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Das Symbol der Flamme

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Atlan - Minizyklus 06 -Intrawelt

Nr. 09

Das Symbol der Flamme

von Arndt Ellmer

Im Jahr 1325 Neuer Galaktischer Zeitrechnung – das dem Jahr 4813 alter Zeit ent-spricht – befindet sich der relativ unsterbliche Arkonide auf einer verwegenen Missi-on. Atlan ist in die Intrawelt vorgestoßen, um ein Mittel gegen die unheimlichen Lord-richter zu finden: den Flammenstaub. Nach wie vor bedrohen diese mit ihren Trup-pen mehrere Galaxien. Gleich zu Beginn seiner Odyssee durch die gigantische Hohl-welt gerät der Arkonide an Peonu, einen Diener der Chaotarchen. Dieser raubt ihmeinen Teil der Seele und kettet dadurch ihrer beider Schicksale aneinander. Peonulässt den Arkoniden ziehen – er weiß, dass jener ihm fortan verpflichtet sein wird.

Atlan durchreist weiterhin die Intrawelt mit Jolo und Tuxit, noch immer in der Hoff-nung, den Flammenstaub in seinen Besitz zu bekommen. Als sich der Rhoarxi Tuxitendlich seiner wahren Bestimmung stellt, erfährt der Arkonide die wahre Geschichtevom SYMBOL DER FLAMME …

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Die Hautpersonen des Romans:Atlan - Der Arkonide kommt seinem Ziel einen bedeutenden Schritt näher.Tuxit - Ein Rhoarxi folgt seiner Bestimmung.Uquart - Als Oberster Brüter trägt er die Verantwortung.Jolo - Das Echsenwesen kämpft nicht nur einmal um sein Leben.

1.Todeshauch

Der Vierzackkamm des Brüters spiegeltesich im Vorhang aus Wassertröpfchen alszuckender Schatten, schlug mal nach links,mal nach rechts, hüpfte seine groteskenRhythmen über dem dunkelorangefarbenenSchnabel. Sein Hautlappen wedelte dunkel-rot wie ein Segenstuch hin und her, dabeisog er immer mehr Feuchtigkeit auf undwurde immer schwerer. Schließlich erzeugteer klatschende Geräusche, die den Brüteraus seinen Gedanken rissen, ihm den Blickfür die Farben und Formen der Umgebungzurückgaben und den frischen Gegenwindüber der Stadt spüren ließen.

»Brüte und hüte«, flüsterte der Dhedeenan seinem Nacken, der Prototyp eines neuenModells, ein Fleisch gewordenes Kunstwerkaus den Werkstätten der Bio-Architekten.»Brüte und hüte.«

Uquart, Oberster Brüter seines Stammes,wetzte den Schnabel an den Krallen seinerArme. »Brüte und hüte«, sprach er demWinzling nach. »Und hüte dich vor den Ge-fahren aus der Vergangenheit.«

Lange waren sie unterwegs, unzähligeGenerationen schon auf dem Rücken des Po-tistas, in seinem Innern, zwischen kunstvollgeschnitzten Bauwerken, erdacht von dengenialsten Rhoarxi, die jemals existiert hat-ten. Nie hatte ein Volk mehr Genialität be-wiesen als bei der Erschaffung dieses leben-den Organismus Aspoghie – Stadt der Brü-ter, Stadt der Hüter, Hort des Stammes, Hortdes Staubes und Gefängnis der Flamme.

Tausend andere Dinge geschahen in As-poghie. An jeder Ecke, in jeder Gasse, aufjeder Etage walteten die Begnadeten, schu-fen neue Werke und Rekorde im Nebenhaus,

dem Labor der Retorte.Und er stand in diesem Augenblick hier

oben im Horst, blickte hinab auf das ge-schäftige Treiben. Potista als Stadt, Potistaals Land, Potista als Parzelle – war das Zu-kunft auf die Schnelle?

Uquart gluckerte im Kehlsack, ein leises,zögerndes und fragendes Geräusch. Alleswar so ruhig und beschaulich in dieserDrangzeit der Kreativität und Erfindung, al-les wirkte friedlich und angenehm. SeineRhoarxi spazierten durch die Stadt, genossendas Leben, gingen ihren Tätigkeiten nach, indenen sie alle ihre Triebe auf so hervorra-gende Weise auslebten.

Nein, halt! Das Gluckern erstarb. Über al-lem lag ein dicker Teppich, ein unsichtbarerNebel, der schwer auf ihrem Gefieder laste-te. Viel schneller als früher alterte es, bilde-ten sich blanke Stellen. Die Zahl der Rhoar-xi in Dauermauser schnellte mit jeder neuenParzelle beängstigend in die Höhe, und dasnicht nur in Aspoghie, sondern auch in denbeiden anderen Städten.

Wandern als des Rhoarxi Lust – vielleichthatte es einst gegolten, als sie angefangenhatten, die Intrawelt zu bauen. Vielleichtauch später noch, als sie mit den Städten aufWanderschaft gegangen waren. Aber heute?

Glich es nicht eher einer Flucht vor sichselbst, was sie taten? Diese ewige Geschäf-tigkeit, selbst noch im Schlaf? Er als Ober-ster Brüter bemühte sich, seinem Stamm inallem ein Vorbild zu sein. Eine schwereBürde, die auf ihm lastete. Keine Nachtkonnte er ruhig und voll durchschlafen. Oftgenug wachte er mit verklebten Federn aufund sah dann aus wie ein gerupfter Haber-nasch-Dürrer.

Sorgenvoll klickerten seine Augen,schwere Zeiten kamen auf Aspoghie zu.Wann hatte das Gift begonnen, ihn langsam

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zu vergiften?Die Antwort kannte er aus vielen Gesprä-

chen mit den Impostoren. Noch nicht langewar es her, keine Generation. Seither fühlteUquart sich nicht mehr als Hüter des Flam-menstaubs, allenfalls als Verhüter der Flam-menhölle.

An jenem Tag, als der auserwählte Trägerdes Flammenstaubs ihnen den Rücken ge-kehrt hatte, waren die Aspoghies gegen eineMauer gerannt und hatten sich die Schnäbeleingedrückt.

Sollten sie ihn etwa dafür lieben, den Ver-räter und Feigling, dessen Namen die mei-sten nur hinter vorgehaltener Kralle ausspra-chen? Tuxit, der vielen Rhoarxi den Tod ge-bracht hat.

2.Aura der Macht

Die Welt hielt den Atem an, jede Bewe-gung war eingefroren. Die Zeit schien still-zustehen. Ich starrte die Statue vor mir an,ein gemeißeltes Abbild von der Schnabel-spitze bis zum Blümchen. Die Halskrausebesaß ein Volumen, wie ich es bisher nochnie bemerkt hatte. Sie leuchtete in allen er-denklichen Farben, vielleicht ein Alarmsi-gnal. Oder aber das Gegenteil. In dem oran-gefarbenen Gesicht zogen sich zwei dunkleSpuren von den Augen bis zum Halsansatz.

Tränenspuren! Tuxit weinte noch immer.Nach schier endlosen Augenblicken fiel

die Erstarrung von mir ab. Ich rang nachLuft. »Du …«, kam es mir stockend über dieLippen, »du bist ein …«

»Wenn ich es genau nehme, bin ich auchjetzt noch ein Hüter des Flammenstaubs.Aber jene Zeit, als ich den Flammenstaub inEmpfang nahm, liegt sehr lange zurück.«

Ich konnte es noch immer nicht richtigfassen. Tuxit, der Avoide, den ich aus derLeibeigenschaft des Proporzen befreit hatteund der mir ein meist stiller, aber nützlicherund aufmerksamer Gefährte auf unseremWeg durch die Parzellen der Intrawelt gewe-sen war, entpuppte sich plötzlich als Heim-

lichtuer.»Du bist ein Rhoarxi!«, brachte ich end-

lich einen vollständigen Satz hervor.Sein Hals zuckte zurück. Über den Hack-

schnabel hinweg musterte er mich. »VomStamm der Aspoghies, ich sagte es bereits.Mein Volk hat die Intrawelt erbaut und tutes immer noch.«

Jolo an meiner Seite blickte verständnis-los. Mir selbst blieb für einen Moment dieLuft weg.

»Die begnadeten Baumeister, die ihreSpuren auf vielen Welten Dwingeloos hin-terlassen haben …«, murmelte ich wie imSelbstgespräch. Was hatte Kartnich gesagt,der verrückt gewordene Erbauer des Hospi-zes, bevor er gestorben war? Seine Wortehämmerten in mein Bewusstsein, als wolltensie Haken für die Ewigkeit einschlagen.

»Warum«, hatte der uralte Anstize mitbrüchiger Stimme zu mir gesagt, »hast dumir diese Fragen gestellt? Weshalb bist duextra zu mir gekommen, wenn du ohnehinjemanden bei dir hast, der sie dir viel besserbeantworten kann?«

Ich hatte ja keine Ahnung! Wie hätte iches auch ahnen sollen? Jetzt versuchte ich mitaller Macht, meine Gefühle unter Kontrollezu bekommen. Es gelang mir nur teilweise.

Da hatte ich mich aufgemacht, Flammen-staub aus der Intrawelt zu besorgen. Mühse-lig war ich von Parzelle zu Parzelle gewan-dert, immer auf der Suche nach Puzzleteil-chen, die mich ans Ziel brachten. Und dieLösung für meine Aufgabe stapfte fast dieganze Zeit auf ihren dicken schwarzen Lauf-vogelbeinen neben mir her – und das, ohneein Wort zu sagen!

Er hat triftige Gründe dafür!, warf meinExtrasinn ein. Bestimmt sogar jede Menge.

Hoffentlich sind sie gut genug, dass ichihm nicht seinen Hals mit dem mauserigenGefieder umdrehe!, gab ich lautlos Antwort.

Rhoarxi! Ziemlich früh nach unserer An-kunft in Dwingeloo hatten wir von diesemalten Volk gehört, das auf etlichen Weltengewaltige Ruinenanlagen hinterlassen hatte,teilweise ganze Monolith-Städte. Das war

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nach der in Dwingeloo geltenden Zeitrech-nung vor 1,1 Millionen Jahren geschehen.

Im Zusammenhang mit diesem geheim-nisvollen Volk war auch immer wieder derBegriff »Kathedrale von Rhoarx« aufge-taucht. Doch niemand wusste, was damit ge-meint war.

Inzwischen lichteten sich die Schleierüber dem Geheimnis der Vergangenheit. Ichwusste nun, dass die Rhoarxi noch existier-ten und die Erbauer des gigantischen Gebil-des namens Intrawelt waren. Eine Welt miteinem Durchmesser von einer Lichtsekundeoder 300.000 Kilometern, die alles in denSchatten stellte, was Lebewesen mit eigenerHand und aus Metall gefertigt hatten. Daswaren keine simplen Steingebäude wie dieRuinen auf Alarna.

Die Intrawelt, war sie die Kathedrale, indie sich die Rhoarxi damals zurückgezogenhatten? Galten sie deshalb als ausgestorben?

Nach einem flüchtigen Blick auf die bei-den Anstizen und ihren toten Artgenossenwandte ich mich an Tuxit. »Du bist unsnicht nur eine Erklärung schuldig.«

Der Rhoarxi ging nicht darauf ein. »Ichhabe mich lange genug vor der Verantwor-tung gedrückt, Atlan. Es ist Zeit, heimzu-kehren. Ich will mich endlich meinen Ver-pflichtungen stellen.«

Er wiederholte in anderen Worten, was erkurz zuvor schon einmal gesagt hatte.

Er will dir etwas begreiflich machen, flü-sterte der Extrasinn. Hinter seinen Wortensteckt ein Schicksal. Die zusammengenähtenFlügel, sein Aufenthalt in der Ferne …

Mochte er meinetwegen ein Ausgestoße-ner sein, ein Flüchtling, der gegen die Geset-ze seines Volkes verstoßen hatte, oder einSchwerverbrecher, den sie am höchsten Pfo-sten ihrer Parzelle aufknüpfen würden. Esspielte keine Rolle bei dem, was mich be-wegte.

Der Flammenstaub! Das einzige Mittelgegen die Lordrichter! Das Elixier für einefriedliche Zukunft! Welche Gefahr die Lord-richter für die Zukunft vieler Galaxien be-deuteten, konnten sich vermutlich nicht ein-

mal die Rhoarxi vorstellen, schon gar nichtin der Isolation der Intrawelt.

»Wir brechen auf«, sagte Tuxit in diesemAugenblick. »Ich will keine Zeit verlieren.«

Nichts war mir lieber als das.

*

»Halt!«, kreischte Jolo plötzlich. »Atlan,er will das Ding bewegen. Und was passiertdann?«

»Ich schließe alle Tore des Hospizes«,hallte die Stimme des Rhoarxi durch denRaum. »Damit die Gefahr beseitigt wird, dieKartnich heraufbeschworen hat.«

Er winkte mit der Hand, die im Cuerombsteckte. Überall in den transparenten Farb-flächen des Bauwerks erloschen blinkendeFelder, verwandelten sich Fallen in harmloseÜbergänge.

»Wo ist der Hinweispfeil zur nächstenSpeisekammer?«

Niemand beachtete Jolo. Schließlich zoger sich mit einem Murren bis in den hinter-sten Winkel des Raumes zurück.

Tuxit wandte sich an die beiden AnstizenPrielsnig und Eggober. »Kümmert euch umden Toten. Sorgt für ein würdevolles Be-gräbnis. Die Nachwelt soll wissen, welch einbegnadeter Architekt er war. Eine große Zu-kunft hätte ihn erwartet, wenn …« Er brachab. »Ich werde dafür Sorge tragen, dass euerVolk Hilfe erhält. Es kann nicht sein, dassWesen, die mit ihrer Aufgabe derart starkverbunden sind, darunter leiden oder daranzugrunde, gehen.«

Ich horchte auf. Es lag weniger an denWorten, die der Dhedeen auf meiner Schul-ter übersetzte, sondern wie er es sagte. DieArt und Weise, wie Tuxit sprach, unter-schied sich von dem, was wir von ihm kann-ten. Gleichzeitig nahm er eine andere Kör-perhaltung an, benutzte eine andere Gestikund Körpersprache.

Aber da war noch etwas anderes. Ichempfand es, ohne es genau beschreiben zukönnen. Der Rhoarxi verströmte übergangs-los eine Kraft, die jeden um ihn herum in ih-

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ren Bann zog. Jolos Flucht in die hintersteEcke erhielt eine völlig neue Dimension.

Am deutlichsten war die Wirkung auf dieAnstizen. Ihre Körper platteten sich obenund unten sichtlich ab. Ich interpretierte esals ein Ducken unter dem Eindruck der Au-torität des Rhoarxi.

Ich blinzelte. Tuxits Körper verändertesich. Oder war es nur Einbildung? Er wuchsoder blähte sich auf. Irgendetwas entstand inseinem Innern, wurde immer größer. Un-willkürlich machte ich ein paar Schritte zu-rück, um den Rhoarxi besser betrachten zukönnen.

»Was tust du denn da?«, fragte ich ihn.Er gab keine Antwort. Seine Augen traten

für ein paar Augenblicke wie unter einerstarken Anstrengung aus dem Kopf. DieFarbe der Halskrause schwankte zwischenDunkelgrau und Hellblau – ein Ausdruckdes Wandels oder der Verunsicherung?

Meine schulterlanges Haar fing an zu kni-stern. Ich spürte jede einzelne Strähne, wiesie unter dem Eindruck plötzlicher Schwere-losigkeit nach oben driftete. Mir standensprichwörtlich die Haare zu Berge. Wäre dieSituation nicht so verdammt ernst gewesen,hätte ich vermutlich gegrinst. So aber win-kelte ich die Knie leicht an, schob die Schul-tern nach vorn und nahm die Arme seitlichan den Körper, um mich im Ernstfall mög-lichst schnell auf den Rhoarxi werfen zukönnen.

Wovor hast du Angst?, spottete der Extra-sinn. Was immer dich erwartet, du brauchstes, um das Universum zu retten.

Starker Druck legte sich auf mein Be-wusstsein, wie ich es von Hypnos und Sug-gestoren her kannte. Allerdings schloss ichein solches Phänomen in diesem Fall aus.Meine Mentalstabilisierung widerstand her-kömmlichen parapsychischen Kräften pro-blemlos. Das hier war anders.

Es handelte sich auch mehr um einen op-tischen Eindruck, fast schon eine Halluzina-tion und dennoch ausgesprochen real. Ichspürte etwas Lebendiges, das im Körper desRhoarxi wuchs und sich innerhalb weniger

Augenblicke über ihn hinaus ausdehnte. Ei-ne dunkelblaue, alles verbrennende Flamme,die aus Tuxits Leib hervorwuchs – das wares. Sie manifestierte sich, während gleich-zeitig ein Nebel aus flirrendem und glänzen-dem Staub ihn umschwirrte, sich zu einemMantel erweiterte und ansonsten wirkungs-los blieb.

Aber dieser Eindruck, den ich empfandund den die Anstizen und Jolo in viel stärke-rem Maß erfuhren, war genug. Er reichteaus, um in mir das bisher unterdrückte Fie-ber zu wecken.

Ich musste das Phänomen unbedingt bän-digen, es einfangen, einen Teil davon inmeinen Besitz bringen …

Von wegen »früher einmal«, stellte derExtrasinn fest. Tuxit trägt den Flammen-staub in sich. Er ist nach wie vor ein Hüterund vermutlich einer der Mächtigen seinesVolkes.

Als Sklave eines Nomaden?, hielt ich ihmentgegen. Das wäre vergeudete Zeit.

Der Gedanke an eine Intrige drängte sichauf, die zu seinem Abschied oder seinerFlucht geführt hatte.

In der derzeitigen Situation hielt ich dasallerdings für zweitrangig.

Etwas anderes war weitaus wichtiger fürmich.

Was hatte die Rhoarxi in die Isolation ge-trieben? Kannten sie ihre eigene Vergangen-heit und die Bedeutung ihres Versteckesnoch? Und vor allem, wie groß waren dieMengen Flammenstaub, die sie besaßen?

Um Antworten auf all diese Fragen zu be-kommen, mussten wir Tuxit zu seinem Volkbegleiten und gleichzeitig versuchen, ihmimmer wieder Antworten zu entlocken.»Wir« war vielleicht ein wenig übertrieben.Jolo eignete sich gut als Gesprächspartner,wenn es ums Essen ging. Aber vielleicht ließer sich von mir so weit beeinflussen, dass erAblenkungsmanöver zustande brachte undich den Rhoarxi überrumpeln konnte.

*

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Tuxit hantierte am Cueromb. Wir folgtenden beiden Anstizen, die ihren toten Artge-nossen in seine Schwarzkammer schobenund diese abtransportierten. Das Hospiz warzur Ruhe gekommen, als habe man die Ma-schinen abgeschaltet, die den Albtraum er-zeugt hatten. In traumwandlerischer Sicher-heit führte uns Tuxit durch das Labyrinth. Inihrer gleichmäßigen Ausleuchtung wirktendie Korridore und Räume jetzt harmlos. Siehätten in jedem beliebigen Gebäude oderRaumschiff liegen können.

Vor einer großen Halle, die an einen Han-gar erinnerte, trennten wir uns von den bei-den Anstizen. Ich sagte ihnen Lebewohl.Wir würden ihnen mit hoher Wahrschein-lichkeit nicht wieder begegnen. Eine innereStimme ließ mich wissen, dass ich dem Zielmeines Vorstoßes so nahe war wie nie zu-vor. Die Tage meines Aufenthalts in der In-trawelt waren ab heute gezählt.

Wir betraten die Halle. Täuschte ich mich,oder schrumpfte die Hülle aus flirrendemStaub, die den Rhoarxi umgab? Aus demHintergrund näherte sich eine Lastenplatt-form auf Antigravbasis.

Tuxit sprang auf. Ich folgte ihm in demfesten Vorsatz, dieses Wesen keinen Augen-blick mehr aus den Augen zu lassen.

»Ich gehe keinen Schritt weiter, wenn ichnicht etwas zu essen bekomme!«, protestier-te Jolo. Ich beachtete ihn nicht. Die Platt-form setzte sich in Bewegung, er klettertehastig über den Rand und postierte sich inder Mitte. Vielleicht gab es dort ja einSchild, auf dem »Schmollwinkel« stand.

Tuxit räusperte sich. »Essen kannst du,wenn wir am Ziel angelangt sind.« DerRhoarxi sagte es in dem sattsam bekanntenTonfall der Bescheidenheit, die er in denletzten Wochen permanent an den Tag ge-legt hatte.

Ich musterte ihn intensiv. Die Aura umihn herum war verschwunden, mein Empfin-den einer gewaltigen Macht in und um sei-nen Körper ebenfalls. Der Dhedeen auf mei-ner Schulter machte sich klein, als Tuxit dasFahrzeug rasant beschleunigte und uns der

Fahrtwind um die Ohren pfiff.Der Rhoarxi schien sein Ziel genau zu

kennen. Er lenkte die Plattform durch einebreite Tür, die sich am hinteren Ende derHalle öffnete. Ich musterte die Umgebung,suchte vergeblich nach Anzeichen, ob wiruns noch im Hospiz befanden oder schondraußen in der Bodenwelt.

Anstizen begegneten uns. Sie wichen unsunter wechselnden Deformationen aus, be-zeugten auf diese Weise ihre Hochachtunggegenüber dem Rhoarxi.

Das waren gewachsene historische Ver-haltensregeln aus ferner Vergangenheit.Rhoarxi hatte man in den Parzellen der In-trawelt schon seit Ewigkeiten nicht mehr ge-sehen, sonst wäre es einem Proporzen wieLuck nie in den Sinn gekommen, Tuxit alsseinen Sklaven zu halten.

»Wo genau liegt dein Ziel?«, fragte ichTuxit nach einer halben Stunde. Wir rastendurch die Bodenwelt mit ihren wimmelndenBaustellen, wichen unzähligen Transportenaus und kamen in der Nähe einer Öffnungvorbei. Einen flüchtigen Augenblick langsah ich tief unter uns den Schimmer derMembran, die das Normaluniversum von derIntrawelt trennte.

Der Rhoarxi gab mir keine Antwort. Statt-dessen verspürte ich einen leichten mentalenDruck, den ich auf den Flammenstaub in sei-nem Körper zurückführte. Es war nicht diefeine Art, mich von meiner Neugier zu hei-len, und ich sah keinen Grund, mich auf die-se Weise ins Bockshorn jagen zu lassen.

»Du willst zu deinem Volk und weißt denWeg nicht?«, versuchte ich es nach einerWeile erneut.

Er reagierte ein wenig ungehaltener, aberdennoch sanft.

Und schwieg.Ich verständigte mich mit Jolo durch ein

paar Gesten. Der Kleine verließ seinen»Schmollwinkel« und schlich sich von hin-ten an Tuxit heran.

»Willst du wirklich meinen Tod riskie-ren?«, rief er, hüpfte auf die Steuerkonsoleder Plattform und produzierte ein Kindchen-

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gesicht, bei dem selbst ein MassenmörderGewissensbisse bekommen hätte. »Bitte et-was zu essen, großer Tuxit. Du weißt doch,wie weh das da drinnen tut. Das Loch wirdimmer größer.«

Tuxit kannte das, es glitt an ihm ab. Erwusste auch, dass Jolo die meisten Problemebei der Verdauung hatte, nicht beim Fasten.Der verlegte sich aufs Betteln.

Mitten in sein Gejammer sagte ich: »Lasses gut sein, Kleiner. Bis wir die Parzelle derRhoarxi erreichen, wirst du es schon nochaushalten!«

Etwas stach in meinen Kopf, erstschmerzhaft, dann leise, als sei der Verursa-cher über die Wucht des Ausbruchs selbsterschrocken.

Volltreffer!, gratulierte der Extrasinn. DieRhoarxi oder zumindest die vom Aspoghies-Stamm leben also in einer Parzelle.

Mit Ausnahme der Anstizen kannte ver-mutlich niemand in der Intrawelt ihr Ausse-hen. Die Parzelle lag höchstwahrscheinlichin einer Gegend, wo nicht einmal die Noma-den hinkamen.

Schätzungsweise zwei Stunden vergingen,bis Tuxit den Kurs der Plattform änderte. Erlenkte sie nach oben, der metallenen Deckeder Bodenwelt entgegen, über der die Par-zellen der Intrawelt lagen.

»Bei allen Schutt- und Schrotthalden die-ser Welt!«, pfiff Jolo erschrocken. »Gleichgehört dieses Fahrzeug dazu.«

»Unterlasst alle weiteren Versuche, michin meiner Konzentration zu stören«, zischteder Rhoarxi. Er wirkte nervös und verärgert.

