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Das strafrechtliche Unrecht im Spannungsfeld von Rechtsgüterschutz und individueller Freiheit Von Professor Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin, München I. „Das Rechtsgut ist die anerkannte Grundlage des Aufbaus und der Aus- legung der Tatbestände“, heißt es bei Hans-Heinrich Jescheck 1 , dem verehr- ten Jubilar. Von diesem Satz will ich im folgenden ausgehen, ohne den Rechtsgutsbegriff im einzelnen zu problematisieren 2 . Wie der Begriff des Rechtsguts zu definieren ist, ob er gesetzgebungskritisch zur Stützung kri- minalpolitischer Forderungen dienen kann und ob es auch Tatbestände gibt, die kein Rechtsgut schützen, lasse ich im Rahmen dieses Beitrages dahin- gestellt 3 . Ich beschränke mich auf die Aussage, daß jedenfalls in der Regel das strafrechtliche Unrecht sich als Rechtsgutsbeeinträchtigung, d. h. als Ver- letzung oder Gefährdung eines Rechtsguts (z. B. des Lebens, der Körper- integrität, des Vermögens oder auch eines Rechtsguts der Allgemeinheit wie der Währung oder der Rechtspflege) darstellt. Darauf beruht auch die ge- setzliche Legalordnung 4 , die im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs die Delikte, wenn auch nicht immer konsequent, nach der Verschiedenheit der geschützten Rechtsgüter aufgliedert. Das strafrechtliche Unrecht als Rechtsgutsbeeinträchtigung – das klingt trivial und selbstverständlich, ist es aber nicht, wenn man erkennt, daß an- dere einflußreiche Lehren, auf die ich im Rahmen dieses Beitrages noch näher eingehen werde, das Unrecht im Handlungsunwert oder in der De- savouierung der Normgeltung sehen, auf einen in einer Rechtsgüterbeein- trächtigung sich ausprägenden Erfolgsunwert also gerade verzichten. Aus dem Rechtsgüterschutzprinzip folgt mit einer gewissen Zwangsläu- figkeit die Lehre von der objektiven Zurechnung, an deren moderner Wie- derbelebung und Entwicklung ich mitgewirkt habe und zu der sich auch ZStW 116 (2004) Heft 4 1 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 5. Aufl. 1996, S. 257. 2 Einen sehr guten Einblick in die aktuelle Diskussion liefern Hefendehl/von Hirsch/ Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003. 3 Ich bereite über diese Fragen, auf die es im Rahmen meines hier behandelten Themas nicht ankommt, eine Arbeit vor. 4 So auch Jescheck/Weigend, Allg. Teil, S. 259. Bereitgestellt von | University of Saskatchewan Angemeldet | 128.233.210.97 Heruntergeladen am | 03.06.14 04:35

Das strafrechtliche Unrecht im Spannungsfeld von Rechtsgüterschutz und individueller Freiheit

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Das strafrechtliche Unrecht im Spannungsfeld von Rechtsgüterschutz und individueller Freiheit

Von Professor Dr. Dr. h. c. mult. Claus Roxin, München

I.

„Das Rechtsgut ist die anerkannte Grundlage des Aufbaus und der Aus-legung der Tatbestände“, heißt es bei Hans-Heinrich Jescheck1, dem verehr-ten Jubilar. Von diesem Satz will ich im folgenden ausgehen, ohne denRechtsgutsbegriff im einzelnen zu problematisieren2. Wie der Begriff desRechtsguts zu definieren ist, ob er gesetzgebungskritisch zur Stützung kri-minalpolitischer Forderungen dienen kann und ob es auch Tatbestände gibt,die kein Rechtsgut schützen, lasse ich im Rahmen dieses Beitrages dahin-gestellt3. Ich beschränke mich auf die Aussage, daß jedenfalls in der Regeldas strafrechtliche Unrecht sich als Rechtsgutsbeeinträchtigung, d. h. als Ver-letzung oder Gefährdung eines Rechtsguts (z. B. des Lebens, der Körper-integrität, des Vermögens oder auch eines Rechtsguts der Allgemeinheit wieder Währung oder der Rechtspflege) darstellt. Darauf beruht auch die ge-setzliche Legalordnung4, die im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs dieDelikte, wenn auch nicht immer konsequent, nach der Verschiedenheit dergeschützten Rechtsgüter aufgliedert.

Das strafrechtliche Unrecht als Rechtsgutsbeeinträchtigung – das klingttrivial und selbstverständlich, ist es aber nicht, wenn man erkennt, daß an-dere einflußreiche Lehren, auf die ich im Rahmen dieses Beitrages nochnäher eingehen werde, das Unrecht im Handlungsunwert oder in der De-savouierung der Normgeltung sehen, auf einen in einer Rechtsgüterbeein-trächtigung sich ausprägenden Erfolgsunwert also gerade verzichten.

Aus dem Rechtsgüterschutzprinzip folgt mit einer gewissen Zwangsläu-figkeit die Lehre von der objektiven Zurechnung, an deren moderner Wie-derbelebung und Entwicklung ich mitgewirkt habe und zu der sich auch

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1 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 5. Aufl. 1996, S. 257.2 Einen sehr guten Einblick in die aktuelle Diskussion liefern Hefendehl/von Hirsch/

Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003.3 Ich bereite über diese Fragen, auf die es im Rahmen meines hier behandelten Themas

nicht ankommt, eine Arbeit vor.4 So auch Jescheck/Weigend, Allg. Teil, S. 259.

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Jescheck bekennt5. Denn wenn das Strafrecht Rechtsgüter gegen mensch-liche Beeinträchtigungen schützen will, ist dies nur möglich, indem es dieSchaffung unerlaubter Risiken für den Bestand der Rechtsgüter verbietetund die verbotswidrige Verwirklichung solcher Risiken in Gestalt einerRechtsgutsbeeinträchtigung als strafrechtliches Unrecht beurteilt. Tatbe-standshandlungen sind also immer Rechtsgutsbeeinträchtigungen in Formder Realisierung eines von Menschen geschaffenen unerlaubten Risikos.

II.

