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ZEICHEN DER ZEIT III Spectrum / Samstag, 19. Juli 2008 III Strasshofer Familienalbum, Siebzigerjahre: Irene Suchy (rechts im Bild) mit Freundin, auf der Senkgrube hinter dem Alpengarten, Suchys Großmutter und Mutter. [ Fotos: Archiv Suchy ] Das Strasshof meines Lebens Seit der Priklopil-Katastrophe und dem jüngsten Vierfach- mord kennt Strasshof jeder. Ich kenne Strasshof sehr viel länger: seit einer Kindheit, in der alles eingezäunt war. Eine Erinnerung. Von Irene Suchy Die Natur durfte nicht zu nahe kommen, ein Gutteil der in Strasshof verbrachten Zeit galt dem Jäten. Es ging um die Unkrautlosigkeit. E s hätte ein anderer Ort sein kön- nen, aber es war Strasshof. Es mag andere Unorte geben, aber es ist dieser, der wieder und wie- der mit grauenvollen Untaten aufwartet. Es hätte ein Zufall sein können, aber es wurde zur Bestätigung. Die Geschichte der Unta- ten Strasshofs bestätigt meine Geschichte. Die Geschichte Strasshofs ist – gleichsam – Beweis für meine Geschichte. Ich kenne Strasshof, es war da, bevor ich es wahrnahm. Erste Fotos zeigen mich Sand spielend, fordernd, tätig. Ich muss ein un- sympathisches Kind gewesen sein, sagte mein verstorbener Mann. Die Sandkiste war der letzte Ort, der für das Kind, das als drit- tes einer nach Fruchtbarkeit strebenden Mutter und einem überforderten Vater ge- boren wurde, angeschafft wurde. Nicht als letztes, denn nach dem dritten, bereits an der Todesgrenze geboren, musste noch ein viertes gezeugt werden. Ich war das dritte, überzählige Kind, das weder Platz noch Zeit beanspruchen sollte. Die Sandkiste war mehr Einzäunung als Angebot. Nachdem die Spiele der Sandkistenzeit beendet wa- ren, gab es niemals mehr einen Platz für das Kind. Es sollte verwahrt, angehalten, behin- dert und abgefüttert werden. Die Einzäu- nungen der Kindheit und Jugend dienten nicht dem Schutz, sondern der Bequemlich- keit der Aufsichtspersonen. Die Einzäunungen wurde aufrechterhal- ten, die Verwahrung ernst. Die Zeit des Spie- lens wurde für beendet erklärt, als das Kind brauchbar wurde. Es sollte zuarbeiten, hel- fen. Es sollte sich vergessen. Das Kind, der Besitz seiner Erzeuger, wurde übersehen, auch wenn ihm in der Familie eine Verlet- zung geschlagen wurde, weder Schmerzen noch Blut noch drohende Verunreinigung waren Grund genug, den Tagesablauf zu än- dern. Den Ablauf des Jätens, des Ausreißens, Vertilgens, Vermauerns, den Ablauf des Dage- genseins, der so besitz- ergreifend war, dass al- les andere gar nicht oder nur enorm kurso- risch stattfand: Kochen, Körperpflege, Essen gab es nur im Mindestmaß. Alles, was nicht dem Vertilgen diente, musste so schnell wie möglich hinter sich gebracht werden. Strasshof stand für die Kindheit, die vertilgt werden musste, nachdem der Stolz über die Geburt verflogen war. In Strasshof war alles eingezäunt, Draht- zäune säumten die Gärten, auf Betonso- ckeln mit Stacheldraht-Abschlüssen waren kilometerlange Zäune der erste Anblick. Sie bekamen einen Gutteil der Zuwendung der Menschen. Sie mussten gestrichen werden und von der Natur befreit gehalten. Die Na- tur durfte nicht zu nahe kommen, ein Gut- teil der in Strasshof verbrachten Zeit galt dem Jäten, ein Gutteil des Jätens jenen Zo- nen, die am Rande des Gartens lagen. Es ging in einem unausgerufenen Wettbewerb um die Unkrautlosigkeit. Die wenigen Kon- takte zwischen den Nachbarn waren Schreie darüber, dass eine Pflanze über das Gehege hinauswachse. In Strasshof lebten Wiener und Wienerinnen, die frühmorgens nach Wien zur Arbeit fuhren und nachmittags zu- rückkamen. In Strasshof lebten Menschen, die davon erzählten, dass man das Militär brauche, um Ordnung zu lernen. Sie lebten hinter den Drahtzäunen in Häusern, die sich keinen Luxus leisten konnten, saßen auf Terrassen, die niemals die Sonne er- reichte, tagtäglich lange Zeit unterwegs, er- reichten sie nichts, hatten auch fast nichts. Manche begannen zu trinken. Das Strasshof meiner Kindheit war un- glaublich