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Buch Anascha ist ein wunderschönes rotes Kleid aus Seide. Sie hängt an einem Filmset in der Garderobe und wartet ge- spannt auf ihren Auftritt. Aber Anascha ist noch ein jun- ges Textil, und so ist sie froh, dass sie in guter Gesellschaft ist: Da gibt es Eric, den feinen alten Mantel, der bald ihr engster Vertrauter wird, ein liebenswertes Nachthemd- chen, das immer vom Bügel stürzt, oder Lulu, das char- mante Revuekleid aus Las Vegas. Nur gut, dass sie alle zusammenhalten wie aus einem Garn genäht, denn bald müssen sie so manche Herausforderung meistern. Und vielleicht gelingt es Anascha am Ende sogar, ihren großen Traum zu erfüllen – ein richtiges Zuhause zu haben und einen Menschen, der sie wirklich liebt, für immer … Weitere Informationen zu Guido Maria Kretschmer fin- den Sie am Ende des Buches.

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Buch

Anascha ist ein wunderschönes rotes Kleid aus Seide. Sie hängt an einem Filmset in der Garderobe und wartet ge-spannt auf ihren Auftritt. Aber Anascha ist noch ein jun-ges Textil, und so ist sie froh, dass sie in guter Gesellschaft ist: Da gibt es Eric, den feinen alten Mantel, der bald ihr engster Vertrauter wird, ein liebenswertes Nachthemd-chen, das immer vom Bügel stürzt, oder Lulu, das char-mante Revuekleid aus Las Vegas. Nur gut, dass sie alle

zusammenhalten wie aus einem Garn genäht, denn bald müssen sie so manche Herausforderung meistern. Und

vielleicht gelingt es Anascha am Ende sogar, ihren großen Traum zu erfüllen – ein richtiges Zuhause zu haben und

einen Menschen, der sie wirklich liebt, für immer …

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand

zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe

1. Auflage Copyright © der Originalausgabe März 2018

by Guido Maria Kretschmer Copyright © dieser Ausgabe

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur, München

Umschlagillustration: Guido Maria Kretschmer Innenillustrationen: Guido Maria Kretschmer

Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-22530-8 www.goldmann-verlag.de

Guido Maria Kretschmer

Das rote KleidRoman

Illustrationen von Guido Maria Kretschmer

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Für Anne und Ursel, die leider schon weg sind, und für den kleinen Frank, der noch gar nicht da ist …

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

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wir uns gegenseitig davon berichten. Heute bin ich an der Reihe, meine Geschichte zu erzählen.

Ich kann mir Ihre Verwunderung vorstellen, Klei-dung, was soll die schon können, als einfach Kleidung zu sein? Nein, so einfach ist es eben nicht, denn wir können sprechen und haben eine Seele aus vielen sanf-ten Fasern!

Ja, jetzt sehe ich förmlich Ihre Verlegenheit, und glauben Sie mir, ich weiß, wie Verwunderung sich an-fühlt, ich erlebe sie mit Ihnen. Sie mögen auch einen Moment gedankenverloren über Ihren Pullover strei-chen, vielleicht öffnen Sie jetzt auch einen Knopf Ihrer Bluse und fragen sich, es kann doch nicht sein, dass mir hier ein Kleidungsstück etwas erzählen will?

Doch, so ist es! Mein Name ist Anascha, und ich bin ein rotes Sei-

denkleid.

Den ganzen Tag habe ich auf diesen Moment gewartet: den Moment, wenn die schwere Wohnungstür sanft in ihr Schloss fällt und die Zahlenkombination der Alarm-anlage leise piept. Denn nun beginnt eine ganz beson-dere Nacht, nun werde ich von meinem Leben berich-ten, von dem Ort, an dem ich geboren wurde, und der langen Reise, die mich hierhergeführt hat.

Das leise Hupen von unzähligen Taxis und die Ge-räusche der Menschen legen sich über die Nacht in meiner, unserer Stadt. Wir Kleider sind ein Teil die-

PROLOG

Was ist es doch für ein Vergnügen, wenn das Licht des Tages sich langsam verabschiedet. Wenn es die Zeit be-kommt, alles mit sich zu nehmen und von seiner ur-sprünglichen Form zu befreien. Licht, das langsam geht, darf beruhigt seine Aufgabe an die Nacht über-geben.

Sobald jedoch Mondlicht die Dunkelheit vertreibt, wird jeder von uns in einen ganz besonderen Glanz ge-hüllt. Der Mond ist der Hoffnungsträger der Nacht.

Kleine Flusen und Fussel tanzen in seinen Licht-kegeln und erinnern an unsere Existenz. Sie lösen sich aus dem Gewebe, als ob sie wegwollten, um selbstbe-stimmt leben zu können. Die Farben spielen in diesem Licht keine Rolle mehr, wie so vieles in Mondnächten. Jegliche Form erhält eine neue Gestalt, und Grobes und Feines scheinen miteinander zu verschmelzen.

Das Mondlicht ist ein wahrer Zauberer, ein Weich-zeichner und ein friedlicher Begleiter durch die Nacht. Und es ist das Licht der Erinnerung. Die Erinnerung ist die einzige Chance, der Endlichkeit zu entgehen. Und deswegen rufen wir Kleider uns gerne die schö-nen Momente in unseren Leben ins Gedächtnis, indem

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und der Boden ist mit einem weißen Teppichboden ausgelegt. In der Mitte des Raumes steht ein großer Di-wan, der so leicht wirkt, dass ich mich nicht wundern würde, wenn er eines schönen Tages aus dem Fenster fliegt.

Das Zimmer verfügt über eine beachtliche Größe. Conchita, die frommherzige Hausangestellte aus Pu-erto Rico, ist sich sicher, dass unsere Ankleide mehr Platz bietet als die Wohnung in Brooklyn, in der sie und ihre Schwester mit den Eltern und zwei Cousinen leben. Oh, und ich habe Jesus vergessen, der ja auch bei ihnen lebt, aber der braucht, so nehme ich einmal an, nicht so viel Platz, der wohnt ja sicher an der Wand.