Ein paar Atemzüge lang sah es tatsächlichso aus, als würden wir an der Decke zer-schellen. Jolo schrie, hüpfte von der Konsoleund klammerte sich an eines der dicken Vo-gelbeine. Im letzten Moment entstand eineÖffnung, doppelt so groß wie die Plattform.Das Fahrzeug schoss aufwärts in eine dunkleRöhre, deren Länge ich auf ungefähr fünf-hundert Meter schätzte. Von oben drangLicht herab.

Ungefähr zwei Minuten dauerte es, danntauchte die Plattform wie aus einem Brun-

nen in das Tageslicht auf und ging in Hori-zontalflug über.

Kalter Wind fegte über uns hinweg. Linkslag eine Gondelstation mitten im ewigenEis. Drum herum spitzten gewaltige Schnee-berge in die Höhe, eingerahmt von einemMeer aus Eisspeeren.

Der Gondelstation fehlt derSchutzschirm!, stellte der Extrasinn fest.

Ich schwieg. Tuxit wusste besser als ich,wie er diesen Umstand beurteilen sollte.

»Wenn ich nicht schnell etwas zu essenbekomme, halte ich diese Kälte keine hun-dert Atemzüge durch«, jammerte Jolo.

»Dies ist die Parzelle Frozenhaim!« Tuxitsetzte zur Landung an.

In diesem Augenblick traf ein Schlag diePlattform.

3.Flammenstaub-Schock

»Dreizehn Prozent«, schnäbelte Leloy-koss, »das schaffen wir in einem einzigenArbeitsgang.« Uquart sah ihm zu, wie er denDhedeen streichelte, kurz seine Schwanzfe-dern festhielt und dann mit einem schnellenharten Ruck mehrere davon ausriss. Daskleine Wesen merkte nichts davon, es däm-merte in tiefer Narkose vor sich hin. Ausseinem Kopf ragten Elektroden, zwischendenen die Metallplatte der Schädelelektronikleuchtete.

»Dreizehn Prozent sind zu wenig.«Uquart war überzeugt, dass der Wissen-schaftler aus dem Neonturm ihn letztes Malfalsch verstanden hatte. »Dreiundzwanzigsollen es sein.«

»Dreiundzw … Gut, das ist auch keinProblem. Gib mir ein paar Assistenten mehr,und wir präsentieren dir das Ergebnis inzwei Tagen.«

»Sobald Aspoghie die Parzelle Nabuzymverlässt und in eine wenig nährstoffreicheZone vordringt, solltest du fertig sein.«

»Du bist der Oberste Brüter, und weil dues sagst, soll es so geschehen. Und zwar be-vor die nächste Brut schlüpft.«

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Uquart steckte die Anzüglichkeit wortlosweg. Er nahm sie als Ausdruck des Wohlbe-findens, außerdem hatte er in den letzten Ta-gen tatsächlich wenig für die kommendeBrut getan. Als Oberster Brüter saß er zwarnicht auf Eiern, aber seine vornehmstePflicht stellte immer noch die Pflege derzahlreichen Artgenossinnen in ihren Nesterndar. Außerdem musste er sich dringend umdie Desinfektion des Horstes kümmern fürden Zeitpunkt, wenn die Eier aus ihren Brut-kammern hinaufgebracht wurden, wo sie dieletzten Tage unter den Federn einigerGlucken brüteten und schließlich unter demaufmerksamen Blick des Obersten Brütersschlüpften.

Horstgeborene hatten früher immer einwenig von oben herab auf andere geblickt,bis das Gesetz erlassen worden war, dass al-le Rhoarxi der Stadt das Licht im Horst zuerblicken hatten. Es sei denn, sie schafftenes nicht rechtzeitig bis Aspoghie. Initiatordes Gesetzes war der Feigling gewesen, des-sen Namen Uquart ganz schnell aus seinemGedächtnis strich. Er machte sich dafür lie-ber auf in die Experimentalkammern, wozwischen wogenden Tischen und silizialenWerkzeugen die ersten optimierten Teile desneuen Wächtermodells wuchsen. Auf Tephsollte möglichst bald Tepher folgen. Außer-dem trug sich Uquart mit dem Gedanken,der Außenstation auf dem vorgelagertenAsteroiden zusätzliche Sicherungssystemezu verpassen, einen ganzen Kordon von Fal-len etwa, die es Ankömmlingen je nach ihrerBefähigung und Eignung erschwerten, bis indie eigentliche Station vorzudringen. Intra-welt-Tourismus durfte es nicht geben, wie esihn in der Vergangenheit auch nie gegebenhatte.

Aber es waren viel zu viele Völker undmit ihnen auch Organismen hereingekom-men, die hier nichts zu suchen hatten odersich zu einem Problem für alle anderen Po-pulationen entwickelten.

Hier lag es an den Rhoarxi, korrigierendeinzugreifen und die Weichen für die Zu-kunft richtig zu stellen.

Uquart war sich durchaus bewusst, dasses nach all den Jahrhunderttausenden immerschwieriger wurde, die expandierende Bio-sphäre Intrawelt unter Kontrolle zu halten.Bisher hatte es einigermaßen funktioniert,wobei die Geschichtsschreibung nicht unbe-dingt lückenlos zu nennen war. Die Rhoarxider heutigen Generationen nahmen es alsHinweise auf dunkle Flecken in der eigenenGeschichte und der ihres größten Bauwer-kes, der Intrawelt.

»Leloykoss verbessert die Molekular-struktur der Dhedeen«, empfing Dhaomerden Obersten Brüter. »Dadurch benötigensie deutlich weniger Blut als Nahrung, wer-den von ihren Wirten freundlicher aufge-nommen und gepflegt. Ähnliches planen wirmit dem neuen Wächtermodell. Es soll kräf-tiger sein, gleichzeitig wendiger.«

»Ich werde mit den anderen Brütern spre-chen.« Uquart schickte sich an, den Labor-trakt zu verlassen. »Vielleicht führen wireinen regelmäßigen Wachwechsel ein. JederWächter, der zurückkehrt, erhält ein neuesGedächtnismodell, denn das alte nimmtbeim Abstieg meist Schaden.«

Und natürlich auch beim Aufstieg, dachteer. Aber dafür hielten die Wissenschaftlerinzwischen einen Kopfschutz bereit, derähnliche Eigenschaften besaß wie die Mem-bran der Intrawelt. Der Unterschied bestandhauptsächlich im Material, aus dem er gefer-tigt wurde: Potista.

»Lass es mich wissen, sobald Tepher sei-ne ersten Tests absolviert«, sagte er zum Ab-schied, dann nahm ihn das Gewusel vonKünstlern und Baumeistern wieder auf, dasTag und Nacht die Nebenstraßen am vorde-ren Ende der Stadtmauer erfüllte. Hier trafensich die Intellektuellen unter den Rhoarxi,denn hier gab es die beste Aussicht und dasbeste Schaumeiweiß mit Honig.

Für ein paar Augenblicke ging der Ober-ste Brüter wie auf Federn durch die Gassen,vertraute sich den schwankenden und sichohne Vorwarnung in die Breite ziehendenGehwegen an. Aspoghie hatte wieder einmaleinen Engpass in der Landschaft hinter sich

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gebracht, und jetzt bewegten sich die Deh-nungsfugen, weil die Stadt ihre alten Maßewiederherstellte.

Kluge Impostoren und kluge Baumeister,dachte Uquart.

Es war kein Wunder, dass eine solcheStadt nie genug Kapitäne haben konnte.

*

Übergangslos holten ihn am Fuß des Tur-mes die Probleme wieder ein. Erst war esnur ein leichter Geruch, der von der Nähe ei-nes Sterbenden kündete. Dann fand derOberste Brüter die ersten Folien mit einge-grabenen Schriftzeichen, das Vermächtniseines alten Architekten. Uquart las es, und jemehr Spalten er von oben nach unten durch-streifte, desto stärker schnürte ihm die Be-klemmung seinen wohlgefälligen Leib ein.

Der alte Mann hieß Jasbadag, und am En-de seines Lebens hatte er nichts Besseres zutun, als dem Volk von Aspoghie die Eier-schalen zu öffnen. Ja, er tat gut daran, auchwenn Uquarts Schnabel bei jeder Wortfolgehärter knirschte und er nicht mehr auf denWeg achtete. An der achten Kehre des Wen-delgangs trat er ins Leere und wäre um eineFeder abgestürzt. Er rettete sich durchKlammern mit den Krallen. Dafür flattertendie Folien ins Leere des Turminnern, und erwendete die halbe Nacht dafür auf, sie müh-sam mit einer langen Pinzette aus der Tiefezu fischen und zu reinigen. Erst dann machteer sich auf die Suche nach dem Alten. Erfand ihn in einem Nebengebäude des Turms,zusammengekauert zwischen alten Schrän-ken, die das Potista bereits in Marsch gesetzthatte. Die untere Hälfte der Möbel warschon diffundiert, sank abwärts-auswärts,und der Alte klemmte dazwischen.

Uquart war nicht einverstanden, dass Jas-badag sein Leben auf diese würdelose Weisebeendete. Aber der alte Rhoarxi wollte einSignal senden, sein Volk aufrütteln. DerOberste Brüter erkannte die kaum wahr-nehmbaren Zuckungen der Muskulatur. DerAlte lebte noch, stellte sich lediglich tot.

»Ein Rhoarxi ist ebenso wenig Abfall wiePotista«, verkündete Uquart mit lauter Stim-me, die Jasbadag aus seinem Stumpfsinnriss. Aus rot verquollenen Augen sah derSterbende den Obersten Brüter an. »Duwirst deine letzten Atemzüge im Kreis dei-nes Volkes verbringen, wie es Sitte ist.«

Jasbadag nuschelte etwas, und beinahehätte Uquart die Absicht des Alten nicht er-kannt. Er wollte die eigene, dicke Wanstzun-ge verschlucken, um daran zu ersticken.

Uquart versetzte ihm einen Schlag gegenden Hinterkopf. Jasbadag riss die Augen auf,sprachlos vor Entsetzen über den Einbruchin seine Federzone.

»Wir sitzen alle in einer Stadt und in ei-nem Kosmos. In der Intrawelt ist nichts soklein, dass es keine Bedeutung besäße.Willst du dein Leben wirklich wegwerfen?«,fuhr der Oberste Brüter den Alten an.»Bedeutet dir meine Autorität so wenig?«

»Nichts, rein gar nichts!«, grunzte Jasba-dag. Er schlug die nackten Flügelreste an-einander. »Wer bist du denn? Oder was bistdu denn?«

Schockiert ließ Uquart von ihm ab. Errannte zurück in den Turm, stieß mehrmalsmit dem Körper gegen Wände, blieb an ei-nem Türrahmen hängen und verlor ein paarFedern dabei.

Was bin ich?, rasten seine Gedanken. EinNichts? Ein Wesen aus Luft?

Er lauschte auf die Schwingungen der vie-len Rhoarxi in den benachbarten Gebäuden.Viel spürte er nicht, aber der Grundtenordeutete in eine bestimmte Richtung. DieStimmung unter den Aspoghies warschlecht, schon seit langem. Er als ObersterBrüter hatte es nur nie richtig wahrhabenwollen. Schon lange lief es in der Stadt nichtmehr so, wie es eigentlich sollte. Er war derOberste Brüter und damit auserwählter Trä-ger des Flammenstaubs, doch er fühlte sichnicht imstande, seinen Stamm so zu lenken,wie es erforderlich gewesen wäre. Aspoghieversank im Mittelmaß.

Seine Amtsbrüder Rutvaul in der StadtZirnatim und Ebenze in Benenses wussten

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es wohl. Allein die Höflichkeit verbot ihnen,das Problem direkt anzusprechen. Vermut-lich hofften sie, die Zeit würde alle Wundenheilen.

Uquart fühlte sich mit einem Malschwach und krank. Am liebsten hätte er mitdem Alten getauscht, Jasbadag seine Würdeund seinen Staub anvertraut und sich zwi-schen die Möbel gelegt. Einfach nur wegvon hier in ein besseres Leben. Eine Lösungwar das nicht, aber Uquart sah auch keineMöglichkeit, selbst etwas an der Lage zu än-dern. Eigentlich sollte ein anderer auf seinerStange sitzen, einer, der damals die höchsteAchtung unter allen Aspoghies genossenhatte bis zu dem Tag, an dem sich dasSchicksal des Stammes wendete.

Wieder spürte der Oberste Brüter diesenunbändigen Hass auf Tuxit in sich, das Be-dürfnis, ihn in winzige Fetzen zu zerreißen,die der Wind forttrug. Dann aber war er wie-der froh, dass ein Oberster Brüter undRhoarxi nicht über solche gewaltigen Psi-Fähigkeiten verfügte.

»Leg dich endlich schlafen«, sagte Uquartzu sich selbst. »Sonst bist du bald einWrack. Was wird dann aus deinem Flam-menstaub?«

Müde machte er sich auf den Weg, aberdann fiel ihm der Alte wieder ein. Hastigkehrte er in das Nebengebäude zurück. Jas-badag war verschwunden und mit ihm dieMöbel. Das Potista hatte den Ausschei-dungsprozess des alten, ausgelaugten Mate-rials vollzogen. Irgendwo hinter der Stadtstanden jetzt die Tische, Schränke und Ses-sel, zwischen ihnen der alte Mann, der ver-mutlich im Potista erstickt war.

Ersticken, vielleicht war das gar kein soschlechter Tod. »Wir ersticken hier doch al-le!«

Uquart hoffte, dass niemand seine Wortehörte.

*

Als Oberster Brüter war Uquart gleichzei-tig auch Oberster Lenker. Mit Hilfe des

Flammenstaubs beeinflusste er das Potistazu bestimmten Handlungen, gab die Rich-tung vor, in die sich die Stadt bewegte, undregulierte die Verhältnisse innerhalb derStadt. Manchmal passten Rhoarxi nicht auf,gerieten an abgestorbenes Material, verun-glückten oder fanden den Tod. Bei einerEinwohnerschaft von 40.000 Individuenstellte der Tod von zwanzig, dreißig Rhoarxiinnerhalb von zehn Tagen eine durchaus be-denkliche Quote dar. Um einen Rückgangder Population auszugleichen, hätten die As-poghies ihr Brutgeschäft verstärken müssen.Da sie lieber künstlerischen und handwerkli-chen Tätigkeiten nachgingen, blieb demObersten Brüter nichts anderes übrig, alsüber sie zu wachen, an neuralgischen Stellender Stadt Aufpasser zu postieren, die Tagund Nacht präsent waren.

Manchmal ließ Uquart leichtere Strafenfür besonders nachlässige Bürger verhängen.Zehn Tage Untätigkeit zählte da schon zuden schlimmeren Maßnahmen hart am Ran-de der Folter. Es half alles nichts, eine Stadtbrauchte ab und zu eine harte Kralle undeinen kräftigen Halsschlag.

Beim intensiven Gedanken daran gelangteUquart aber schnell wieder dahin, wo er vorein paar Stunden schon verharrt hatte. EinFlammenstaubträger mit Charisma wirktedurch sein Vorbild und seine Aura, nichtdurch Gewalt.

Der Oberste Brüter gab sich einen Ruck.Nicht der Vergangenheit nachtrauern, dashatte er sich zum Leitsatz seiner Regent-schaft gemacht. Was brachte es, seine eige-nen Leistungen daran zu messen, was einstärkerer, besserer Oberster Brüter gemachthätte? Nichts, rein gar nichts.

Von seinem Horst aus beobachtete Uquartden neuen Tag.

Übergangslos tauchte sanftes, weißgelbesLicht Nabuzym in den Tag. Aspoghie hattedie Parzelle bis hinein ins Zentrum»abgegrast« und näherte sich jetzt wiederder Grenze. Ein paar Tage noch, dann würdedas Potista den Übergang in die Nachbarpar-zelle vollziehen.

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Uquart setzte die Geschwindigkeit derStadt weiter herab. Er gab dem Potista An-reize, so viele Rohstoffe wie möglich zubunkern. Die Parzelle, die sie als nächstedurchqueren würden, bot relativ wenig Nah-rung. Da hieß es vorbauen, denn zum Boh-ren blieb keine Zeit. Potista bedeutete Le-ben, Potista hieß Bewegung. Potista konntenicht stillstehen, es lebte und baute sich per-manent um, erneuterte altes Gewebe durchfrisches, stieß abgestorbenes hinten aus, fraßvorn Nahrung in sich hinein, sog mit den Fi-brillenstrukturen des Sockels alles auf, wasverwertbar war, ließ alles andere liegen fürLebewesen, die darauf angewiesen waren.

Potista – für Uquart zählte es zum Wun-derbarsten, was die Schöpfung jemals her-vorgebracht hatte. Die Schöpfung derRhoarxi natürlich, ihr eigenes Produkt, Sym-bol und – Vorzeigemodell, wie einst Impo-stor Pullman es genannt hatte. Mit dem Poti-sta und den drei Städten hatte sich das Volkder Rhoarxi neben der Intrawelt ein weiteresDenkmal für die Ewigkeit gesetzt.

Der Gedanke daran erinnerte Uquart, dasses höchste Zeit für den nächsten Routine-Kontakt mit den Obersten Brütern der ande-ren Wanderstädte war. Aber Schmerzen?Hatte er davon nicht schon genug?

Seit jeher waren die Rhoarxi in drei Kara-wanen unterwegs. Sie pflegten unterschied-liche Baustile und hatten in der Großbaustel-le Intrawelt unterschiedliche Aufgaben über-nommen. Aber schon vor dieser Zeit, als sienoch die Galaxis Dwingeloo durchkämmthatten, waren sich die drei »Schwärme«ziemlich grünmadig gewesen.

Deshalb kam es auch heute noch nur etwaalle 50.000 Intrawelt-Tage zu einem persön-lichen Treffen zwischen den Bevölkerungen,die es hauptsächlich zur Auffrischung desGenmaterials benutzten. Da wurde dann be-fruchtet und gelegt, bis die Nester platzten.Und der uralte Spruch geträllert:»Rhoarxi-Sitte aus der Mitte, schwing dieHüfte in die Lüfte, Tradition seit 'ner Milli-on.«

Uquart schob die Reminiszenzen beiseite

und konzentrierte sich auf den Kontakt. Diegeistige Verbindung mit den beiden Kolle-gen funktionierte nicht automatisch. DerOberste Brüter musste in seinem Kopf einenvirtuellen Schalter umlegen, dazu eine Win-zigkeit des Flammenstaubs in mentalerNachbarschaft aktivieren, der als Verstärkerdiente. Uquart hielt dazu den Atem an, dieeinzige Übung, die half. Die Augen fielenihm dabei fast aus dem Kopf, aber er kanntedas und maß ihm keine Bedeutung bei. Einstechender Schmerz jagte vom Nacken biszur Stirn, wo der Schnabel entsprang.Uquart stöhnte leise, aber er hörte ein Rau-schen im Hintergrund, aus dem sich nachund nach zwei wohlbekannte Stimmenschälten.

Ich grüße euch, Rutvaul und Ebenze,dachte Uquart. Unsere Koordinaten sind fol-gende … Er gab ihnen den Standort Aspog-hies durch und informierte sie über ein paarkleinere Kursänderungen der Stadt. Aspog-hie erfreut sich guter Gesundheit, was wirauch für euch hoffen.

Die beiden stimmten ihm zu. Ebenze ausBenenses wusste eine Neuigkeit. Es heißt, inPoricium sei ein einzelnes Wesen aus demSchlauch gekommen, also von draußen.Weiß einer, wo es geblieben ist?

Nein!, dachten Uquart und Rutvaul ausZirnatim. Und Uquart fügte hinzu: Werweiß, ob es noch am Leben ist. Ein Einzelnerhat keine große Chance. Vielleicht als Skla-ve. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch,dass er nicht mehr am Leben ist. Wir werdenes wohl nie erfahren, genauso wenig, wie esuns mit dem vierten Schwarm ergangen ist.

Viel wussten sie nicht mehr darüber. DieÜberlieferung berichtete, er habe sich vor1,5 Millionen Jahren vom lockeren Verbundder Rhoarxi losgesagt, also lange vor demZeitpunkt, an dem die drei anderen mit demBau der Intrawelt begonnen hatten. Schondamals hatte er als verschollen gegolten, niemehr hatte man etwas von ihm gehört. Viel-leicht war seine Flotte aus Versehen in einerSonne materialisiert. Solche Unfälle gab es,auch wenn sie extrem unwahrscheinlich wa-

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ren.Der vierte Schwarm bleibt Legende, dach-

te Ebenze. Wie jedes Volk braucht auch un-seres solche Legenden und Geheimnisse. Sierichten die Gedanken und das Bewusstseinauf Dinge, die jenseits unseres Alltagshori-zonts liegen. Das ist das Wichtige daran.Wer sich mit dem begnügt, was vor seinerNase liegt, verkümmert. Seine Nachkommenverkümmern noch mehr, und irgendwannsind sie ausgestorben.

Ebenze schrie plötzlich voller Schmerzauf. Uquart zuckte zusammen, und im sel-ben Moment traf ihn ein mentaler Schock,der das Gewimmer der beiden Kollegen inden Hintergrund drängte. Hitze durchfluteteseinen Kopf, wollte seine Gedanken ver-brennen und die Hirnwindungen schmelzen.

Ladindaun!, hörte er noch den hastig her-vorgestoßenen rituellen Gruß der beiden.

Ladindaun!Uquart stürzte zu Boden. Er merkte nicht,

wie er sich mühsam abfing und sich beinaheden linken Arm brach. Das Feuer tobte inseinem Innern. Er keuchte, versuchte denmentalen Ansturm zu bremsen. Erst glaubteer an einen Angriff. Dann aber spürte er,dass es nichts mit ihm selbst zu tun hatte.Keiner der drei Obersten Brüter befand sichin Gefahr.

Und dennoch – etwas Gutes konnte esnicht bedeuten.

Nach schier endloser Zeit ebbte derSchock in Uquarts Kopf endlich ab. Er taste-te mit seinen Gedanken. Nein, sein Gehirnund sein Bewusstsein schienen keinen Scha-den davongetragen zu haben. Der Schmerzebbte langsam ab, aber noch immer fühltesich sein Körper vom Hals abwärts merk-würdig taub an. Mühsam wälzte Uquart sichauf die Seite, froh, weil sein Sehvermögenzurückkehrte. Er konnte wieder riechen, undder Horst um ihn herum hatte sich nicht ver-ändert.

Der Oberste Brüter richtete sich auf. Be-nommen schüttelte er den Kopf. Aus demrechten Auge lief ein Blutfaden, wie jedesMal, wenn er den Kontakt mit Rutvaul und

Ebenze hinter sich gebracht hatte.Ein Mentalschock, wie er ihn noch nie er-

lebt hatte – Uquart dankte dem Schicksal,dass er ihn überlebt hatte. Gleichzeitig ver-suchte er die Konsequenzen des soeben Er-lebten zu begreifen. Es gab nur eine Erklä-rung.

Jemand hatte in diesem Augenblick denFlammenstaub verwendet. Das Wesen warein Rhoarxi. Und da gab es nur einen, der inFrage kam.

»Abschaum des Universums!«, schrieUquart voller Zorn. Die Rhoarxi drunten inden Gassen und auf den Straßen blickten er-schrocken zu den Zinnen des Horstes hinauf.»Warte nur, wenn ich dich kriege!«

In diesem Augenblick schwanden alle sei-ne Zweifel, ob er der Richtige am richtigenPlatz war.

4.Eis-Kreationen

Der harte Schlag warf die Antigravplatt-form aus der Bahn. Diesmal schrie Jolo lautund gellend. Er warf sich gegen Tuxit,rutschte in Zeitlupe an dem massigen Leibnach unten und klammerte sich an eines derBeine.

Der Rhoarxi nahm den Schnabel zu Hilfe,um die Fluglage der Plattform zu stabilisie-ren. Über uns flammte ein gelblichesSchutzfeld auf, das die Landschaft dahinternur verzerrt wiedergab.

Ein zweiter Schlag wirbelte das Fahrzeugin die Höhe. Ich spürte die Schwerkraft wei-chen, suchte vergebens nach einem Halt. Ir-gendwo im flachen Leib der Plattformsprang mit lautem Wummern ein Aggregatan. Kraftfelder erfassten uns, sie bannten unsan den Boden.

In deutlicher Schräglage raste die Anti-gravplattform dahin. Tuxit stieß ein Schnat-tern aus, das kein Dhedeen übersetzte. Ichging davon aus, dass der Rhoarxi schimpfte.Irgendwann, nach dem fünften oder sechstenSchlag, wandte er den Kopf nach hinten.

