird, wo also die AltvSgel ,entscheiden", wem sie die Nahrung verabreichen. Andersartige Verhält- nisse bestehen selbstverständlich bei all den Vogelarten, wo sich die Jungen selbst das von den Eltern gebrachte Futter einverleiben. Bei diesen Gruppen, also den Greifvögeln, Eulen, Schreitvögeln usw., ergreifen die Jungen -- mit Ausnahme vielleicht der ersten Tage -- das Futter selbst. Es kommen dabei also diejenigen zum Zuge, die sich am raschesten auf die Futterquelle stürzen und die Nahrung entweder sofort verschlingen oder aber ergreifen und für sich in Sicherheit brin- gen. Den Vorgang, wie er sich bei den Greifvögeln abspielt, beschreibt LACK (1954), indem er darauf hinweist, daß dort jeweils die Stärksten selbst um das Futter kämpfen und sich vollkröpfen. Erst wenn dies geschehen ist, können die Schwächeren an die Nahrung, sofern noch etwas vorhanden ist. Hier wirkt sich also die Nahrungssituation unmittelbar auf die Jungen aus und nicht auf dem Umweg der Verteilung.

Ob sich die Benachteiligung der Schwächeren bei den Greifvögeln n u r in die- ser Weise abspielt, ist vorerst nicht zu beurteilen. Weitere Möglichkeiten der Schä- digung von Nesthäkchen wurden bisher nur durch WE~'DLA~ (1958) und M~.BS (1964) beim Mäusebussard, Buteo buteo, sowie durch W E ~ r D ~ (1958) beim Schreiadler, Aquila pomarina, bekannt. WENDLA~¢D geht vor allem auf das Töten nestjunger Bussarde durch ihre Geschwister ein und schuf dafür -- in Anspielung auf den von Sc~rüz (1957) geprägten Begriff ,Kronismus" (das Verschlingen eigener Junger durch die Eltern) -- den Begriff ,Kainismus" (für das Verschlin- gen Nestjunger durch ihre Geschwister). In seinem Beobachtungsgebiet brachten 170 Paare des Mäusebussards nur 165 Junge zum Ausfliegen, während 30 Junge

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vorzeitig eingingen. Bezeichnenderweise zeigt die Verteilung dieser 30 Jungen eine deutliche Abhängigkeit von Ernährungsbedingungen. In guten Feldmaus-Jahren wurden nur vereinzelte oder gar keine umgekommene Junge festgestellt, während in schlechten Mäusejahren ,ein Drittel und mehr der gesamten geschlüpften Jun- gen vorzeitig eingegangen" sind. Nach W~.NDr~A,~rD erfolgt diese Ausmerzung, an der die Nestgeschwister beteiligt sind, vor allem bis zum Alter von 2--3 Wochen, zu einer Zeit, wo der Nahrungsbedarf stark ansteigt. Das gegenseitige Aufein- ander-Hacken junger Mäusebussarde ist auf eine bestimmte Periode beschränkt, die zwischen Schlüpfen und dem Alter von etwa zweieinhalb Wochen liegt. ,Später sieht man junge GreifvJgel stets friedlich im Horst nebeneinander sitzen." Daraus geht hervor, daß hier nicht allein die Nahrungskonkurrenz wirksam ist, sondern daß spezifische Verhaltensweisen am Werk sind, die rechtzeitig vor Beginn star- ken Nahrnngsverbranchs die Zahl der Jungen vermindern.

MEBS (1964) hat bei 16 Jungbussarden das Alter festgestellt, in dem sie zu- grnnde gingen. Sie waren im Durchschnitt 11 Tage alt. Im Gegensatz zu WENDr~AND fand MEBS grölJere Verluste in guten Mäusejahren als Folge einer damit zusam- menhängenden hJheren GelegegrölJe.

