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SPOTLIGHT GESUNDHEIT
Daten, Analysen, Perspektiven | Nr. 7, 2017
Rückenoperationen Der Wohnort bestimmt, ob Patienten ins Krankenhaus kommen, konservativ behandelt oder operiert werden
●● Stationäre Versorgung boomt: Mehr als 600.000 Patienten mit Rücken-
beschwerden kommen ins Krankenhaus – ein Drittel mehr als noch 2007
●● Immer mehr Operationen: Die Zahl der operativen Eingriffe an der
Wirbelsäule hat sich seit 2007 sogar um 71 Prozent erhöht
●● Große regionale Unterschiede: Bei Klinikaufenthalten und Operationen
am Rücken unterscheiden sich die Fallzahlen der Kreise bis zum 13-Fachen
●● Viele Klinikaufenthalte vermeidbar: Besonders bei der Diagnose
„Rückenschmerzen“ kann eine bessere ambulante Notfallversorgung eine
Einweisung ins Krankenhaus vermeiden
●● Steuerung und Planung unzureichend: Steuerungsmechanismen haben
Mengenzunahme und regionale Unterschiede bisher nicht verhindert
2 Spotlight Gesundheit – Thema: Rückenoperationen
Autoren
Eckhard VolbrachtProject Managereckhard.volbracht@ bertelsmann-stiftung.de
Andrea FürchtenichtProject [email protected]
Marion Grote-WestrickSenior Project [email protected]
Fast jeder Mensch hat im Laufe seines Lebens mit Rückenschmerzen zu tun; viele suchen irgendwann einen Arzt auf. Doch im
rheinland-pfälzischen Birkenfeld oder im westfä-lischen Hamm ist es bis zu sechsmal wahrschein-licher, wegen Rückenschmerzen ins Krankenhaus zu kommen, als in Heidelberg oder Oldenburg. Noch größer sind die regionalen Unterschiede bei aufwendigen operativen Eingriffen an der Wirbel-säule: So wird Patienten aus dem Landkreis Fulda bis zu 13-mal häufiger die Wirbelsäule versteift als Patienten aus Frankfurt (Oder).
Große regionale Unterschiede sind immer ein deutlicher Hinweis auf nicht bedarfsgerechte Versorgung und auf Mängel in den Versorgungs-strukturen. Rein medizinisch oder soziodemo- graphisch, etwa durch die Bevölkerungsstruktur, sind die großen regionalen Unterschiede in der Behandlung von Patienten mit Rückenproblemen nicht zu erklären. Mit der Nationalen Versorgungs- leitlinie Kreuzschmerzen wird seit gut zehn Jah-ren versucht, gegen Über-, Unter- und Fehlver-sorgung in diesem Bereich vorzugehen.
Die Bertelsmann Stiftung hat im zweiten Teil ihres „Faktencheck Rücken“ die Entwicklung der stationären Versorgung von Patienten mit Rücken- problemen genauer untersucht. Der erste Teil des Faktenchecks (siehe Spotlight Gesundheit Nr. 5/2016) zeigte bereits, dass zu oft und zu früh geröntgt und andere bildgebende Diagnostik durchgeführt wird. Jetzt wertete das Berliner IGES Institut öffentlich verfügbare Daten der Jahre 2007 bis 2015 zur Anzahl der Krankenhausaufent-halte und Operationen an der Wirbelsäule aus. Stationäre und operative Maßnahmen sind für Patienten oft sehr belastend und auch meist teu-rer als andere Therapien. Zudem deuten Befra-gungen darauf hin, dass die Behandlungsergeb-nisse häufig nicht den Erwartungen der Patienten entsprechen.
Wie bei der bildgebenden Diagnostik zeigten sich in diesem Faktencheck große regionale Unter-schiede – sowohl bei operativen Eingriffen als auch bei Klinikaufenthalten. Die Studie geht auch den Ursachen und Einflussfaktoren nach, die
möglicherweise eine Rolle spielen. Die wichtigsten Ergebnisse werden in diesem Spotlight vorgestellt.
Immer mehr Patienten mit Rückenbeschwerden kommen ins Krankenhaus
Die Zahl der Krankenhausaufenthalte aufgrund aller Erkrankungen der Wirbelsäule und des Rückens (ICD-Gruppe M40-54) hat sich von 2007 bis 2015 um 154.000 auf 611.000 Fälle pro Jahr erhöht. Das entspricht einem Zuwachs von 34 Prozent. Zum Vergleich: Die Zahl aller statio-nären Behandlungen ist im gleichen Zeitraum nur um 12 Prozent gewachsen.