Die Lehre von der objektiven Zurechnung leistet daher die Umsetzung desRechtsgüterschutzprinzips in die dogmatischen und systematischen Katego-rien der Unrechtslehre. Sie leistet aber noch mehr. Sie verwirklicht auch diezentrale Aufgabe jedes rechtsstaatlichen Strafrechts: die Ausbalancierungvon staatlichen Sicherungs- und individuellen Freiheitsinteressen. BeimÜberwiegen der Sicherungsinteressen liegt ein unerlaubtes Risiko vor, dasbei seiner Verwirklichung zur Zurechnung des Tatbestandserfolges führt.Beim Überwiegen der individuellen Freiheitsinteressen ist das Risiko erlaubtund eine Zurechnung des Erfolges auch bei Verwirklichung des Risikos aus-geschlossen. Das läßt sich am leichtesten am Beispiel des Straßenverkehrsdemonstrieren. Einerseits bringt der Autoverkehr ein Risiko für Leben, Ge-sundheit und Sachwerte mit sich. Andererseits würde ein Verbot des Auto-fahrens Fortbewegungsfreiheit und Lebensqualität des modernen Menschenzu sehr einschränken. Bei Abwägung dieser Gesichtspunkte ergibt sich, daßbis zu einem gewissen, durch die Einhaltung festgesetzter Verkehrsregelnbezeichneten Maß das Interesse an der individuellen Handlungsfreiheitüberwiegt, daß das geschaffene Risiko aber jenseits dieser Grenze verbotenist und die rechtsgutsverletzenden Folgen seiner Eingehung dem Verur-sacher als Tatbestandshandlung zugerechnet werden.

Beliebige andere Beispiele lehren dasselbe. So hat der BGH sich in einervor wenigen Monaten veröffentlichten Entscheidung mit der Frage beschäf-tigt, ob ein Arzt einer psychiatrischen Klinik eine fahrlässige Tötung begeht,wenn er einem kriminell hochgefährlichen Insassen unbeaufsichtigten Aus-

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5 Vgl. meine frühen Beiträge in der Festschrift für Honig, 1970, S. 133 (= StrafrechtlicheGrundlagenprobleme, 1973, S. 123), sowie in der Festschrift für Gallas, 1973, S. 241.Zur Stellungnahme von Jescheck vgl. Jescheck/Weigend, Allg. Teil, S. 259.

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gang gewährt und dieser dabei mehrere Morde begeht6. Hier ist das Sicher-heitsinteresse der Allgemeinheit gegen den Therapieanspruch des Patientennach den Regeln der objektiven Zurechnung abzuwägen. Da im konkretenFall mehrere Indikatoren7 für die Unerlaubtheit des eingegangenen Risikossprachen – der Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften und das Nichteingrei-fen des Vertrauensgrundsatzes angesichts erkennbarer Tatgeneigtheit –, sinddem Arzt die von dem Patienten begangenen Morde als fahrlässige Tötun-gen zuzurechnen.

Die zentrale Kategorie des strafrechtlichen Unrechts ist also nicht, wieman lange geglaubt hat, die Verursachung des Erfolges oder die Finalitätmenschlichen Handelns, sondern die Verwirklichung eines unerlaubten Ri-sikos. Die Kausalität ist nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichendeBedingung strafrechtlichen Unrechts. Und auch dies ist sie nur, wenn maneine Kausalität des Unterlassens anerkennt; sonst bleibt diese Kategorie aufBegehungsdelikte beschränkt. Die Finalität dagegen ist nur ein Element desvorsätzlichen Unrechts und nicht des Unrechts schlechthin. Und auch diesgilt nur, wenn man Vorsatz und Finalität gleichsetzt, was bei einigen Er-scheinungsformen des dolus eventualis bezweifelt werden kann.

Indem man das Unrecht als Rechtsgutsbeeinträchtigung durch Verwirk-lichung eines unerlaubten Risikos versteht, vollzieht man zugleich eineWendung vom Ontischen zum Normativen. Kausalität und Finalität sindSeinskategorien, die vom Standpunkt der darauf aufbauenden Lehren ausallein darüber entscheiden, was etwa eine Tötung, Beschädigung oder Ver-letzung ist. Geht man dagegen von der hier entwickelten Auffassung aus, sosetzt jede Tötung – um bei diesem Beispiel zu bleiben – zwar ein empirischesSubstrat voraus. Ob eine Todesverursachung aber eine Tötungshandlung ist,ist dann normativ nach der Einhaltung oder Überschreitung des erlaubtenRisikos zu entscheiden.

Eine Normativierung läßt sich nicht nur bei der wertend-abwägendenFestlegung des erlaubten Risikos, sondern auch darin feststellen, daß dieVerwirklichung des unerlaubten Risikos kein bloß faktischer Vorgang ist,sondern vom Schutzzweck der das erlaubte Risiko begrenzenden Sorgfalts-norm abhängt. Wenn z. B. ein Autofahrer viel zu schnell gefahren ist, dannaber sein Tempo wieder auf das zulässige Maß herabmindert, und wenn er

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6 Ich vereinfache den Sachverhalt. Näher BGH StV 2004, 484 m. Anm. Roxin, S. 485.7 Vgl. zu diesen Indikatoren im einzelnen Roxin, Strafrecht, Allg. Teil, Bd. I, 3. Aufl.

1997, § 24 Rdn. 14–38.

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nun in objektiv unvermeidbarer Weise ein Kind anfährt, das plötzlich hintereinem Wagen hervorspringt, so ist dies ein Unglück, aber keine Körperver-letzungshandlung. Denn zwar hatte der Autofahrer das erlaubte Risikoüberschritten. Auch wäre es ohne die Risikoüberschreitung nicht zu demUnfall gekommen. Denn bei ständiger Einhaltung des zugelassenen Temposwäre der Autofahrer noch nicht zur Stelle gewesen, als das Kind auf dieFahrbahn sprang. Aber der Schutzzweck der Geschwindigkeitsbegrenzungschließt dennoch eine Erfolgszurechnung aus. Das Tempolimit soll nichtverhindern, daß Autos zum Geschehenszeitpunkt mit korrekter Geschwin-digkeit an einer Unfallstelle fahren. Es soll vielmehr den geringeren Aus-weichmöglichkeiten und der größeren Heftigkeit des Aufpralls bei einemetwaigen Zusammenstoß vorbeugen, die das zu schnelle Fahren in solchenFällen mit sich bringt. Diese Gefahren bestanden in meinem Beispiel nicht,so daß das Vorliegen einer objektiv tatbestandsmäßigen Körperverletzungabzulehnen ist.