Ganz in meiner Nähe hängt Amanda. Amanda ist ein blauer Samtblazer mit goldenen Knöpfen, und da sie nicht immer die erste Wahl ist und des Öfteren zu Hause bleibt, freut sie sich schon ganz besonders auf meine Geschichte. Samt ist so ungeduldig und emp-findlich, aber verlässlich und ein guter Kombinations-partner. Amanda hat schon sehr viel erlebt, sie war auf vielen Galas und in der Oper, da hat sie sogar einmal fast neben Michelle Obama gesessen. Das müssen Sie sich einmal vorstellen, Michelle Obama ist eine tolle Frau, nach allem, was ich von ihr gehört habe, und je-des Kleid würde ein Stückchen Saum opfern, um in ihrem Kleiderschrank zu wohnen!

Auch der Minirock, die Moni aus dem Second-hand, konnte schon den ganzen Tag an nichts anderes denken als an heute Nacht. Wir haben alle Verständnis

ser Nacht. Die Menschen tragen uns mit sich herum, und wir erleben ihre Geschichten, indem wir ihre Hülle sind. Wir halten sie fest, und manchmal geben wir ihnen die Chance, etwas ganz besonders Schönes an ihren Körpern zu betonen.

Wir schützen und stützen, und manchmal hel-fen wir auch einfach nur, schön warm zu halten. Die Wärme ist ein nicht zu unterschätzender Moment in unser aller Leben. Auch wir Kleider brauchen hin und wieder ein heißes Bügeleisen oder einen Strahl heißer Luft, damit unser Gewebe lebendig bleibt.

Den Menschen geht es nicht anders, ihre Bügelei-sen sind warme und freundliche Worte, und der heiße Luftstrom sind die bestätigenden Blicke ihrer Mitmen-schen. Es braucht so wenig, um sich wohl zu fühlen, und doch braucht es die Unterstützung der anderen, um sicher durch unser Leben zu kommen. In dieser Nacht könnte es passieren, dass meine Geschichte die Herzen erwärmt, wir werden es sehen.

Aber eines nach dem anderen. Ein Rock ist auch nicht in einem Schritt genäht, und eine alte Textilweis-heit lautet: »Halte die Naht geschlossen, selbst wenn der Faden spannt.« All diese Weisheiten hat mir ein lie-ber Freund erzählt, aber dazu später mehr.

Mein Zuhause ist ein Ankleidezimmer. Es befindet sich in einer Stadt, der nachgesagt wird, dass sie niemals schläft. Die Wände sind von einem zarten Puderton,

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Direkt hinter der Tür hängen die schweren und warmen Wintermäntel. Sie haben freien Blick auf die Abendkleider, ein Logenplatz. Die Abendkleider sind die Stars in jedem Schrank. Auch in unserer Welt haben sie die volle Aufmerksamkeit, denn ihr Glanz ist sehr vergänglich. Ein Abendkleid kommt selten vor die Tür.

Dafür erleben sie oft die wirklich aufregenden Ge-schichten, und da es immer dunkel ist, wenn sie das Haus verlassen, haben sie keine Ahnung vom Tages-geschäft und dem normalen Leben. Normales Leben hängt auf der ganz rechten Seite unseres Ankleidezim-mers, und wenn Sie sich jetzt fragen, wo denn ich ein Plätzchen gefunden habe, dann ist es gar nicht so ein-fach, es zu erklären, doch ich will es versuchen.

Es geht aber nicht nur darum in meiner Geschichte, das soll noch gesagt sein, es geht auch um die Liebe und die Hoffnung, ohne die es keine Zukunft gibt, egal wo auf dieser wunderbaren Welt. Denn in meinem Gewebe wohnt der Glaube an das unausweichlich Gute, das je-der von uns erleben kann, wenn er nicht aufgibt, sich danach zu sehnen.

Aber nun will ich endlich beginnen. Das fahle Mondlicht lässt den feinen Veloursteppich magisch er-scheinen. Der Staubsauger hinterlässt Wellen in dem tiefen Flor, und in diesem besonderen Licht scheint er mit dem funkelnden Leuchter unter der Decke eine Verbindung einzugehen. Tausende von kleinen Pünkt-chen tanzen im Mondlicht auf dem Boden. Eine gute Kulisse für die Geschichte meines Lebens und die lange

für ihre Unruhe. Sie war jahrelang in einem Laden in Malibu vergessen worden und hat einen Schaden ge-nommen. Ihr Reißverschluss klemmt, und sie ist etwas abgetragen. Deswegen ist sie so überglücklich, jetzt wieder ein Zuhause zu haben.

Moni hängt nun schon eine geraume Zeit ne-ben Iris, einem zartrosa Abendkleid mit sehr hohem Schlitz. Die beiden haben sich angefreundet, und der Umstand, dass sie nur aus Versehen zueinanderkamen, macht ihre Freundschaft für sie zu etwas ganz Beson-derem. Conchita hatte die beiden als eine hübsche Kombination zusammengehängt in der Hoffnung, dass unsere Besitzerin sie dann auch so tragen würde. Con-chita glaubt, Jesus mag keine zu hohen Schlitze, und der Minirock würde helfen, die Sünde etwas zu mini-mieren. Dass Jesus keine nackten Beine mag, kann ich mir nicht vorstellen, aber wer weiß denn schon, was er gern getragen hat?

Die beiden sind jedenfalls ein großes Glück für uns alle, sie ergänzen sich und bringen uns immer wie-der zum Lachen – vor allem die bunten Sommerkleider und die hellen Hosenanzüge, die auf die warmen Tage warten.

Einige Strandtücher riechen noch nach Salz und Meer, und feine Sandkörnchen hängen in ihrem Ge-webe. Erinnerungen an den letzten Badeurlaub, und die warmen Sonnenstrahlen scheinen mit den Maschen eine Verbindung eingegangen zu sein, so leuchten sie, auch in einer Mondnacht wie dieser.