»Eisquallen!«, pfiff er. »Die Viecher ha-

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ben die Kluft durchquert und greifen die un-geschützte Gondelstation an.«

Die Plattform beschrieb einen weiten Bo-gen in die ursprüngliche Richtung. Ich stapf-te zum Rand, der Druck des Kraftfeldes ver-mittelte mir eine Schwerkraft von minde-stens 1,5 Gravos. Von Eisquallen oder ande-ren Lebewesen war weit und breit nichts zusehen. Der Rhoarxi fantasierte offensicht-lich.

Dann aber hörte ich Jolo erneut schreien.Mit meinem Blick folgte ich seinem dünnenÄrmchen, das auf die andere Seite des Fahr-zeugs deutete. Über den Rand krochenzackige Kristallfinger, wanden sich an demMetall entlang, versuchten den gelben Ener-gievorhang zu durchdringen. Dort, wo sieihn berührten, schmolzen sie und verwehtenals winzige Wasserdampfschwaden.

Tuxit versetzte die Plattform ins Taumeln.Die Kristallfinger verloren den Halt, rutsch-ten ab und verschwanden in die Tiefe.

Ich spähte hinab, suchte nach einer Bewe-gung, einem Hinweis, aber da war nichts.Als hätte es sich um eine Spukerscheinunggehandelt. Die Eisquallen waren verschwun-den.

»In Frozenhaim solltest du deinen Augennicht trauen, Atlan.« Tuxit sprach freund-lich. Wie gewohnt beließ er es bei diesemeinen Satz.

»Frozenhaim besitzt im Wasserdampf-haushalt der Atmosphäre vermutlich einewichtige Funktion«, stellte ich fest. »Eineeinzige solche Parzelle dürfte allerdingsnicht ausreichen.«

»Es gibt mehrere. Die Eisquallen existie-ren allerdings nur in Frozenhaim. Sie gehö-ren zu den Völkern, die Teph hereingelassenhat.«

Teph, der Pförtner. Teph, das unglückli-che Wesen in der Zugangsstation auf derAußenseite der Intrawelt. Einst hatte mandas Krakenwesen eingesetzt, damit es zwi-schen Berechtigten und Unberechtigten un-terschied.

Wieder traf ein Schlag die Antigravplatt-form, diesmal von der Seite. Trotz Kraftfeld

verlor ich das Gleichgewicht und stürzte. ImFallen riss ich die Arme nach vorn, fingmich mit den Händen ab und landete unsanftauf der Seite. Keine zwei Meter entferntschob sich ein armdicker Eisstrang empor,schwankte unsicher hin und her. An seinerrasiermesserscharfen Spitze stülpte sich eineArt Blütenkelch aus, dessen Eisblätter sichim Zeitraffer auffalteten. Ein milchiges,faustgroßes Facettenauge aus Kristall glotztemich an, spiegelte alle Farben des Regenbo-gens und drehte sich hin und her.

»Verschwinde!«, krähte Tuxit. Er voll-führte mit der Plattform einen Schlenker.Mit der Außenseite traf sie das Auge,schleuderte es weit weg.

Ich sah, wie der Kristallstrang abriss undsich ein bläulicher Splitterregen über dieLandschaft ergoss. Die blaue Farbe, sie lie-ferte mir den Hinweis auf das, was dort un-ten vor sich ging. Das Eis der Umgebungschimmerte weiß bis grau. Das blaue undteilweise grünlich leuchtende Band, dasmussten die Eisquallen sein. Es zog sichringförmig um die Gondelstation, den Ab-stand schätzte ich auf einen halben Kilome-ter.

»Ich sehe sie jetzt, Tuxit. Was haben die-se Quallen vor? Sind sie intelligent?«

»Halb intelligent. Nicht einmal die Impo-storen könnten die Frage beantworten, wa-rum Teph sie hereingelassen hat.«

»Ihm war wohl kalt wie mir, und er wolltesie schnell loswerden.« Jolo klapperte mitden Zähnen.

»Es wird schon wärmer«, sagte ich. »Dergelbe Schirm besitzt eine eingebaute Hei-zung.«

Der Rhoarxi quittierte es mit einemgackernden Lachen. »Manchmal verblüffstdu mich wirklich, Atlan. Deine Art, schwie-rige Situationen zu meistern oder auch nurzu entschärfen, ist einmalig.«

»Wahrscheinlich bin ich deshalb hier.« Erund seine Rhoarxi konnten sich schon malwarm anziehen.

»Fafner, ein früherer Maulspindler dieserStation, hat die Gefahr frühzeitig erkannt«,

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fuhr Tuxit fort. »Er rief die Anstizen undließ sie einen Graben in das Eis brennen, zutief und zu breit für die Eisquallen. Doch mitden Generationen haben sie dazugelernt. Esmuss ihnen gelungen sein, den Graben an ei-ner Stelle so zu präparieren, dass sie hinab-steigen und ihn von unten her ausfüllenkonnten. Der heutige Maulspindler hat esvermutlich noch nicht einmal bemerkt. Nichtumsonst nennen sie ihn Pleile, den Schlä-fer.«

Für kurze Zeit herrschte Ruhe, aber danngriffen die Eisquallen erneut an. Wir hättenihren Attacken entgehen können, indem wirdie Flughöhe änderten. Aber das wollte Tu-xit augenscheinlich nicht. Er provozierte dieAngriffe offenbar, wollte die Eisquallen rei-zen und erreichen, dass sie alle Vorsicht auf-gaben.

Der Rhoarxi schaffte es in kurzer Zeit.Jolo kam zu mir gerannt, klammerte sich

an meine Beine. »Da geht es los, siehst dudas, Atlan?«

Der Graben wogte. Blaue Eismassen ge-rieten in Bewegung, bildeten unzähligeGliedmaßen aus. Tentakel tasteten nach derUmgebung, bohrten sich in das weiße undgraue Eis, setzten ihre Gliedmaßen als An-ker und schoben den Körper nach. Die Eis-quallen fingen an, das Gelände zwischen derKluft und der Station zu erobern. »Du bistganz sicher, dass die Station in Gefahr ist?«,fragte ich Tuxit.

»Der Maulspindler auf alle Fälle. Davonabgesehen, ob er sich gern als Delikatessefür Eisquallen sehen würde, dürfen wir esnicht zulassen, dass die Gondelstation zer-stört wird.«

Das Argument erschien mir angesichtsdes komplizierten Gondelsystems einleuch-tend. »Was willst du dagegen tun?«

»Ich opfere die Plattform.«»Ich will erst etwas zu essen!«, rief Jolo.

»Hinter den Türen deiner Konsole gibt esgarantiert Notrationen.«

Der Rhoarxi hielt es keiner Erwiderungfür wert. Er ließ die Plattform über die rech-te Seite abkippen.

*

Etwas stimmte nicht. Ich merkte es indem Augenblick, als der linke Rand derPlattform nach oben raste, bis er fast in derSenkrechten stand. Glitzernde Stränge ausEis schleuderten empor, knallten gegen denGelbschirm und zerstoben in blauem Wider-schein.

Die Quallen klammerten sich an die Un-terseite der Plattform.

Das Fahrzeug stürzte sich in die Tiefe, ra-ste den Eismassen diesseits der Kluft entge-gen. Ein zweites Kraftfeld erfasste mich undJolo. Es drückte uns fest gegen den Unter-grund, so dass wir auch bei einer schwerenErschütterung nicht stürzten.

»Ein Verrückter!«, stöhnte Jolo. Sein Ge-sicht verlor jeden Ausdruck, die Mimik ver-harrte in Nullstellung. Sein Körper erstarrte.Wenigstens verwandelte er sich nicht gleichin blauen Kristall, wie ich ironisch feststell-te.

»Kamikaze«, murmelte ich.»Was ist das?«Ich erhielt keine Gelegenheit, es ihm zu

erklären. Tuxit fing die Plattform dicht überdem Boden ab. Der Bug des Fahrzeugs be-rührte den Untergrund. Funken sprühtennach allen Seiten, ein Zittern und Bebendurchlief die Konstruktion. Ich blickte nachhinten, wo blaue Eisstrukturen in bizarrenFetzen davonflogen, teilweise rauchend vonder Reibungshitze, die entstand.

Ein schrilles Wimmern erfüllte über-gangslos die Plattform. Jolo fing unnatürlichan zu zittern. Er starrte zu mir empor.

»Es sind die Kristalle, die diesen Lärm er-zeugen«, sagte ich.

Sie flogen in hohem Bogen davon.Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass Tuxitden Eisquallen half, endgültig auf dieserSeite der Kluft Fuß zu fassen.

Ein Blick des Rhoarxi aus dem linken Au-ge traf mich. Sollte er beruhigen oder war-nen? Ich wusste es nicht.

»Wir sind gleich am Ziel, Atlan.«

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Die Gondelstation mit ihrem»Kassenhäuschen« wanderte durch meinBlickfeld und verschwand wieder, währenddie Antigravplattform rasch an Höhe ge-wann. Eine Bewegung hatte ich keine wahr-genommen, weder an der Station noch in ih-rer Nähe. Der Maulspindler verschlief dieAuseinandersetzung vermutlich. Oder ertraute sich aus Angst nicht ins Freie.

Tuxit hob den Arm mit dem Cueromb. Ichsah, wie er umständlich mit der freien Handund dem Schnabel Einstellungen an demGerät vornahm. Schwerelosigkeit umfingmich, die mich nach oben zum Gelbschirmtreiben ließ. In zwei Manneslängen Abstandkam ich zum Stillstand. Jolo hing wie einKlammeraffe an meinem Bein und verkralltesich in den Stoff.

»Lässt euch treiben, ich passe auf euchauf!« Tuxit hantierte wieder am Cueromb.Der Gelbschirm erlosch übergangslos. Eisi-ge Sturmböen rissen uns von der Oberflächeder Plattform. Ich zog den Kopf ein, legtedas Kinn auf die Brust. Ich vermisste mei-nen Varganenanzug, der mich in Situationenwie dieser zuverlässig schützte. So aber ver-mochte die Kleidung nicht einmal, die bei-ßende Kälte von mir fern zu halten.

»Atlan!«Hoch über mir entdeckte ich den Rhoarxi.

Er hantierte am Cueromb, nahm Dutzendevon Einstellungen vor, immer wieder diesel-ben.

Das Gerät ist defekt!, durchfuhr es mich.Ich versuchte die Höhe über dem Boden zuschätzen. Dreißig, vierzig Meter waren esbestimmt. In diesem Augenblick setzte derfreie Fall ein. Auch der Rhoarxi stürzte ab.Jolo fing an zu schluchzen, ich konnte esihm nicht verdenken.

Schräg hinter uns sah ich erste blaue Wo-gen, die über das graue Eis in Richtung Sta-tion schwappten. Es handelte sich um dieEisquallen, die sich an die Unterseite derPlattform geklammert hatten. Sie zogen wei-tere Artgenossen aus der Kluft nach, eineArt Prozession entstand. So schnell, wie sichdie Prozedur vollzog, konnte ich kaum

schauen.Noch fünf Sekunden bis zum Aufschlag,

bemerkte der Extrasinn lakonisch.Etwas Hartes klatschte gegen meinen

Rücken. Ich warf mich herum, versuchte dieTentakel der Eisqualle abzuwehren. Aber dawar nichts, gegen das ich mich zur Wehrsetzen konnte.

Unter mir nahm ich einen Schatten wahr.Gleichzeitig verschwand das Gefühl desfreien Falls. Der aus einer Mischung ausglatten Flächen und scharfkantigen Brüchenbestehende Eisboden wich vor mir zurück.Etwas bremste mich ab, bis ich beinahe reg-los über dem Boden schwebte, mit dem Ge-sicht und Jolo nach unten.

Dann fiel das Cueromb erneut aus.Ich landete auf Händen und Knien. Jolo

stieß sich den Kopf. Er unterbrach sein Ge-jammer wenigstens für kurze Zeit. Aus denAugenwinkeln sah ich die wuchtige Gestaltdes Rhoarxi, der noch immer verzweifelt andem Gerät herumfingerte.

Ich packte Jolo und warf ihn von mir, inRichtung der Gondelstation. »Lauf um deinLeben!«

Auf seinen dünnen Beinen hetzte er los,ich hinter ihm her. Bald hatte ich ihn mitmeinen langen Schritten eingeholt. Das Ech-senwesen vollführte groteske Sprünge. DieSaugnäpfe an den Fußtatzen blieben am Eiskleben.

Ein Rauschen kündigte Tuxit an. DerRhoarxi schnellte sich an uns vorbei, einwuchtiger Schatten mit zwei ausgestrecktenArmen, die wild das Cueromb bearbeiteten.

»Er lässt uns im Stich, Atlan!«»Nein. Er versucht, genügend Abstand

zwischen dem Gerät und den Eisquallen zuschaffen.«

Längst war mir klar, dass die Störung deswertvollen Allzweckgeräts nur mit den Eis-wesen zu tun haben konnte. Andererseitswunderte es mich, dass das Cueromb anfäl-lig gegen solche Einflüsse war.

Wenn du alle Besonderheiten der Intra-welt kennen lernen willst, solltest du dichauf einen mindestens hundertjährigen Auf-

16 Arndt Ellmer

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enthalt einrichten.Die Logikergüsse des Extrasinns waren

für meine Begriffe im Augenblick fehl amPlatz. So schnell meine Stiefel mich auf demglatten Boden trugen, rannte ich auf dieGondelstation zu. Hinter uns wogten Eis-quallen in die Höhe, immer mehr und immerbedrohlicher. Ich hielt nach der Antigrav-plattform Ausschau, die nur noch als dunk-ler Fleck am nebelgrauen Himmel zu erken-nen war.

Tuxit wollte sie opfern. Ich rätselte noch,wie er es tun konnte.

Inzwischen türmten sich die Eisquallenals Gebirge über dem Rand der Kluft auf.Sie rückten näher. Ihr Abstand zu uns betrugvielleicht fünfhundert Meter. Es konntenaber auch nur dreihundert Meter sein. DieHöhe der Massen schätzte ich inzwischenauf mindestens vierzig Meter.

Der Rhoarxi hatte inzwischen die Hälfteder Strecke zur Station zurückgelegt. Mitseinen Fußkrallen fand er guten Halt im Eis,während wir uns mehr schlecht als rechtvorwärts kämpften. Pleile, der Maulspindler,schien noch immer den Schlaf des Gerech-ten zu schlafen, denn er reagierte nicht aufdie Funkanrufe, die Tuxit mit Sicherheit seitunserem Eintreffen in Frozenhaim an dieStation schickte.

»Atlan, ich kann nicht mehr!« Jolo hinktenur noch. An den Saugnäpfen seiner Füßehingen die Schuppen in Fetzen, vom klebrigkalten Eis zermalmt. Der Atem des Echsen-wesens ging rasselnd, er hielt sich die linkeSeite.

Seitenstechen? Bei einer Echse? Ich solltemich langsam daran gewöhnen, dass es inder Intrawelt nichts gab, was es nicht gab.

»Komm her!«Er schlingerte auf mich zu, fiel in meine

Arme. Ich warf ihn mir über die linke Schul-ter – auf der rechten saß mein Dhedeen undbibberte vor Kälte.

»Locker bleiben, lass dich hängen, dannkann ich dich am besten tragen.«

Ein Blubbern kam als Antwort.Die Eisquallen schienen zu wittern, dass

sich mehrere Wärmezentren über das Eis be-wegten. Sie rollten und schnellten ihre Ex-tremitäten noch heftiger vorwärts. Ihre Ent-fernung ließ sich inzwischen deutlich bessereinschätzen, sie betrug etwas mehr als zwei-hundert Meter. Die vordersten Ausläuferjagten als Eisschlangen über den Boden, im-mer auf der Spur unserer Stiefel und Füße.

Es sind vor allem die Wärmeabdrücke Jo-los, stellte der Extrasinn fest. Da du ihn jetztträgst, wird sich ihr Vorstoß bald verzögern.

Er behielt Recht. Der Vorstoß stockte, un-gefähr hundertfünfzig Meter von uns ent-fernt. Augenblicke später erreichte Tuxit dieGondelstation. Ich sah, wie er erneut denArm hob und an dem Gerät hantierte. DieTür des Häuschens öffnete sich, er ver-schwand im Innern. Dann schloss sich derEingang …

Die Eisquallen holten auf, näherten sichbis auf hundert Meter und weniger. Dannwaren es nur noch fünfzig. Ein heftiges Vor-wärtsschnellen der blauen Eiskristalle, undsie würden uns in wenigen Sekunden errei-chen. Vielleicht half Hakenschlagen, um einpaar Sekunden länger unbehelligt zu blei-ben.

Ein Jaulen hoch über uns in der Luft ließmich aufblicken. Ich sah den überaus schnellanwachsenden Schatten der Antigravplatt-form. In steilem Winkel raste sie dem BodenFrozenhaims entgegen.

»Er bringt uns um«, gurgelte Jolo. »Sag,haben wir das verdient, Atlan?«

Ich rannte unbeirrt weiter. Die Eisquallen-Tentakel nahmen die Verfolgung wieder auf,oder sie wollten sich vor der drohenden Ge-fahr in Sicherheit bringen. Die Plattform er-reichte die Oberfläche auf der Höhe derKluft. Ich sah, wie sie in die Eisquallen ein-schlug. Mehrere hundert Meter hoch spritz-ten die Kristallfontänen in die Luft. Ein Feu-erball glühte auf, wir erkannten lediglich dieobere Wölbung. Der Rest fraß sich in dieTiefe. Dennoch reichte die Druckwelle aus,mich von den Beinen zu fegen.

Geistesgegenwärtig ging ich in die Knie,legte mich auf die Seite und ließ mich über

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das Eis treiben. Bei den Verfolgern entstandDurcheinander. Die Hitzwelle, die über Jolound mich hinwegraste, ließ die Eisquallenund ihre Tentakel schmelzen. Ein Rauch-schleier bildete sich dort, wo sich das Mate-rial dieser Wesen auflöste.

Die Druckwelle ließ nach, aber noch im-mer schlitterten wir über den Boden, als zö-ge uns jemand am Seil hinter sich her.

Eine zweite Explosion in der Tiefe derKluft erfolgte. Diesmal schoss eine bläulichweiße Stichflamme in den Himmel und ver-schwand im Nebel der wasserdampfgesättig-ten Atmosphäre. Die Tentakel der Eisqual-len versuchten einen letzten Angriff. Siestießen steil nach oben, beschrieben eineballistische Kurve zum Boden zurück, derenZielpunkt auf Jolo und mich deutete.

Mitten in der Bewegung zerfielen dieStrukturen. Eiskristalle regneten zu Boden,bildeten sinnlose Haufen aus Splittern undverwandelten sich in einer blitzschnellenTransformation in Lachen. Sie verdampftenim selben Rauch, den wir schon beobachtethatten.

Das Zugfeld, das uns im Schlepptau hatte,ließ nach. Ich wandte mich der Station zu,die vor uns aufwuchs. Ein rötliches Flim-mern umgab sie. Der Schutzschirm arbeitetewieder. Dicht davor stand Tuxit mit erhobe-nem Arm.

»Das Cueromb funktioniert wieder«, riefer uns zu.

»Was du nicht sagst«, stieß ich halblautzwischen den Zähnen hindurch und setzteJolo ab.

Das Echsenwesen sah sich furchtsam um.»Du kannst unbesorgt sein. Die Luft ist

rein.«»Bist du dir sicher, Atlan?« Er deutete zur

Station, wo soeben der Maulspindler auf-tauchte. »Der Kerl dort ist mir keinesfallsgeheuer.«

5.Symbolische Flamme

Ein Rhoarxi benutzte den Flammenstaub,

irgendwo da draußen!Uquart taumelte. Völlig ohne sein Zutun

verdrehten sich seine Beine, schlugen imStehen übereinander. Er geriet ins Trudeln,fasste nach der Brüstung mit dem Flaum derNeugeborenen. Ein paar Federn riss er ab –nein, sie blieben an seinen Krallen und Ar-men hängen. Lieber wäre er in die Tiefe ge-stürzt, als dem Flaum Gewalt anzutun.

»Verschwinde!« Seine Stimme hallte weitüber die Stadt. Das Potista in seiner Nähenahm die Schwingungen auf, hielt in seinenBewegungen inne. Sein Programmablaufwar gestört.

Der Oberste Brüter verspürte in sich dasBedürfnis zu platzen, vor Wut und Zorn, vorHass und allem, was es sonst noch an nega-tiven Gefühlen gab, die ein Rhoarxi füreinen Artgenossen übrig haben konnte. Eswar nicht viel, denn wer konnte schon sa-gen, was Hass wirklich war.

Uquart kannte andere Dinge, die ihn undseine Artgenossen ängstigten, Dinge, die mitder Kathedrale und dem Flammenstaub zutun hatten, die aus einem selbst kamen unddoch nicht von einem selbst stammten. Aufdem Weg zur Kathedrale tauchten aus demNichts Schrifttafeln auf. Projektionen inWort und Bild verkündeten schlimme Dingevon schwachen Trägern des Flammenstaubs,die in ihrer Labilität zu Mördern wurdenoder sich an Rhoarxi oder Potista vergriffen.Letzteres war das schlimmste Verbrechenvon allen. Für Uquart allerdings war dasFurchtbarste, wenn einer sich der Verant-wortung nicht stellte, sondern sich feige ver-drückte.

Sich wegstehlen vor der Verantwortung –wie oft hatte sich der Oberste Brüter nichtvor den Spiegel gestellt und sich mit diesemGedanken auseinander gesetzt. Es bedeutete,alle anderen im Stich zu lassen, die Stadtnicht führerlos, aber steuerlos ihrem Schick-sal zu übereignen. Potista, was aus dir wird,ist mir egal.

Auch ich selbst wollte das schon tun, ge-stand er sich ein. Am liebsten wäre ich Tuxithinterher, den ich heute beschimpfe und ver-

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teufle. Es war ein gewaltiger Unterschiedzwischen einer Absicht und einer Tat. DemNachbarn Übles wünschen und ihm Üblestun, dazwischen lagen die Freiheit der Ge-danken und der Tod durch den Henker.

Licht überzog übergangslos den Horstund erhellte ihn. Uquart blinzelte verwun-dert. Erst glaubte er, es käme von außen.Dann merkte er, es stammte von innen, ausihm selbst. Es glitzerte und flirrte, blähtesich auf wie Kleider, vom Wind gebauscht.

Der Flammenstaub! Uquart stöhnte leise.Er fand endlich sein Gleichgewicht wieder,breitete die Arme aus und blieb mit ange-winkelten Beinen stehen. Seine Amtsrobe,die er nur an wenigen Tagen trug, spanntesich beängstigend um den leicht verkrümm-ten Leib.

Ein einziges Mal hatte er es miterlebt, alsdie Weihe vollzogen worden war. Damalshatte das Zeremoniell ihn so beschäftigt,dass er dem Vorgang nur am Rande Beach-tung schenkte. Vielleicht war das ein Fehler,und aus ihm wäre ein besserer Oberster Brü-ter geworden.

Jetzt stand plötzlich dieses Bild wiedervor seinen Augen, ein gewaltiges, bis in denHimmel ragendes, ebenmäßiges Leuchten,unten rund und nach oben immer schlankermit harmonisch in der Spitze sich findendenFlanken. Die dreidimensionale Gestalt warvon geometrischer Makellosigkeit und opti-scher Schönheit, wie er es nie irgendwo an-ders gesehen hatte. Es fehlte das Flirren desStaubs, aber das war angesichts des gewalti-gen Symbols auch nicht nötig.

Uquart sah, wie die Flamme immer höherwuchs, sich gleichmäßig ausdehnte, bis sieden gesamten Hohlraum der Intrawelt aus-füllte und mit ihrer Spitze alle Parzellengleichzeitig berührte.

Es kann nicht sein!, loderten seine Gedan-ken. Es ist eine Halluzination!

Seine Krallen verloren den Halt, er stürztezu Boden, kugelte auf seinem runden Leibhalb um sich selbst. Plötzlich lag er da, aufder Seite und mit dem Kopf unter einer sei-ner Schwingen. Fassungslos starrte er die

Flamme an, die genau an der Stelle loderte,wo er soeben gestanden hatte.

Das Symbol der Staubflamme, rein undvollkommen, endete an seinen Füßen. Esschien aus ihnen herauszuwachsen, und alser sie enger an den Körper zog, wanderte dieSymbolflamme mit.

Uquart setzte sich auf. Er starrte seine Fü-ße an, aus deren Krallen Licht zu wachsenschien. Drunten in den Gassen wurden dieRhoarxi inzwischen auf das Licht aufmerk-sam. Er hörte das Scharren von Füßen imTurm, mindestens ein Dutzend Rhoarxi be-wegten sich die Rampe des Wendelgangsherauf. Manchmal rutschte einer aus, dennin der Wüste wurde es nachts kalt. Dann bil-dete sich auf steinernen Böden Kondenswas-ser, ganz gleich ob die Steine echt odernachgemacht waren.