Ich kann hier nicht weiter ins Detail gehen8. Aber schon meine wenigenAndeutungen mögen zeigen, daß die Lehre von der objektiven Zurechnungunmittelbar mit dem Prinzip des Rechtsgüterschutzes verknüpft ist, daß siedas Maß dieses Schutzes durch ein subtiles Regelwerk rational einleuchtendmacht und auf das sozialpolitisch Notwendige beschränkt. Sie ist also beider Konstituierung strafrechtlichen Unrechts weit leistungsfähiger als wert-blinde ontologische Kategorien wie Kausalität und Finalität. Wenn kürzlichSchroeder9 gesagt hat, es sei heute „die Lehre von der objektiven Zurech-nung, die sowohl hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Bedeutung als auch ihrerBeachtung im Ausland an die Stelle der finalen Handlungslehre getreten ist“,so gilt das nicht nur für ihre internationale Resonanz, sondern trifft auch inder Sache etwas Richtiges, weil sie der strafrechtlichen Unrechtslehre eineneue Dimension hinzufügt, die vorhergehenden Epochen kausaler und fina-ler Unrechtsbestimmung aber in sich aufnimmt.

Mein Fazit ist also, daß das strafrechtliche Unrecht eine Rechtsgutsver-letzung oder -gefährdung voraussetzt und daß die Lehre von der objektivenZurechnung auf dieser Grundlage den Bereich des strafrechtlich Verbotenendurch Abwägung von Schutz- und Freiheitsinteressen im einzelnen festlegt.Ich will das im folgenden in Auseinandersetzung mit einigen anderen Un-rechtslehren noch etwas weiter verdeutlichen.

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8 Zusammenfassende Darstellung der Lehre von der objektiven Zurechnung bei Roxin,Allg. Teil, § 11 Rdn. 39ff.

9 Schroeder, Festschrift für Androulakis, 2003, S. 651.

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III.

Dabei beginne ich mit der finalen Handlungslehre in der gemäßigten Form,die ihr Schöpfer Hans Welzel10 ihr gegeben hatte und die bis heute vor allemsein Schüler Hirsch11 weiterentwickelt hat. Ich spreche von einem „ge-mäßigten“ Finalismus, weil beide Autoren, obwohl sie dem in der finalenZielsetzung des Täters liegenden Handlungsunwert besondere Bedeutungfür das strafrechtliche Unrecht zumessen, an einem – wenn auch nicht ge-setzgebungskritischen – Rechtsgutsbegriff festhalten12 und Handlungs- undErfolgsunwert (also die Rechtsgutsbeeinträchtigung) gleichermaßen zurVoraussetzung des Unrechts machen. Welzel13 sagt: „Aufgabe des Straf-rechts ist der Rechtsgüterschutz durch den Schutz der sozialethischenHandlungswerte.“ Zwar meint er14, „über die Sicherung der elementarensozialethischen Handlungswerte“ werde „der Rechtsgüterschutz tiefer undstärker gewährleistet als durch den alleinigen Güterschutzgedanken“. Aberdie dadurch dem Handlungsunwert zugeschriebene größere Bedeutung istdoch nur scheinbar. Denn letztlich ist für Welzel das Verbot bestimmterfinaler Handlungen immer nur ein Mittel zum Zwecke des Rechtsgüter-schutzes. Auch Hirsch15 erklärt einen positivrechtlichen (also auf Gesetz-gebungskritik verzichtenden) Rechtsgutsbegriff für „durchführbar und not-wendig“.

Es ist der Welzel-Schule aber nicht gelungen, Handlungs- und Erfolgsun-wert sachgemäß miteinander zu verknüpfen und durch die Beschränkungdes Rechtsgüterschutzes auf die Verhinderung unerlaubter Risiken die so-ziale Dimension des Unrechts verständlich zu machen. Welzel hatte das Pro-blem anfangs gesehen und mit Hilfe des Begriffs der sozialen Adäquanz zulösen versucht. Noch in seinen „Studien zum System des Strafrechts“16 sagter: „Alle strafrechtlichen Tatbestandsbegriffe, auch die sog. deskriptiven wie‚töten‘, ‚verletzen‘, ‚beschädigen‘ u. a. sind keine kausalen Begriffe kausaler

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10 In ihrer letztgültigen Form ist Welzels Lehre zusammengefaßt in: Das deutsche Straf-recht, 11. Aufl. 1969.

11 Ich beziehe mich hier in erster Linie auf drei der neuesten Arbeiten von Hirsch in derFestschrift für Lenckner, 1998, S. 119, der Festschrift für Spinellis, 2001, S. 425, und derFestschrift für Lampe, 2003, S. 515.

12 Vgl. Welzel (Anm. 10), S. 1ff.; Hirsch, Festschrift für Spinellis, S. 436ff.13 Welzel (Anm. 10), S. 5.14 Welzel (Anm. 10), S. 4.15 Hirsch, Festschrift für Spinellis, S. 444.16 Welzel, ZStW 58 (1939), S. 528.

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Rechtsgutsverletzungen, sondern … Begriffe, deren Sinngehalt sich aus ihrerFunktion im sozialen Ganzen ergibt …“. Es sei ein grundsätzlicher Fehl-ansatz der herkömmlichen Lehre, „daß sie die Tatbestandshandlung auf kau-sale Verursachungsfälle reduziert hat und die rechtlich-soziale Bedeutungs-welt … erst mit der Frage der Rechtswidrigkeit hat beginnen lassen“17.

Sachverhalte, die kein rechtlich relevantes oder ein erlaubtes Risiko dar-stellen, hätten danach als sozialadäquat aus dem Tatbestand ausgeschiedenwerden können, und so hat Welzel derartige Fälle anfangs auch gelöst18. Eshätte nur der sehr verschwommene Begriff der sozialen Adäquanz in diepräzisen Kriterien der objektiven Zurechnung auseinandergelegt werdenmüssen, um das Spannungsverhältnis von Schutz- und Freiheitsinteressen ineine moderne Unrechtslehre zu integrieren. Cancio Meliá bestreitet dennauch mit Recht19 die These, „die Erkenntnisse der finalen Handlungslehreseien mit der objektiven Zurechnung nicht vereinbar“. Es stecke „in demBegriff der sozialen Adäquanz sogar der Ansatz zur Entwicklung einerLehre von der objektiven Zurechnung“. Auch ich selbst hatte schon vor-her20 die meisten Erscheinungsformen sozial adäquaten Verhaltens als Fällefehlender objektiver Zurechenbarkeit qualifiziert.