betrunken, samstags und sonn- tags sowieso in den Häusern, aber auch bei der Tankstelle, wohin das Kind geschickt wurde, Milch zu kaufen. Betrunkene Tank- warte belästigten das Kind, auf dem Weg musste es torkelnden, übergriffigen Män- nern ausweichen. Betrunkene Männer wur- den hingenommen von Schutz verweigern- den Frauen, die der Trunkenheit eine das Leben bereichernde Facette abgewinnen wollten. Betrunkenheit stand für die lange abgewehrte Emotionalität; was an Herzlo- sigkeit kultiviert wurde, durften die Men- schen durch die Fassungslosigkeit des Be- trunken-Seins ausgleichen. Beziehungslos war alles, in Strasshof traf man einander nicht, besuchte einander kaum, auch wir hatten nichts mit unseren Nachbarn zu tun, es sei denn, wir brauchten sie zum Arbeiten. Brauchen hatte etwas Herablassendes, die Hierarchie tat den sich weiter oben Wäh- nenden gut, sie konnten sich erhöht fühlen, wenn sie die anderen erniedrigten. Das Strasshof meines Lebens war schwer zugänglich: Noch waren keine Stadtautobah- nen gebaut, wir fuhren über den Floridsdor- fer Spitz über schmale Bundesstraßen, auf denen einander entgegenkommende Autos ihre Geschwindigkeit verlangsamen muss- ten. Jetzt sind die von Apfel- und Kirschbäu- men eingegrenzten dünnen Straßen Ablagen für die Schneewächten-Gerüste. Wir fuhren in einem viel zu kleinen Auto, in dem ich als Jüngste niemals einen eigenen Platz hatte und, auf dem Schoß sitzend, so ruhig wie möglich die Belästigung meines Seins unge- schehen machen sollte. Ich brauchte lange, einen Schoß als Quelle des Glückes zu erken- nen. Der Weg der Enge, des Sich-klein-Machens, war Einübung in die Enge des Gartens in Strasshof. Weder die Pflanzen noch die Men- schen sollten über sich hinauswachsen. Das Ziel der Beschäftigung mit dem Garten wie mit den Menschen war Aus- merzen, Vertilgen. Ein Großteil des viel zu klei- nen Hauses war mit Unkrautvernichtungs- mitteln gefüllt, für deren Verwendung man sich besonders zu kleiden hatte. Die Übel- keit nach der Verwendung war ein notwen- diges Übel, Nachweis der Arbeit. Die Natur war der Feind, der Gegner, der bekämpft, ausgelöscht werden musste. Un- verbautes Bauland hieß die freie Natur, in der sich das Kind im Gras, so hoch wie es selbst, noch zurückziehen konnte. Unland waren die Orte, wo die Natur Schutz und Beschaulichkeit gab. Zerschnitten wurden die Waldstücke der Eichenwälder von den Gartenparzellen. Zertreten wurde die Wiese von Steinplatten, um auf den Wegen zum Haus und zur Garage nicht zu stören. So klein die Gärten waren, auf ein Haus für das Auto wollte niemand verzichten. Auch wenn kein zweites Haus errichtet werden durfte, eine Garage war erlaubt. Sie wurde für Ar- beitsgerät verwendet, für alle jene Geräte, die halfen, den Feind Natur zu besiegen: Hacken, Sägen, Rasenmäher, Giftspritzen. Nach Strasshof kam man, um sich die Na- tur vom Leibe zu halten. Ich erinnere mich an enorme Anstrengungen, zwischen Wiese und Kiesplatz Eternitplatten einzugraben, für die im harten, trockenen Sandboden von Strasshof tiefe Furchen gezogen werden mussten. Die Wiese sollte vom Kies unbeläs- tigt blieben. Oder der Kies von der Wiese. Der ungeheure Aufwand, die Natur fernzu- halten, war eine der Tätigkeiten der Ausweg- losigkeit. Man hielt sich die Natur vom Lei- be, verbrannte, riss sie aus, begegnete ihr mit Gift, beschnitt sie und türmte sie als Fäl- schung wieder auf. Vor der Senkgrube, die verdeckt werden musste, bemühten sich Fa- milienmitglieder, einen Alpengarten aufzu- bauen. Sisyphos war erfolgreich gegen das Unterfangen, Erde zu einem Berg zu türmen und Alpenblumen einzusetzen. Nach jedem stärkeren Regen schwand der Berg, floss in sich zusammen und forderte den Neuauf- bau. Nichts anderes, keine Beziehung zu Menschen, keine Arbeit, die Menschen zu- gute kam, wurde mit jener hysterischen Energie aufgenommen, die von der Sinnlo- sigkeit angetrieben, aufgestachelt von der Ausweglosigkeit, gerade wegen ihrer Uner- reichbarkeit so gedankenlos wieder und wie- der