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KAPITEL 1

Ich wurde geboren in einem Modeatelier in Deutsch-land. Wenn man dort aus dem Fenster schaut, ist es immer grün oder grau.

Wir Kleider werden alle geboren in Ateliers, in pri-vaten Nähzimmern oder, wie mittlerweile die meisten von uns, in Fabriken.

Ich bin aus einem feinen Stoff gearbeitet, aus reiner roter Seide, und ich habe einen nahtverdeckten Reiß-verschluss in meinem Rückenteil. Mein Saum ist mit einem Blindstich befestigt, und jede Naht wurde mit der Hand genäht.

Die Hände, die mich erschaffen haben, gehören Galina. Sie war von weit hergekommen, es hatte Wo-chen gedauert, bis sie Deutschland erreichte, das hat sie mal jemandem erzählt. Sie wurde geboren in den Wei-ten der kasachischen Steppe und ist nur hierher gezo-gen, weil ihr Mann einmal deutsche Vorfahren hatte. Sie ist immer fremd geblieben in diesem Land, aber sie hat ihre goldenen Hände mitgebracht.

Goldene Hände und ein perfekter Schnitt sind für uns Kleidungsstücke einfach alles. Selbst wenn unser Material nicht das feinste ist, können goldene Hände so

Reise, die ich unternehmen musste, um hier leben zu können.

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schen, die uns tragen. Wir brauchen alle einen Freund, einen, der uns umarmen kann. Kleidungsstücke kön-nen sehr gut umarmen, wir haben für jeden Körperteil der Menschen einen Freund.

Nachdem wir fertig genäht sind und ein letztes Mal gebügelt werden, passiert die Metamorphose. Jedes Kleidungsstück spricht die Muttersprache des Men-schen, der es erschaffen hat. Wenn es viele verschie-dene Menschen mit unterschiedlichen Sprachen waren, die bei der Herstellung zum Einsatz kamen, wird sich immer die Sprache der begabtesten Schneiderin durch-setzen.

Wir sprechen aber alle auch Textilianisch. Diese Sprache gibt uns die Möglichkeit, mit allen Kleidern auf der ganzen Welt in Kontakt zu treten, sie in ihrer Unterschiedlichkeit zu verstehen. Die Menschen verfü-gen auch über eine Art dieser ganz besonderen Sprache. Sie braucht nicht gelernt zu werden, sie ist in ihnen an-gelegt. Sie heißt Mitgefühl, und diese Sprache ist auf je-dem Kontinent zu verstehen. Leider wissen viele Men-schen nicht, dass sie alle mindestens zweisprachig sind! Aber wir wissen, dass es beides gibt: Muttersprache und Herzenssprache.

Die Magie unserer Geburt passiert immer in der Nacht, wenn kein Mensch mehr wach ist, dann geht ein leichtes Kribbeln durch unser Gewebe, und wir werden für den Rest unseres Lebens ein Teil von euch.

einiges retten, und wir werden eine Augenweide, wie die Menschen sagen. Das meint zumindest Veronika, und die muss es wissen!

Veronika hat neben mir gehangen, als ich gebo-ren wurde. Es ist der Zufall des Lebens, wer gerade ne-ben uns hängt und wer uns auf den Weg bringt. Wer weiß denn schon, warum wir gerade in eine bestimmte Familie geboren werden? Es ist vielleicht einfach so ge-schehen, oder es ist, wie die Menschen sich gern ein-reden, Bestimmung, sie nennen es Karma, gottgewollt oder einfach nur Schicksal. So oder so: Es wird immer den einen geben, der an unserer Seite steht, der uns er-klärt, was Leben bedeutet. Vielleicht ist das genau das Glück oder die Ungerechtigkeit des Lebens: Wir glau-ben erst einmal dem, der uns etwas erzählt.

Unsere Aufgabe ist schnell erklärt: Ein Kleid zu sein bedeutet, getragen zu werden. Veronika hat großes Glück gehabt, sie war ein geschätztes Textil. Ihre Besit-zerin hatte sie gern, und dieser Umstand lässt sie über einen großen Erfahrungsschatz verfügen. Sie weiß, wie ein Leben mit einem Menschen ist.

Wir Kleidungsstücke werden von Menschen gefer-tigt. Sie sind unser Anfang und unser Ende. Sie wissen nicht, dass wir sie auch brauchen, ihre Zuwendung und ihre Pflege halten uns lebendig. Eigentlich passen wir immer auf sie auf, wir halten sie warm, und manchmal hängen wir auch ganz leicht an ihnen herunter.

Kleidung, die keine Zuwendung erhält, verliert die Fähigkeit zu sprechen, da geht es uns wie den Men-

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Als ich die Augen aufschlug, sah ich als Erstes Vero-nika. Sie hing direkt neben mir auf einem Bügel und begrüßte mich in feinstem Russisch mit den Worten: »Herzlich willkommen, kleines rotes Kleid. Gott, da hat Galina sich aber selbst übertroffen.«

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Ich sagte so etwas wie: »Ach ja, und ist ja sicher auch nicht einfach mit defekter Schleppe«, obwohl ich nicht einmal genau wusste, was eine Schleppe war.

Veronika konnte anscheinend zwischen meinen Fasern lesen und drückte wohlwollend ihr Gesticktes an meine Seite. »Kleines«, sagte sie, »du musst noch so einiges lernen, ich kann nur hoffen, dass du in einem guten Kleiderschrank ein Zuhause findest.«

Ein Zuhause, dachte ich, aber ist mein Zuhause denn nicht hier?

»Und glaube mir«, sagte Veronika noch, »bei mir zu Hause ist kein Patz für dich. Ich bin eine schmale Größe 36«, und dabei erhob sie ihre Stimme zu einem Krächzen. »Du bist locker eine 40! Hübsch, aber dick. Ja«, sagte sie, »wie gut, dass du mich bei deiner Ge-burt an der Seite hattest, es hätte nicht jeder gleich die Wahrheit gesagt.« Dann zuckte ihr ganzes Gewebe vor Glück, dass ihre Kristalle nur so klimperten.