Welzel hat aber diesen Weg des „sozialen“ Finalismus in der Nachkriegs-zeit verlassen und ist auf den Kurs einer „seinsgesetzlichen“ Finalität ein-geschwenkt, die nur noch die wertfreie Überdetermination von Kausalver-läufen umfaßte. Finalität sei „ein ebenso ontologischer Begriff wie die Kau-salität“, sagte er nun21 und erklärte, es sei möglich gewesen, schon in demAugenblick, „als der erste Mensch einen Stein als Werkzeug benutzte“, ausdiesem Phänomen „die ganze finale Handlungslehre zu entwickeln“. Deut-licher kann man die Ausblendung der gesamten Sozialwelt aus dem objek-tiven Tatbestand kaum ausdrücken, und so ist es denn auch nicht verwun-derlich, daß die soziale Adäquanz zehn Jahre lang nur noch als Recht-fertigungsgrund angesehen wurde22 und auch nach der späteren Wiederein-gliederung in den Tatbestand im System Welzels keine große Rolle mehrspielte.

Den lebensfremden, aber theoretisch anschaulichen Fall, daß jemand„einen anderen bei einem aufkommenden Gewitter in den Wald schickt in

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17 Welzel, ZStW 58 (1939), S. 516.18 Vgl. Cancio Meliá, GA 1995, 179; Roxin, Festschrift für Androulakis, 2003, S. 633.19 Cancio Meliá, GA 1995, 180.20 Roxin, Festschrift für Klug, Bd. II, 1983, S. 303.21 Welzel, Um die finale Handlungslehre, 1959, S. 7.22 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 4. Aufl. 1954 bis 8. Aufl. 1963.

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der Hoffnung, der andere werde durch einen Blitz erschlagen werden“, lösteer nun so23, daß der – auf die reine Kausalität reduzierte – objektive Tat-bestand des Totschlages erfüllt sei, daß dem Täter aber der Vorsatz fehle,weil nur ein Hoffen oder Wünschen, aber kein Verwirklichungswille vorge-legen habe. In Wirklichkeit ist aber schon der objektive Tatbestand nicht er-füllt, wie Welzel in der Phase des sozialen Finalismus selbst erkannt hatte,indem er eine Tötung wegen der sozialen Adäquanz des Täterverhaltens ab-lehnte24. Das war weniger verfehlt als seine spätere Lösung. Aber eineexakte Begründung hätte lauten müssen, daß der Veranlasser kein rechtlichrelevantes Risiko geschaffen habe und daß der Erfolg ihm aus diesemGrunde nicht als Tötungshandlung zuzurechnen sei.

Auch beim erlaubten Risiko hat Welzel das Problem zwar gesehen, abernach der Reduktion des objektiven Tatbestandes auf die Kausalität dogma-tisch nicht mehr verarbeiten können. So sagt er25 im Hinblick auf denStraßenverkehr, an dessen Beispiel ich den Grundgedanken der objektivenZurechnung oben verdeutlicht habe: „Den Rechtsgütern bietet das Straf-recht Schutz vor möglichen Verletzungen, allerdings nicht absolut, dennjedes Rechtsgut muß im sozialen Leben tätig eingesetzt und damit bis zueinem gewissen Grade gefährdet werden (erinnert sei nur an den beträcht-lichen Grad der unverbotenen Lebensgefährdung im modernen Verkehr!).“Das ist eine richtige Einsicht. Aber ihre Umsetzung in juristische Begriffewäre nur mit Hilfe der Lehre von der objektiven Zurechnung möglich gewe-sen, die Welzel noch unbekannt war.

An diesem Mangel krankt der in der Tradition Welzels stehende Finalis-mus noch heute. Hirsch, der heute prominenteste Vertreter dieser Richtung,hat nach anfänglich völliger Ablehnung der Lehre von der objektiven Zu-rechnung26 erst in seinen letzten Arbeiten anerkannt27, daß das Ausmaß desRechtsgüterschutzes bei der Fahrlässigkeit durch diese Konzeption zutref-fend bestimmt wird. „Hinsichtlich des Bedingungszusammenhangs zwi-schen Handlung und Erfolg beim fahrlässigen Delikt hat die Lehre von derobjektiven Zurechnung einen berechtigten Anwendungsbereich“, heißt es

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23 Welzel (Anm. 10), S. 66.24 Welzel (Anm. 16), S. 517. Dazu Cancio Meliá, GA 1995, 179f.25 Welzel (Anm. 10), S. 5.26 Jakobs, Festschrift für Hirsch, 1999, S. 45 (mit Nachweisen), schreibt, Hirsch halte

diese Lehre „für teils falsch und ansonsten überflüssig“.27 Hirsch, Festschrift für Lenckner, S. 119; ders., Festschrift für Lampe, S. 515.

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nun28. In seiner jüngsten Äußerung29 wird die moderne Entwicklung derZurechnungslehre zutreffend beschrieben: „In bezug auf den Pflichtwidrig-keitszusammenhang beim fahrlässigen Delikt … fügt sich die Lehre Roxins… auch als Zurechnungskonzept in das Welzelsche System ein.“

Bei Vorsatzdelikten30 freilich läßt Hirsch nach wie vor keine objektiveZurechnung zu. Den von Welzel angeführten, schon erwähnten „Gewitter-fall“ löst er jetzt zwar nicht mehr durch Leugnung des Vorsatzes, sonderndurch Abstreiten einer Versuchshandlung31. „Der Grund dafür“, sagt er,„besteht darin, daß eine Handlung die Beherrschung des von ihr erfaßtenKausalgeschehens erfordert. Ist der konkrete Erfolgseintritt dem außerhalbder Steuerung des Täters liegenden Zufall überlassen, so liegt von vornhereinkeine auf Erfolgsverwirklichung gerichtete Handlung vor.“ Aber diesesSteuerungsdefizit ist nicht, wie Hirsch es darstellt, eine Folge fehlender Fina-lität, sondern eine Folge der objektiv zu geringen Gefährlichkeit des Täter-handelns, die schon eine Zurechnung des Erfolges zum objektiven Tatbe-stand ausschließt32.