Einen davon völlig verschiedenen weiteren Mechanismus beschreibt WENDL~~D indessen vom Schreiadler. Bei dieser Adlerart werden so gut wie immer zwei Eier gelegt. Die Jungen schlüpfen nach W~.NDLä_~D im Abstand von 3--4 Tagen, doch geht das später geschlüpfte Junge ,stets nach 3--5 Tagen ein". Es ist ohne weiteres klar, daß in diesem Alter nicht Nahrungsmangel die Ursache sein kann. Vielmehr setzt sich das größere Geschwister auf das kleinere Junge. WmVDr~A~¢D versichert ausdrücklich, dal3 es sich dabei keinesfalls um eine ,zufällige Erschei- nung handelt, sondern um einen angeborenen Trieb". Auch wenn er das Junge hervorholte und fütterte, kam das andere sofort wieder herbei ,und krabbelte so lange herum, bis es auf dem kleineren Geschwister saß". Das jüngere Ge- schwister wird also aufgrund dieses sicherlich angeborenen Verhaltens von seinem älteren förmlich erdrückt. Hier scheint, wie meist auch beim Steinadler, A•uila chrysaetos, das zweite Ei lediglich eine Sicherung darzustellen, die gewährleistet, daß gewiß ein Junges zum Schlüpfen kommt. Andererseits gibt es in seltenen Aus- nahmen beim Schreiadler und gelegentlich beim Steinadler zwei Junge, die tat- sächlich aufgezogen werden.

Am Ende der Reihe gibt es allerdings auch Adler- und Geierarten, die auf diese Sicherung des Nachwuchses durch zwei Eier und damit auf die Beseitigung des zweiten Jungen ganz ,verzichten" und von vornherein nur ein Ei legen.

Zweifellos eine Sonderform des Nesthäkchen-Todes ist es, wenn Vogelarten, die ohnehin Vögel und andere Warmblüter als Nahrung verzehren, ihre geschwächten Jungen vor oder nach deren Ableben selbst verschlingen, also wie Beute behan- deln. MAKATSeH (1951) hat sich als erster mit diesem Problem befaßt und in seinem Abschnitt ,Kannibalismus unter Nestgeschwistern und das Töten der eigenen Jungen" eine Reihe von Beispielen aufgeführt.

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Späterhin hat sich SCHÜZ (1957), ausgehend von Beobachtungen am Weißen Storch, Ciconia ciconia, mit dieser Frage beschäftigt. Nach den Feststellungen von TA~rrz~ (zusammengefaßt 1962) steht der Bruterfolg beim Weißen Storch in deutlichem Zusammenhang mit der Nahrungsgrundlage. Bei naßkaltem Wetter können nach T~rrz~,~ die Störche ,weniger Jungvögel aufziehen, oftmals gehen zahlreiche ein oder werden aus dem Nest geworfen". In diesen sehr häufigen Fällen ist also offenkundig das zu geringe Nahrungsangebot primär die Ursache für das Zurückbleiben der zuletzt gesch]üpften Jungen. Ob dies auf dem Weg über die Futterverteilung durch die Altvögel geschieht oder ob die kräftigeren Jungen schneller sind, indem sie die ausgewürgte Nahrung verzehren, bevor die schwächeren Geschwister überhaupt dazu kommen, ist noch ungeklärt; doch ist das letztere wahrscheinlich. In solchen Fällen dürfte es bei den nur noch schwach reaktionsfähigen Jungen dazu kommen, daß sie verschlungen oder aus dem Nest geworfen werden (vgl. ScHÜz). ScnÜz geht allerdings von der Beobachtung aus, daß bei erstmals brütenden Störchen ,ein Mangel an Ausreifung" vorliegen kann. In derartigen doch wohl vereinzelten Fällen können von einem in dieser Weise ge- störten Altvogel anscheinend vollwertige Junge umgebracht werden. Das Vernich- ten zurückgebliebener Nesthäkchen hat indessen andere Ursachen. Hier dürfte ahnormes Verhalten von Jungen, die durch Nahrungsmangel gelitten haben, eine sonst vorhandene Hemmung beim sich normal verhaltenden Altvogel aufheben. Bei solchen Vogelarten, zu deren Nahrung lebende Vögel anderer Arten gehören, muß von den eigenen Jungen eine Hemmung ausgehen, die die Altvögel davon abhält, sie zu erbeuten. Wie solche Hemmungen beschaffen sind, wissen wir im Einzelfall noch nicht. Beim Storch sehen wir, daß sie bei geschwächten Jungen nicht mehr bestehen. Vielleicht sind die Altvögel weniger gehemmt, wenn sie selbst schlecht ernährt oder hungrig sind, so daß der Anreiz, Beute zu machen, größer ist, als wenn sie völlig gesättigt wären.

Oft sind allerdings geschwächte Junge zum Verschlingen zu groß, was dann zu dem bekannten »Aus-dem-Nest-Werfen" führt. Es besteht dann keinerlei Unter- schied mehr zu dem entsprechenden Verhalten vieler Singvögel.