Bei der für den Faktencheck betrachteten Hauptdiagnose „Rückenschmerzen“ (M54) war der Anstieg mit 73 Prozent auf bundesweit 200.000 stationäre Fälle 2015 besonders drastisch. Von den drei weiteren für den Faktencheck ausge-wählten Hauptdiagnosen (siehe Kasten, Seite 3) weisen auch „Spondylose“ (M47) und „Sonstige Spondylopathien“ (M48) große Zuwächse auf, während die „Sonstigen Bandscheibenschäden“ (M51) mit 147.000 Krankenhausfällen 2015 nur geringfügig über dem Wert von 2007 lagen (siehe Abbildung 1).
Immer mehr Operationen an der Wirbelsäule
Mit der Menge der Krankenhausaufenthalte hat sich auch – und zwar noch stärker – die Zahl der operativen Eingriffe an Bandscheibe und Wirbel- säule erhöht. Sie stieg von 2007 bis 2015 um 71 Prozent von 452.000 auf 772.000. Bei den drei
Die Indikationen zur Operation (sind) bei den bandscheibenbedingten
bzw. degenerativen Erkrankungen der Wirbelsäule weniger klar als
allgemein angenommen. Sachverständigenrat Gesundheit, Gutachten
2000/2001, Bd. III. Ziffer 219
Spotlight Gesundheit – Thema: Rückenoperationen 3
von der Bertelsmann Stiftung untersuchten Ein-griffen betraf das besonders die Entfernung von Wirbelteilen, die eine Verengung des Rücken-markkanals verursachen. Die Zahl dieser „knö-chernen Dekompressionen“ (OPS 5-839.6) hat um rund 130 Prozent zugenommen – von 48.000 Ein-griffen 2007 auf 111.000 im Jahr 2015. Besonders stark war der Anstieg in Thüringen, wo sich diese Operationen in acht Jahren verdreifachten.
Operationen zur Verblockung oder Versteifung von Wirbelkörpern (OPS 5-836) nahmen im glei-chen Zeitraum um 57 Prozent von 46.000 auf 72.000 zu. In Hessen und Thüringen werden am häufigsten – fast doppelt so oft wie in Sachsen oder Bremen – Versteifungsoperationen vorge-nommen (siehe Abbildung 2). Patienten aus die-sen beiden Bundesländern werden auch deutlich
Diagnosen und operative Eingriffe bei Rückenerkrankungen
Für diesen „Faktencheck Rücken“ wurden Daten
von rund fünf Millionen stationären Behandlungen
aus den Jahren 2007 bis 2015 ausgewertet. Es
handelt sich um alle Patienten, die mit einer der
folgenden ICD-10-Hauptdiagnosen vollstationär
aufgenommen wurden (unberücksichtigt blieben
traumatologische und entzündliche Erkrankun-
gen sowie Erkrankungen der Halswirbelsäule):
• M47: Spondylose
(Gelenkverschleiß der Wirbelsäule)
• M48: Sonstige Spondylopathien
(Veränderungen der Wirbel, oft mit
Verengung des Rückenmarkkanals)
• M51: Sonstige Bandscheibenschäden
• M54: Rückenschmerzen
Bei den Operationen wurden folgende drei
Eingriffe / Prozeduren (OPS-Codes) untersucht
(während einer Operation können mehrere
Prozeduren vorgenommen werden):
• OPS 5-831: Entfernung Bandscheiben-
gewebe
• OPS 5-836: Spondylodese (Verblockung /
Versteifung von Wirbelkorpern)
• OPS-5-839.6: Knöcherne Dekompression
(Entfernung knöcherner Anbauten am Wir-
belkanal, die eine Verengung des Spinalkanals
verursachen)
Krankenhausaufenthalte mit einer Hauptdiagnose M47, M48, M51
oder M54
Fälle in Tausend, Jahre 2007 bis 2015, Bevölkerung im Alter ab 15 Jahren
Häufigkeit von operativen Eingriffen zur Verblockung
bzw. Versteifung von Wirbelkörpern (OPS 5-836) und deren
relative Veränderung zwischen 2007/2008 und 2014/2015
Fälle je 100.000 Einwohner, direkt standardisiert an der Bevölkerung des Jahres 2014 nach Altersgruppen, Bevölkerung im Alter ab 15 Jahren