Sie erzählte mir von all den Kleidern und Hosen, den Röcken und Abendkleidern, die sie bereits getrof-fen hatte, um dann unvermittelt etwas leiser zu wer-den. »Weißt du«, sagte sie mit etwas Wehmut in der Stimme, »dass wir von der gleichen Hand geschaffen sind, ist etwas Besonderes, wir Russinnen sind immer etwas eleganter als der Rest. Wir lassen uns einfach bes-ser tragen. Sage aber bloß den Parisern nichts, die sind doch so von sich eingenommen. Ich kenne ein Chanel-Kostüm, das sich so darüber geärgert hat, dass es nicht mehr getragen wurde, dass es anfing, selbst seine Fa-

Erst jetzt bemerkte ich die vielen anderen Klei-der, die auch da waren, und ihre bewundernden Blicke. Sie applaudierten und ließen mich hochleben. Es ist so wichtig, willkommen geheißen zu werden!

Veronika war ein Abendmantel. Ein bestickter Traum aus Samt und Seide. Als sie Samt sagte, spürte ich gleich, wie begeistert sie von sich war. Sie sagte: »Ya, prekrasno«, was so etwas wie »ach, ich bin wunderbar« auf Russisch bedeutet. Und das war sie auch. Schwarz wie die Nacht, ein Seidensamt mit einem cremefarbe-nen Futter, über und über bestickt mit kleinen Glasper-len in Grau und zimtfarbenen Kristallen.

»Ich bin zur Reparatur hier«, sagte sie, »ein Irrer ist mir auf die Schleppe getreten.« Bevor ich die an-deren im Raum richtig wahrnehmen und begrüßen konnte, erwartete sie meine ganze Aufmerksamkeit.

»Nicht dass du jetzt denkst, ich wäre nicht mehr modern, Kleines«, flüsterte sie mir zu. »Weißt du«, sagte sie, »Couture«, und jetzt wurde ihre Stimme lau-ter, damit sie auch bis in den letzten Winkel des Ateli-ers verstanden werden konnte, »ist etwas Besonderes, ich bin etwas Besonderes.«

Als ein aufgeregtes Raunen durch den Raum ging, wurde sie für einen kleinen Moment nachdenklich, und ihre Ärmel hingen für einen Wimpernschlag etwas müde an ihr herunter. »Ja«, sagte sie dann mit großer Geste, »es ist nicht immer leicht, ein textiler Traum zu sein, mein liebes Kind.«

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»Wenn ihr mal nicht in einer Altkleider-Sammlung landet«, meldete sich Veronika mit einem arroganten Grinsen im Gewebe. »Es ist doch unerträglich, wie die riechen, der Weihrauch ist denen aber auch wirklich in die Fasern gekrochen«, sagte Veronika. Sie drehte sich leicht zur Seite, um mir mit einer Geste anzudeuten: nicht unser Umgang!

Veronika war ein großartiges Stückchen Stoff und verfügte über einen so reichen Erfahrungsschatz, dass ich jedes Wort ihrer Geschichten in meine Fasern zog. Hätte ich in dieser meiner ersten Nacht vielleicht neben einem anderen Textil gehangen, wären meine Erwar-tungen an mein zukünftiges Kleiderleben anders ver-laufen. Aber in dieser Nacht führte mich Veronika in unsere Welt ein, und ich glaubte ihr jedes Wort. Ich war noch ein junges Gewebe und Veronika der Abendman-tel von Welt. Sie lebte in Belgien – und so war dieses Belgien von Anfang an mein Traumland.

»Ich bin Couture«, brach es immer wieder aus ihr heraus. Als einige Röcke aufstöhnten, setzte sie noch einen drauf und erklärte mir: »Ich bin etwas ganz Be-sonderes. Auch du, mein Kleines, hast Potential. Du bist von meinem Schlag, lass dir das gesagt sein«, säu-selte sie. Dabei war sie so begeistert von sich, dass vor lauter Freude eine Perle von ihrer Schulter sprang. Alle lachten, und sie ignorierte den Verlust. Sie war zu ele-gant, um einer Perle nachzuweinen.

»Weißt du«, sagte sie, »ich habe schon vor Tagen gesehen, dass du etwas Besonderes wirst. Gestern hat

sern zu zerstören. Es ist böse mit ihm ausgegangen. Es wurde entsorgt und von Motten zerfressen«, sagte sie mit pikierter Stimme. Und dann wieder etwas nach-denklicher: »Übrigens wird uns Russinnen auch immer der Hang zur Melancholie nachgesagt. Ich glaube nicht, dass wir trauriger und gedankenverlorener sind als der Rest der Welt. Vielleicht hat es mit dem Licht zu tun, das in unserem Land herrscht, oder mit der Weite oder dem Schnee oder einfach nur, weil es so ist, wie es nun mal ist.«

Rechts neben mir hing ein Wollkostüm. Es hatte noch nicht ein Wort gesprochen, und ich erschrak, als es sich plötzlich leise bei mir vorstellte. »Mein Name ist Jo-hanna«, sagte es, »wir sind zwei, mein Rock und ich.«

Erst da bemerkte ich den Rock, der sich unter dem Blazer zu verstecken versuchte.

»Er ist am Bund gerissen, und jetzt wird er von in-nen verstärkt, es ist ihm peinlich«, sagte der Blazer mit einem Knopflochzwinkern. »Wir kommen aus Fulda. Wir sind eine gute alte Maßanfertigung.«

Sie wohnten in einem Schrank bei einer Dame, die sonntags immer in die Kirche ging, und der Rock war auch bei der Sonntagsmesse gerissen. »Unsere Besitze-rin lebt allein, und bei uns ist auch nicht die Welt los«, bemerkte der Rock.