Was die in freistehenden Nestern brütenden Singvögel angeht, so meint LACK (1954), daß bei diesen das Verhungern keine häufige Todesursache sei, zum min- desten werde sie überschattet von der großen Masse der durch Nesträuber vernichte- ten Bruten. Dies ist wohl richtig und wird von den Spezialbearbeitern einiger Frei- brüterarten bestätigt. Dazu kommen allerdings auch, vor allem bei Bodenbrütern, hohe Verluste in Regenperioden. ASC~NBRENN~~R (1966), der mit einigen Mitarbei- tern den Waldlaubsänger (Phylloscopus sibilatrix) näher untersucht hat und von 834 Nestern die Gelegegröße angibt, hat zwar viele Totalausfälle bei langdauern- dem Regenwetter beschrieben, aber diese Jungen starben, was auch für Höhlen- brüter bei Dauerniederschlägen gilt, nicht eigentlich an Nahrungsmangel, sondern an Unterkühlung. Einzelne als Nesthäkchen zurückgebliebene Junge hat ASCHnN- BR~N~SR (briefl.) ,nur äußerst selten" gefunden. HmeRV.erVT (1965) hat gar bei

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der Nachtigall (Luscinia megarhynchos), wie er brieflich bestätigt, überhaupt kein Nesthäkchen gefunden.

Auch bei den Wiesenschmätzern, dem Schwarzkehlchen (Saxicola torquata) und dem Braunkehlchen (S. rubetra) ist nach FRA-~KEVOORT und HUBÆTSCH (1966) ,die Sterblichkeit unter den Nestjungen. . . sehr gering, wenn man die Zerstörung der Nester . . . . außer acht läßt".

Ähnlich ist es in unseren Breiten beim Neuntbter, Lanius collurio. Während MÜNSTER (1958) nicht auf den Bruterfolg eingeht, erhielt ich von STÆVB~R (briefl.) dankenswerterweise aus seinem noch unveröffentlichten Material folgende Zahlen: Von insgesamt 92 erfolgreichen Bruten, die er 1964--1967 untersuchte, enthielten 14 Nester insgesamt 17 Nesthäkchen, die zugrunde gingen. Dieser Anteil an Nest- häkchen in nur 15 % der untersuchten Nester ist gering. Er zeigt andererseits, daß bei Nahrungsknappheit ein Mechanismus vorhanden sein muß, der eine gleichmäßige Futterverteilung verhindert. Dieser Ausfall spielt indessen für die Population in unserem wechselhaften Klima keine nennenswerte Rolle, denn die hier nicht verwerteten Verluste ganzer Bruten sind bei regnerischer, kühler Witte- rung sehr hoch. STAUBER schreibt im Hinblick auf die Gesamtpopulation daher auch: , In Verlustjahren geht ein ,Nesthäkcheneffekt' durch die auftretenden To- talverluste praktisch verloren. Andererseits läßt sich aber bei Totalverlusten . . . ein ,Sterben von klein nach groß' durchaus verfolgen". Demnach ist ein Nest- häkchen-Effekt aber bei den Jungen innerhalb einer Brut wahrscheinlich.

Es ist weiterhin denkbar, daß gerade bei diesem Würger in klimatisch gün- stigeren Gebieten mit weniger Totalverlusten einzelne Nesthäkchen wesentlich häufiger vorkommen und hier auch stärker den Nestlingsbestand regulieren. Allerdings gilt für diese Angaben wie für die übrigen an Freibrüteru, daß die Kontrolle meist mit der Beringung, die hier etwa am 7.--8. Tag durchgeführt wird, endet. Später eintretende Verluste bleiben also meist unentdeckt; möglicher- weise sind die Ausfälle durch Nesthäkchen doch etwas höher.

Der relativ geringe Anteil an Nesthäkchen ist aber auch in anderer Hinsicht bemerkenswert: Dieser Würger gehört zu den Arten, die meist zu brüten begin- nen, bevor das letzte Ei gelegt ist. Eines der Jungen ist dann, wie auch Beobach- tungen zeigen, einen Tag jünger als seine Geschwister, es bleibt aber in der Ent- wicklung nicht zurück. Das beweist erneut, daß der unterschiedliche Schlüpftermin nicht notwendigerweise mit der Ausbildung von Nesthäkchen zusammenhängen muß.