Aus alledem ergibt sich, daß ein auf den Rechtsgüterschutz abstellenderund in diesem Sinne gemäßigter Finalismus eine fruchtbare Unrechtslehrenur entwickeln könnte, wenn er den sozialen Interessenausgleich, auf demjedes Verbot beruht, in sich aufnähme und mit Hilfe der Lehre von der ob-jektiven Zurechnung dogmatisch verarbeitete. Dafür gibt es von Anfang anbis heute im Rahmen des Finalismus mancherlei Ansätze. Sie sind aberdurch die Fixierung auf eine ontologische Finalitätsstruktur überdeckt wor-den und nie zur vollen Entfaltung gekommen. Hier liegt ein entscheidenderGrund für den Niedergang des Finalismus in der modernen Strafrechtsdog-matik.

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28 Hirsch, Festschrift für Lampe, S. 523.29 Hirsch, ZStW 116 (2004), S. 1, 9.30 Vgl. zu diesem Thema aus finalistischer Sicht Armin Kaufmann, Festschrift für

Jescheck, Bd. I, 1985, S. 251; kritisch dazu Roxin, Gedächtnisschrift für Armin Kauf-mann, 1989, S. 237.

31 Hirsch, Festschrift für Lenckner, S. 135 (hier auch das folgende Zitat).32 Die „Unhaltbarkeit der finalistischen Kritik“ wird ausführlich dargelegt bei Frisch,

Festschrift für Roxin, 2001, S. 213, 216ff.; ders., GA 2003, 719, 731ff., 733: „Die Kritikder Finalisten an der objektiven Zurechnung verdient keinen Beifall“. Vgl. auch Schü-nemann, GA 1998, 207, 227ff.

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IV.

Eine monistisch-subjektive Richtung33 der finalen Handlungslehre sieht dasUnrecht vorsätzlicher und fahrlässiger Delikte allein im Handlungsunwertund spricht dem tatsächlichen Eintritt der Rechtsgutsbeeinträchtigung dieBedeutung für das Unrecht ab. Sie geht zurück auf Armin Kaufmann34 undist später vor allem von seinen Schülern Zielinski35 und Sancinetti36 weiter-entwickelt worden. Beim vorsätzlichen Delikt kommt sie zu dem Ergebnis,daß die Tat mit dem beendeten Versuch (oder genauer: „wenn der Täter dieMöglichkeit eines Verlusts der Kontrolle über die Vollendungsverhinderungin Kauf genommen hat“37) abgeschlossen ist. Es wird also „im Ende desVersuchs auch das Ende der Straftat“38 gesehen. Bei fahrlässigen Deliktenkommt es allein auf das Fehlverhalten des Täters (den Handlungsunwert) an,während der Erfolg außerhalb des Unrechts steht. „Das Unrecht des fahrläs-sigen Delikts“, sagt Armin Kaufmann39, „wird allein begründet durch dasVorliegen der Sorgfaltsverletzung und das Fehlen von Rechtfertigungsgrün-den … Der Erfolgseintritt ist keine notwendige Bedingung … der Tatbe-standsmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit, sondern Bedingung der Strafbar-keit.“ Diese Lehre bedeutet eine Radikalisierung des finalistischen Ansatzes,indem sie den von diesem entdeckten Handlungsunwert zum alleinigen Trä-ger des Unrechts macht. Darin formuliert sich eine Gegenposition zu derhier vertretenen Auffassung: Das Delikt wird als Normübertretung, nichtals Rechtsgutsbeeinträchtigung verstanden. Eine Lehre von der objektivenZurechnung erübrigt sich, weil gar keine Erfolge zuzurechnen sind.

Eine derartige monistisch-subjektive Richtung hat sich in Deutschlandnicht durchsetzen können40. Ein Finalist wie Hirsch erklärt sie sogar für ein

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33 Ich übernehme den Ausdruck von Hirsch, Festschrift für Lampe, S. 521 Fn. 23.34 Man vergleiche nur etwa seine Abhandlung in der Festschrift für Welzel, 1974, S. 393.35 Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973.36 Sancinetti, Subjektive Unrechtsbegründung und Rücktritt vom Versuch, 1995. Zur

Einführung in die Lehren Sancinettis sehr geeignet ist die zweisprachig (deutsch undspanisch) erschienene Schrift „Dogmatik der Straftat und Strafgesetz“, 2003.

37 Sancinetti, Subjektive Unrechtsbegründung und Rücktritt vom Versuch, 1995, S. 281.38 Sancinetti (Anm. 37), S. 282.39 Armin Kaufmann, Festschrift für Jescheck, S. 410f.40 Die gründlichste Kritik liefert Mylonopoulos, Über das Verhältnis von Handlungs- und

Erfolgsunwert im Strafrecht, 1981. Weitere Nachweise zu den ablehnenden Stimmen,unter denen sich auch Jakobs befindet, bei Roxin, Allg. Teil I, § 10 Rdn. 88ff. (96Fn. 141). Entschieden ablehnend auch Jescheck/Weigend, Allg. Teil, S. 239f., wo nochzahlreiche weitere Anhänger der monistisch-subjektiven Richtung nachgewiesen wer-den.

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rechtsstaatswidriges Gesinnungsstrafrecht41. Das ist übertrieben. Denn imHandlungsunwert manifestiert sich immerhin eine Normverletzung, unddas ist mehr als eine bloße Gesinnungsbekundung. Aber auch der Zusam-menhang unseres Themas und die wissenschaftliche Bedeutung der Vertreterdieser Konzeption rechtfertigen eine Auseinandersetzung damit.