»Oberster Brüter!«, hörte er einen Rhoar-xi rufen. »Bist du da oben?«

»Ja! – Ja!« Er krächzte so heiser, dass je-der Verdacht schöpfen musste.

Das Kratzen wurde schneller, kurz darauftauchten die ersten Rhoarxi am Eingang zumHorst auf.

»Das Symbol der Flamme!«, empfing ersie. »Verneigt euch in Ehrfurcht.«

Sie warfen sich zu Boden. Um die Trag-weite des Gesehenen zu erfassen, brauchtensie eine ganze Weile.

»Ich weiß, was ihr jetzt denkt. Dochschweigt still. Behaltet das Wissen für euch.Die Stadtbewohner sollen sich nicht inAngst und Streit gegenseitig zerfleischen.Das wäre unser nicht würdig.«

Einer wagte einen Einwand. »Wer kommtda, Uquart?«

»Es gibt nur einen, der das wagt, Brüderund Schwestern. Nur einen.«

Er murmelte ein Gebet, gab dem Potistaneue Anweisungen, denn er wollte es demFeigling nicht zu leicht machen.

Die Rhoarxi zogen sich zurück, und erblieb allein in der Geräumigkeit des Horsts.Vermutlich würde er bald Gesellschaft er-halten. Das Symbol der Flamme – der Ober-ste Brüter wollte es noch immer nicht glau-

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ben.»Tuxit, wagst du es wirklich? Ein Feig-

ling bleibt immer ein Feigling, oder?« SeineWorte klangen nur halb beherzt und wenigüberzeugend.

Tuxit wusste nichts vom Flammensymbolin Aspoghie, er konnte es nicht wissen. Under war nicht nah genug, um es zu sehen.

Dafür steckte Uquart mittendrin. Und erempfand es als Demütigung, dass die Kathe-drale ihm das Symbol schickte wie damals,als man ihn erwählt hatte und doch jeder umdas Trauerspiel wusste. Es motivierte nichtbesonders, zweite Wahl zu sein, und in sei-nem Fall ging es nicht nur um das Amt, son-dern um die geistige Führung des Volkes.Kapitän und Lenker konnte jeder sein, Vor-bild und Mentor fast keiner.

»Und jetzt kommst du!«, murmelteUquart deprimiert. »Du lobst nicht, dudankst nicht. Du kommst und teilst durchdein Erscheinen mit, dass es einen neuenFührer zu bestimmen gilt. Du scheußliches,bestialisches Symbol einer Flamme. Und da-mit du es weißt, ich werde kämpfen. Keinerkann Verlangen, dass ich meinen Staub frei-willig zurückgebe. Staub, wem Staub ge-bührt. Ich war in meinem Leben kein Held,aber nie ein Feigling. Ich war da, als manmich brauchte. Und jetzt verschwinde. Emp-fange diesen Ketzer, diesen Lumpen, diesenTuxit.«

Nicht umsonst hielten sie in der Stadt dieErinnerungen an jene schlimme Zeit wach,brachten den jungen Rhoarxi schon im frü-hesten Kindesalter bei, wer der verfluchteTuxit war. Und sie erzählten ihnen seine Ge-schichte.

Das Flammensymbol tat ihm keinen Ge-fallen. Es blieb, als gehörte es zu ihm …

Vergangenheit

Genterandy hatte es in der ersten Stundenach dem Anschalten der Sonne besonderseilig. Er hüpfte aus dem Haus, ohne dass dienachtaktive Temmetilli es bemerkte. Nichteinmal der Dhedeen kam hinterher, obwohl

er aus einer Zucht für Sofortumschalterstammte. Nicht, dass Genterandy einen Dhe-deen gebraucht hätte. In der Stadt sprachenalle gleich. Er gehörte zum aktuellen Beta-Test-Programm. Genterandy war einer derErsten, die das neue Modell testen durften,nicht auf seinen Durst, sondern auf seineHaltbarkeit hin. Widerstandsfähige Dhedeensollten das Leben in vielen Parzellen erleich-tern, zäh und gleichzeitig aufmerksam, nichtnur als Übersetzer, sondern auch als Betreu-er und Vermittler. Dhedeen würden nie zu-lassen, dass ein Driete sich an den Irrsinnverlor.

Genterandy trug die Gerätschaften insFreie. Er lud sie in den nagelneuen Potista-Wagen und fuhr mit ihnen zum Vorplatz.Dicht an den Fassaden der Frontbauten bau-te er sie auf.

Der Dhedeen flatterte um die Ecke, sein»Schwapp-Schwapp« kündigte ihn schonvon weitem an. Er setzte sich auf den Randdes Wagens, blickte Genterandy neugierigan und tickte mit dem spitzen Schnabel ge-gen das Werkzeug.

»Du wirst es nicht glauben, aber heute istein besonderer Tag«, meinte Genterandyfreundlich. »Deshalb habe ich auch etwasBesonderes gebaut. Du wirst staunen. Eshandelt sich um ein neues Stecksystem, mitdem man in Windeseile Häuser errichtenkann.«

Der Dhedeen warf den Kopf zurück. »Hörmal«, klang es dumpf aus seinem Schnabel,»was erzählst du uns da?«

»Ich rede mit dem Dhedeen, nicht miteuch im Testlabor. Euch geht das gar nichtsan.«

»Na gut, wir klinken uns aus.«»Es reicht, wenn ihr dreimal am Tag den

Datenspeicher des Übersetzers abfragt.«Das hätte noch gefehlt, dass sie mit Hilfe

des Vogels seine Konstruktionsgeheimnisseausspähten.

»Ein Stecksystem also.« Der Ingenieur imLabor hatte es noch immer nicht begriffen.Seine Neugier war größer als seine Höflich-keit. »Häuser in Windeseile. Soso.«

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»Laust und milbt mich!«Endlich hielt der Kerl seinen vorlauten

Schnabel. Genterandy zog den Plan aus derTasche, wandte dem Dhedeen seinenRücken zu und linste auf die Zeichnungen.Schnell ließ er den Plan wieder verschwin-den, legte die ersten Handgriffe an.

Es ging ganz leicht. Während er die Kon-struktion an der Wand hochzog, erklangenvon den Türmen und Hochhäusern die erstenTrillerakkorde.

Der Weckruf für den Helden! Genterandyfreute sich, noch viel mehr aber freute ersich auf den Zeitpunkt, wenn der jungeRhoarxi sein Geschenk entgegennehmenwürde. Eines von vielen, versteht sich, abereben ein besonderes. Das machte Genteran-dy keiner so schnell nach.

Das Gestänge bestand aus purem Metall,nichts daran war aus Potista gemacht. Dieersten Versuche und Pläne stammten nochvon seinem Großkücker, die Familie hattesie lange Zeit in einem Zwischenboden desNestes aufgewahrt. Mit etwas Glück warensie der Entsorgung des Hauses entgangenund nicht auf dem Boden einer Parzelle ge-landet, zwischen lauter krummen Regalenund Häuserteilen.

Temmetilli tauchte auf. Sie bog so schnellum die Ecke, dass er erschrak.

»Hier steckst du also. Du hast mir einenschönen Schrecken eingejagt.«

»Ich bin nicht der Großkücker«, antworte-te er in Erinnerung an dessen schlimmesSchicksal. »Mich verschluckt das Potistanicht. Wieso schläfst du nicht? Es ist Tag!«

»Glaubst du, ich lasse mir entgehen, wennganz Aspoghie feiert?

Das ist doch fast so toll wie beim Drei-städtetreffen. Und noch um einiges wichti-ger.«

Genterandy nickte bedächtig. »Natürlich.Besonders genießen kannst du es an der fri-schen Luft. Auf dem Grünkernturm zumBeispiel.«

Sie zog die Kopfhaut ein Stück nach hin-ten, klapperte mit dem Schnabel einen hekti-schen Rhythmus. »Auf dem Grünkernturm

zum Beispiel«, äffte sie ihn nach. »Du willstkeine Zuschauer, das ist alles.«

»Schließlich soll es eine Überraschungwerden.«

»Für ihn, nicht für mich.« Genterandygackerte zurück. »Wenn du es weißt, weißes die Nachbarin rechts unten quer, und de-ren Nichte arbeitet für die Impostoren. Dannweiß es in einer Stunde der Zofer vonUquart, und der wiederum gehört zum inne-ren Kreis der Brüter.«

Sie gab sich geschlagen, murmelte etwasvon Krautblätterumschlägen und trollte sich.

Genterandy vervollständigte seine Kon-struktion. Anschließend klopfte er an. Diezuständigen Techniker wussten Bescheid,die Erlaubnis des Hauswarts lag vor. DasPotista reagierte. Es öffnete einen Spalt inder Wand, aus dem neues Material hervor-quoll. Genterandy justierte das Rohr, damitdas Material in die Maschine rutschte undnicht daneben fiel. »Und los!«

Ein klein wenig Unsicherheit befiel ihn.Die Maschine hatte keinen Probelauf absol-viert, sonst wäre sie kein Geheimnis mehrgewesen und das Ergebnis an diesem Tagkeine Überraschung. Er ging ein wenig zurSeite, lauschte nach den Gesängen, die inden Häusern und Nestern erklangen, sich ab-wechselnde von oben nach unten und untennach oben durch die ganze Stadt fortsetzten.

Sechs Stunden noch blieben bis zum Mit-tag, dann fand die feierliche Zeremonie statt.Davor begleiteten die Brüter den hoffnungs-vollsten ihrer Kollegen durch die Stadt.»Ping!«, machte es hinter GenterandysRücken. Er fuhr herum. Im Rohr klaffte einLoch, aus dem Potista quoll.

Genterandy flatterte vor Schreck mit denStummelflügeln. Er beugte sich über dasRohr, untersuchte die Stelle genau. Ein Ma-terialschaden war das nicht. Das Rohr warungleichmäßig gerissen und nach innen ge-dellt. Ein scharfer Gegenstand. Er wandtelangsam den Kopf, ging drei Schritte zurückund tat, als sei nichts geschehen. Blitz-schnell streckte er den Arm aus, ehe das Un-geheuer auf der Fensterbank reagieren konn-

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te. Er packte den Dhedeen und hielt ihn sichvors Gesicht.

»Glaube nicht, du kannst mich mit dei-nem Unschuldsgesicht täuschen. Das Lochhast du gemacht. Verdammt schnell bist duja, aber sonst?«

Er stopfte den Dhedeen in die Tasche undverschloss sie. In seinem Handwerkszeugfand sich zum Glück eine Blechschere, mitder er die scharfkantigen Teile nach außenbog und abschnitt. Anschließend versiegelteer das Leck mit Potista. Ein leiser Gongstellte das Signal der Maschine an ihn dar.Es ging los.

Genterandy konnte es kaum erwarten. Biszum Mittag würde das Werk vollendet sein.

*

Die Stadt hatte sich herausgeputzt. DieFarbbeimengungen des Potistas leuchtetenin diesen Tagen besonders frisch und kräf-tig, ein Zeichen, dass die Organisatoren desRegenerationskomitees ganze Arbeit gelei-stet hatten. Darüber hinaus schmückten dieAspoghies ihre Stadt für die feierliche Pro-zession.

Genterandy ließ sich von der Stimmungmitreißen. Überall hüpften und hoppeltenAspoghies in Richtung des Horstes, an des-sen Fuß die Prozession begann. Im Horstselbst blieb alles leer, wie es Brauch war.Erst mit der Wahl des neuen Obersten Brü-ters kehrte das Leben in ihn zurück und mitihm die Eier.

Erste Sprechchöre hallten durch die Stadt.»Tuxit, Tuxit!«

Schon lange eilte ihm der Ruf eines derfähigsten Brüter voraus. Seine Jugend stelltekein Hindernis dar, seit sich drei Viertel al-ler Brüter hinter ihn gestellt und ihn emp-fohlen hatten. Der Wahlvorschlag ging je-doch nicht von den Brütern aus, sondernvom Mob und von den Impostoren, die denWillen des Volkes repräsentierten. Mit demNamen Tuxit verband sich der Glaube an ei-ne ganze Generation, die Aufbruch zu neuenUfern und Ausbruch aus den festgefahrenen

Gedankenhäusern bedeutete. Seit vielenhundert Tagen gab es keinen einzigen As-poghie mehr, der sich nicht von dieser Stim-mung anstecken ließ.

Der fähigste Brüter sollte Lenker werden,nicht der listigste. Damit kehrte das Ritualdes Flammenstaubs zu seinen Wurzeln zu-rück, von denen es sich im Lauf vieler Jahr-tausende entfernt und wieder angenäherthatte, ein ewiges Hin und Her. Den Rhoarxihatte es augenscheinlich gut getan, denn ihrVolk existierte noch immer, verteilt auf diedrei Städte in der Intrawelt. Es hieß, dassAspoghie die wunderbarste von allen warund ihre Bewohner die gesündesten. Gente-randy fieberte auf dieser Welle mit, dachtewie alle anderen und jubelte wie jeder.Selbst die Brüter, die anfangs Vorbehaltegegenüber Tuxit geäußert hatten, stimmtenjetzt für ihn.

Ob das tatsächlich stimmte, wusste Gente-randy nicht. Es interessierte ihn auch nichtbesonders. Er lauschte den Strömungen undStimmungen in der Stadt, fing ein wenig da-von für sich selbst ein. Es machte ihn stark,es brachte ihn voran, während hinter seinemRücken die Maschine ein wundervollesWerk zu formen begann. An vier verschie-denen Ecken fing es an, zog die Grundlinienund schickte anschließend die Seitenlinienhinaus zur zentralen Spitze. Ein ums andereMal erlebte Genterandy mit, welche vielfäl-tigen Eigenschaften das Potista besaß. DieLinien wurden zu Kanten, als sich zwischenihnen die flachen Seitenschrägen bildeten.Im Innern entstanden gleichzeitig Kammernund Räume, ein großer Stufensaal im Zen-trum mit Lichtschächten, die senkrecht zurNeigung der Außenwände verliefen.

Ein paar Passanten warfen ihm erstaunteBlicke zu, nahmen ihn in ihre Mitte und zo-gen ihn mit sich zur großen Prachtstraße un-terhalb des Horstes. Von dort sah er, wiesich die Prozession aufstellte und die Him-melswagen in Position fuhren.

Spannende Erwartung durchströmte dieStadt und ließ niemanden aus. Zuversichtund Zuneigung gesellten sich dazu, die Be-

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reitschaft zum Dienen für alle und der festeWille, die Stadt einer besseren Zukunft ent-gegenzuführen. Das war Tuxit, der jungeHeld! Genterandy sah ihn nur von weitem,als er seinen Himmelswagen bestieg, einGefährt aus dünnen Leisten und Papier aufeiner unsichtbaren Antigravplattform. Umihn herum schwebten die Brüter in hellblau-en Gewändern mit goldenen Stickereien,ebenfalls auf unsichtbaren Plattformen, sodass es aussah, als würden sie mit ihrenprächtig geschmückten Flügeln frei in derLuft schweben.

Genterandy verfolgte die Prozession, bissie außerhalb der Stadt aus seinem Blickfeldgeriet. Für die Aspoghies war es das Signal,das Fest zu beginnen.

Von einem Augenblick auf den nächstenverwandelten sich die Straßen in wogendeSeen. Das Leben brodelte über Stunden, bisdie Beobachter auf den Türmen die Rück-kehr der Prozession meldeten. Die Nachrichtvom Erfolg eilte ihr voraus und trieb die As-poghies an die Stadtmauer. Ein wenig stöhn-te und ächzte die Stadt unter der einseitigenGewichtsverlagerung. »Die Kathedrale hatsich für ihn geöffnet«, eilte die Botschaftdurch die Stadt. »Die Brüter haben Tuxit mitdem Flammenstaub gefüttert. Er ist am Le-ben!«

Wie aus dem Nichts stand plötzlich Tem-metilli neben Genterandy. »Ich habe esschon immer gewusst«, trillerte sie. »Tuxitist unsere Zukunft!«

Sie sahen ihn schon von weitem. Erschwebte vor der Prozession her, und er trugden roten Mantel des Flammenstaubs mitden silbernen Schnüren. Obwohl das Ge-wand seinen Körper verdeckte, erkannten siedie Selbstsicherheit und den Glauben an dieZukunft, die er verströmte.

»Ja, Tuxit ist unsere Zukunft«, wiederhol-te Temmetilli. »Unter seinem Patronat wer-den wir großartige Monumente schaffen. Ei-ne Zeit strahlender Bautätigkeit wird anbre-chen. Wer weiß, vielleicht vollenden wir dieIntrawelt frühzeitig. Dazu brauchen wirFrieden und Harmonie mit den beiden ande-

ren Städten. Tuxit wird das schaffen. Ichspüre seine positive Ausstrahlung bis hier-her.«

Gemeinsam beobachteten sie, wie dieProzession der Würdenträger im Triumph-zug in die Stadt zurückkehrte. Manche As-poghies warteten weit draußen vor den Mau-ern, schwebten in der Luft oder bildeten far-bige Bilder am Boden der Parzelle. In derZwischenzeit wanderte Aspoghie unbeirrtweiter, langsam allerdings, denn ihr Wegführte zur Feier des Tages über grünes Gras-land.

»Herrliche Zeiten brechen an!«, schwärm-te die Rhoarxi.

Genterandy verabschiedete sich. »Du sag-test etwas von Monumenten. Unser neuerOberster Brüter wird jetzt die Geschenkeentgegennehmen.«

Schon von weitem sah er die aufgeregtenGesten seiner Landsleute auf dem Vorplatz.Er rannte los, verwundert und noch immerim Glauben an seine Maschine. Sie funktio-nierte tadellos, das hatte er selbst erlebt. Vonder Pyramide, die er gebaut hatte, war je-doch nur ein hässlicher Haufen Klumpen üb-rig. Der Dhedeen flatterte hektisch daranherum und hackte immer wieder Stücke her-aus.

Genterandy griff an die Tasche, spürte dasLoch im Stoff. Hastig drängte er sich durchdie Menge. Er wartete, bis das Kunstge-schöpf in seine Nähe kam. Wieder packte eres, aber dieses Mal ließ er keine Gnade wal-ten. Er zerquetschte das Ding zwischen sei-nen Krallen, bis Rauch aufstieg. Es dauertenicht lange, bis zwei Techniker des Ent-wicklungslabors auftauchten.

»Den Schaden wirst du uns ersetzen!«,schimpften sie.

Er führte ihnen sein zerstörtes Bauwerkvor. »Den Schaden werdet ihr mir ersetzen.Und wenn die Maschine nicht mehr funktio-niert, könnt ihr das sowieso nicht wiedergut-machen.«

Er baute sie ab, verstaute alles in seinemWagen und fuhr nach Hause. Den Rhoarxivon der Prozessionsleitung trug er auf, den

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Platz mit der zerstörten Pyramide bessernicht zu besuchen.

Als Temmetilli am nächsten Morgenheimkam, saß er immer noch da und starrteLöcher in die Wand. »Hoffentlich ist es keinschlechtes Omen!«

Sie nahm ihn in den Arm. »Ich habe aufdem Heimweg mit zwei Technikern gespro-chen. Der neue Prototyp taugt nichts, er istsogar gefährlich. Es wird vorläufig keinenweiteren geben.«

Stillstand statt Fortschritt, war es das, wassie erwartete?

Nein! Jetzt, da Tuxit Oberster Brüter warund die emotionalen Geschicke der Stadtlenkte, gehörten solche Rückschläge baldder Vergangenheit an.

6.Fäden der Heimkehr

»Nennt mich Plei-ttt-e«, blubberte es ausden Hautfalten. »Plei-ttt-e Ischmail. Will-kommen in ZERB-678!« Der Maulspindlerbesaß einen Sprachfehler, das war klar. Ineiner der Beinklauen hielt er einen Stab, denich für einen Kodegeber hielt. Immer wiederdrückte er das Gerät an verschiedenen Stel-len. Meistens erzeugte er damit eine Reakti-on im Cueromb an Tuxits Arm. Der Rhoarxihatte längst die Kontrolle über die Gondel-station an sich gezogen.

»Hallo, Pleile«, antwortete ich. »Ich hof-fe, wir machen dir nicht zu viel Unannehm-lichkeiten.«

»Annehmlichkeiten – durchaus, immer zuDiensten. Ihr reist zu dritt?«

»Ja«, antwortete der Rhoarxi an meinerStelle. »Bring uns zur nächsten Flachstati-on.«

»Das ist kein Problem.« Der Maulspindlerspreizte die Beine und ließ seinen Unterleibfallen. Es schmatzte, als er den eisigen Bo-den vor der Station berührte. Die Kälte schi-en ihm nichts auszumachen.

Ich musterte Tuxit. Er zog einen Hauchdes Flammenstaubs mit sich, den ich deut-lich spürte.

Er hat Pleile schon mental bearbeitet,überlegte ich. Anders war die Zuvorkom-menheit des Maulspindlers nicht zu erklären.Nur zu gut erinnerte ich mich an Abertack,das maulige Wesen mit seiner Höhenangst.Bei Pleile war es der Sprachfehler.

»Wir brechen auf!«, befahl der Rhoarxi.»Sofort, Herr, ich sause, ich spindle!«Mit einer affenartigen Geschwindigkeit

wetzte der Maulspindler zu seinem Häus-chen zurück. Wir folgten ihm grinsend. Wiealle Gondelstationen in den einzelnen Par-zellen bestand auch diese aus einer Plattformmit einem Wartehäuschen. Die Wahrschein-lichkeit war sehr hoch, dass auch Pleile re-gelmäßig seine Sprechstunden abgehaltenhätte, wenn es denn in dieser Region Fahr-gäste gegeben hätte. So aber hatte er eshöchstens ab und zu mit einem Falschfahrerzu tun, der aus Versehen in eine verkehrteGondel gestiegen war.

Wer einmal nach Frozenhaim kommt, tutes bestimmt nie wieder. Wir warteten, bisPleile die zigarrenförmige Gondel herbeige-schoben hatte. »Gute Fahrt, heile Beförde-rung, glückliche Ankunft …« Sein Gemur-mel von Segenswünschen endete in der un-vermeidlichen Formel: »Euer Fahrer ist Plei-ttt-e.«

Er schloss die Kupplung der Gondel, dannsprang er mit einem gewagten Satz ins Inne-re. Es gab einen leichten Ruck, als das stän-dig durchlaufende Seil die Gondel mit sichriss, über die Plattform hinaus und hoch indie Luft zog. Es ging steil aufwärts. Je höherwir kamen, desto stärker zerrte der Wind ander Gondel. Ich warf einen letzten Blick hin-ab auf die Station und den Sicherheitsgra-ben. Vom blauen Eis der Quallen, die diegesamte Kluft ausgefüllt hatten, war nichtsmehr zu sehen. An manchen Stellen stiegnoch Rauch auf.

»Es ist ausgestanden«, sagte Tuxit, als ermeinen Blick bemerkte. »Die Explosion derAntigravplattform hat das Intelligenzzen-trum der Eisquallen vernichtet, gerade nochrechtzeitig. Sonst hätten sie sich über dieStation hergemacht und sich mit Hilfe der

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Gondel über die gesamte Intrawelt ausge-breitet.«

Eine Schmarotzerintelligenz also! Lang-sam verstand ich die Besorgnis des Rhoarxiin Bezug auf Teph, den Hüter des Eingangszur Intrawelt.

»Atlan!«, jammerte Jolo. »In dieser Gon-del gibt es keine Nahrungsmittel.«

»Ein bedauerlicher Fehler«, surrte Pleile.»Aber da sie so selten benutzt wird, verder-ben die Vorräte nur. Es ist besser, wenn dieGondel auf solche Art von Ausrüstung ver-zichtet.«

Die Zigarre erreichte die Nebelzone. DieOberfläche der Parzelle verschwand hinterdicken Schwaden. Kurze Zeit später tauchtedie Sonne des riesigen Kunstgebildes auf,fern im Zentrum der eine Lichtsekundedurchmessenden Kugel.

Ich versuchte unsere Höhe über der Ober-fläche zu bestimmen und schätzte sie auf un-gefähr dreißig Kilometer. Auf einem her-kömmlichen Planeten wäre es hier oben eis-kalt gewesen, die Luft längst zu dünn zumAtmen. Nicht so in der Intrawelt. Unabhän-gig von der Höhe herrschten hier ein identi-scher Luftdruck und eine einheitliche Tem-peratur, die je nach Wolken oder Sonnehöchstens um ein paar Grad schwankte. Undwir konnten mit offenem Fenster fahren wieweiland die Helden des terranischen Schrift-stellers Jules Verne, die auf dem Flug zumMond unterwegs das Fenster geöffnet hat-ten, um ihr Flugziel besser sehen zu können.