»Wir kommen sicher einmal in den Himmel«, fügte der Blazer hinzu.

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ben eine unbändige Angst vorm Verlassenwerden. Da sind mir die Hosenanzüge lieber, die sind manchmal richtig modern, und die trennen sich ruck, zuck, so-bald mal eine flotte Jeans vorbeikommt, da kann so eine Jacke nicht anders, da wollen die eine schnelle Kombination, mein Kind. Hüte dich vor Hosen, die können mit allen, die machen nicht mal vor Pullovern halt, und glaube mir, so perfekt kann ein Hosenanzug gar nicht sein, dass die ewig zusammenbleiben. Weißt du«, sagte sie, »neulich in Brüssel sind wir einer Ein-ladung gefolgt, so etwas mit gekrönten Häuptern und so, na ja, du weißt schon, eben Politiker. Solltest dich von denen fernhalten. Egal, ich wollte es nur einmal ge-sagt haben. Also, da war ein Hosenanzug aus Deutsch-land, er war die erste Wahl der Kanzlerin, so etwas in Rot, eine müde Farbe, mit zwei Knöpfen, die nach mei-nem Gusto zu plakativ waren, aber egal, dieser Blazer erzählte mir im Vorbeigehen, dass er sich sicher war, mich schon einmal in den Ferien getroffen zu haben. Na, da musste ich aber laut lachen. ›Wie bitte‹, sagte ich, ›was glauben Sie denn, wer ich bin, wir tummeln uns doch nicht wie in den Ferien rum.‹«

Veronika kam jetzt in Fahrt, und mancher Hosen-anzug musste sich die Taschen zuhalten.

»Nein«, sagte sie, »mein liebes Kind. Glaube nie-mandem, der sich mit einer Hose einlässt. Du bist ein Kleid, du brauchst niemanden, du bist dir selbst genug. Gut«, fügte sie hinzu, »ich weiß, als reich bestickter Abendmantel werde ich immer mit Freundinnen getra-

uns leider Claire verlassen.« Als sie den Namen aus-sprach, lehnte sie ihre Schulter in meine Richtung, um etwas vertraulicher zu wirken. »Auch eine Halb-schwester, zarter Chiffontraum mit Federkragen, eine Augenweide. Wir waren damals zusammen in der Show, ein tolles Mädchen. Chic und modern, lebt jetzt in Baden-Baden und ist seit letzter Woche mit einem Sakko zusammen«, sagte sie. »Na ja, die Cocktailklei-der bilden sich immer gleich ein, dass es Liebe ist, aber sie ist rumgekommen. Die fliegt durch die Welt. Eines ist uns natürlich allen klar, so ein Leben kann schnell vorbei sein. Ein Loch einer brennenden Zigarette in ir-gendeinem Nachtclub kann ihr Ende bedeuten. Wenn es gut für sie läuft, endet sie in einem Designer-Second-hand in Malibu, und dann kann sie sich glücklich schät-zen, wenn sie noch auf zweitklassigen Partys getragen wird. Na ja, die Federdinger«, sagte Veronika, »immer das Partyleben, das hält auf Dauer kein Stoff aus.«

Der Blazer bekreuzigte sich im Futter, und der Rock hielt sich den Schlitz zu, vom Partyleben wollte dieses Wollkostüm nichts wissen. »Ach, was sind wir froh, wenn wir wieder zurück in Fulda sind«, sagte Jo-hanna. Ihr Rock drückte sich noch enger an den Blazer und flüsterte: »Nur dass wir zusammenbleiben, das ist mein einziger Wunsch.«

»Sentimentales Geplauder geht mir auf das Fut-ter«, sagte Veronika, »dieses ewige Zusammenhängen, schrecklich. Die Kostüme gehen mir wirklich auf die Nerven. Sie kleben einfach immer aneinander und ha-

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»Die wird ein gutes Leben haben«, sagte eine Art Bademantel, der gegenüber an der Tür hing.

Ich hatte ihn noch gar nicht bemerkt, und der Mantel stellte sich freundlich vor. »Ich bin die Bär-bel. Ich spreche Deutsch, aber ich komme aus Polen. Ich wurde vor vielen Jahren von Uschka genäht, die ist schon in Rente«, fügte sie hinzu. »Ich bin hier das Mädchen für alle, ich bin der Anprobemantel, an mir kommt keiner vorbei. Ich komme immer zuerst, und dann seid ihr erst dran«, sagte sie mit selbstbewusster Stimme. »Ich hänge hier an der Tür und habe gut zu tun.«

gen. Die Kleider brauchen mich halt, was kann ich da-für.«

Dann lachte sie wieder etwas zu laut, und ein klei-nes Nachthemd sprang vor Schreck vom Bügel.

»Selbstmord!«, rief Veronika, um im nächsten Mo-ment zu sagen. »Nein, ich mache nur Spaß, diese billi-gen Wäschedinger springen immer von den Bügeln, sie wollen Aufmerksamkeit und wieder aufgehängt wer-den.«

Die ganze Nacht erzählte sie mir Geschichten von großen Erlebnissen, ihrem luxuriösem Leben und von Brüssel und Belgien. Belgien musste das schönste Land auf Erden sein und Veronika ein sehr glückliches Textil.

Später sollte ich erfahren, dass Veronika so überaus le-bendig war, weil tagelang an ihr gearbeitet wurde. Auf-merksamkeit und Pflege geben uns Energie. Verlassen und unbeachtet in einem Schrank verlieren wir an Le-bensmut und werden still.

Auf der anderen Seite neben mir hing Sonja, ein hübscher kurzer Rock, der, wie ich, erst gestern fer-tig geworden war. Sie war zartrosa und hatte in ihrem Futter Initialen eingestickt, SH. SH stand für Sarah Hermann, eine zauberhafte Moderatorin eines großen Fernsehsenders, erklärte mir Veronika. Sie hatte an-scheinend das Glück, die heimliche Geliebte des Pro-grammchefs zu sein, und so konnte sie sich auch Ange-fertigtes leisten.