Zuletzt sei noch ein Freibrüter erwähnt, bei dem die Differenz zwischen der° Zahl der geschlüpften und der ausfliegenden Jungen besonders hoch ist: die Saatkrähe, Corvus frugilegus. Bei diesem Vogel schreibt NIETHAMMER (1937) im Handbuch: ,Meist herrscht erhebliche Sterblichkeit unter ihnen". Diesbezügliche Zahlen finden wir bei OWSN (1959). Danach schwankten die durchschnittlichen Jungenver]uste in Kolonien bei Oxford innerhalb von 6 Jahren zwischen 21 und 34 %; insgesamt flogen von 778 geschlüpften Jungen 559 aus. In welcher Weise hier die Benachteiligung erfolgt, ist bis jetzt nicht bekannt.

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Diskussion

Nesthäkchen sind, wie wir sahen, vor allem bei Höhlenbrütern, aber auch bei vielen Freibrütern eine regelmäßige Erscheinung. Bei günstiger Ernährungslage holen sie ihre Nestgeschwister in der Regel ein, bei schlechten Ernährungsbedin- gungen werden sie durch einen besonderen Fütterungsmechanismus der Altvögel oder durch spezielle Verhaltensweisen der Nostgeschwister geopfert. Dadurch wird gesichert, daß wenigstens ein Teil der Jungen einer Brut überlebt.

Wir haben hier Verhaltensweisen vor uns, die sich eindeutig gegen das Indi- viduum richten, jedoch der Arterhaltung dienen.

Dabei erhebt sich die Frage, ob alle die Arten, die häufig mehr Eier legen, als sie Junge aufziehen können, in ihrer Gelegegröße mangelhaft an die Aufzuchts- möglichkeit angepaßt sind. Zur Zeit der Eiablago vermag sich -- mit Ausnahme der Mäusespezialisten -- wohl kaum ein Vogel darauf einzustellen, wie die Nah- rungsverhältnisse zur Zeit der Jungenaufzucht sein werden, wenigstens nicht in unseren Breiten. In der Abb. 1 fallen vor allem die großen artspezifischen Unter- schiede ins Auge. Bei der Sumpfmeise ebenso wie bei der Hanbenmeise mit ge- ringerer durchschnittlicher GelegegrSBe kommen Nesthäkchen wie überhaupt Aus- fälle sehr viel seltener vor als bei Kohl- und Blaumeise. Hier entspricht die Ei- zahl etwa der Fähigkeit, bei durchschnittlichen Bedingungen die geschlüpften Jungen auch aufzuziehen. Bei Kohlmeisen, Blaumeisen und Tranerschnäpper, aber auch Staren, Sperlingen und Schwalben liegt die Eizahl indessen oft so hoch, daß nur bei optimalen Bedingungen alle geschlüpften Jungen aufgezogen werden können. In den meisten Jahren müssen daher überzählige Junge mit Hilfe des beschriebenen Verhaltensmechanismus geopfert werden. Gerade diese Arten aber sind besonders häufig, haben die weiteste Verbreitung und zugleich sind es solche, die noch jetzt unentwegt versuchen, sich in noch unerschlossenen Gebieten oder in relativ ungeeigneten Biotopen anzusiedeln. Die Fliegenschnäpper der Gattung Ficedula sind zudem ein Beispiel dafür, daß Nesthäkchen -- im Gegen- satz zur Ansicht von LACK (1954) -- auch bei Arten mit relativ kurzer Nestlings- zeit vorkommen. Den Sumpf- und Haubenmeisen -- als Beispiele der anderen Arten -- fehlt ein vergleichbarer Expansionsdrang, es handelt sich um reine Staudvögel mit geringer Siedlungsdichte, und dies befähigt sie wohl auch, mit weniger Eiern auszukommen.

Man könnte also etwas vermenschlichend sagen: die häufigen Arten ,w ü n - s c h e n" gar keine Anpassung der Gelegegröße an die durchschnittliche Fähig- keit zur Jungenaufzucht. Sie sind vielmehr darauf eingestellt, keine Gelegenheit zur Dichtesteigernng und nachfolgenden Expansion auszulassen, und dafür ent- stehen und vergehen in allen mäßigen oder schlechten Jahren Nesthäkchen in großer Zahl.