aufgenommen werden konnte. Der auf- blühende Widersacher Natur gab neue Ener- gie, die Ergebnislosigkeit trieb an. Es sollte nichts erreicht werden, es sollte weiterge- hen, um hinter sich gelassen zu werden. Auf den langen Sandstraßen, die in mei- ner Kindheit eine um die andere erst geteert und dann asphaltiert wurden, die eine um die andere der Bäume und Büsche beraubt wurden, gab es keine Gehsteige. Sie wurden gebaut erst, als auch der Kanal gebaut wur- de, nachdem die Brunnen, einer nach dem andern, versiegt waren. In einem Ort, der nicht Dorf und nicht Stadt war, in dem die Menschen mit ihren Autos bis vor die drah- tenen Eingangstore fuhren, machten Geh- steige auf schmerzliche Weise den Verlust des Flanierens bewusst. Auf Straßen, die auf Transformatoren zuliefen, waren die zweck- losen Gehsteige Halteplatz für Mistkübel, die sich wie das Unkraut ausbreiteten. Ord- nung musste sein, und so wurden das Un- kraut und der übrige Mist geordnet. Man ging nicht in Strasshof; es gab nichts zu sehen, hinter den Gartenzäunen, die dichter und dichter von Hecken gesäumt wurden, und man tat gut daran, die Schätze in den Gärten nicht sehen zu lassen. Weiße Schwertlilien wurden kurz vor der Blüte ab- geschnitten und gestohlen, in Strasshof wurde regelmäßig eingebrochen, Hippies oder sonst welche Jugendliche campierten und feierten in unserem Einraum-Holz- haus, rissen die Laden aus dem Kasten, ver- streuten ihre Asche, stahlen das Transistor- radio. Der Garten, hellhörig in seinen Drahtwänden, mit seinem Holzhaus, das einsichtig mit den behördlich vorgeschrie- benen Abständen von den Einzäunungen stand, war schutzlos regelmäßig seinen Ein- dringlingen ausgeliefert. Kein Stacheldraht, kein Schloss konnte sie abhalten. Die Nach- barn hörten das Gras wachsen, aber die Ein- brecher hörten sie nicht. Kindergeschrei störte, Geige spielen sowieso, nur das Hun- debellen gehörte zur Natur, die unbekämpft davon kam. Die Hunde bellten, aber nicht bei Einbrechern. Die Polizei rief regelmäßig an, bei Gericht bekam mein Vater das Radio zurück, alles übrige war sogar für die Ein- dringlinge uninteressant. Es gab sonst nichts in unserem Holzhaus; ein altes Fahrrad stand neben dem Kinder- spielzeug, und wenn das Kind ausbrechen durfte zum Fahrrad-Fahren, vom Haus in der Peter-Strasser-Gasse aus, fuhr es die Straßen entlang, angebellt, aber sonst unbe- achtet, vorbei an den Transformatoren, und entdeckte die Namen von sozialistischen Revolutionären und jüdischen Dichtern. Es gab eine Heine-Straße, eine Engels-Straße, eine Marx-Straße. Der sozialistische Ort ge- dachte seiner Tradition. Es gab eine Flug- feld-Straße, die an das Flugfeld des Ersten Weltkrieges erinnerte; den danach in der Nähe errichteten Fluplatz der Nazis nützte die Rote Armee bis 1955. Die Website des Ortes weist auf die Eisen- bahner-Tradition hin, der Ort feiert heuer, im Jahr des Vierfach-Mordes, kurz nach der überstandenen Priklopil-Katastrophe, ein Jubiläum. 1908 nämlich begann mit dem Bau des Verschubbahnhofes und mit der Gründung eines Gasthauses der Wirtin Ro- salie Bartosch die rege Besiedlung. Strasshof entstand damals an der Nordbahn, die schon 1838 dahin verlängert wurde. Im Wappen des Ortes steht die Eisenbahn und die „Stolze Föhre“, die an die Bepflanzung des trockenen Marchfelds mit Föhren durch Maria Theresia erinnerte. Ich hörte von all dem als Kind, mehr von Maria Theresia, weniger von den sozialisti- schen Revolutionären, viel von den Russen – als Kind dachte ich immer, „wir“ hätten einen Krieg gegen die Russen geführt. Aber ich hörte nichts vom KZ, in dem 21.000 un- garische Juden und Jüdinnen auf den Tod warteten. Dass der Verschubbahnhof „im Zweiten Weltkrieg“ zerstört wurde, hörte ich beklagend. Dass es Menschenkolonnen aus anderen Arbeitslagern und KZs waren, die hier verschoben wurden, hörte ich nicht. Es muss etwas geben in Strasshof, sagte meine Freundin Elisabeth, eine Katastro- phe. Es gibt sie, und mein Schmerz gilt allen Opfern von Strasshof. Q