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Veronika hob ihr einziges Knopfloch verächtlich nach oben: »Ja, ja«, sagte sie, »jetzt kommt wieder die Geschichte, Uschka hatte sie alle unter der Nähma-schine … Schade nur, dass Bärbel eben immer noch an der Tür hängt, ich dafür in einem Ankleidezimmer in Brüssel.« Veronika strahlte mit jeder Faser ihrer Exis-tenz und strich sich gefühlt zum hundertsten Mal über den Samt, aus dem sie gearbeitet worden war.

Als es schon langsam hell wurde, war Veronika auch etwas müde geworden, und bevor sie die Fasern zur Ruhe legte, sagte sie zu mir: »Anascha, mein liebes Kind, ich werde heute zurück nach Hause verschickt werden. Es war ein großes Vergnügen, dich an mei-ner Seite gehabt zu haben.« Dann machte sie noch eine große Geste: »Ich wünsche dir ein großartiges Leben, ein gutes elegantes Zuhause. Das Leben ist bunt und mondän, vielleicht sehen wir uns einmal wieder, wer weiß, Monte Carlo zum Beispiel ist ja für uns immer eine Option.«

Wie auf Kommando ging die Tür auf, und einige Schneiderinnen betraten ihren Arbeitsplatz.

»Eine gute Gelegenheit, um sich nach dieser schlaflosen Nacht etwas zu erholen, jetzt ist die Zeit der Menschen«, raunte Bärbel mir zu. »Und im güns-tigsten Fall hält so ein neuer Tag für uns auch etwas Zu-wendung bereit. Einige Stiche mit Nadel und Faden,

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suren. Sie belegen Kurse, um dem Leben neue Impulse zu geben, verlieben sich in die falsche Jacke und reden sich immerzu ein, dass nichts zu ihnen passt. Sie verlie-ren hin und wieder sogar das Vertrauen und hadern mit sich und der Welt. Sie suchen nach der Wahrheit und finden niemanden, der ihnen einen Rat gibt. Sie sollten vielleicht ein warm gebügeltes Hemdchen tragen und spüren, wie die Restwärme auch von den Menschen Besitz ergreift. Eine frische Bluse rettet nicht die Welt, steht ihr aber auch nicht im Weg. Ausgeschlafenes Tex-til ist immer ein guter Begleiter!

Ein warmer Luftzug, der von dem großen Bügel-automaten herüberwehte, ließ mich in einen wolligen Schlaf sinken.

Belgien, dachte ich noch, und da fielen mir auch schon die kleinen Knopflöcher zu.

ein neues Futter, und die Aussicht auf etwas Bügel-wärme sind für uns Textilien der Himmel auf Erden.«

Der Rock drückte sich hilfesuchend an seinen Bla-zer und hoffte, dass das neue Futter und die Extra-weite die innige Beziehung der beiden nicht verändern würde. »Ich bin froh, wenn wir wieder zu Hause sind«, säuselte er dem Blazer in die Paspeltasche.

»Reiß dich doch mal zusammen«, sagte der Blazer, »freu dich doch auf ein neues Futter, was gäbe ich für etwas Veränderung.«

»Hört, hört«, kommentierte Veronika, »meine Lieben, es war mir ein Vergnügen, viel bleibt mir nicht mehr, als mich zu bedanken, war schön mal wieder in der Heimat. Anascha, lebe wohl, mein liebes Kind, wie gesagt, wir sehen uns bestimmt wieder.«

Sie hatte den letzten Satz kaum beendet, da wurde sie auch schon auf ihrem Bügel aus dem Raum getra-gen.

Ich war sehr müde, und mein Gewebe brauchte dringend etwas Erholung. Wenn wir schlafen, dann er-holen sich die Fasern, und unser Gewebe erholt sich von der Aufgabe, für die wir gemacht wurden.

Später sollte ich lernen, dass auch die Menschen manchmal sehr müde und erschöpft aussehen. Wenn sie wüssten, dass ihre Kleidung noch nicht ganz wach ist, so würden sie uns sicher besser behandeln. Ein auf den Boden geworfenes T-Shirt wird über Nacht eben auch nicht attraktiver, und dann kaufen die Menschen eine neue Creme und schneiden sich unmögliche Fri-

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eine feine Schonwäsche und ein heißes Bügeleisen.« »Ist ja gut, Chantal«, sagte Bärbel, »man wird doch

noch träumen dürfen.« Das kleine Top verzog etwas anzüglich die Träger

und deutete auf mich. »Hier, der rote Seidenfetzen, der wird natürlich gereinigt werden, der ist ja etwas Be-sonderes. Dabei ist er heute nicht verschickt worden, obwohl er schon fertig ist, wenn der mal nicht hängen bleibt.«

»Lass doch das arme Ding in Ruhe«, meldete sich ein schwarzer Overall, »die hat dir doch gar nichts ge-tan. Du musst nicht glauben, dass alle deine schlechte Laune ertragen müssen, nur weil du so verschnitten bist und nicht abgeholt wurdest.« Und dann fügte er an mich gewandt hinzu: »Ich darf mich vorstellen, mein Name ist Elke, Woll-Crêpe ist mein Gewebe, und glaube mir, Chantal ist nur neidisch auf dich. Alle wol-len doch sein wie du, ein rotes Kleid.« Dann zog Elke ihren Gürtel etwas hoch und sagte: »Entschuldigung, meine Schlaufen sind auch nicht mehr die besten.«

»Hallo, Elke«, sagte ich, »schön, dich kennenzu-lernen.«

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, sagte der Overall, »ich bin so gern mit meinesgleichen.«

Da ging ein Lachen durch die Kleiderstangen. »Mit meinesgleichen«, spöttelte eine Hose aus wei-

ßem Leinen, »du bist doch nur eine Hose mit Ober-teil! Also wirklich, Elke, jetzt mach dich mal nicht so wichtig.«

KAPITEL 2

Ich schlief fast den ganzen Tag, und als ich die Augen aufschlug, war es schon wieder dunkel. In dem Mo-ment, in dem ich meine feinen Nähte strecken wollte, fiel mein Blick auf den freien Platz gleich neben mir.