In dieser von Gleichmäßigkeit erfülltenWelt oberhalb der Parzellen mit ihren unter-schiedlichen Klimazonen fiel es schwer,Entfernungen zu messen oder gar die verstri-chene Zeit. Ich musste mich auf Schätzun-gen verlassen und auf die Erkenntnisse mei-nes Extrasinns. In einer Welt wie diesermachte er sich endlich einmal bezahlt.

Als nach ungefähr drei Stunden die Flach-station in Sicht kam, betrug unser Abstandzur Oberfläche ungefähr 450 Kilometer. DerMaulspindler hatte die ganze Zeit reglos ver-harrt, in Richtung des Rhoarxi mit geduck-tem Körper und dreifach eingeknickten Bei-

nen. Vermutlich handelte es sich um ein an-gezüchtetes Verhalten oder eine Art Urin-stinkt, der nach Hunderttausenden von Jah-ren noch immer wirkte.

Endlich kehrte das Leben in unserenChauffeur zurück. Er ließ ein Krächzen hö-ren. »Habt ihr das leichte Rucken des Zug-seils bemerkt? Sie sehen uns und geben unszu verstehen, dass sie in LOB-78 auf unsereAnkunft warten.«

Unsere Gondel verlangsamte. Pleile be-wegte sich unruhig hin und her. Er benutztewieder seinen Stab, aber der gab lediglichein schrilles Pfeifen von sich.

Wenn jetzt das Seil reißt …Narr! Du mit deiner ewigen Schwarzsehe-

rei, sagte der Extrasinn. Wir sind doch nichtauf Terra!

Ein heftiger Ruck ging durch die Gondel.Wir spürten starken Zug am Seil. Doppelt soschnell wie bei unserer bisherigen Fahrt be-wegten wir uns auf die Flachstation zu. Erstkurz davor bremsten die Maschinen der Sta-tion wieder ab. Im Unterschied zu den Seil-bahnen auf Terra befanden sich die Seilwin-den in den Bergstationen. Der Vergleichhinkte allerdings, denn in der Intraweltdienten die Flachstationen ihrerseits als Tal-stationen für die Hochstationen draußen imLeerraum.

Ein Dreiebenensystem sozusagen, beidem aus Gründen des Kraft- und Energie-aufwands die Antriebsaggregate in der Mittelagen.

Unsere Gondel schwebte in die Gondel-kammer. Mechanische Greifer klinkten sieaus. Tuxit öffnete die Tür.

»Folgt mir!«, krächzte er. »Beeilt euch!«Pleile blieb zurück. Er verharrte selbst

dann noch in gebückter Haltung, als derRhoarxi längst außer Sichtweite war.

LOB-78 platzte schier vor Leben. DasGewimmel in der Flachstation verhindertejede Übersicht. Ich schätzte, dass hier min-destens vier Dutzend Gondelwege zusam-menführten. Wir bemerkten ein DutzendFlachwärter, die in dem Gedränge nicht vielausrichteten. Sie bewachten einen einzigen

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Zugang. Vermutlich führte er zu den Ma-schinenräumen der Station.

Tuxit arbeitete mit dem Cueromb. Zwei-mal wechselte er die Richtung, dann schiensein Kompass endlich gefunden zu haben,was der Rhoarxi suchte. Wir durchquertendie halbe Flachstation, hasteten unter denhektischen Blicken von Drieten, Anstizenund Angehörigen anderer Spezies eine Ram-pe empor.

Irgendwo gellte eine schrille Stimme auf.Sie schrie etwas von einem Gründer. DieMenge erstarrte, als habe jemand die Zeitangehalten. Dann schauten alle in unsereRichtung.

Ich schloss hastig zu Tuxit auf. »Damitbist du gemeint!«

Er musterte mich aus seinem rechten Au-ge, ohne etwas zu sagen. Ein einziges Malschnaufte er lauter. Mehr Kommentar zumeiner Frage schien ihm unnötig. Stattdes-sen schritt er schneller aus, fing an zu ren-nen. Die Gondel wackelte, als er hinein-sprang. Wir schafften es gerade noch durchdie sich schließende Tür.

»Macht euch auf einen längeren Aufstieggefasst«, verkündete der Rhoarxi nach einerWeile. »Unser nächstes Ziel ist HochstationOB-66.«

*

Unter anderen Umständen hätte ich michnicht solcherart in Geduld geübt. Ich hätteTuxit im übertragenen Sinne Daumen-schrauben angelegt. So aber musste ich war-ten. Es war mein eigener Fehler gewesen,ihm das Cueromb zu geben, das ich aus Peo-nus Hütte entwendet hatte. Mit dem Geräthatte ich ihn vermutlich unangreifbar ge-macht.

Der Gedanke an Peonu erinnerte michdaran, dass es zwischen dem Seelenhorterund mir eine unterschwellige Verbindunggab. Er hatte mir ein Stück meiner Seele ent-wendet.

Seit drei Stunden saß ich in einer Ecke derGondel. In Gedanken kaute ich Dutzende

von Möglichkeiten durch, wie ich denRhoarxi doch noch aus der Reserve lockenkonnte. Schlussendlich sah ich ein, dass ichviel zu wenig über dieses Volk und seineMachtmittel wusste, um sinnvoll agieren zukönnen. Folglich beschränkte ich mich aufsBeobachten.

Tuxit machte es mir verdammt schwer. Erging räumlich auf Distanz. Bis zur Begeg-nung mit Kartnich im Hospiz und seinerEnttarnung war er immer ganz nahe bei mirgewesen, ein Schatten und ein Freund. Sohatte ich gedacht. Inzwischen glaubte ich,dass er nur auf eine Möglichkeit gelauerthatte, mir den Leatherman zu entwenden,dieses Cueromb, das einst einem Rhoarxigehört hatte. Tuxit beanspruchte es jetzt fürsich.

Sollte ich mich so gründlich in diesemWesen getäuscht haben?

So bist du eben!, machte mir der Extra-sinn begreiflich. An der falschen Stelle ver-trauensselig und auch noch an der falschenStelle misstrauisch.

Und Lebenserfahrung habe ich sowiesokeine, nicht wahr?

Manchmal lässt sie zu wünschen übrig.Jetzt zum Beispiel. Du willst mit deinenBlicken vermutlich Löcher in den Rhoarxibohren, bis er tot umfällt und du das Cuer-omb zurückholen kannst. Richte deine Auf-merksamkeit lieber auf deinen kleinenFreund.

Seit unserer Ankunft in LOB-78 hatte Jo-lo kein einziges Wort mehr gesprochen.Selbst der Hunger schien ihm vergangen zusein, seit er die Vorräte der Gondel bis aufden letzten Chlorophyllriegel verputzt hatte.

Ich musterte den Gefährten unauffällig.Das einen Meter große Wesen stand an ei-nem der Fenster, aber es blickte weder nachoben noch nach unten. Es sah überhauptnicht zum Fenster hinaus. Es hielt die Nick-häute über die Augäpfel gezogen. Ich sah,dass seine Nüstern bebten. Die Schuppen amHinterkopf und im Nacken öffneten undschlossen sich, als atme er mit ihnen. Amdeutlichsten sah ich es an seinen Händen. Er

26 Arndt Ellmer

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hielt die linke Tatze in der rechten und riebsie unaufhörlich aneinander. Es entstand einleises, mahlendes Geräusch. Nur seine Füßestanden unbeweglich auf einem Fleck.

Eine halbe Stunde lang sah ich ihm zu.Dann stand ich auf und trat neben ihn. »Duhast etwas gegessen, was dir nicht bekom-men ist.«

Er maß mich erstaunt. »Mir geht es gut.Langsam bekomme ich wieder Hunger.«

»Dann hast du dich vielleicht überfres-sen.«

»Aber Atlan, du weißt doch, dass dasnicht möglich ist. Meine Verdauung funktio-niert bestens.«

Es stimmte nicht, und er wusste es ebensogut wie ich. Jolo besaß einen nervösen Ma-gen, was für einen Echsenabkömmling wieihn wiederum erstaunlich war.

Oder auch nicht.Ich deutete auf das offene Fenster. »Falls

du dich übergeben musst …«Er tat es nicht, und er litt auch nicht unter

Magenkrämpfen. In seinem Gedärmgluckerte es kein bisschen. Das Essen ausden Wandboxen der Gondel schien für ihnwie geschaffen.

Was aber war es dann? Höhenkoller? Indiesem Fall hielt ich es für das Beste, dasFenster zu schließen und die Türsicherungeinzurasten. Ein Sprung aus der Gondel waraus dieser Höhe sicher ein unglaubliches Er-lebnis, aber eben auch das letzte.

Von diesem Augenblick an behielt ichbeide im Auge, die kleine Echse und denwuchtigen Rhoarxi. Tuxit ließ sich nichtsanmerken, aber ich spürte, wie es in ihm ar-beitete. Seine Andeutungen ließen auf keinebesonders angenehmen Erinnerungen an sei-ne Heimat schließen. Dass er den Rückwegdennoch wagte, hing wohl damit zusammen,dass es in der Intrawelt Fehlentwicklungengab. Allein mit der Macht des Flammen-staubs konnte er die Völker in den Parzellenbeeindrucken.

»Ich sehe die Hochstation!«, verkündeteJolo. »Wir sind gleich da!«

Ein deutlich wahrnehmbares Knacksen er-

klang, als habe jemand einen mechanischenSchalter betätigt. Augenblicke später wurdees dunkel. Die Konstrukteure der Intraweltwaren vorausschauende Leute gewesen. Inihrem Bemühen, gleiche Lebensbedingun-gen für alle Teile der Biosphäre zu schaffen,hatten sie ein Hohlmaß gewählt, bei demLicht und Wärme gleichzeitig und innerhalbeiner einzigen Sekunde auftrafen.

Gleichzeitig mit der Dunkelheit gingen inder Hochstation die Lichter an. Das Gebildeverwandelte sich in ein Ungeheuer mit Tau-senden winziger Augen, das dort oben amFirmament hing und gierig auf seine Beutewartete, die den Faden entlangkroch.

Obwohl wir sie schon deutlich über unssahen, dauerte es noch eine ganze Stunde,bis wir in die Hochstation einfuhren.

»Lass uns in ein Restaurant gehen«, sagteJolo. Es klang weder lustig noch gierig, eherunbeteiligt, als sage er es nur, weil man esvon ihm erwartete. »Ich habe einen gewalti-gen Hunger.«

»Wir haben keine Zeit zum Aufenthalt.«Tuxit verkündete es und übte mit der Machtdes Flammenstaubs Druck auf mein Be-wusstsein aus. Jolo schien nichts zu spüren,aber dennoch führte ich seinen schlechtenZustand auf die negative Ausstrahlung desRhoarxi zurück.

OB-66 empfing uns vorbereitet. Von,LOB-78 aus hatte man die Hochwärter of-fenbar vorgewarnt. Zwei von ihnen empfin-gen uns im Durchgang zur großen Halle. Sielagen am Boden, im Staub, und sie wagtenes nicht, Tuxit anzusprechen.

Der Rhoarxi entfaltete seine Macht. Wie-der funkelte und glitzerte es über seinemKörper, verströmte sein Bewusstsein jeneKraft, die den Maulspindlern in die geneti-sche Wiege gelegt schien. Sie erkannten ihnsofort als unumschränkten Befehlshaber an.Hätte er es verlangt, hätten sie sich aus derStation in die Tiefe gestürzt oder sich gegen-seitig aufgefressen oder …

Du fantasierst! Die eindringlichen Wortedes Extrasinns ließen mich zusammen-zucken. Versuche, dich besser gegen die

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mentalen Einflüsse abzuschirmen! Wenn dasso einfach gewesen wäre. Ich presste dieLippen zusammen, bemühte mich um einenbetont lässigen Gang und versuchte mich in-nerlich zu entspannen. Beinahe wäre ich ge-gen Tuxit geprallt, der plötzlich stehen bliebund in die durchsichtige Röhre mitten in derPublikumshalle spähte. Dahinter führte einSeil senkrecht nach oben.

Das musste einer der Ultrafäden sein, vondenen ich schon gehört hatte, die weiter hin-aufführten Richtung Zentrum der Hohlku-gel.

Tuxit musterte den Strang mehrere Minu-ten lang. Als er sich schließlich abwandte,übermittelte sein Flammenstaub mir ein Ge-fühl der Sehnsucht.

»Später könnte es nötig werden, einen derUltrafäden zu benutzen«, sagte er wie imSelbstgespräch, aber voller Aufmerksam-keit, ob ich es auch hörte.

Er ging zwischen kauernden Maulspind-lern und vor Ehrfurcht trocknenden Drietenhindurch zu einer der Türen auf der unterenEbene. Wir schlichen hinterher und wusstennicht so recht, ob wir Gefolge darstellenoder besser nicht dazugehören wollten.

Wir nahmen die Gondel zu einer benach-barten Hochstation. Draußen war es inzwi-schen vollständig dunkel geworden. Es kühl-te deutlich ab, in einer Höhe von ungefähr20.000 Kilometern über dem Boden keinWunder, in der Intrawelt aber künstlich er-zeugt.

Jolo sagte plötzlich: »Wir nähern uns denRegionen der Angst und des Untergangs.Noch können wir umkehren.«

Ich hatte keine Ahnung, woher er seineWeisheit bezog. Aber über eines war ich mirabsolut im Klaren. Umkehren wäre jetzt diegrößte Dummheit gewesen. Dann hätte ichgleich in Dwingeloo bleiben und mir zusam-men mit Kythara ein paar schöne Tage ma-chen können.

Nein, um feige zu sein, hatte ich nicht solange gelebt. Feigheit zählte zu den Dingenim Universum, die ich verabscheute. Zumin-dest, was meine Person betraf.

7.Vergangenheit: bis zum Schandtag

Brüter Uquart empfand aufrichtige Freudeüber den neuen Mentor und Lenker derStadt. Er hatte zu den Kritikern Tuxits ge-hört, sich aber von dessen Fähigkeiten über-zeugen lassen.

Dennoch, ein kleiner Rest Skepsis blieb,nicht gegenüber Tuxit als Rhoarxi, sondernwegen seiner Jugend. Es fehlte ihm die Er-fahrung. Fünfzig Jahre Brüter unter einemLenker und Hüter wie Sferabad reichtennach Uquarts Meinung nicht aus.

Aber auch hier täuschte er sich. Das Poti-sta blühte unter Tuxits Betreuung regelrechtauf. Die Stadt wuchs um ein Drittel an, stell-te neue Flächen für Häuser und Paläste zurVerfügung, was unter anderen Umständeneinem Raubbau am Potista selbst gleichge-kommen wäre.

Es war Tuxits Verdienst, dass AspoghieParzellen mit übergroßem Siliziumanteilentdeckt hatte. Die Stadt schwelgte in denLeckereien. Um nicht zu dick zu werden,ließ Tuxit sie mit Höchstgeschwindigkeitdurch die Landschaft rasen.

Überhaupt schien in diesen neuen Zeitenalles schneller von der Kralle zu laufen.Uquart merkte es an sich selbst. Dinge, fürdie er früher einen ganzen Tag benötigt hat-te, schaffte er jetzt in einem halben.

Sie hatten es einzig und allein Tuxit zuverdanken. Kein anderer außer ihm hätte dasgeschafft. Der Oberste Brüter dankte seinemVolk durch höchstmöglichen Einsatz undavancierte dadurch nicht nur zum Helden ei-ner ganzen Generation, sondern zu dem allerRhoarxi. Gesandtschaften der beiden ande-ren Städte nahmen die mühsame Reise überdas Gondelsystem auf sich, um aus weit ent-fernt liegenden Parzellen der Intrawelt nachAspoghie zu gelangen und Verträge für neueBündnisse zu unterbreiten.

Tuxit unterschrieb sie, nachdem er sie mitallen Brütern, Impostoren und Mobs nächte-lang durchdiskutiert hatte. Uquart bewun-

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derte ihn, weil er seine emotionale Überzeu-gungskraft bewusst bremste, damit jederVolksvertreter seine eigene Meinung äußernkonnte.

Spätestens jetzt war Uquart endgültigüberzeugt, dass sie mit Tuxit die richtigeWahl getroffen hatten. Und er war jung. Siewürden ein langes Patronat erleben.

Brüter Uquart machte sich auf den Wegzum Horst. Er wollte Tuxit um eine Audienzbitten und ihm Tag und Nacht seine Unter-stützung anbieten. Zwar war es spät, dieKunstsonne schien schon lange nicht mehr,aber das spielte für jemanden wie Tuxit kei-ne Rolle. Der Oberste Brüter arbeitete Tagund Nacht.

Uquart verließ sein Heim und schrittdurch die Gassen. Auf halbem Weg zumHorst blieb einer seiner Füße hängen.Uquart stürzte, kein Problem bei den vielfäl-tigen Eigenschaften des Potistas. Uquart fielsanft. Er rollte sich auf den Bauch und besahsich das Hindernis. Es handelte sich um Po-tista, eine Gewebewucherung offensichtlich,die an dieser Stelle nichts zu suchen hatte.

Uquarts eigene Fähigkeiten reichten aus,das Hindernis durch Einflussnahme auf dasPotista zu beseitigen. Die Wucherung ent-schwand nach unten und würde sich in we-nigen Stunden als kleines Häufchen auf derSpur der Stadt wiederfinden.

Brüter Uquart setzte seinen Weg fort. Erlauschte auf die positiven Schwingungen,die die Stadt durchdrangen. Uquart empfandsie als nicht so intensiv wie noch vor Stun-den. Tuxit war offenbar schon schlafen ge-gangen.

Der Brüter wollte umkehren, aber dannentschied er sich doch dagegen. Gemächli-chen Schrittes legte er den Rest des Wegeszurück und klopfte beim Pförtner an.

»Nein«, beschied man ihm, »Tuxit arbei-tet noch.«

Uquart trug seine Bitte vor. Der Pförtnerfragte nach, dann verriet das Klimpern einesSchlüsselbunds, dass er die altertümlicheTür öffnen würde. Er ließ Uquart ein, unddieser stieg drei Etagen empor bis in das Ar-

beitszimmer des Obersten Brüters.Tuxit saß zwischen mehreren Kissen. Er

sichtete Baupläne, machte sich Notizen unddiktierte nebenbei noch den Text für eineRede, die er zur Einweihung von Neubautenhalten wollte.

Uquart fand, dass Tuxit schlecht aussah,der Schnabel grauorange, das Gefieder ge-lichtet, die Krallen stumpf, gerade so, als lit-te er unter einer Krankheit.

Vielleicht liegt es am Flammenstaub,überlegte er. Vereinzelt war es in den Jahr-hunderttausenden wohl vorgekommen, dasein Rhoarxi ihn auf Dauer nicht vertrug.

Aber Tuxit?»Du mutest dir zu viel zu in deinem ju-

gendlichen Ungestüm«, sagte er mit wohl-wollendem Unterton. »Nimm das als Rat ei-nes Älteren und bitte nicht als Kritik.«

»Uquart, ich weiß wohl, wie es um michbestellt ist. Ich nehme deinen Rat dankendan. Ab morgen arbeite ich nicht mehr so lan-ge und suche abends mein Nest früher auf.«

Von seiner Familie sprach er nicht, wie eres früher gern getan hatte. Uquart ließ sichnichts anmerken. Er brachte sein Lob an undverabschiedete sich. Draußen wählte ereinen Umweg nach Hause. Von der Pracht-straße aus hatte er das Arbeitszimmer Tuxitsnoch lange im Blick. Das Licht dort gingnoch lange nicht aus.

Es brannte die ganze Nacht.Uquart beschloss, in Zukunft genauer auf

den Obersten Brüter zu achten.

*

Auf dem Weg in die Statistikkonferenzbegegnete Uquart mehreren Dutzend Rhoar-xi. Sie erwiderten seinen Gruß nicht, gingeneinfach vorüber, als sei er Luft für sie. Ir-gendwann wurde es ihm zu bunt.

»He!«, rief er. »Schlaft ihr am helllichtenTag?«

Sie erschraken, fanden mühsam I: Worte,um sich zu entschuldigen. Diese Rhoarxisind deprimiert, erkannte er. Es war einschlechtes Zeichen, und es bestätigte das,

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was er in den letzten Tagen selbst empfand.Die positiven Schwingungen des OberstenBrüters wurden immer schwächer. Anfangshatten sie es nur ab und zu gespürt und aufdie Unerfahrenheit ihres Obersten Brütersgeschoben. Jetzt aber wurde es offensicht-lich.

Impostor Velentain hätte die Statistik amliebsten gar nicht verlesen. Die Produktivitätder Aspoghies war um fünfzehn Prozent ge-sunken, ihre Kreativität um das Doppelte.Hochgerechnet würden beide Werte schonin wenigen Tagen ihr altes Level vor demAmtsantritt Tuxits erreicht haben.

Uquart erhob seine Stimme, wundertesich über ihr Schwanken, das ihn zusätzlichverunsicherte. »Wir sollten uns über eineKrankheit des Obersten Brüters Gedankenmachen, über eine Unverträglichkeit desFlammenstaubs vielleicht.«

Sie nahmen es mit offenen Schnäbeln zurKenntnis, und Uquart fühlte sich hinterherelend. Er beabsichtigte alles andere, nur kei-ne Palastrevolution. Es ging ihm um die Ge-sundheit Tuxits, nicht um seinen Sturz oderSchlimmeres. Er verließ die Konferenz vor-zeitig und hastete durch die Straßen, alskönnte er durch sein Tempo die verlorenenSchwingungen einholen.

Er entdeckte Rhoarxi-Künstler, die ratlosvor misslungenen Werken standen. Einerverlor vollends die Fassung, er zerstörte dasStandbild, das er in mühevoller Arbeit inzwanzig Tagen geschaffen hatte. Zornigstapfte er davon, trat die Tür seines Hausesein und schleuderte die Trümmer auf dieStraße.

»Reiß dich zusammen!«, rief Uquart ihmhinterher. »Du hättest mich verletzen kön-nen!«

Der Rhoarxi streckte den Kopf ins Freie.»Selbst schuld. Was suchst du auch hier?«

Schockiert suchte Uquart das Weite. Errannte heim in seine Ruhekammer, lauschteauf die Schwingungen in der Stadt. Er sam-melte sie, entdeckte dabei die Ballungen ne-gativer Energie, die sich in seinem Bewusst-sein zu einer mannshohen Kugel manife-

stierten. Uquart sah sie über die Prachtstraßerollen, und sie wuchs und wurde immerschneller. Gleichzeitig neigte sich die Straßeimmer mehr nach unten, verlor der Unter-grund Potista-Substanz, als würde jemandsie wegschmelzen.

Uquart rief seinen Botengänger. »GibAlarm! Die Stadt verändert sich.«

»Die Rhoarxi tun es auch!«, lautete dieAntwort.

Der Mann rannte davon, schlug laut denGong in den Straßen. Tuxit im Horst konntees nicht überhören.

Uquart hatte es plötzlich sehr eilig. Seitseinem Besuch im Hort waren gerade malfünf Tage vergangen. Tuxits Lebenswandelhatte sich seither nicht verändert. Er verbar-rikadierte sich im Turm, ließ niemandenmehr zu sich.

In den Straßen drängten sich Rhoarxi.Uquart fand kein Durchkommen. Er wichauf Seitengassen aus, entdeckte grobporigeWände mit ausfällender Farbe, Zeichenschlampiger Arbeit. An anderen Stellen fehl-te der Feinschliff von Wänden, und im Bo-denbelag der Gassen wucherte das Potista,als sei es von einer unheilbaren Krankheitbefallen.

Lautes Geschrei ließ den Brüter schnellergehen. Er bog um eine Ecke und blieb ste-hen, als sei er gegen eine unsichtbare Mauergerannt. Mehrere Rhoarxi stritten sich imZorn. Ein Wort gab das andere, dann prügel-ten sie mit ihren Krallen aufeinander ein.Uquart warf sich dazwischen. Die Rhoarxiänderten ihre Meinung sofort und wandtensich gemeinsam gegen ihn. Er musste Fe-dern lassen, bis er sich endlich befreit und inSicherheit gebracht hatte.

»So etwas hat es in Aspoghie selten gege-ben«, krächzte er. In Gedanken suchte ernach einer Lösung, aber die Bilder der Stadt,die seine Augen wahrnahmen, stimmten im-mer weniger mit denen überein, die er ausder Vergangenheit kannte. Er entdeckteScharen von Rhoarxi auf der Flucht, es mus-sten Hunderte sein. Er rief ihnen hinterher,bat um Auskunft, aber sie hörten ihn nicht.

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Uquart kehrte um. Egal wie, er mussteden Obersten Brüter sprechen.