Das Strasshof meines Lebens - irene suchy · stärkeren Regen schwand der Berg, floss in sich zusammen und forderte den Neuauf-bau. Nichts anderes, keine Beziehung zu Menschen, keine

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Page 1: Das Strasshof meines Lebens - irene suchy · stärkeren Regen schwand der Berg, floss in sich zusammen und forderte den Neuauf-bau. Nichts anderes, keine Beziehung zu Menschen, keine

ZEICHEN DER ZEIT IIISpectrum / Samstag, 19. Juli 2008 III

Strasshofer Familienalbum, Siebzigerjahre: Irene Suchy (rechts im Bild) mit Freundin, auf der Senkgrube hinter dem Alpengarten, Suchys Großmutter und Mutter. [Fotos: Archiv Suchy]

DasStrasshofmeinesLebensSeit der Priklopil-Katastropheund dem jüngsten Vierfach-mord kennt Strasshof jeder.Ich kenne Strasshof sehr viellänger: seit einer Kindheit,in der alles eingezäunt war.Eine Erinnerung.

Von Irene Suchy

Die Natur durfte nichtzu nahe kommen, einGutteil der in Strasshofverbrachten Zeit galtdem Jäten. Es ging umdie Unkrautlosigkeit.

Es hätte ein anderer Ort sein kön-nen, aber es war Strasshof. Esmag andere Unorte geben, aberes ist dieser, der wieder und wie-

der mit grauenvollen Untaten aufwartet. Eshätte ein Zufall sein können, aber es wurdezur Bestätigung. Die Geschichte der Unta-ten Strasshofs bestätigt meine Geschichte.Die Geschichte Strasshofs ist – gleichsam –Beweis für meine Geschichte.

Ich kenne Strasshof, es war da, bevor iches wahrnahm. Erste Fotos zeigen mich Sandspielend, fordernd, tätig. Ich muss ein un-sympathisches Kind gewesen sein, sagtemein verstorbener Mann. Die Sandkiste warder letzte Ort, der für das Kind, das als drit-tes einer nach Fruchtbarkeit strebendenMutter und einem überforderten Vater ge-boren wurde, angeschafft wurde. Nicht alsletztes, denn nach dem dritten, bereits ander Todesgrenze geboren, musste noch einviertes gezeugt werden. Ich war das dritte,überzählige Kind, das weder Platz noch Zeitbeanspruchen sollte. Die Sandkiste warmehr Einzäunung als Angebot. Nachdemdie Spiele der Sandkistenzeit beendet wa-ren, gab es niemals mehr einen Platz für dasKind. Es sollte verwahrt, angehalten, behin-dert und abgefüttert werden. Die Einzäu-nungen der Kindheit und Jugend dientennicht dem Schutz, sondern der Bequemlich-keit der Aufsichtspersonen.