Wo war Veronika? Dann erinnerte ich mich wie-der. Sie war ja, wie sie es gesagt hatte, abgeholt worden und jetzt, vermutlich in Seidenpapier verpackt, auf dem Weg in Richtung Brüssel.

»Hallo, rotes Kleidchen. Du hast aber lange ge-schlafen. Na ja, war ja auch spät gestern«, sagte Bär-bel und schüttelte sich an ihrem Haken etwas aus. »Bräuchte mal Urlaub«, sagte sie. »Einmal in so eine schicke chemische Reinigung, so mit allem Schnick und Schnapp. Mal richtig das Gewebe durchgeblasen zu bekommen und mal raus hier. Mensch, das wäre mal was.«

Dabei seufzte sie gedankenverloren, bis sie eine feine und piepsige Stimme zurück in die Realität holte.

»Mensch, Bärbel«, sagte ein kleines Top aus hell-blauer Baumwolle, »immer die gleichen Träume, wir sind aus Baumwolle! Cotton, capito, da gibt es keine Reinigung. Das Einzige, was wir erwarten können, ist

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dersack wohnen, wer weiß denn schon, was das Le-ben uns bringt. Wir sollten für alles offen bleiben und unseren Menschen ein guter Partner und Freund sein«, warf ein Abendkleid aus feinem blassgrünem Jersey ein.

Dann wandte sie sich zu mir: »Hallo, Anascha, ich sollte mich hier vielleicht erst mal richtig vorstellen, bevor ich mutmaße und Lebensweisheiten verbreite. Mein Name ist Susan, obwohl hier alle Susanne sagen. Ich wurde schon vor einigen Jahren in einem kleinen Atelier in den USA genäht, in Queens, das ist ein Stadt-teil von New York. Jetzt musste mein Futter erneuert werden, und so bin ich hier gelandet – und natürlich hocherfreut, euch alle kennenlernen zu dürfen. Aller-dings gehe ich morgen auch schon wieder zurück nach Wien, ich bin jetzt eine Österreicherin. Meine Fäden sind natürlich immer noch amerikanisch, aber ich bin jetzt dort zu Hause. Wir waren schon einmal auf dem Opernball, mein Mensch und ich.«

Sie strahlte vor Glück, und ich beneidete sie, denn sie hatte im Vergleich zu mir einen Ort, an dem sie zu Hause war.

»Als mein Mensch mich damals in Amerika geor-dert hatte, wurde ich bereits zwei Mal anprobiert, und ich bin ein Lieblingskleid«, sagte Susan stolz. »In den Augen meiner Trägerin bin ich perfekt, und als mein Futter riss, da hat sie gesagt, sie braucht das beste Fut-ter, das es auf dem Markt gibt, und dass ja auf mich auf-gepasst wird. Ich kann es gar nicht mehr erwarten, sie

»Ich bin mir sicher, dass du zu viel in Bars rumge-sessen hast«, fügte eine weiße Bluse hinzu, die piekfein mit ihrer Schluppe auf ihrem Bügel hing.

Bärbel, die Ankleidehilfe, mischte sich ein, und ein reger Wortwechsel suchte seinesgleichen. Alle redeten durcheinander, und das kleine Top wurde immer lauter.

Direkt neben mir hing immer noch das Kostüm Johanna. »Gott«, sagte der Blazer, »was sind wir froh, wenn wir wieder in Fulda sind. Das ist hier nicht mehr unsere Welt.«

Der Rock nickte mit einer vorsichtigen Geste zum Einverständnis des Gesagten, hatte aber etwas Mühe, da er sich noch an seine neue Verstärkung im Bund ge-wöhnen musste.

»Da hat die Veronika dir ja so manches erzählt in der letzten Nacht, darfst aber auch nicht alles glauben«, sagte der Blazer. »Dieses ganze Gerede von Größe 36 und so, weißt du, wir sind eine gute 44 oder fast schon 46.«

Da meldete sich der Rock: »Ich bin 46, du doch eher Größe 48, meine Liebe.«

»Ja, ja, ja«, sagte der Blazer, »mir wurde im letzten Jahr etwas aus der Naht genommen, wir wurden brei-ter – die Wechseljahre …« Dann schaute er auf seinen Rock herunter und sagte: »Bitte, lass uns nicht auch noch streiten, wir gehören doch zusammen und sind morgen wieder zu Hause.«

»Ja«, seufzte der Rock. »Du wirst vielleicht schon morgen in einem Klei-

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sen und in schlechter Passform auf einem Bügel war-tend?

Chantal riss mich aus meinen Gedanken, weil sie gerade Elke, dem Overall, vorwarf, Alkoholikerin zu sein.

»Das ist doch wohl die Höhe«, konterte Elke, »von so einem kleinen Top lasse ich mich hier nicht be-leidigen!« Dann gab sie den anderen zu verstehen, dass dieses Gespräch jetzt für sie zu Ende war, indem sie vor sich hin brummelte: »Alkoholikerin, tse. Wir haben schon lange damit aufgehört! Frechheit.«

wiederzusehen.« Dann wurde ihre Stimme leise, und sie flüsterte in den Raum: »Mein Mensch ist ein Stoff-ling.«

Ein Raunen ging durch den Raum, und alle redeten wild durcheinander.

»Sieh mal einer an, ein Stoffling«, sagte die weiße Bluse, und eine Hose mit Formbund seufzte: »Was gäbe ich für einen liebenswerten Stoffling. Wenigstens einmal essen, was schmeckt, Gott, warum ich immer die Schuld für die Gewichtszunahme der Menschen be-komme, ist mir ein Rätsel. Ein Stoffling würde so eine Unterstellung doch niemals zulassen.«

»Entschuldigung, was ist denn ein Stoffling?«, fragte ich vorsichtig.