Das Cueromb an seinem Arm piepste. Erschaltete es ein und hörte die rasselndeStimme eines Impostoren. »… vermutlichein Sturm auf das Verwaltungszentrum. DieWände und der Boden wackeln. Wir evaku-ieren.«

Uquart bekam es mit der Angst zu tun.Mühsam rang er die negativen Empfindun-gen in seinem Innern nieder. Er wählte eineVerbindung mit dem Konferenzzentrum.»Kämpft dagegen an, es ist möglich. Ichschaffe es – noch.«

»Uquart!« Das war die Stimme von Pa-genhay, einem Mob. »Wo bist du?«

»Auf dem Weg zum Horst. Ich hole Tuxitda heraus!«

»Eine Abordnung von uns ist unterwegs.Du wirst sie treffen.«

Der Brüter hastete weiter. Aus dem Cuer-omb drangen Meldungen aus verschiedenenTeilen der Stadt. Eine davon rüttelte Uquartendgültig auf. Genterandy war freiwillig insPotista gegangen, weil er sich die Schuld anden ganzen negativen Strömungen gab. Mitdem Prototyp einer neuen Dhedeen-Baurei-he hatte alles angefangen.

»Welch ein Unsinn!«, schimpfte Uquartund schlug gegen die Hauswand neben sich.»Es sind allein die Schwingungen des Ober-sten Brüters, die das alles verursachen.«

Genterandy nützte, es nichts mehr. Er hat-te bereits Selbstmord begangen, und das Po-tista schied ihn aus, eingebacken in totesMaterial, das nicht mehr konjugieren konn-te.

Uquart kreuzte den Weg der Abordnung.Gemeinsam schafften sie es, sich eine Gassebis zum Horst zu bahnen. Die Rhoarxi de-monstrierten vor dem Turm. Sie trafen An-stalten, die Tür einzuschlagen. Uquart unddie Abordnung aus Brütern und Mobsdrängte sie zur Seite.

Der Pförtner öffnete ihnen. Er wirkte altund eingefallen, war innerhalb kurzer Zeitum Jahrzehnte gealtert. Nein, er wusstenicht, wieso Tuxit sich nicht rührte. Er hatte

ihn auch nicht weggehen sehen.Uquart konzentrierte sich. Vergebens

suchte er nach den Anzeichen des Flammen-staubs. Er fand sie nicht, und eine Durchsu-chung des Turms bestätigte seine Befürch-tung.

Tuxit war nicht da. Der Oberste Brüterhatte den Horst verlassen. Die positivenSchwingungen, verstärkt durch den Flam-menstaub, fehlten ganz.

Uquart wandte sich an seine Begleiter.»Erzählt es niemandem. Sie werden es frühgenug merken. Tuxit ist entweder tot, oderer hat die Stadt verlassen.«

An der Tragweite seiner Worte zerbracher fast. Er ließ die Abordnung stehen undkehrte auf dem schnellsten Weg in seinHaus zurück.

Was für ein Tag! Uquart hoffte, so einerwürde nie mehr wiederkommen.

8.Unbequemer Gast

Jolo richtete sich so heftig auf, dass icherwachte.

»Was ist?«, flüsterte ich.»Hörst du das?«Ich lauschte. Außer dem leisen Säuseln

des Windes an der Gondelaußenseite ver-nahm ich nichts. »Nein!«

»Da ist jemand oder etwas!«Draußen war es dunkel – die zweite

Nacht, die wir auf den Verbindungsfädenzwischen den Hochstationen reisten. Es gabfür mich zwei Erklärungen, warum Tuxithier oben auf den Fernstrecken blieb. Ent-weder war es ziemlich weit bis zu den Be-hausungen seines Volkes, oder er wolltemöglichst unbemerkt dicht an sein Ziel ge-langen. Ohne Zeugen und ohne eine Nach-richt von seinem Eintreffen, die ihm vor-auseilte.

»Du hast geträumt«, murmelte ich.»Tuxit, was meinst du?«

Der Rhoarxi antwortete nicht. Meine Au-gen versuchten das Dunkel zu durchdringen.Ich sah einen Schatten in der uns gegenüber-

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liegende Ecke. Entschlossen erhob ich mich,tastete nach dem Schalter und machte dasLicht an.

Tuxit lag am Boden, den Arm mit demCueromb unter dem Körper geborgen. Erschlief. Schnell machte ich das Licht wiederaus.

Er braucht Ruhe, sagte ich mir. Wer weiß,was ihm bevorsteht.

Er wird dich brauchen!, warf der Extra-sinn ein. Und zwar dringender denn je.

Ich grinste in mich hinein. Auf michkonnte er sich verlassen. Ich würde keinenAugenblick von seiner Seite weichen, immerdas Gerät im Blickfeld, das nicht nur ihm,sondern auch mir wertvolle Dienste leistenkonnte. Ein paar Einstellungen und Sensor-kombinationen hatte ich mir gemerkt, ichkonnte sie im Notfall nachvollziehen. Ob siein jedem Fall funktionierten, nahm ich nichtan. Das Cueromb korrespondierte höchst-wahrscheinlich mit der Persönlichkeit desRhoarxi und funktionierte nur im Zusam-menspiel mit einem Angehörigen seinesVolkes perfekt.

»Da ist es wieder!«, zischte Jolo. Dasleichte Vibrieren seiner Nasenflügel erzeug-te ein kaum wahrnehmbares Geräusch, dasich hörte. Etwas anderes nahm ich nichtwahr.

Ich beugte mich zu dem Echsenwesenhinunter. »Wo kommt es genau her?«

»Von draußen. Wir sollten das Fensterschließen.«

»Wenn du meinst.«»Bitte übernimm du das, Atlan!«Ich erhob mich und durchquerte die Gon-

del. Die Fenster besaßen innen und außenGriffe, die man umklappen konnte. Dadurchlöste sich die Verriegelung. Ich schob dasFenster nach oben und verriegelte es. Mitein paar Schritten kehrte ich zu meinemPlatz zurück. Jolo hatte es sich auf dem war-men Boden gemütlich gemacht, wo ich bis-her gelegen hatte.

»So ist das also.« Ich stieß ihn leicht mitdem Stiefel an. »Dir ist einfach nur kalt.«

Er tat, als schliefe er fest und tief.

»Jolo, Jolo, mit dir wird es noch schlimmenden.« Ich suchte mir einen anderen Win-kel, wo ich mich niederließ.

Jolos Verhalten musste einen anderenGrund haben als das Bedürfnis nach Wärme.Oder wenigstens nicht ausschließlich. DieGondeln waren mit allem ausgestattet, wasman bei einer Reise benötigte, mit Heizung,Speisen und Getränken, Waschgelegenheitbis hin zur ausklappbaren Sanddusche fürReptiloiden oder Avoiden. In Gedankenstellte ich mir das weit gespannte Netz derFäden vor, die den Himmel über der Intra-welt durchzogen. Zweitausend Hochstatio-nen gab es ungefähr, ziemlich wenig für eineHohlwelt wie diese. Die Zahl der Flachsta-tionen ließ sich vermutlich nicht genau er-mitteln, sie musste in den Hunderttausen-dern liegen. Genau wussten es vermutlichnur die, die das System damals entwickelthatten.

Das Gondelsystem setzte eine gewissetechnische Stabilität voraus, es brauchte eineAusgewogenheit von Zug- und Fliehkräften.Dennoch erschien es mir unwahrscheinlich,dass es sich bei teilweise stürmischen Win-den selbst hielt, im Zentrum aufgehängt anden Ultrafäden. Wenn nur ein Faden riss,konnte das die Zerstörung des gesamten Sy-stems nach sich ziehen. Dem hatten die Er-bauer mit Sicherheit vorgebeugt, etwa inForm von Schwerkraftprojektoren, die einenAusgleich schufen.

Jolo fuhr auf. »Hast du es jetzt gehört?«»Du meinst dieses leise Schaben? Das ist

die Gondel. Die Kupplung vermutlich. Beru-hige dich.«

Ich hörte, wie Jolo sich erhob. Er ging zuden Fenstern auf der anderen Seite, als gäbees in der vollkommenen Dunkelheit draußenetwas zu sehen.

»Da ist es wieder«, hauchte er. »Dukannst viel behaupten, Atlan, aber nicht,dass ich taub bin.«

Seinen Hunger schien er angesichts seinespermanenten Gefährdungszustands völligvergessen zu haben. Vier Stunden Nacht-fahrt ohne Mahlzeit, wie hielt der arme Kerl

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das bloß aus?Das Schaben wurde lauter. Gleichzeitig

vibrierte die Gondel, als habe der Wind zu-genommen. Oder es übertrug sich irgendeineKraft auf das Zugseil.

Ich erhob mich ebenfalls und ging zumFenster, das ich geschlossen hatte. Mit ei-nem Ruck öffnete ich es und streckte denOberkörper ins Freie. Meine Augen hattensich längst an die Dunkelheit gewöhnt. Den-noch sah ich nichts. Zwei Lichtpunkte in derFerne, es musste sich um Positionslampenvon Hochstationen handeln. Die beidenPunkte schwankten, eine relative Beobach-tung in einer sanft schaukelnden Gondel. Al-lerdings bewegten sich die Punkte in unter-schiedlicher Richtung auseinander und wie-der zurück.

Ich schloss das Fenster wieder, damit Joloberuhigt war. »Ich habe keine Geräusche ge-hört. Das Zugseil ist in Ordnung.«

Die Maulspindler befuhren ihre Streckenregelmäßig, und sie kontrollierten das durch-laufende Seil an ihren Stationen. Sobald sieeinen Fehler entdeckten, machten sie sichsofort an die Arbeit. Ein Maulspindler aufdem Dach einer Gondel beim Spinnen desFadens, das war mit Sicherheit ein aufregen-des Erlebnis. Dennoch wollte ich nicht un-bedingt dabei sein oder erst, wenn das Seilrepariert war.

»Lass uns schlafen, ja?« Ich streckte michwieder auf dem Boden aus. Es gab Betten inder Gondel, angefertigt für unterschiedlicheLebewesen. Aber keiner von uns verspürteLust, sie in Anspruch zu nehmen. Dabei wa-ren sie unter Garantie hygienisch rein.

»Ich versuche es«, antwortete Jolo.Tatsächlich gelang es mir, wieder einzu-

schlafen, obwohl ein Rest Zweifel im hinter-sten Winkel meines Bewusstseins blieb undbeständig nagte. Wenigstens machte er dabeikeine Geräusche.

Wie viel Zeit verging, wusste ich hinter-her nicht zu sagen. Ich schrak auf, weil mirder Wind ins Gesicht blies. Jolo? Ich hörteseinen gleichmäßigen Atem. Von Tuxit warüberhaupt nichts zu hören, aber das Fenster

stand offen, das ich schon zweimal zuge-macht hatte.

Mit einem Satz war ich auf den Beinen,ging instinktiv in Abwehrstellung, währendich nach dem Lichtschalter tastete. Das gel-be Licht beruhigte und zeigte mir obendrein,dass alles in Ordnung war. Jolo schlief, Tu-xit auch. Die gleichmäßigen Atemzüge derbeiden ließen sie herzhaft gähnen.

Du hast vergessen, die Griffe umzulegen,sagte ich mir. Das Fenster ist von allein auf-gegangen.

Ich überlegte, ob ich mich nochmalsschlafen legen sollte. Besser war es viel-leicht. Tuxit erholte sich mit Hinblick aufdie bevorstehende Heimkehr, und Jolos Ner-vosität tat ein tiefer Schlaf ebenfalls gut. Ichbesaß zwar meinen Zellaktivatorchip, aberauf seine regenerierenden Kräfte wollte ichmich nicht ausschließlich verlassen.

Also war Schlafen angesagt, danach einausgiebiges Frühstück, das wir vermutlichschon in der nächsten Gondel zu uns neh-men würden.

Draußen klatschte etwas gegen das Metallder Gondel. Der Wind trug das Geräusch da-von, aber ich war sicher, dass es von obengekommen war. Ein Schmatzen folgte. ImLichtschein, der ins Freie drang, ließ sichnichts erkennen. Eine Dachluke gab es nicht,und um einen Blick auf die Oberseite der zi-garrenförmigen Kabine zu werfen, hätte ichan ihr hochklettern müssen.

Wieder hörte ich ein Schmatzen, dann einSchaben.

Irgendetwas war da draußen. Jolo hatte al-so richtig gehört.

Oder irgendjemand …

*

Das Schmatzen näherte sich auf der ande-ren Seite der Gondel. Ich ging hinüber,spähte durch das geschlossene Fenster hin-aus.

Nichts. Was immer da oben auf der Au-ßenseite lauerte, es ließ sich hören, abernicht sehen.

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Ich kehrte zum offenen Fenster zurückund machte es wieder zu.

Dabei wandte ich der anderen Seite fürein paar Augenblicke den Rücken zu.

Ein Kribbeln im Nacken warnte mich undzeigte mir den Fehler auf, den ich soebenbegangen hatte. Das Geräusch des nach un-ten fallenden Fensters ließ mich herumfah-ren. Ich sah einen Schatten, eine helle ge-schuppte Fläche, die übergangslos das Fen-ster ausfüllte. Ein Ruck, und ein Teil derMasse plumpste in das Innere der Gondel.Der Rest folgte. Es handelte sich um einenmehr als einen Meter großen Sack mit etli-chen Fetzen, der sich wie ein Wurm wand.Ich sah den blutigen Lamellensockel unddann den Oberkörper, der sich aufrichtete.Die Zitzen fehlten, ich hatte folglich einenMann vor mir. Es war ein Driete, und erschien offenbar in Not.

»Wacht auf!«, rief ich den Gefährten zu.»Wir haben Besuch!«

Der Driete warf sich auf Jolo. Der zucktehoch, schrie wie in höchster Todesangst undversuchte, sich aus dem Griff der drei dün-nen Armpärchen zu befreien. Ich sah denschmalen Kopf des Wesens mit gelbrot ver-färbten Glupschaugen. Der breiteFroschmund stand weit offen und zeigte zer-splitterte Zahnleisten mit teilweise messer-scharfen Zacken.

»Lass ihn los!«, fuhr ich den Drieten an.Der schien mich gar nicht zu hören. Er woll-te seine Zacken in den Körper des zappeln-den Jolo schlagen.

Ohne lange zu überlegen, packte ich denEindringling da, wo es ihm vermutlich ammeisten wehtat, an den Kopffühlern. Ich rissdaran. Er warf den Oberleib herum, griffmich sofort an. Ich korrigierte hastig meineEinschätzung. Dieses Wesen befand sichnicht in Not, es war auf Beutezug.

»Hör auf!«, fuhr ich es an. Es missachtetedie Worte.

Er versteht dich nicht, meldete sich meinExtrasinn. Sieh genau hin!

Er hatte Recht. Nirgends am Körper desDrieten konnte ich einen Dhedeen ent-

decken. Entweder war er geflohen, oder derBreite Mann hatte ihn aufgefressen.

Ich duckte mich unter dem Kopfstoß hin-weg, den der verrückte Driete gegen michführte. Ich bekam Jolo am linken Arm zufassen. Das Echsenwesen war in Starre ver-fallen. Während ich ihn festhielt, verpassteich den Armpaaren des Angreifers mehrereTritte. Endlich ließ er los, um aber umsoheftiger wieder zuzufassen.

»Tuxit!«, brüllte ich. »Wach endlich auf!«Der Rhoarxi rührte sich nicht, er lag wie

tot da. Mein Geschrei lenkte allerdings dieAufmerksamkeit des Drieten auf ihn. Er er-starrte zunächst, dann stieß er ein Wimmernaus, gefolgt von einem langen Seufzer.Einen kurzen Augenblick ließ ich mich ab-lenken. Der Driete versetzte mir einen Stoß,der mich zurückschleuderte. Ich landete un-sanft auf meinem Allerwertesten, währendder Verrückte sich zum offenen Fensterwälzte.

Ich warf mich hinterher, rutschte in derSchleimspur aus, landete erneut unsanft aufdem Boden. Wahrscheinlich war es Glück,dass ich gegen den mächtigen Leib desRhoarxi prallte und ihn unsanft aus seinemtiefen Schlummer riss.

»Hilf uns!«, keuchte ich.Der Driete zwängte sich mit dem Hinter-

leib voran aus dem Fenster. Er gab ein Blub-bern von sich, das vermutlich Worte seinsollten oder eher Gestammel eines Verrück-ten.

Erneut warf ich mich auf ihn, versetzteden Ärmchen ein paar Dagor-Schläge, führteeinen weiteren gegen den Kopf des Wesens.Es kreischte mich an, versuchte mit denFühlern zu schlagen. Es gelang mir, Jolo sei-nen halb gelähmten Extremitäten zu entrei-ßen, dann rutschte der Angreifer auch schonrücklings ins Freie.

Der Schlag gegen den Kopf schien seineOrientierung zu stören. Er kroch abwärts,rutschte mit dem Lamellensockel des Hin-terleibs plötzlich ins Leere und wollte sichmit den Ärmchen an der Gondel festklam-mern. Es klappte nicht. Sie glitten ab, eine

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Saugwirkung kam nicht zustande, weil derKörper des Drieten zu schwer war. Mit ei-nem lauten Ächzen stürzte er in die Tiefe.

Ein Schlag warf mich zur Seite. Ich stürz-te, noch immer Jolo in den Armen, zum drit-ten Mal zu Boden. Diesmal war Tuxit es ge-wesen, der mich umgestoßen hatte. Ich sah,wie er das Cueromb justierte, danach denOberkörper durch das Fenster ins Freiezwängte. Ein Geräusch hörte ich nicht, aberdas sich entfernende Kreischen des Drietenhörte auf.

Ich half Tuxit, ohne Federverlust zurückin die Kabine zu kommen. Der Rhoarxi ent-schuldigte sich für sein rüdes Verhalten.

»Die entsprechende Funktion des Cuer-omb besitzt keine unbegrenzte Reichweite.Ich musste mich beeilen.«

»Schon gut. Du hast ihn zerstrahlt, oder?«»Atomisiert, ja. Er hätte die Fäden des

Gondelsystems gefährdet und bei seinemAufschlag auf der Oberfläche sicherlich Un-heil angerichtet.«

Ich kümmerte mich um Jolo. Er hatte vorSchreck das Bewusstsein verloren. Bis erwieder zu sich kam, würde es wohl noch ei-ne Weile dauern.

»Dieser männliche Driete«, wandte ichmich an Tuxit, »wo kam er her? Fuhr er dieganze Zeit auf dem Dach der Gondel mit?«

Der Rhoarxi stieß ein Krächzen aus. »Erkam über den Faden, ein armes Wesen mitverwirrtem Geist und behindertem Körper.Ein genetischer Defekt, soweit ich das er-kennen konnte. Er konnte sich nicht verwan-deln, war ein Ausgestoßener in seiner Sippe.Er entfernte sich immer mehr von seinerParzelle, bis er zum Gondelräuber wurde.Von seinen Überfällen hat er sich ernährt.«

»Du hast das erkannt?«, überlegte ichhalblaut. »Mit dem Cueromb?«

Tuxit gab keine Antwort darauf. Er wand-te sich ab, musterte das Innere der Kabine,lauschte gleichzeitig in sich hinein. »Wirkommen bald an. In OB-87 steigen wir zumvorletzten Mal um.«

Es ging also wieder abwärts zu einerFlachstation und von dort vermutlich zur

Oberfläche.Jolo erwachte gerade rechtzeitig, damit

wir ihn nicht aus der Gondel zu tragenbrauchten. Diesmal erregten wir kein sol-ches Aufsehen wie bisher.

Tuxit verhielt sich unauffällig, und ersetzte seinen Flammenstaub nicht ein. Ge-duldig warteten wir in der Schlange, bis wiran die Reihe kamen. Einen Vorteil hatte es,wenn man von oben kam und nach untenwollte. Kein Gondelwärter fragte einen nachdem Grund der Reise. Sie erkundigten sichnach dem Befinden und verbuchten es aufihrem Pluskonto, wenn sie lauter frohge-launte und zufriedene Passagiere hatten.

Zwei Stunden ungefähr mussten wir war-ten, dann endlich führte man uns in die Gon-del, die hinab zur Flachstation führte. Einletztes Umsteigen, wohin genau, das erfuhrich nicht. Tuxit nannte weder den Namender Gondelstation noch den der Parzelle. Erstellte sich einfach am betreffenden Fadenan.

Die Gondel sank langsam abwärts. An dasgeringere Fahrtempo mussten wir uns nachden eineinhalb rasanten Tagen im Hoch-Netz erst wieder gewöhnen.

Ein laut und deutlich vernehmbaresKnacken drang an unsere Ohren. Gleichzei-tig wurde es draußen hell. Die Kunstsonnehatte sich wieder eingeschaltet.

*

Unter uns erstreckte sich eine weitläufigeWüste. Lediglich weit hinten am Dunst-Horizont entdeckte ich einen grünen Fleck,eine Oase vermutlich. Das Seil – der Faden– unserer Gondel führte mitten in den Sandhinein, als habe ihn jemand einfach in denBoden gesteckt.

Tuxit reagierte nicht. Der Rhoarxi standneben mir und blickte in dieselbe Richtung.Der Grund wurde mir Minuten später klar.Im Sand tauchte ein winziger dunkler Fleckauf. Er entpuppte sich als kleines Häuschen,das auf einer sandbedeckten Plattform stand.Dahinter rotierte mit hörbarem Quietschen

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der Umlenker des Seils. Als wir uns demZiel bis auf ein paar hundert Meter genäherthatten, entdeckten wir die vielbeinige Ge-stalt des Maulspindlers. Mit einem großenFächer fegte er den Sand von der Landestel-le.

»Wundere dich nicht«, sagte Tuxit,»wenn ich den Namen des Wärters nichtkenne. Er interessiert niemanden, denn dieStation ist namenlos. Das färbt eben ab.«

»In eine solche Einöde führst du uns?«,empörte sich Jolo. »Müssen wir unser Essenetwa in Säcken mit uns schleppen?«

»Vielleicht. Iss noch einmal kräftig. Werweiß, wie viele Stunden unser Marsch dau-ern wird.«

Jolo machte sich über die wenigen nochgefüllten Wandfächer her. Was er bis zumEntkoppeln der Gondel nicht in den Mundgestopft bekam, schob er unter seine Jackeund in die weiten Taschen seiner Hose.

Ich öffnete die Tür. Draußen stand derMaulspindler. Er musterte mich und Jolo ab-schätzig, dann erblickte er den Rhoarxi undbrach in allen Beinen ein. Es gab ein paarordinäre Geräusche, als der Leib des Wesensgegen den Boden prallte und die Luft ent-wich.

»Willkommen in meiner Heimat Aspog-hie«, sagte der Rhoarxi. »Sie befindet sichderzeit in der Parzelle Nabuzym.«

Jolo brach in wüstes Jammern aus.

9.Vergangenheit: der Albtraum

Angst schlich durch Aspoghie. Sie suchtesich Opfer, und sie fand sie in den Herzender Rhoarxi, die vergebens auf eine Besse-rung ihres Zustandes warteten.

Uquart schickte Ärzte in die Häuser, aberein Teil der Gebäude war nicht mehr zu-gänglich. Eingestürzte Stockwerke, zerbrö-selte Fassaden: In Aspoghie gab es keinenWinkel mehr, der nicht an den Weltunter-gang erinnerte. Gleichzeitig schwankte dieStadt wie, unter hohem Seegang.

Alles litt, alles war krank, und aus der

Angst in den Herzen der Rhoarxi entwickel-te sich Hysterie. Aus der Hysterie wurde Pa-nik.

Uquart sprang auf. Ein dumpfes Grollentief im Innern der Stadt alarmierte ihn. »InsFreie!«, donnerte seine Stimme durch dasHaus. »Los, los, Kinder und Eier zuerst!Wer hilft?«

Sie schienen nur darauf gewartet zu ha-ben. Die Familie, die Bediensteten, alle ha-steten mit gepackten Nestern und Koffernherbei. Sie scharten sich um ihn, ihn, den ru-henden Pol, den Einzigen in ihrer Nähe, dernoch so etwas wie Zuversicht verströmte.

Uquart evakuierte seine Familie. Mit einerTransportplattform schickte er sie weg, hin-aus ins Grüne, wo sie in nächster Zeit besseraufgehoben waren. Er ließ sich bei dieserEntscheidung von seinem Instinkt leiten.

Kaum war die Plattform abgeflogen,stürzte sein Haus ein. Er rettete sich vor denherabfallenden Potista-Trümmern in die ge-genüberliegende Seitengasse. Aus denTrümmern klaubte er anschließend ein paarwichtige Unterlagen und Wertgegenstände,bevor das Potista sie im Eiltempo in die un-ergründlichen Tiefen seines Leibes gezogenhatte.

Ein Ruck riss ihn von den Beinen. Dieganze Stadt wackelte, und sie sank abwärts.Uquart sah Türme einbrechen und Häuser inder Tiefe versinken. Er lauschte auf dasSchwanken, verharrte auf der Stelle, bis dieAbwärtsbewegung aufhörte.