Die Einzäunungen wurde aufrechterhal-ten, die Verwahrung ernst. Die Zeit des Spie-lens wurde für beendet erklärt, als das Kindbrauchbar wurde. Es sollte zuarbeiten, hel-fen. Es sollte sich vergessen. Das Kind, derBesitz seiner Erzeuger, wurde übersehen,auch wenn ihm in der Familie eine Verlet-zung geschlagen wurde, weder Schmerzennoch Blut noch drohende Verunreinigungwaren Grund genug, den Tagesablauf zu än-dern. Den Ablauf des Jätens, des Ausreißens,

Vertilgens, Vermauerns,den Ablauf des Dage-genseins, der so besitz-ergreifend war, dass al-les andere gar nichtoder nur enorm kurso-risch stattfand: Kochen,Körperpflege, Essen gabes nur im Mindestmaß.Alles, was nicht demVertilgen diente, mussteso schnell wie möglichhinter sich gebracht werden. Strasshof stand für die Kindheit, dievertilgt werden musste, nachdem der Stolzüber die Geburt verflogen war.

In Strasshof war alles eingezäunt, Draht-zäune säumten die Gärten, auf Betonso-ckeln mit Stacheldraht-Abschlüssen warenkilometerlange Zäune der erste Anblick. Siebekamen einen Gutteil der Zuwendung derMenschen. Sie mussten gestrichen werdenund von der Natur befreit gehalten. Die Na-tur durfte nicht zu nahe kommen, ein Gut-teil der in Strasshof verbrachten Zeit galtdem Jäten, ein Gutteil des Jätens jenen Zo-nen, die am Rande des Gartens lagen. Esging in einem unausgerufenen Wettbewerbum die Unkrautlosigkeit. Die wenigen Kon-takte zwischen den Nachbarn waren Schreiedarüber, dass eine Pflanze über das Gehegehinauswachse. In Strasshof lebten Wienerund Wienerinnen, die frühmorgens nachWien zur Arbeit fuhren und nachmittags zu-rückkamen. In Strasshof lebten Menschen,die davon erzählten, dass man das Militärbrauche, um Ordnung zu lernen. Sie lebtenhinter den Drahtzäunen in Häusern, diesich keinen Luxus leisten konnten, saßen

auf Terrassen, die niemals die Sonne er-reichte, tagtäglich lange Zeit unterwegs, er-reichten sie nichts, hatten auch fast nichts.Manche begannen zu trinken.

Das Strasshof meiner Kindheit war un-glaublich betrunken, samstags und sonn-tags sowieso in den Häusern, aber auch beider Tankstelle, wohin das Kind geschicktwurde, Milch zu kaufen. Betrunkene Tank-warte belästigten das Kind, auf dem Wegmusste es torkelnden, übergriffigen Män-nern ausweichen. Betrunkene Männer wur-den hingenommen von Schutz verweigern-den Frauen, die der Trunkenheit eine dasLeben bereichernde Facette abgewinnenwollten. Betrunkenheit stand für die langeabgewehrte Emotionalität; was an Herzlo-sigkeit kultiviert wurde, durften die Men-schen durch die Fassungslosigkeit des Be-trunken-Seins ausgleichen. Beziehungsloswar alles, in Strasshof traf man einandernicht, besuchte einander kaum, auch wirhatten nichts mit unseren Nachbarn zu tun,es sei denn, wir brauchten sie zum Arbeiten.Brauchen hatte etwas Herablassendes, dieHierarchie tat den sich weiter oben Wäh-nenden gut, sie konnten sich erhöht fühlen,wenn sie die anderen erniedrigten.