Die monistisch-subjektive Unrechtsauffassung stützt sich vor allem aufzwei Argumente: Erstens könne das Recht keine Erfolge, sondern nurHandlungen verbieten; und zweitens sei das Abstellen auf den Erfolg eineunzulässige Zufallshaftung, weil es nicht vom Täter abhänge, ob ein beende-ter Versuch oder ein fahrlässiges Verhalten zu einer Rechtsgutsbeeinträchti-gung führten. Beide Argumente sind aber nicht stichhaltig. Denn man kannErfolge zwar nicht als rein kausale Ereignisse verbieten, wohl aber als Ver-wirklichung unerlaubter Risiken. Es entspricht einem allgemeinen Sprach-gebrauch, daß man zum Beispiel Tötungen und nicht nur auf Tötung abzie-lende oder zu ihrer fahrlässigen Herbeiführung geeignete Handlungenverbietet. Auch ist der Erfolg kein Zufall, sondern das Werk des Täters,wenn seine Verwirklichung im Einklang mit den Regeln der objektiven Zu-rechnung steht. Richtig ist freilich, daß der Erfolg beim mißlingenden Ver-such und bei der folgenlosen Fahrlässigkeit mehr oder weniger zufällig aus-bleiben kann. Das zwingt den Gesetzgeber aber nicht, diese Fälle genauso zubestrafen wie die des Erfolgseintritts.

Der entscheidende Einwand gegen die monistisch-subjektive Lehre liegtdarin, daß sie das strafrechtliche Unrecht allein in die – womöglich auchnoch irrige – Tätervorstellung verlegt und seine soziale Dimension mitsamtder Ausbalancierung von Schutz- und Freiheitsinteressen völlig ausblendet.Wenn man etwa über den Bereich der Gefährdungsdelikte hinaus jede fol-genlose Fahrlässigkeit genauso behandeln würde wie eine tatsächlich ver-wirklichte fahrlässige Tötung oder Körperverletzung, würde das zu einerÜberkriminalisierung führen, die die Freiheit der Bürger weiter einschränkt,als dies sozial notwendig ist. Auch wird man – entgegen dieser radikal sub-jektiven Unrechtsauffassung – den beendeten Versuch nicht notwendig alsvollendete Tat bestrafen müssen, sondern dem Gesetzgeber, wie es das deut-sche Strafgesetzbuch getan hat (§ 23 Abs. 2 StGB), das Recht zu einer fakul-tativen Strafmilderung zugestehen müssen (soweit der Versuch überhauptunter Strafe steht). Denn oft beruht das Mißlingen eines beendeten Versuchsauf einer im Verhältnis zur erfolgreichen Durchführung verminderten kri-

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41 Hirsch, Festschrift für Lüderssen, 2002, S. 253, 257; ders., Festschrift für Lampe, S. 521.

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minellen Energie. Außerdem ist es in seiner sozialen Auswirkung etwas we-sentlich anderes, ob – im Beispiel der Tötungsdelikte – ein toter Mensch dasErgebnis des Täterhandelns ist oder ob kein solcher Schaden eintritt. MitRecht sagt Mylonopoulos42 im Hinblick auf die hier kritisierte Lehre: „EineHandlung ist einer strafrechtlichen Bewertung erst dann zugänglich, wennsie im sozialen Raum auf ihren sozialen Sinn hin geprüft werden kann“, undJakobs43 betont im selben Kontext: „Es geht nicht um die individuelle, son-dern um die soziale Bedeutung von Verhalten, und die soziale Bedeutung istnicht am Kopf des Täters ablesbar.“

Wie berechtigt diese Einwände sind, zeigt gerade Sancinetti, der in derGegenwart wohl entschiedenste Verfechter einer subjektivistischen Un-rechtskonzeption, in seiner letzten Publikation. Er erwägt dort zwar44, wiees nach seiner Lehre konsequent wäre, „alle möglichen Fahrlässigkeits-formen zu vorsätzlichen abstrakten Gefährdungsdelikten“ umzuwandeln.Dann erklärt er es aber unter Hinweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrund-satz und das ultima-ratio-Prinzip doch für sinnvoll, die Bestrafung der Fahr-lässigkeit vom Erfolgseintritt abhängig zu machen, „da sonst der Staatenorme Eingriffsmöglichkeiten hätte, wenn er – ohne Erfolgseintritt – be-züglich jedes möglichen fahrlässigen Verhaltens des Bürgers Nachforschun-gen anstellen könnte …“. Es werde durch die Beschränkung der Strafbarkeitauf den Erfolgseintritt „der Gewinn erzielt, daß der Staat sich nicht in eineenorme Anzahl von Handlungen des täglichen Lebens einmischt und denBürger erstickt“.

Hier wird das Spannungsverhältnis von Rechtsgüterschutz und individu-eller Freiheit, auf das meine Unrechtskonzeption aufgebaut ist, entgegendem Ausgangspunkt der eigenen Lehre Sancinettis hellsichtig erkannt undzur Grundlage der Entscheidung gemacht. Sancinetti meint zwar, die sub-jektivistische Unrechtslehre aufrechterhalten zu können, indem er dem Er-folgseintritt bei der Fahrlässigkeit keine „konstitutive“, sondern nur eine„selektive“ Funktion zuschreibt. In der Sache zeigt sich aber doch, daß eineauf die Rechtsgutsbeeinträchtigung verzichtende Unrechtslehre ernstlichnicht durchführbar ist. Sie ist es auch nicht in der Form, daß man den Erfolgbeim Fahrlässigkeitsdelikt oder beim beendeten Versuch als objektive Be-dingung der Strafbarkeit ansieht. Denn der Erfolg muß dem Täter in jedem

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42 Mylonopoulos (Anm. 40), S. 129.43 Jakobs, Strafrecht, Allg. Teil, 2. Aufl. 1991, 6/73.44 Sancinetti, Dogmatik der Straftat und Strafgesetz, 2003, S. 134, 136.

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Fall als vollendete Tötungs-, Verletzungs- oder sonstige Tatbestandshand-lung zugerechnet werden können, und das ist nur in der Systemkategorie desUnrechts möglich.

V.

Zum Schluß noch ein Wort zur Unrechtslehre von Jakobs. Dieser steht derhier vertretenen Auffassung nahe, weil er – anders als die beiden finalisti-schen Strömungen – nicht nur den Erfolg zum Unrecht zählt, sondern auchHandlung und Erfolg nach den Regeln der objektiven Zurechnung ver-knüpft45 und, wie schon erwähnt, der sozialen Bedeutung des Verhaltens,die sich nicht allein aus der Finalität erschließt, entscheidende Bedeutungbeimißt. Bei richtiger Tatbestandsbildung sei die „Vollendung auf eine Guts-verletzung … festgelegt“46, heißt es bei ihm.