»Es ist der Sockel!«, schrie er. »Etwasstimmt mit dem Sockel nicht!«

Die ganze Stadt hing nach links. Die Stra-ßen und Wege waren um einige Grad ge-neigt. Es erschwerte das Gehen erheblich.Bald tat Uquart das linke Bein weh, weil esstärker belastet wurde als das rechte. Erstöhnte, schleppte sich aber weiter.

In einer der Gassen ertönten Schreie.Uquart ging ihnen nach. Sie verklangen, undals er den Ort erreichte, floss ihm Blut ent-gegen. Ein Dutzend Rhoarxi lagen tot amBoden. In manchen Leibern steckten nochdie Messer. Diese Aspoghies waren überfal-

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len und vermutlich beraubt worden, als siesich in Sicherheit bringen wollten.

Erst jetzt begriff Uquart, dass er mitten ineinem untergehenden Schiff stand. Erneutschüttelte Aspoghie sich.

Der Brüter rannte los. Er hatte nur nocheines im Sinn: Er musste hinauf in denTurm. Dort hing in einem Holzverschlag dieGlocke aus alter Zeit. Sie war aus Metall,die Halterung aus Holz. Wenn etwas denUntergang dieser Stadt überstand, dann dieGlocke. Mochten die Rhoarxi sterben, dasPotista vergehen, die Glocke würde immerbleiben.

Uquart rannte, so schnell seine Beine ihntrugen. Er fing an zu keuchen, aber es störteihn nicht. Seine Beine füllten sich scheinbarmit Blei, er beachtete es nicht. Weiter, im-mer weiter. Die Vorgänge in der Stadt zogenwie ein Film an ihm vorbei. Hunderte vonToten sah er, teils von ihren Häusern er-schlagen oder von den Kunstwerken, die siezu schützen trachteten. Er beobachteteKämpfe, entfesselte Rhoarxi, in denen dieUrgewalten früher Vorfahren erwacht schie-nen. Der Brüter sah Dinge, von denen er ge-glaubt hatte, sie wären in der Zivilisation derRhoarxi längst nicht mehr möglich.

Mit dem Cueromb rief er die Amtsbrüder.Nur wenige antworteten. Die anderen befan-den sich in wilder Flucht vor ihren Artge-nossen.

Endlich, der Horst! Uquart erreichte ihnschneller als sonst, weil es zwischen zerbor-stenen Häusern einen Pfad direkt dorthingab. Er kletterte hinauf, musste anhalten,weil seine Beine ihn nicht mehr trugen.Nach schier endlosen Atemzügen schaffte eres doch. Der Verschluss war noch intakt, eröffnete ihn nach einem kurzen Stoßgebet.Mit bebenden Flügeln klappte er die Ver-schlage der vier Seiten auf, packte das Seildes Klöppels.

Erste Glockenschläge hallten über Aspog-hie. Jeder, der sie hörte, wusste sofort, waser zu tun hatte. Raus aus der Stadt. Weg vonhier. Es bestand höchste Lebensgefahr.

Uquart schrie seinen Schmerz und seine

Qual hinaus, während er Sturm läutete. Seitder Erschaffung der Stadt war es mit hoherWahrscheinlichkeit das erste Mal, dass As-poghie evakuiert werden musste.

Stunden später schlich Uquart gebeugtaus der Stadt. Vorn am Bug klaffte ein riesi-ges Loch. Ein ganzer Stadtteil war abgebro-chen. In der Nähe der Trümmer entdeckte erImpostoren, die den Verlust beweinten.

»Beweint euch selbst!«, rief Uquart ihnenzu. Er tappte hinaus ins Grasland, in dem dieStadt zum Stillstand gekommen war. Wennes nur der Stillstand gewesen wäre, dieRhoarxi hätten das verkraftet. Aber es warder Untergang. Die Stadt hing schräg, diemeisten Türme fehlten. Die Stadtmauer wareingestürzt, der Sockel Aspoghies zersetztesich nach und nach.

»Seht, dort ist Uquart«, hörte er jemandensagen. »Er hat die Glocke geläutet und Tau-senden von uns das Leben gerettet!«

Na schön, dachte er ohne einen FunkenStolz. Habe ich nicht einfach nur meinePflicht getan?

Mit einem Mal spürte Uquart diese Urge-walt in sich, erlebte etwas, das er in seinembisherigen Leben nicht gekannt hatte. Eswar Hass, Hass auf den, der das alles verur-sacht hatte. Falls er noch am Leben war.War Tuxit gestorben, konnte er nichts dafür.Dennoch würde seine kurze Amtszeit als dieschlimmste in die Annalen der Aspoghieseinziehen …

*

Uquarts Gedanken kehrten in die Gegen-wart zurück. Er fühlte sich, als habe er allesnoch einmal erlebt. Das Feuer in seinem In-nern half ihm, es schneller zu verarbeiten.Dreißigtausend Tage war es inzwischen her.Damals war die Zivilisation von Aspoghiezu einem großen Teil zerstört worden. Inmühevoller und langer Arbeit entstand ausden Trümmern wieder ihre Stadt. Den Neu-start hatten sie aber nur mit Hilfe der beidenanderen Wanderstädte geschafft, in derenSchuld sie seitdem standen.

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Aspoghie lebte wieder, und sie wanderte.Nur eines war nicht mehr wie früher.

Seither hatte es keinen einzigen OberstenBrüter vom Format eines Tuxit mehr gege-ben. Uquart wusste es nur zu gut, dass er derbisher Letzte in einer Reihe schwacher Brü-ter war.

Und jetzt, nach so langer Zeit, hatte er dieGewissheit, dass Tuxit lebte. Er war damalsnicht gestorben, sondern aus der Stadt geflo-hen, aus welchen Gründen auch immer.Mochte der Hass von damals inzwischenversiegt gewesen sein, jetzt loderte er wiederempor, und kein Oberster Brüter war starkgenug, ihn in den Herzen der Aspoghies zubändigen.

Mit diesen Gedanken und reichlich ver-schmitztem Gefieder trat Uquart vor dieVersammlung der Mobs. Diese Rhoarxi ausallen Schichten der Stadt besaßen ein großesMitspracherecht bei allem, was der ObersteBrüter beschloss. Uquart lehnte es ab, alleinzu herrschen. Er fühlte sich mehr als Behält-nis des Flammenstaubs und damit als der,der demokratisch gefasste Beschlüsse dannauch durchsetzte.

Die Beratungen in diesem Fall würdenviel Zeit in Anspruch nehmen. Zeit für Tu-xit, den Uquart jetzt deutlich spüren konnte.Er kam näher, immer näher. Es trieb demObersten Brüter erneut den Schweiß aus denPoren. Bald waren die gereichten Tüchernass, er brauchte neue.

Bald würde er vielleicht keine mehr be-nutzen können. Es durfte in einer Stadt nurein Behältnis geben, nur einen OberstenBrüter.

Flammenstaub!, dachte er. Gib mir Kraft.Lass mich nicht im Stich. Ich muss dieseAuseinandersetzung bestehen, diese Prü-fung. Damit es kein zweites Mal eine solcheKatastrophe gibt.

10.Exkrementura

Meine Sinne waren aufs Höchste ange-spannt. In der unwirtlichen Umgebung wür-

de es für Tuxit ein Leichtes sein, uns orien-tierungslos zurückzulassen. Bis wir uns zurnächsten Oase oder Ansiedlung durchge-schlagen hatten, war er mit dem Cuerombüber alle Berge.

Und mit dem Flammenstaub, den er insich trug. Ob wir ihm jemals wieder begeg-neten, hielt ich bei der Größe der Intrawelteher für unwahrscheinlich. In tausend Jahrenvielleicht. Aber dann war es zu spät. Bis da-hin existierte die Widerstandsorganisation»Konterkraft« nicht mehr, und der Kampfgegen die Lordrichter von Garb war sinnlosgeworden, weil sie das Universum längst be-herrschten.

Also musste es jetzt geschehen, in diesemLeben. Ob Tuxit der geeignete Ansprech-partner für mein Anliegen war, bezweifelteich. Alles deutete bisher darauf hin, dass ersich im Unfrieden von seinem Volk getrennthatte. Wenn er jetzt zurückkehrte, um eini-ges in Ordnung zu bringen oder sich seinerVerantwortung zu stellen, dann war das fürmich Anlass, mit dem Schlimmsten zu rech-nen.

Dass wir als Feinde empfangen und ein-gesperrt wurden zum Beispiel. Oder dassman uns für Spione hielt, besonders wennsich herumgesprochen hatte, von wo ichkam. Den Ruf der Unbestechlichkeit seinespförtnerischen Urteils hatte Teph bekannt-lich längst eingebüßt.

Es konnte aber auch umgekehrt sein.Wenn man uns als Freunde aufnahm, fiel esmir leichter, meinen Wunsch vorzubringenund die Dringlichkeit meines Ansinnens zuverdeutlichen.

Was aber unternahm ich, wenn man mirin beiden Fällen kein Gehör schenkte?

Diebstahl des Flammenstaubs, kam dasüberhaupt in Frage? Die Rhoarxi bewahrtenihn mit Sicherheit nicht in handlichen Kassi-bern auf, die man unter dem Arm davontra-gen konnte.

Während wir Tuxit zum Rand der Platt-form folgten, überlegte ich, ob es nicht docham besten war, das Cueromb so schnell wiemöglich wieder in meinen Besitz zu bringen.

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Ich hatte es dem Rhoarxi auf seine aus-drückliche Bitte hin überlassen. Es hatteeinst einem seiner Artgenossen gehört. Ganzsicher ging er davon aus, dass ich es nie wie-der zurückfordern würde.

Frage ihn doch einfach! Bei aller Logikbesaßen die Vorschläge des Extrasinnsmanchmal eine entwaffnende Naivität. Tuxithätte sich dann erst recht vorgesehen undsich von uns getrennt.

Genau das musste ich verhindern. An denFlammenstaub in seinem Körper kam ichnicht heran. An den seines Volkes vielleichtdoch, wenn ich es geschickt genug anstellte.

Der Rhoarxi hatte das Funkgerät des be-wusstlosen Gondelwärters bearbeitet. Weitentfernt tauchte eine Antigravplattform auf,zog am Firmament empor und kam dann ineiner eleganten Kurve neben der Gondelsta-tion herunter.

»Hör endlich auf zu jammern«, forderteich Jolo auf. »Ich kann es nicht mehr hören.Und Tuxit auch nicht.«

Das Echsenwesen sah mich mit zornigemBlick an, der genau meine Stimmung wie-dergab: Anschließend setzte es eine erleich-terte Miene auf. »Gut so, Atlan?«

»Ja, Freund.«»He, du hast mich soeben ›Freund‹ ge-

nannt. Ist das dein Ernst?«Ich nickte. »Was sonst? Und jetzt schalte

deinen Spiegel wieder ab.«Sein Gesicht lieferte mir einen beküm-

merten Ausdruck und zeigte mir deutlich,was ich wirklich empfand. Jolo war mirwährend unserer Irrfahrten durch die Intra-welt ans Herz gewachsen. Von den Gefähr-ten aus der Anfangszeit war er als Einzigerübrig.

Tuxit zählte ich auch dazu, aber meineEinstellung zu ihm hatte sich gewandelt. Ichvertraute ihm, solange wir beisammen wa-ren. Sobald sich unsere Wege trennten, stan-den wir auf verschiedenen Seiten. Zumin-dest lag die Wahrscheinlichkeit dafür sehrhoch.

Die Plattform senkte sich vor uns nieder.Wir stiegen auf, verschwanden in den für

Rhoarxi vorgesehenen Polstern – Jolo ganz,bei mir lugte wenigstens der Kopf hervor.

Tuxit lenkte das Fahrzeug, das seinemVolk gehörte.

Dennoch nagten in mir Zweifel. Die wan-dernden Städte sollten die Heimat derRhoarxi sein, jener begnadeten Baumeisteraus Dwingeloo?

Narr! Warte es doch ab. Noch kennst duweder die Parzelle noch die Rhoarxi genau!

Tuxit schwenkte seinen Sessel herum. DerRhoarxi sah mich durchdringend an. »Dienamenlose Station steht mitten in der WüsteNabuzyms. Wir fliegen zum Rand der Par-zelle, wo sich meine Heimatstadt zurzeit be-findet.«

»Heimatstadt«, nickte ich. »Das hört sichgut an. Sprich ruhig weiter. Wie heißt dieStadt? Wie viele Einwohner hat sie? Ist esmöglich, deinem Volk eine Bitte zu unter-breiten, ohne gleich aufgefressen zu wer-den?«

Als er schwieg, erhob ich mich. »Esmissfällt mir sehr, an deine Dankbarkeit ap-pellieren zu müssen. Aber auch ohne dieTatsache, dich aus der Sklaverei befreit zuhaben, bist du mir ein paar Informationenschuldig.«

»Ich hatte dich nicht gebeten, mich ausmeinem Dasein zu reißen, das mir zur ange-nehmen Gewohnheit geworden war. ÄltesterSklave mit Einfluss und eigenem Zelt, mehrhätte ich mir nicht wünschen können. Bis dukamst. Was habe ich jetzt?«

»Du hast Recht«, lenkte ich ein. »Duweißt nicht einmal, ob du den nächsten Tagnoch erlebst.«

Trotz der Provokation strafte der Rhoarximich nicht mental ab. Es verstärkte meinenVerdacht um den Einsatz seines Flammen-staubs. Er hielt sich absichtlich zurück.

»Deine Ankunft markiert vielleicht denBeginn einer neuen Epoche im Leben mei-nes Volkes«, fuhr Tuxit fort. »Ob das gutoder schlecht für uns Rhoarxi oder für dichist, kann niemand im Voraus sagen. Wirwerden es sehen. Die Stadt heißt Aspoghie.«

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*

Wir ließen die Antigravplattform zurück.Tuxit bestimmte das so. Es hing mit derReichweite der Ortungsgeräte zusammen.Auf ihrem Weg durch die Wüste bestrich dieStadt eine bestimmte kreisförmige Flächemit ihren Tastern. Nach der Beschaffenheitder Oberfläche und des Untergrunds sowienach dem Vorhandensein von Leben wähl-ten die Lenker der Stadt deren Weg.

Aspoghie, die wandernde Stadt. Die Vor-stellung passte so gar nicht zu den Bauwer-ken, die die Rhoarxi in früheren Zeiten inDwingeloo hinterlassen hatten. Vielleichthatten sie alle jene Gebäude für Wesen einesanderen Kulturkreises errichtet. Nicht um-sonst hing ihnen der Ruf begnadeter Bau-meister selbst nach Jahrhunderttausendennach.

Tuxit fühlte sich in der Wüste ausgespro-chen wohl. An den Boden geduckt, hüpfte erdennoch leichtfüßig voran, beobachtete dasGelände und achtete gleichzeitig darauf,dass auch wir uns nicht unnötig im Freienzeigten, gar auf einem Hügelkamm oder ei-nem Felsen stehen blieben, wo man unsschon von weitem sehen konnte.

Wir bewegten uns im Randbereich derParzelle Nabuzym an der Grenze zu einemNachbarland, dessen Namen wir nicht kann-ten. Alles hier sah aus wie im Museum, dieKonturen der Hügelketten und Dünen, dieFelsriffe mittendrin – nichts wies auf lang-jährige Verwitterung hin.

»Ist das alles neu hier?«, rief ich leise. Tu-xit blieb stehen und wartete, bis wir zu ihmaufschlossen.

»Anstizen und Drieten haben diese Par-zelle erst vor wenigen Jahrzehnten ange-legt«, bestätigte er. »Dennoch hat sich auchhier schon eine Schmarotzerpopulation nie-dergelassen. Wenn wir Pech haben, begeg-nen wir ihr auf unserem Weg zur Stadt.«

Die Eisquallen waren folglich nicht dieeinzige Lebensform geblieben, die nichtdem Populationsschema der Intrawelt ent-

sprach. Ihr Vorhandensein in jedem Falldem Wächter anzulasten hätte sicher nichtden Tatsachen entsprochen. Bestimmt warenauch manche mit dem Erdreich oder denFelsen von fernen Planeten importiert wor-den, in wenigen Exemplaren, die mit derZeit einen geeigneten Lebensraum fandenund sich vermehrten.

»Wir Rhoarxi nennen sie Therabols, wasso viel wie Löcherbohrer bedeutet«, fuhrTuxit fort. »Bleibt jetzt dicht bei mir. DieStadt nähert sich.«

Die plötzliche Mitteilsamkeit des Rhoarxisah ich durchaus nicht als Entgegenkommenan, sondern als Alarmzeichen. Je näher wirseinem Ziel kamen und je näher die wan-dernde Stadt rückte, desto nervöser wurdeer. Nach einer Weile warf er sich hinter ei-nem Sandhügel in Deckung. Wir folgten sei-nem Beispiel. Noch schluckte der Sand je-des Geräusch, aber auf einmal spürte ichübergangslos ein Zittern des Bodens, dassich auf meine Bauchdecke übertrug.

Tuxit fiepte leise. Sein Gefieder stelltesich teilweise steil auf. Jolo neben mir finghektisch an zu schnaufen. Ich legte ihm eineHand auf die Schnauze, zur Warnung undBeruhigung. Ein wenig half es, aber danntauchte Aspoghie in unserem Blickfeld auf.

»Helden meiner Träume, steht mir bei!«,jaulte Jolo. »Ein Therabols-Ungeheuer!«

Ich presste ihm die Schnauze zusammen.»Es ist Aspoghie. Begreif das endlich!«

Von weitem erinnerte die Stadt an einüberdimensionales Fahrzeug mit zahllosenAufbauten. Im Vergleich dazu kamen wiruns wie winzige Kreaturen aus einem Mi-krouniversum vor. Tuxit krächzte leise vorsich hin, grub dann den Schnabel in denSand, damit niemand ihn hören könnte. DieStadt zog vorbei, ein gigantischer Wurm,den ich auf ungefähr vierhundert Meter Län-ge bei einer Breite von vielleicht fünfund-zwanzig bis dreißig Metern schätzte. EineMauer umgab die Stadt, bestimmt zwanzigMeter hoch. Die Gebäude ragten beinahedoppelt so hoch auf. Die Gebäude bewegtensich ununterbrochen. Manche wuchsen im

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Zeitraffertempo in die Höhe, andere wiederschrumpften, als würden sie im Innern derStadt versinken. Alle möglichen Farben gabes, selbst Neongrün und Pink fehlten nicht.Jedes Gebäude, manchmal sogar jede Fassa-de leuchtete anders und zeugte ebenso vomEinfallsreichtum der Rhoarxi wie die teilsbizarren Formen der Gebäude.

Der Sockel hingegen vermittelte so etwaswie Ruhe und Gleichmäßigkeit entsprechendseiner Bewegung. Er ähnelte einer dickflüs-sigen Masse. Aspoghie erinnerte mich an eingewaltiges Hoovercraft mit dem Unter-schied, dass die Stadt nicht auf einem Luft-kissen schwebte, sondern ein anderes Prin-zip der Fortbewegung nutzte. Auf die Di-stanz von einem halben Kilometer ließ sichnicht genau erkennen, worum es sich dabeihandelte.

Aspoghie glitzerte rostig rot, die Kantender Stadt wirkten scharf, aber das war viel-leicht eine optische Täuschung. Auf ihremWeg passierte sie mehrere Felsriffe mittenim Sand. Sie zwängte sich hindurch, zog ih-re Formation in die Länge, bis sie passte,setzte den Weg fort und erhielt ein paar Me-ter weiter ihre ursprünglichen Maße wieder.

Die Geschwindigkeit Aspoghies liegt beidreißig Kilometern pro Stunde, stellte derExtrasinn fest.

Und das ohne Räder und ohne Luftkissen.Wir starrten dem Gebilde hinterher, bis es

zwischen hoch aufragenden Dünen ver-schwunden war. Dort, wo es seinen Weg ge-nommen hatte, ragten seltsame Hinterlassen-schaften auf. Es waren keine Felsen, denendie Stadt den Sand weggeschoben hatte. Ei-genartige Gebilde lagen oder standen herum,die vorher nicht da gewesen waren.

»Kommt mit«, sagte ich. »Das muss ichmir ansehen!«

Ich erhob mich und lauschte. Von irgend-woher hörte ich Stimmen, einen Singsang,der auf die Anwesenheit von Lebewesenhindeutete. Ich sah mich um, beschattete mitder Hand die Augen und suchte.

Die Töne wurden lauter und schriller. DerSingsang entpuppte sich als an- und ab-

schwellendes Schreien in hoher Tonlage,hart an der Grenze zum Ultraschall. Blueshätten daran vermutlich ihre wahre Freudegehabt. Mir tat es in den Ohren weh, und ichpresste die Hände auf die Muscheln.

»Ich halte das nicht aus!«, schrie Jolo. Erstürzte davon, kehrte aber bald um und rann-te in eine andere Richtung. Schließlich resi-gnierte er und kam zu uns zurück. »Es istüberall, es kommt von allen Seiten!«

»Therabols!«, pfiff Tuxit schrill. »Halteteure Sinne beisammen!«

Das Geschrei dieser Wesen ähnelte demGesang von Sirenen, wie ich sie aus der ter-ranischen Geschichte kannte. In ihrem ein-schläfernden Singsang und dem schrillenOberton lähmten sie alle Sinne, die ein Men-sch besaß. Jolo fing an zu geifern, ein deutli-ches Zeichen, dass er sich nicht mehr unterKontrolle hatte. Er verdrehte die Augen, bisnur noch das Weiß mit den gelben Adern zusehen war.

Ich versuchte, die Eindrücke durch erhöh-te Konzentration von mir fern zu halten. Einpaar Atemzüge lang klappte es. Und dannsah ich die Therabols. Sie ähnelten Skorpio-nen, waren doppelt so groß und besaßen statteines Stachels eine Art Rassel wie von einerKlapperschlange. Diese erzeugte den läh-menden Lärm. Die Knopfaugen leuchtetenrot und pulsierten im Rhythmus der Beinbe-wegungen. Im Unterschied zu terranischenSkorpionen gingen Therabols nicht seit-wärts, sondern vorwärts.

Als sie uns sahen, hielten sie an. Es wareneinige hundert, rundherum verteilt. Ihre Ras-seln bewegten sich lauter und ertönten nochschriller. Der Schmerz in den Ohren ließmich rote Ringe vor den Augen sehen. Zer-mürbung durch Lärm, das war die Taktikdieser Tiere. Viel Intelligenz besaßen sie mitSicherheit nicht, zumindest gemessen an derGröße ihrer Körper und ihrer Gehirne.

Mir wurde schwindelig. Ich taumelte, ver-suchte das Gleichgewicht zu behalten undnahm dazu die Hände von den Ohren. Eswar, als breche eine gewaltige Woge übermich herein. Unsichtbare Kräfte warfen

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mich zu Boden. Schweiß tropfte mir aus al-len Poren. Ich sah kaum noch etwas, undmeine Haut kribbelte unter der nervlichenFolter durch die Angreifer. Mit aller Kraft,die mein Bewusstsein noch aufbrachte,stemmte ich mich gegen den hypnotischenLärm.

Jetzt bloß nicht aufgeben. Undeutlichnahm ich die Scharen dieser Kreaturenwahr. Sie bewegten sich noch immer nicht,schienen auf etwas zu warten, was wenigspäter als heiseres Bellen erklang. Das Si-gnal zum Angriff. Die Therabols erkannten,dass ihre Opfer nun hilflos waren.

Alles in mir bäumte sich auf. Ein winzi-ges Stückchen meines Bewusstseins funktio-nierte noch und rief mir in Erinnerung, dassin der rechten Tasche meiner Hose das Mes-ser steckte. Ich tastete danach, aber in die-sem Augenblick legte sich ein mentalerDruck auf mich, der mich endgültig hand-lungsunfähig machte.

»Nein, Tuxit!«, schrie ich. »Nicht das!«Ob er mich hörte oder ich mir mein Ge-

schrei nur einbildete, vermochte ich nicht zuentscheiden. Vor meinen Augen wurde esfinster, als habe jemand außerplanmäßig dieSonne ausgeknipst.

Halb besinnungslos registrierte ich ersteBerührungen an meinen Beinen und amRücken. Winzige Klauen oder Greifer zerr-ten an meinen Kleidern. Ich war nicht mehrin der Lage, mich dagegen zu wehren.

Meine Haut hing in Fetzen, die Therabolsrissen mir die Haare aus. Etwas tastete übermein Gesicht, berührte die Nase, dann dieAugen:

»Tuxit!«, wollte ich erneut schreien. Ichbrachte keinen Ton heraus. Etwas bohrtesich in meinen Arm, nicht tief, aber ich spür-te warmes Blut, das mir über die Haut rann.Das Krabbeln auf meinem Körper verstärktesich.