Zusammenfassung

Die Differenz zwischen der Gelegegröße und .der Zahl der ausfliegenden Jungen geht o~t darauf zurück, daß bei ungünstiger Witterung die Nahrung nicht ~usreicht, um sämt- liche Jungen zu sättigen. In solchen Fällen leiden nicht alle Jungvögel unter Nahrungs-

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mangel, sondern ein spezifischer Mechanismus bewirkt, daß einzelne Junge bei der Fütte- rung so stark benachteiligt werden, daß sie frühzeitig sterben. Meist handelt es sich um die zuletzt geschlüpften Jungen. Daß keine organische Schädigung oder Parasitierung vorliegt, ergaben Experimente, in denen sich Nesthäkchen, die in andere Nester versetzt und dort ausreichend gefüttert wurden, normal weiterentwickelten. Für die gezielte Be- nachteiligung von Nesthäkchen ergab sich folgender Verhaltensmechanismus:

Bei Höhlenbrütern der Gattungen Sitta, Ficedula und Parus erhalten solche Junge das Futter, die am schnellsten reagieren und als erste sperren. Geschwächte Junge zeigen eine herabgesetzte Reaktionsgeschwindigkeit, sie sperren stets einen Moment später als die übrigen und werden bei der Fütterung übergangen. Wenn größere Junge bereits bei Annäherung des Altvogels sperren, wird das am höchsten sperrende Junge gefüttert. Das kleinere Nesthäkchen kann seinen Hals nicht mehr so hoch strecken, daß es die Geschwister überragt. Beobachtete Nesthäkchen wurden nur noch gefüttert, wenn die Altvögel rasch hintereinander kamen, wobei das Nesthäkchen von der vorigen Fütterung her noch sperrte und daher scheinbar Erstsperrer war.

Bei Vogelarten, deren Junge nicht sperren, sondern das mitgebrachte Futter im Nest aufnehmen und selbst verzehren, sind andere Mechanismen, die teilweise noch unbekannt sind, beteiligt. Beim Mäusebussard sind nach WENDLAND die Nestjungen in den ersten 2--3 Wochen besonders aggressiv gegen ihre schwächeren Geschwister, die bei Nahrungs- mangel meist in diesen ersten Wochen sterben. Beim Schreiadler tStet das zuerst ge- schlüpfte Junge regelmäßig das jüngere Geschwister, indem es auf dieses steigt und es erdrückt. Bei Vogelarten, die normalerweise Tiere ähnlicher Größe erbeuten, kommt es vor, daß sie die Nesthäkchen als Nahrung betrachten und verzehren.

Bei freibrütenden Singvögeln sind Nesthäkchen, die sterben, weniger häufig.

Diskutiert wird das Problem, ob das häufige Vorkommen von Nesthäkchen als unvoll- ständige Anpassung der Gelegestärke zu werten ist.

Summary T h e r u h t o f a b r o o d a s a b i o l o g i e a l p r o b l e m .

The difference between the clutch size arld the number of young to fledge is orten due to the fact that, in unfavourable weather conditions, there is not enough food to satisfy the whole brood. In this situation, not all the young birds suffer from undernonrishment. Instead, a specific mechanism results in individual nestlings being so severely diserimi- nated against during the feeds that they die early. As a rule, this happens to the last hatched of the nestlings. Experiments show that no organle weakness, er parasitie in- Bection, is involved, for in these experiments 'runts' placed in other nests, and adequately red there, developed normally. The following behavioural mechanisms operate to direct diserimination against the runt: In the case of hole-nesting birds of the genera Sitta, Fic«dula and Pa~~s, the nestlings that ger food are these which react most quickly and gape first. Weakened nestlings show a slower reaction time, constantly gape a moment later than the others and are passed erer during the feeds. If l'arger nestlings are already gaping at the parent's approach, the food will ge to the nestling whose gape is raised the highest. The smaller runt can no longer stretch its heck high euough to out- reach its siblings. The runts under observation were fed only when the patents followed each other in such quick succession that the runt was still gaping from the previous feed and so appeared to be the first to gape.

With bird species in which the nestlings de not gape but pick up and consume, by themselves, the food that has been bro~ght, other mechanisms are involved which ar~ still partly unknown. Accord~ng to WENDLAND, the nestlings of the Common Bnzzard are particularly aggressive to their weaker siblings in the first 2--3 weßks, and the latter generally die from undernourishment. With the Lesser Spotted Eagle, the first hatched

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nestling regularly kills the younger sibling in the process of elambering upon and squashing it. With bird species wbich normally prey upon animals of a similar size, it seems that the runts ere cousidered as food and ere eaten.

The death of runts among open-nesting Passerines is less common. There is a discus- sieh of the problem as to whether or not the frequent occurrence of runts is to be regarded as an ineomplete adaptation of the mechanisms eontrolling clutch size. 1)

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1) Für die englische Übersetzung danke ich Miss T. C-xOMPEETZ und Miss R. J'ELLIS, Woodway (England).