»Ein Stoffling ist ein Mensch, der uns versteht, der weiß, dass wir eine Seele haben und der uns liebt und uns niemals weggeben würde«, erklärte das Kostüm.

Dann wurde es ganz still, und ich hörte, wie Bärbel an der Tür leise weinte.

»Diese ewige Zugluft an der Tür, kein Wunder, dass mir da die Knopflöcher tränen«, sagte sie, und je-der wusste, dass sie, wie alle in diesem Raum, Susan be-neidete.

Ein Lieblingskleid zu sein bei einem Stoffling, das ist sicher der Himmel auf Erden, dachte ich. Vielleicht würde ich ja auch eines werden? Ich hatte so viele Fra-gen! Wer hatte mich geordert, wurde ich bald anpro-biert, würde ich das Highlight auf einem Ball werden, oder sollte es mir wie dem kleinen Top ergehen, verges-

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Auf der gegenüberliegenden Stange hingen zwei kleine Tüllkleidchen, sie sprachen wie ich Russisch und wa-ren, wie sich später herausstellen sollte, meine Halbge-schwisterchen.

Sie hießen Dasha und Lara. Sie waren so hübsch und niedlich, dass alle von ihnen verzaubert waren.

»Wir sind Engelchenkleidchen«, sagte Dasha. Und Lara fügte hinzu: »Wir werden in der nächs-

ten Woche Blumen auf einer Hochzeit in Düsseldorf streuen.«

Wieso wussten hier eigentlich alle, was sie zu er-warten hatten, woher konnten diese beiden kleinen Kleidchen so genau wissen, dass sie nach Düsseldorf verschickt werden würden? Ich fühlte mich schreck-lich ahnungslos, und ein Gefühl von Einsamkeit brei-tete sich in meinen Nähten aus. Ich vermisste Veronika. Wenn sie doch nur noch da wäre, sie hätte mir sicher erklären können, was die anderen wohl schon wussten.

Aber jetzt kümmerten sich alle nur noch um die beiden Kleidchen, weil sie so niedlich waren. Dasha war so aufgedreht, dass sie gar nicht mehr aufhören konnte zu plappern, und Lara drehte sich hin und her und erzählte die unglaublichsten Dinge. Heute weiß ich, dass sie log, dass sich die Nähte bogen, aber da so ein Engelchenkleidchen-Leben recht kurz ist, ließen die Kleidungsstücke Milde walten.

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schaft, dachte ich. »Anascha«, hörte ich eine Stimme in mir sagen,

»verzage nicht, alles wird gut werden.« Es war Galina, meine Schneiderin, die in meinen Gedanken zu mir sprach. Seit dieser Nacht wusste ich, dass Galina ein Stoffling sein musste …

Langsam wurde ich wieder müde und hoffte auf ein glückliches Morgen.

Ich träumte von Prototypen und Altkleider-Sammlungen und hörte immer wieder Chantal, das fre-che Top, laut lachen und rufen: »Du bleibst hängen, keiner holt dich ab, du kleiner feiner roter Seidenfet-zen …«

Als ich meinen Blick etwas schweifen ließ, ent-deckte ich auf dem Zuschneidetisch einen neu einge-troffenen Hosenrock, der sich, als ich ihn bemerkte, auch gleich ganz freundlich zu mir hochstreckte.

»Guten Abend. Ich bin eine Culotte.« Eine was?, dachte ich, tat aber so, als ob ich schon

viele Culottes getroffen hätte. »Mein Name ist Colette, ich habe eine eigene Mo-

dellnummer«, sagte sie stolz. »Ich bin ein Prototyp.« Ich verstand kein Wort mehr, was war denn bitte

schön ein Prototyp? Zumindest hatte sie anscheinend keinen eigenen Bügel, und wenn das ein Prototyp-Le-ben sein sollte, dann war ich froh, keiner zu sein.

»Ich bin die Nummer eins«, sagte Colette, als hätte sie meine Gedanken erraten. »Stell dir vor, ich bin das Musterstück, nach mir werden alle zukünftigen Mo-delle meines Designs genäht. Ist doch der Wahnsinn, Kinder, so wird es kommen, die ganze Produktion wird mir zu Füßen liegen.«

Dann schüttelte sie sich vor Lachen, sodass einige Nadeln, die ihren Saum befestigten, durch die Bewe-gung herausfielen.

»Ach, du meine Güte«, sagte Colette erschrocken, »jetzt habe ich den Schlamassel, was mache ich denn nur? Hätte ich mich doch mehr im Griff gehabt. Das wird doch wohl zu richten sein?« Dann war sie nur noch mit sich selbst beschäftigt und würdigte mich kei-nes Blickes mehr.

Prototypen sind nicht gemacht für die Freund-

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Guido Maria Kretschmer

geboren in Münster, gehört zu den renommiertesten deut-schen Modedesignern, dessen Kreationen auch interna-tional höchste Anerkennung finden. Seit 2012 begeistert er als sympathischer Moderator ein Millionenpublikum in diversen TV-Sendungen, allen voran dem Kultformat »Shopping Queen«. Für seine Leistungen wurde er aus-

gezeichnet u. a. mit der »Goldenen Kamera«, dem »Deut-schen Fernsehpreis« und dem österreichischen Film- und Fernsehpreis »Romy«. Aber auch als Autor war Guido Maria Kretschmer höchst erfolgreich: Seine beiden Stil-

ratgeber »Anziehungskraft« und »Eine Bluse macht noch keinen Sommer« standen monatelang auf den obersten

Rängen der SPIEGEL-Bestsellerliste.

www.goldmann-verlag.de

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GUIDO MARIA KRETSCHMER

Das rote Kleid

ISBN 978-3-641-22530-8 (E-Book) ISBN 978-3-442-31489-8 (Hardcover) ISBN 978-3-8445-2881-7 (Hörbuch)

Erscheinungstermin aller Ausgaben: 12.03.2018