Plötzlich wich der mentale Druck. DerRhoarxi hatte endlich begriffen, was er mitseinem Flammenstaub anstellte. Gegen dieseTiere richtete er damit überhaupt nichts aus.

Ich streckte den rechten Arm aus, bekam

das Messer zu fassen. Mit der freien Handpackte ich das Ding auf meinem Gesicht. Eswar weich und behaart. Ohne etwas zu se-hen, spießte ich es mit dem Messer auf undwarf es weg. Der nächste Therabol musstedran glauben, dann der dritte. Ein halbesDutzend Kadaver warf ich von mir. Es ge-lang mir, mich aufzusetzen. Der Schwindel-anfall war vorüber, das Geschrei der Thera-bols ließ ein wenig nach. Ich nahm undeut-lich die Umgebung wahr. Kleine Schattenwuselten überall. Sie versuchten an mirhochzuspringen, aber eine schnelle Bewe-gung mit der Klinge beförderte sie als Kada-ver zum Boden zurück.

Die Therabols wichen zurück. Ich schütz-te wieder meine Ohren. Undeutlich nahmich wahr, dass Jolo sich nicht mehr in derNähe befand und Tuxit sich die Viecherdurch wildes Stampfen vom Leib hielt. Nachund nach erstarb das Dröhnen des Bodens.Der Rhoarxi ließ ein schrilles Fiepen hören,ein Zeichen, dass die Therabols ihm ans Ge-fieder gingen.

Meine Hoffnung, die aggressiven Bestienwürden bei meiner heftigen Gegenwehr denRückzug antreten, erfüllte sich nicht. Sieversammelten sich um einen ihrer Artgenos-sen, schwärmten nach einem aufmunterndenBellen erneut aus und änderten ihre Taktik.Diesmal formierten sie sich zu kleinenGruppen und griffen von allen Seiten an.

Sie gehen nach dem Rudelprinzip vor, er-kannte ich. Sie haben einen Anführer, aufdessen Kommando sie hören.

Möglicherweise täuschte das Aussehender Therabols uns völlig, und es handeltesich um höhere Säugetiere mit hierarchi-scher Herdenstruktur. Einen Versuch war eswert. Ich fixierte jenen Ort, wo sich nochimmer eine Gruppe aus sechs dieser Kreatu-ren um eine siebte scharte. Geduckt rannteich los. Wo es ging, trat ich die Therabolsmit Wucht in den Sand.

Mein Gleichgewicht bereitete mir nochimmer Probleme, aber inzwischen war ichdurch den Lärm zum Glück fast taub, sodass sich mein visueller Sinn weiter klärte

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und ich einigermaßen deutlich sehen konnte.Ungefähr dreißig Meter trennten mich vonder Schar. Ich legte sie im Spurt zurück,wählte aber eine andere Richtung und schlugerst ganz zuletzt einen Haken.

Es gelang mir, die Therabols zu überrum-peln. Ich warf mich auf den Anführer, stachihn nieder und schleuderte den blutendenKadaver davon.

Die Reaktion der Therabols setzte sofortein. Sie flohen in heller Panik, sofern manihre Geschwindigkeit und die wirre Marsch-ordnung so interpretieren konnte. Sofortrannte ich zu Tuxit hinüber, befreite ihn voneinem Dutzend Therabols, die sich in sei-nem teils borstigen Gefieder verheddert hat-ten. Ich untersuchte seinen Körper nachWunden, aber er hatte Glück gehabt. DasCueromb fehlte, er grub es unter sich ausdem Sand, wo er es vor den Angreifern inSicherheit gebracht hatte.

Ich fragte mich, wieso er nicht wie beidem verrückten Drieten in der Gondel denAtomisierer eingesetzt hatte. Die Erklärunglag wohl in der teilmentalen Steuerung desGeräts. Tuxit war im Fall der Therabol-Sire-nen dazu nicht in der Lage gewesen.

Nach und nach verebbte der Lärm, kehrtedie wohltuende Stille der Einöde zurück.Was mich anging, war es zunächst einewohltuende Taubheit, die erst nach und nacheinem weniger angenehmen Tinnitus wich.

Tuxit sagte etwas, ich verstand es nicht.Er stapfte zu mir herüber. »Danke, Atlan!Ich gehe jetzt deinen Freund suchen!«

Mühsam schottete ich mich gegen denrestlichen Flammenstaub ab, der ihn umflirr-te und mir mentale Kopfschmerzen bereite-te. Immerhin sprach der Rhoarxi diesmal solaut, dass ich ihn verstehen konnte.

»Ich komme mit!«Wir fanden Jolo in der Flanke der über-

nächsten Düne. Er war in heller Aufregunggeflohen und hatte sich in den Sand gegra-ben. Die Therabols hatten ihn in Frieden ge-lassen. Vielleicht lag es an seiner Ausdün-stung, vielleicht an etwas anderem, dass sieihn verschmäht hatten. Jedenfalls war er

heilfroh und riss vor lauter Begeisterunggleich wieder ein paar Witze, die ich zumGlück nicht verstand.

Erst zwei Stunden später hatten sich mei-ne überreizten Hörnerven normalisiert, auchder Tinnitus war verschwunden. Wir kehrtenzur Plattform zurück und tranken erst einmaljede Menge Wasser. Anschließend berietenwir unser weiteres Vorgehen.

»Du hast Gründe, nicht sofort in die Stadtzu fliegen«, sagte ich Tuxit auf den Schna-bel zu. »Ich akzeptiere das, es ist deine An-gelegenheit. Ich würde mir zudem gern dieSchneise ansehen, die Aspoghie im Sandhinterlassen hat.«

»Diesem Wunsch entspreche ich gern«,erklärte Tuxit mit ausgesuchter Höflichkeit.»Immerhin hast du mir das Leben gerettet.«

Er befand, dass sich die Stadt inzwischenweit genug entfernt hatte und den Gleiternicht mehr orten würde. Wir starteten undflogen ein Stück in die Richtung, aus derAspoghie gekommen war. Weitab davonglänzte in der Ferne eine graue Küste imLicht der Sonne. Darauf angesprochen, rea-gierte der. Rhoarxi mit Nachdenklichkeit.»Es ist Nichts-Land. Dort existiert noch kei-ne Parzelle. Wer weiß, vielleicht erklärendie Regierenden der Stadt es zum Land derVerbannung.«

»Manchmal gibt es im Leben Situationen,in denen man seine Ängste und Befürchtun-gen mit einem Freund teilen möchte«, ver-suchte ich Tuxit aufzumuntern.

»Wenn du es tun willst, ich bin ein gedul-diger Zuhörer.«

»Wir haben keine Zeit, Atlan.«

*

Die Stadt zog eine Straße durch den Sand.Roboter hätten beim Auftragen einer Metall-plastschicht allerdings keine Freude gehabt.Es gab so viel wegzuräumen. Wir sahenRohre, Möbelstücke, Schränke und Kästen,teilweise bis zu zwanzig Meter hoch, dazwi-schen Kleinteile, die an Gerätschaften ausdem Alltag der Rhoarxi erinnerten. Eines

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der Dinger ähnelte in seinen Umrissen ei-nem Cueromb.

»Da hat jemand die Tür offen gelassen!«,rief Jolo verwundert. »Sind deine Artgenos-sen derart vergesslich, Tuxit?«

Der Rhoarxi warf den Kopf nach hinten.»Deine Witze waren auch schon besser. Wasdu hier siehst, wurde absichtlich zurückge-lassen.«

Ich ging zu einem der Gegenstände hin-über. Es war ein Stuhl, der den Sesseln aufder Antigravplattform ähnelte. Das Materialbesaß eine rötliche Farbe, erinnerte in seinerOberflächenbeschaffenheit an poliertenSandstein. Als ich den Stuhl in die Handnehmen wollte, brach ein Stück ab. Ehe iches genau betrachten konnte, glitt es mir zwi-schen den Fingern hindurch und fiel in denSand.

Ich brach mir ein anderes Stück ab, eszerfiel in feines Granulat, in dem winzigeKristalle zu erkennen waren. Die beiden Ei-genschaften erinnerten mich an Kieselalgen.

»Das Material frischt den Sand auf«, er-läuterte Tuxit. »Aspoghie wird die Wüstevon außen nach innen durchqueren und sorgtauf diese Weise für Erneuerung.«

»Silizium«, sagte ich. »Alle diese Gegen-stände basieren auf Silizium und seinen De-rivaten.«

»Leben eben.« Tuxit gackerte lauthals.»Wir nennen das Material Potista. Auch diedrei Städte sind Potista. Es ist unsere Hei-mat.«

»Drei Wanderstädte«, sagte ich nachdenk-lich. »Hier in der Intrawelt?«

»Ja. Sie wandern durch verschiedene Tei-le dieser Welt, Zirnatim, Benenses und ebenAspoghie.«

»Und das Potista? Wie funktioniert es?«»Es ist niederes Leben auf Siliziumbasis.

Wir zwingen es dazu, sich nach unseren Be-fehlen zu bewegen. Wir gewinnen es aus ei-ner Art Protoplasma, das Silikate enthält undsich vom Sand der Intrawelt ernährt. Dieaufgenommenen Stoffe wandelt es in semi-organische Masse um. Das Potista vermehrtsich durch Zellteilung. Jede Tochterzelle er-

hält eines von zwei silikathaltigen Schalen-teilen der Mutterzelle und bildet eine weitereSchale aus, die dazu passt. Diese Schalensind das Schutzbehältnis des eigentlichenLebewesens. Nach den biologischen Vor-stellungen des Universums außerhalb ent-spricht es einem protozoischen Einzeller.«

Das, erkannte ich verblüfft, war die Biolo-gie des Siliziumlebens in wenigen Sätzen.

»Die Einzeller innerhalb der Schutzscha-len vermehren sich durch Konjugation, alsodurch den Austausch des Genmaterials. Da-zu legen sich zwei Zellen aneinander undbilden eine Cytoplasmabrücke aus, über dieeine Auxospore mit einer neuen zweiteiligenSchale entsteht. Wichtig für diesen Vorgangist die ständige Zufuhr von Rohsilizium.Nach ungefähr fünfzig Konjugationen er-schöpft sich das genetische Material, die be-troffenen Zellen sterben ab und werden aus-geschieden.«

Tuxit redete wie ein Wasserfall. Er schienfroh zu sein, nicht länger den Geheimniskrä-mer spielen zu müssen.

»Das Potista bewegt sich mit Hilfe vonRaphen fort. Diese geißelähnlichen, extra-zellulären Fäden stehen von den Zellen ab,bewegen diese vorwärts und strudeln auchNahrung heran. Der Vorgang selbst ist mitbloßem Auge nicht sichtbar. Myriaden derPotista-Zellen gleiten über den Boden undbewegen die Wanderstädte.«

»Das ist fantastisch«, sagte ich.Jolo hingegen schüttelte den Kopf.

»Könnte mir das einer zeigen? Ich verstehenämlich kein Wort.«

»Noch gewaltiger als die Fähigkeiten desPotistas sind die Künste meines Volkes!«,trumpfte Tuxit auf. »Sie regen das Potista inseinem Wachstum an oder bremsen es, pas-sen das Potista an die Umgebung mit ihremschwankenden Siliziumgehalt an, lassen dieStädte in nährstoffreichen Gegenden wach-sen, während sie anderswo von allein wiederabmagern. Rhoarxi können das Potista dazuveranlassen, jede gewünschte Form anzu-nehmen. Daher die unterschiedlichen Bau-ten, die ihr gesehen habt. Und all das hinter-

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lassen die Wanderstädte auf ihrer Spur, wäh-rend sich eine Stadt wie Aspoghie innerhalbvon fünftausend Intrawelt-Tagen vollkom-men erneuert.«

Jolo fauchte böse. »Ich verstehe immerweniger!«

»Wenn du in dieser Spur auf Möbel triffstwie den Stuhl dort oder auf ganze Häuseroder andere Gebäude, die aus dem Sand ra-gen wie bestellt und nicht abgeholt, dannhandelt es sich dabei um Silizium-Ausscheidungen der Stadt«, versuchte ichihm klar zu machen.

Die Augen wollten ihm schier aus demKopf treten. Er schnappte nach Luft.»Exkremente? Igitt!«

»Jetzt hast du es doch verstanden«, mein-te Tuxit anerkennend. »Es bleibt ein immer-währender Kreislauf. Der Sand vermischtsich mit den toten Silikaten, Mikroorganis-men bauen ihn um, und nach einigen Rhoar-xi-Generationen kommt die Stadt wiederhier vorbei, weil sie reichlich Nahrung fin-det.«

Für die Rhoarxi musste das eine Spielwie-se sein, wie es sie sonst nirgendwo gab.Ständig neue Gebäude und neue Umgebun-gen ganz nach Laune erschaffen zu können,die alten auszustoßen und täglich neu kreativsein zu können, das musste für sie die Erfül-lung ihrer Existenz sein.

Aber dazu gehörten vermutlich noch an-dere Fähigkeiten als nur künstlerische Krea-tivität beim Erschaffen von Bauwerken. DieStadt musste gesteuert werden, und das setz-te einen intensiven mentalen Kontakt mitdem Organismus voraus. Es kam nicht vonungefähr, dass ich an die Emotionauten ter-ranischer Schlachtschiffe denken musste.Dort verschmolz ein Einzelwesen mit einemtechnischen Giganten und erfüllte kraft sei-nes Geistes die Funktionen einer gewaltigenSteueranlage – so ein kleines Menschenge-hirn!

Bei Aspoghie siedelte ich das Lenksystemnoch eine Etage höher an. Hier ging es umdie Steuerung eines gewaltigen Organismus.

Möglicherweise spielt der Flammenstaub

dabei eine Rolle.Ich stimmte dem Extrasinn zu.

11.Das Duell naht

Die Entscheidung!Uquart sehnte keinen Moment seines Le-

bens so sehr herbei wie diesen. Als ObersterBrüter nahm Uquart die Präsens seines Kon-trahenten wahr. Er spürte sie deutlicher alsjemals zuvor. Dank des Flammenstaubs insich vermochte er das zweite Behältnis men-tal zu »riechen«.

Tuxit war ganz nahe. Und jetzt war er da.

12.Staubjagd

Tuxit hob den Arm und deutete nachvorn. Zum zweiten Mal innerhalb eines ein-zigen Tages tauchte die Stadt hinter den Dü-nen auf. Diesmal kreuzten wir sozusagen ih-ren Weg. Die Antigravplattform hatte Tuxitein paar Kilometer weit im Hinterland tief inden Sand gegraben. Wir selbst stecktenebenfalls bis zu den Köpfen im weichen Un-tergrund. Jolo hatte uns vorgemacht, wieman durch schnelle Körperdrehungen einemöglichst tiefe Kuhle bildete.

Bei Tuxit brachte das nichts. Sein runder,fast kugelförmiger Körper hätte ein Lochvon gut zwei Metern Tiefe benötigt. Alsobehalfen wir uns damit, ihn mit Sand zuzu-schütten. Als gelehrige Schüler rhoarxischerBaumeister schoben wir den Sand rundher-um so auf, dass er wie eine gestauchte Düneaussah, aus der eine Halskrause mit einemfleckigen Schnabel und ziemlich farblosemGesicht ragte. Jetzt, da wir ihn eingegrabenhatten und er zumindest kurzfristig zu keinerGegenwehr fähig war, beschloss ich, dieseGelegenheit zu nutzen. Ich stellte mich ne-ben seinen Kopf, den Stiefel dicht am emp-findlichen Hals.

»Du kennst den Grund, warum ich in derIntrawelt bin. Und du weißt, dass ich nichtohne den Flammenstaub zurückkehren wer-

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de. Du wirst mir eine Portion dieses Stoffesbesorgen.«

»Alles zu seiner Zeit, Atlan«, klang esmüde aus dem dicken Hackschnabel. »Mirscheint jedoch, dass du ein wenig verges-slich geworden bist. In erster Linie wolltestdu Informationen. Die wirst du bekommen,sobald wir nach Aspoghie vorgedrungensind. Was den Flammenstaub angeht, nun,da solltest du Realist bleiben. Er ist tabu. Erdarf nie ins Normaluniversum gelangen.Oder was, glaubst du, ist der Grund, warumwir seit 1,1 Millionen Jahren an der Intra-welt bauen? Nur äußerst langlebige Völkerdürfen sich an ein solches Werk wagen. Diemeisten überleben die ersten zehntausendJahre ihrer raumfahrenden Zivilisation nicht.Ist ein Erfahrungswert.«

»Auch ich habe Erfahrungswerte«, gabich zur Antwort. »Die genaue Beurteilungeines Sachverhalts für meinen Lebensraumist erst dann möglich, wenn ich die nötigenInformationen besitze. In den Anfangszeitenmeines Volkes haben unsere VorfahrenNahrungsmittel gesammelt, später dann be-nötigten sie Wissen zum Überleben. Das istbis heute so geblieben. Warum also mussder Flammenstaub so dringend vom Norma-luniversum fern gehalten werden? Wasmacht ihn so gefährlich?«

»Die Antwort wird dich verblüffen. Erzeigt bei Nicht-Rhoarxi deutlich gefährliche-re und stärkere Auswirkungen. Nur Rhoarxisind in der Lage, mit diesem Stoff umzuge-hen. Bei allen anderen Lebewesen wird erzur Todesfalle. Du könntest mit dem Flam-menstaub den Bestand des Multiversums ge-fährden, wärst nicht in der Lage, das Unheilaufzuhalten. Und wenn du selbst diesenStoff zu dir nähmest, würdest du über kurzoder lang daran zugrunde gehen.«

Ich lächelte unmerklich. Auf die Wirkungmeines Zellaktivators konnte ich mich ver-lassen. Die Existenz dieses Geräts mussteich Tuxit aber nicht unbedingt auf die Nasebinden.

Woher nimmst du die Gewissheit, dass eres nicht längst weiß?, bohrte mein Extra-

sinn. Du vergisst die vielfältigen Möglich-keiten des Cueromb.

Ganz sicher bin ich mir ja auch nicht.Bei Tuxit handelte es sich nicht um ein

Wesen, das leichtfertig Vermutungen äußer-te, sondern immer genau wusste, was es sag-te.

Der Rhoarxi war auch der Meinung, dasszu diesem Thema genug gesagt war. Erwechselte abrupt das Thema. »Die Stadtzieht vorüber. Bisher hat sie uns nicht be-merkt. Brechen wir auf, bevor es zu spätist.«

Das war ausgesprochen zweideutig for-muliert, aber ich verkniff mir eine entspre-chende Frage. Wie Schlangen glitten wir ausdem Sand und rannten geduckt los.

*

Die Stadt bewegte sich langsamer als beiunserer ersten Begegnung. Wenn man in dentechnischen Abteilungen Aspoghies auchnur annähernd aufmerksam die Tasteranzei-gen beobachtete, mussten die drei organi-schen Wesen in der Nähe der Wanderstadtauffallen.

Oder wenn das aus verschiedenen Grün-den nicht geschah, gab es bestimmt irgend-wo Messgeräte, die auf den Flammenstaubreagierten und die Nähe Tuxits anzeigten.

Der Rhoarxi schien sich Ähnliches zuüberlegen. Er hatte es plötzlich ungemein ei-lig. Mit wirbelnden Beinen fegte er durchden Sand, warf Fontänen in die Höhe, dieuns die Sicht nahmen, uns aber gleichzeitiggegenüber der Stadt Sichtschutz boten.

Die Entfernung zu Aspoghie schätzte ichauf dreihundert Meter – Luftlinie. Wir mus-sten ungefähr die doppelte bis dreifacheStrecke zurücklegen, um nicht mühsam überDünenkämme klettern zu müssen. So gese-hen waren wir keinen Meter zu nah an derStadt, die mit schätzungsweise zwanzigStundenkilometern an uns vorbeizog. Aufkurze Strecke war das im Spurt zu bewälti-gen, auf lange hingegen hatten wir keineChance mit Ausnahme des Rhoarxi.

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»Beeilt euch!«, krächzte Tuxit denn auchwie zum Hohn. »Ich kann nicht auf euchwarten!«

Entschlossen packte ich Jolo und warf ihnmir wie schon einmal über die Schulter. Erwar klein und leicht, ein Fliegengewicht imVergleich zu Tuxit, dessen Körpergewichtich auf das Dreifache meines eigenenschätzte. Geniale Baumeister waren dieRhoarxi, und in ihren Körpern schien Ener-gie für weitere Jahrmillionen zu stecken.

Zwischen zwei Dünenkämmen tauchteder Sockel des Potistas in meinem Blickfeldauf. Zum ersten Mal erhielt ich einen vagenEindruck dessen, was diese Stadt war. Inden fließenden, schichtweisen Bewegungender Mikrostrukturen lag ein majestätischesDahingleiten, untermalt von einem Flim-mern, mit dem meine Augen nicht zurecht-kamen. Es war kein flirrendes Licht, aberauch keine äußerliche Farbe, eher ein Ein-druck, der sich in mein Bewusstsein brannteund dem Gehirn vorgaukelte, etwas zu se-hen, was nicht vorhanden war.

Es wirkte sich auf meine Motorik aus.Meine Beine wollten nicht mehr dorthin lau-fen, wo der Rhoarxi vor uns herrannte. Sieproduzierten Abweichungen, und ich gerietins Stolpern. Im Altertum Terras hatte ichähnliche Symptome schon am eigenen Leibgespürt, und jetzt holte das Glitzern alle jeneversunkenen Erinnerungen wieder hervor,öffnete meinen Mund und ließ mich reden.Ich wehrte mich dagegen, aber es wirktenicht. Diesen inneren Zwang kannte ich ausder Vergangenheit zur Genüge. Er hatte sichnie abstellen lassen.

»Atlan, hierher!«, schrie Tuxit. Ich nahmes wie von weitem wahr. Die wogendeWand des Potistas überzog sich mit einemSchleier, der in Wahrheit vor meinen Augenhing. Ich stolperte, spürte schmerzhaft JolosKrallen, mit denen er sich instinktiv an michklammerte. Ich streckte den freien Arm aus,um rechtzeitig vor dem Zusammenstoß mitder Stadt gewarnt zu sein.

Etwas Hartes schlug in meine Handfläche.Gleichzeitig verschwand der Schleier, klär-

ten sich blitzartig meine Sinne. Ich sah Tuxitvor mir. So fest es ging, klammerte ich michan die Kralle. Er riss mir fast den Arm aus,als er sich vorwärts schnellte und einen Satzins Innere des Potistas machte, das sich so-fort wie Gallert um mich schloss. Ich wollteeinen Schreckensruf ausstoßen, öffnete da-bei den Mund – es schoss wie ein überdi-mensionaler Korken hinein, drängte inMund und Rachen, löste den Schluckreflexaus. Ich hatte den Eindruck, gewaltige Mas-sen Silizium hinuntergeschluckt zu haben.

Und es drängte immer mehr nach.Irgendetwas geht hier gewaltig schief!Das war mein letzter Gedanke.

13.Häppchen-Spuren

Manchmal kam Peonu in diesen Tagenaußer Atem. Es gestaltete sich mühsam, denSpuren seines Seelenhäppchens zu folgen.Atlan trieb es kreuz und quer durch die In-trawelt, manchmal schnell, manchmal ge-mächlich. Wäre der Seelenanker nicht sostark gewesen, Peonu hätte irgendwann dieFährte und den Kontakt verloren.

So aber …Der Seelenhorter schickte zusätzlich seine

Häppchen aus, um Informationen über denArkoniden und seine Begleiter einzuholen.Was sie herausfanden, überstieg alles, waser erwartet hatte.

Einer von Atlans Begleitern musste vongroßer Bedeutung in der Intrawelt sein. DieGondelwärter, aber auch Anstizen und Drie-ten erstarrten vor Ehrfurcht, wenn er sich nä-herte. Das Wesen benutzte angeblich diesenseltsamen Armreif, das High-Tech-Gerät derRhoarxi, als würde es ihm gehören.

Aber das konnte nicht sein, überlegte Peo-nu, während er aus einer Gondelstation tratund sich auf den Weg in die neu errichteteParzelle machte. Nach ein paar Stunden aufder Spur seines Seelenhäppchens entdeckteer das gewaltige Gebilde, das sich durch dieWüste schleppte.

Peonu wusste bei dem Anblick nicht, ob

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er triumphieren sollte. Eines wusste er abergenau: Atlan war irgendwo in der Nähe.

Es war Zeit, dass der Seelenhorter die In-itiative ergriff.

ENDE

E N D E

Wanderstadt Aspoghievon Hans Kneifel

Die wandernde Stadt Aspoghie hält für Tuxit, den Träger des Flammenstaubs, Atlan undJolo einige Überraschungen bereit. Hier endet Atlans lange und beschwerliche Reise zu-nächst einmal – das glaubt jedenfalls der Unsterbliche.

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