So weit, so gut und richtig. Aber wie verträgt sich diese Unrechtslehremit der Strafkonzeption von Jakobs? Danach soll das Strafrecht nichtRechtsgüter, sondern die Normgeltung schützen47. Wenn die Straftat alleindarin besteht, daß der Täter die Norm desavouiert, liegt die Folgerung nahe,daß sich das Unrecht im Handlungsunwert erschöpft und daß eine konse-quente Durchführung seiner Strafzwecklehre Jakobs auf den subjektiv-mo-nistischen Unrechtsbegriff der Armin-Kaufmann-Schule hätte festlegenmüssen. Dies ist denn auch die These von Sancinetti 48. Er spricht von einer„Ungereimtheit, die sich daraus ergibt, daß einerseits die Theorie von derRechtsgutsverletzung abgelehnt – wobei sie von der Desavouierung derNorm … ersetzt wird – und gleichzeitig eine tatsächliche Verletzung einesRechtsgutsobjekts zur Voraussetzung für vollendetes Unrecht gemachtwird“.

Die These, daß hier ein Widerspruch in den Grundlagen der Strafkon-zeption Jakobs’ – mindestens scheinbar – vorliegt, läßt sich durch Zitateleicht belegen. So sagt Jakobs49, das „Nichtanerkennen der Normgeltung“

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45 Jakobs, Allg. Teil, 7/35 ff.; auf Unterschiede im Detail kommt es in diesem Zusammen-hang nicht an.

46 Jakobs, Allg. Teil, 6/73.47 Ich verweise nur auf die letzte Darstellung dieser Auffassung durch Jakobs, Festschrift

für Saito, 2003, S. 17.48 Sancinetti (Anm. 37), S. 19.49 Alle drei Zitate aus: Jakobs, Der strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992, S. 34f.

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sei dasjenige, „worauf Strafrecht … reagiert. Es ist deshalb der spezifischstrafrechtliche Erfolg.“ „Das Nichtanerkennen der Normgeltung kann per-fekt sein, ohne daß ein äußerer Deliktserfolg eintritt.“ Die „Rede vomHandlungsunwert und vom Erfolgsunwert“ sei „ungeeignet zu erfassen,worum es geht: nämlich um das Nichtanerkennen der Normgeltung durchden Sinnausdruck einer Person“. Wenn demnach der „Erfolg“ strafbarenHandelns in der Nichtanerkennung der Norm liegt, könnte das auch jederVertreter der subjektiv-monistischen Unrechtslehre unterschreiben. DasAbstellen auf einen solchen Erfolg sei, sagt Sancinett50, „eine reine Um-benennung ohne die geringste inhaltliche Änderung“ gegenüber der reinsubjektivistischen Unrechtslehre.

Jakobs hat die Schwierigkeit, die sich für die Konsistenz seiner Konzep-tion in diesem Punkte ergibt, sehr wohl gesehen. Er versucht ihr zu ent-gehen, indem er für die Desavouierung der Normgeltung, die die Straftatausmachen soll, eine „Objektivierung“ im Sinne einer hinreichenden „Signi-fikanz“ verlangt. Das „Nichtanerkennen der Normgeltung“ bedürfe „alskommunikativer Vorgang immer einer Objektivierung …“51. Nötig sei „einfür den Normbruch signifikantes Ereignis“52, und dabei habe im Verhältniszur versuchten Tat „zwingend die vollendete Tat mehr Signifikanz“ – infolgeder Gutsverletzung. „Weshalb gerade dieser Umstand unrechtsirrelevantsein soll, solange das Unrecht überhaupt eine äußere Seite hat, ist bishernicht begründet worden.“

Ob dies aber mit dem Ausgangspunkt von Jakobs zu vereinbaren ist, wo-nach der Schutz der Rechtsgüter durch den Schutz der Normgeltung ersetztwerden soll, erscheint mir zweifelhaft. Natürlich ist es richtig, daß eineNormdesavouierung als reines Internum strafrechtlich irrelevant bleibenmuß; alles andere wäre Gesinnungsstrafrecht. Aber schon der Handlungs-unwert ist ja eine Objektivierung, die als komplettes Unrecht gelten könnte,wenn dies nur als Normbruch existierte. Ist andererseits bei vollendetenTaten im Regelfall nur eine zurechenbare „Gutsverletzung“ ein „für denNormbuch signifikantes Ereignis“, so beruht das Unrecht in Wahrheit dochauf einer Rechtsgutsbeeinträchtigung, und die These von Jakobs, daß dasStrafrecht die „Normgeltung“ und nicht „Rechtsgüter“ schütze, ist mehr einStreit um Worte.

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50 Sancinetti (Anm. 37), S. 22.51 Jakobs, Festschrift für Saito, S. 35.52 Jakobs, Allg. Teil, 6/73.

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Allerdings kommt die Ausblendung der Rechtsgutsbeeinträchtigung, diebei vollendeten Delikten nur in sehr gekünstelter Form durch die Umdeu-tung der Verletzung in eine Bedingung der Signifikanz des Normbruchsmöglich ist, bei der Deutung des Versuchs durch Jakobs wieder stark zurGeltung. „Strafgrund des Versuchs“ ist für ihn „das Expressiv-Werden einesNormbruchs“53. „Wie … das Verbrechen nicht primär Bewirken von Verlet-zungen an Gütern ist, sondern Verletzung der Normgeltung, so ist der Ver-brechensversuch auch nicht primär über eine Gütergefährdung zu erfassen,sondern über die verletzte Normgeltung“, heißt es bei Jakobs54, für den „derStrafgrund des Versuchs … exakt derjenige der Vollendung“ ist. Versuch undVollendung bedeuten dann gleichermaßen „einen perfekten Angriff auf dieNormgeltung“55.

Das ist, wenn man mit der hier vertretenen Meinung die Rechtsgutsbe-einträchtigung als Kern des Unrechts ansieht, zu subjektivistisch gedacht.Ich sehe den Strafgrund des Versuchs primär in der Rechtsgutsgefährdung56.Auf diese Weise läßt sich die gesetzliche Abstufung zwischen der vollenVollendungsstrafe, der gemilderten Versuchsbestrafung und der Straflosig-keit der Vorbereitungshandlung als eine Abstufung nach dem Maße des Un-rechts erfassen, während dies bei der Postulierung eines völlig identischenUnrechts nicht recht erklärbar ist. Wenn Jakobs den Versuch als „expressi-ven und tatbestandsnahen Normbruch“ bezeichnet57, so ist die zusätzlicheForderung einer Tatbestandsnähe zwar der Sache nach berechtigt. Aber dieTatbestandsnähe bezeichnet doch nichts anderes als die akute Gefährdungdes geschützten Rechtsguts und geht damit über die bloße Expressivität desNormbruchs hinaus. So zeigt sich auch hier ein Schwanken zwischen sub-jektiver und objektiver Unrechtsbegründung, das schon beim vollendetenDelikt sichtbar wurde.