Das Strasshof meines Lebens war schwerzugänglich: Noch waren keine Stadtautobah-nen gebaut, wir fuhren über den Floridsdor-fer Spitz über schmale Bundesstraßen, aufdenen einander entgegenkommende Autosihre Geschwindigkeit verlangsamen muss-ten. Jetzt sind die von Apfel- und Kirschbäu-men eingegrenzten dünnen Straßen Ablagenfür die Schneewächten-Gerüste. Wir fuhrenin einem viel zu kleinen Auto, in dem ich alsJüngste niemals einen eigenen Platz hatteund, auf dem Schoß sitzend, so ruhig wiemöglich die Belästigung meines Seins unge-schehen machen sollte. Ich brauchte lange,einen Schoß als Quelle des Glückes zu erken-

nen. Der Weg der Enge,des Sich-klein-Machens,war Einübung in dieEnge des Gartens inStrasshof. Weder diePflanzen noch die Men-schen sollten über sichhinauswachsen. DasZiel der Beschäftigungmit dem Garten wie mitden Menschen war Aus-merzen, Vertilgen. EinGroßteil des viel zu klei-

nen Hauses war mit Unkrautvernichtungs-mitteln gefüllt, für deren Verwendung mansich besonders zu kleiden hatte. Die Übel-keit nach der Verwendung war ein notwen-diges Übel, Nachweis der Arbeit.

Die Natur war der Feind, der Gegner, derbekämpft, ausgelöscht werden musste. Un-verbautes Bauland hieß die freie Natur, inder sich das Kind im Gras, so hoch wie esselbst, noch zurückziehen konnte. Unlandwaren die Orte, wo die Natur Schutz undBeschaulichkeit gab. Zerschnitten wurdendie Waldstücke der Eichenwälder von denGartenparzellen. Zertreten wurde die Wiesevon Steinplatten, um auf den Wegen zumHaus und zur Garage nicht zu stören. Soklein die Gärten waren, auf ein Haus für dasAuto wollte niemand verzichten. Auch wennkein zweites Haus errichtet werden durfte,eine Garage war erlaubt. Sie wurde für Ar-beitsgerät verwendet, für alle jene Geräte,die halfen, den Feind Natur zu besiegen:Hacken, Sägen, Rasenmäher, Giftspritzen.

Nach Strasshof kam man, um sich die Na-tur vom Leibe zu halten. Ich erinnere michan enorme Anstrengungen, zwischen Wiese

und Kiesplatz Eternitplatten einzugraben,für die im harten, trockenen Sandboden vonStrasshof tiefe Furchen gezogen werdenmussten. Die Wiese sollte vom Kies unbeläs-tigt blieben. Oder der Kies von der Wiese.Der ungeheure Aufwand, die Natur fernzu-halten, war eine der Tätigkeiten der Ausweg-losigkeit. Man hielt sich die Natur vom Lei-be, verbrannte, riss sie aus, begegnete ihrmit Gift, beschnitt sie und türmte sie als Fäl-schung wieder auf. Vor der Senkgrube, dieverdeckt werden musste, bemühten sich Fa-milienmitglieder, einen Alpengarten aufzu-bauen. Sisyphos war erfolgreich gegen dasUnterfangen, Erde zu einem Berg zu türmenund Alpenblumen einzusetzen. Nach jedemstärkeren Regen schwand der Berg, floss insich zusammen und forderte den Neuauf-bau. Nichts anderes, keine Beziehung zuMenschen, keine Arbeit, die Menschen zu-gute kam, wurde mit jener hysterischenEnergie aufgenommen, die von der Sinnlo-sigkeit angetrieben, aufgestachelt von derAusweglosigkeit, gerade wegen ihrer Uner-reichbarkeit so gedankenlos wieder und wie-der aufgenommen werden konnte. Der auf-blühende Widersacher Natur gab neue Ener-gie, die Ergebnislosigkeit trieb an. Es solltenichts erreicht werden, es sollte weiterge-hen, um hinter sich gelassen zu werden.

Auf den langen Sandstraßen, die in mei-ner Kindheit eine um die andere erst geteertund dann asphaltiert wurden, die eine umdie andere der Bäume und Büsche beraubtwurden, gab es keine Gehsteige. Sie wurdengebaut erst, als auch der Kanal gebaut wur-de, nachdem die Brunnen, einer nach demandern, versiegt waren. In einem Ort, dernicht Dorf und nicht Stadt war, in dem dieMenschen mit ihren Autos bis vor die drah-

tenen Eingangstore fuhren, machten Geh-steige auf schmerzliche Weise den Verlustdes Flanierens bewusst. Auf Straßen, die aufTransformatoren zuliefen, waren die zweck-losen Gehsteige Halteplatz für Mistkübel,die sich wie das Unkraut ausbreiteten. Ord-nung musste sein, und so wurden das Un-kraut und der übrige Mist geordnet.

Man ging nicht in Strasshof; es gab nichtszu sehen, hinter den Gartenzäunen, diedichter und dichter von Hecken gesäumtwurden, und man tat gut daran, die Schätzein den Gärten nicht sehen zu lassen. WeißeSchwertlilien wurden kurz vor der Blüte ab-geschnitten und gestohlen, in Strasshofwurde regelmäßig eingebrochen, Hippiesoder sonst welche Jugendliche campiertenund feierten in unserem Einraum-Holz-haus, rissen die Laden aus dem Kasten, ver-streuten ihre Asche, stahlen das Transistor-radio. Der Garten, hellhörig in seinenDrahtwänden, mit seinem Holzhaus, daseinsichtig mit den behördlich vorgeschrie-benen Abständen von den Einzäunungenstand, war schutzlos regelmäßig seinen Ein-dringlingen ausgeliefert. Kein Stacheldraht,kein Schloss konnte sie abhalten. Die Nach-barn hörten das Gras wachsen, aber die Ein-brecher hörten sie nicht. Kindergeschreistörte, Geige spielen sowieso, nur das Hun-debellen gehörte zur Natur, die unbekämpftdavon kam. Die Hunde bellten, aber nichtbei Einbrechern. Die Polizei rief regelmäßigan, bei Gericht bekam mein Vater das Radiozurück, alles übrige war sogar für die Ein-dringlinge uninteressant.

Es gab sonst nichts in unserem Holzhaus;ein altes Fahrrad stand neben dem Kinder-spielzeug, und wenn das Kind ausbrechendurfte zum Fahrrad-Fahren, vom Haus inder Peter-Strasser-Gasse aus, fuhr es dieStraßen entlang, angebellt, aber sonst unbe-achtet, vorbei an den Transformatoren, undentdeckte die Namen von sozialistischenRevolutionären und jüdischen Dichtern. Esgab eine Heine-Straße, eine Engels-Straße,eine Marx-Straße. Der sozialistische Ort ge-dachte seiner Tradition. Es gab eine Flug-feld-Straße, die an das Flugfeld des ErstenWeltkrieges erinnerte; den danach in derNähe errichteten Fluplatz der Nazis nütztedie Rote Armee bis 1955.

Die Website des Ortes weist auf die Eisen-bahner-Tradition hin, der Ort feiert heuer,im Jahr des Vierfach-Mordes, kurz nach derüberstandenen Priklopil-Katastrophe, einJubiläum. 1908 nämlich begann mit demBau des Verschubbahnhofes und mit derGründung eines Gasthauses der Wirtin Ro-salie Bartosch die rege Besiedlung. Strasshofentstand damals an der Nordbahn, dieschon 1838 dahin verlängert wurde. ImWappen des Ortes steht die Eisenbahn unddie „Stolze Föhre“, die an die Bepflanzungdes trockenen Marchfelds mit Föhren durchMaria Theresia erinnerte.

Ich hörte von all dem als Kind, mehr vonMaria Theresia, weniger von den sozialisti-schen Revolutionären, viel von den Russen– als Kind dachte ich immer, „wir“ hätteneinen Krieg gegen die Russen geführt. Aberich hörte nichts vom KZ, in dem 21.000 un-garische Juden und Jüdinnen auf den Todwarteten. Dass der Verschubbahnhof „imZweiten Weltkrieg“ zerstört wurde, hörte ichbeklagend. Dass es Menschenkolonnen ausanderen Arbeitslagern und KZs waren, diehier verschoben wurden, hörte ich nicht.

Es muss etwas geben in Strasshof, sagtemeine Freundin Elisabeth, eine Katastro-phe. Es gibt sie, und mein Schmerz gilt allenOpfern von Strasshof. Q