Mit dem hier befürworteten Prinzip der Rechtsgutsgefährdung – einerForm geringerer Rechtsgutsbeeinträchtigung – läßt sich auch der untaug-liche Versuch erklären. Denn auch dieser ist – bei der gebotenen Sicht ex ante– in der Regel gefährlich58. Wenn eine Rechtsordnung darüber hinaus sogarden von vornherein ungefährlichen Versuch bestraft, wie dies, wenngleich in

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53 Jakobs, Allg. Teil, 25/21.54 Jakobs, Allg. Teil, 25/15.55 Jakobs, Allg. Teil, 25/17.56 Vgl. dazu ausführlich Roxin, Allg. Teil, Bd. II, 2003, § 29 Rdn. 9ff.57 Jakobs, Allg. Teil, 25/21.58 Näher dazu Hirsch, Festschrift für Roxin, 2001, S. 711.

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eingeschränkter Form, das deutsche Strafgesetzbuch tut59, so ist das eineAnomalie, die mit dem Rechtsgüterschutzprinzip nicht zu vereinbaren undderen Abschaffung zu fordern ist60.

Die Frage, ob das strafrechtliche Unrecht eine Rechtsgutsbeeinträchti-gung ist oder nicht, wirkt sich auch auf das Problem des sogenannten Son-derwissens aus61. Jakobs62 bildet den Fall, daß „ein Biologiestudent als Aus-hilfskellner in einem exotischen Salat dank seiner im Studium erworbenenKenntnisse eine giftige Frucht entdeckt, aber den Salat trotzdem serviert“.Hat der Student eine vorsätzliche Tötung begangen, wenn der Gast an demSalat stirbt? Sieht man die Aufgabe des Strafrechts im Rechtsgüterschutz,kann daran kein Zweifel bestehen63: Der Student hat durch das Servieren desgiftigen Salates ein tödliches Risiko für das Leben des Gastes geschaffen, dassich im Erfolg auch verwirklicht hat. Jakobs nimmt demgegenüber einenAngriff auf die für ihn entscheidende Normgeltung nur an, wenn jemandgegen die Anforderungen der sozialen Rolle verstößt, in der er tätig wird. Dader Biologiestudent als Kellner agiert, braucht er sein studentisches Wissenin diese Rolle nicht einzubringen, so daß nach dieser Auffassung keineTötung vorliegt. Das erscheint mir aber nicht als überzeugende Lösung64.Denn daß das Strafrecht den Schutz des menschlichen Lebens als eine seinerHauptaufgaben ansieht, beweisen die entsprechenden Tatbestände. DieserSchutz wird zwar durch Notrechte und Zurechnungsregeln eingeschränktund in sozial angemessener Weise konkretisiert. Welches Interesse aberdaran bestehen sollte, eine leicht vermeidbare, völlig sinnlose vorsätzlicheTötung nicht als solche zu qualifizieren, ist nicht ersichtlich.

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59 §§ 22, 23 Abs. 3 StGB.60 Auch Jescheck/Weigend, Allg. Teil, S. 532, betonen, daß „in diesen Fällen ein Straf-

bedürfnis im Grunde zu verneinen ist“.61 Dazu grundlegend Jakobs, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 270;

Greco, Das Subjektive an der objektiven Zurechnung – über das „Problem“ des Son-derwissens (demnächst in ZStW 117 [2005]).

62 Jakobs, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 273.63 Das sieht auch Jakobs so (Anm. 61), S. 273.64 Eine Auseinandersetzung mit den einzelnen Argumenten von Jakobs ist auf dem hier

zur Verfügung stehenden Raum nicht möglich. Sie findet sich aber in aller Ausführlich-keit bei Greco (Anm. 61).

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VI.

Damit komme ich zum Ende. Mein Fazit ist, daß der Rechtsgüterschutznicht nur die Aufgabe des Strafrechts bezeichnet, sondern auch die Systema-tik seiner Unrechtslehre beherrscht. Das Strafrecht schützt im Rahmen derReichweite seiner Tatbestände die Rechtsgüter vor unerlaubten Risiken.Deshalb sind der Rechtsgüterschutz und die Lehre von der objektiven Zu-rechnung unlösliche Bestandteile einer soziale Abwägungsprozesse einbe-ziehenden Verbotsmaterie. Andere Unrechtslehren, die entweder die objek-tive Zurechnung für eine verfehlte Theorie halten oder das Unrecht auf denHandlungsunwert beschränken oder auf den Rechtsgüterschutz überhauptverzichten wollen, müssen, wie meine Auseinandersetzung zeigen sollte, derhier vertretenen Konzeption gleichwohl erhebliche Zugeständnisse machenund bleiben doch in vieler Hinsicht unbefriedigend.

Ich schließe meinen Beitrag mit einem herzlichen Glückwunsch zum90. Geburtstag von Hans-Heinrich Jescheck, mit dem ich im Fachbeirat desFreiburger Max-Planck-Instituts und im Herausgebergremium der ZStWjahrzehntelang fruchtbar zusammengearbeitet habe. Er war mir immer einVorbild, als Wissenschaftler wie als Kollege. Er ist ein Pionier des Völker-strafrechts und der Rechtsvergleichung, aber auch ein großer Strafrechts-dogmatiker, wie nicht zuletzt sein repräsentatives Lehrbuch zum Allgemei-nen Teil des Strafrechts zeigt. Er hat in der Nachkriegszeit wesentlich dazubeigetragen, der deutschen Strafrechtswissenschaft ihre internationale Gel-tung zurückzugewinnen. Daß ich mich mit ihm in wesentlichen Grundfra-gen der allgemeinen Straftatlehre einig weiß, mag die vorliegende Abhand-lung zeigen. Ad multos annos!

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