n M51 Sonstige Bandscheibenschäden n●M54 Rückenschmerzen n●M48 Sonstige Spondylopathien n●M47 Spondylose Abbildung 1 | Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen IGES 2017, Faktencheck Gesundheit 2017
nn 2007/2008 nn 2014/2015 Abbildung 2 | Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnung IGES 2017, Faktencheck Gesundheit 2017
Thüringen
Hessen
Saarland
Hamburg
Mecklenburg-Vorpommern
Rheinland-Pfalz
Schleswig-Holstein
Bayern
Sachsen-Anhalt
Deutschland
Berlin
Niedersachsen
Baden-Württemberg
Nordrhein-Westfalen
Brandenburg
Bremen
Sachsen 49
64
58
64
70
75
71
80
80
79
73
71
66
67
96
99
77
82
85
95
95
95
95
102
103
105
107
108
109
116
120
139
140
78
55 %Þ
27 %Þ
8 %Þ
63 %Þ
48 %Þ
36 %Þ
26 %Þ
44 %Þ
30 %Þ
30 %Þ
35 %Þ
49 %Þ
54 %Þ
77 %Þ
80 %Þ
45 %Þ
42 %Þ
2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 20150
100
200
300
400
500
600
358381
411439
461 471 476503
489
4 Spotlight Gesundheit – Thema: Rückenoperationen
häufiger mit der dazu passenden Diagnose „Sons-tige Spondylopathien“ (M48) ins Krankenhaus aufgenommen. Hohe OP-Raten und Fallsteigerun-gen um bis zu 80 Prozent bei Wirbelverblockun-gen und -versteifungen weisen außerdem das Saarland und Hamburg auf.
Große regionale Unterschiede
Der Vergleich der 16 Bundesländer und 402 deut- schen Stadt- und Landkreise zeigt deutliche Unter- schiede bei Krankenhausaufenthalten und opera- tiven Eingriffen am Rücken. So kommen Menschen mit Rückenproblemen im Saarland fast doppelt so häufig ins Krankenhaus wie in Baden-Würt-temberg. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie statio- när versorgt werden, ist nach Alter und Geschlecht standardisiert um 32 Prozent höher als im Bun-desdurchschnitt. Nordrhein-Westfalen liegt um 19 Prozent darüber, die Stadtstaaten Hamburg, Berlin und Bremen sowie Baden-Württemberg liegen um 30 bis 37 Prozent darunter.
Die deutlichste Zunahme über die Jahre seit 2007 verzeichnen Hessen (+47 %) und das Saarland (+45 %). In Hamburg und Schleswig-Holstein erhöhte sich die standardisierte Krankenhaushäu-figkeit im gleichen Zeitraum dagegen nur um sechs bzw. acht Prozent. In Bremen war sie sogar leicht rückläufig (siehe Abbildung 3).
Viele Krankenhausaufenthalte sind vermeidbar
Wie die Analysen des „Faktenchecks Rücken“ zeigen, werden Patienten mit der breiten Diag-nose „Rückenschmerzen“ (M54) besonders häufig stationär aufgenommen. Oft bleiben sie nur ein, zwei oder drei Tage und werden weder operiert, noch erhalten sie eine spezielle Schmerztherapie. Ihr stationärer Kurzaufenthalt dient primär der radiologischen Diagnostik. Diese stationären Auf-enthalte verursachen im Vergleich zur ambulan-ten Versorgung hohe Kosten und sind in der Regel nicht notwendig.
Besonders häufig sind Krankenhausaufenthalte in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Rheinland- Pfalz. Bayern verzeichnet seit 2007 den größten Zuwachs. Dort wurden 2015 mehr als doppelt so viele Patienten mit der Hauptdiagnose „Rücken-schmerzen“ in ein Krankenhaus aufgenommen wie acht Jahre zuvor.
Schleswig-Holstein fällt durch besonders wenige Krankenhausaufenthalte auf. Bei der Diagnose „Rückenschmerzen“ gab es seit 2007 nur eine vergleichsweise geringe Zunahme um
Krankenhausaufenthalte aufgrund einer Hauptdiagnose
M47, M48, M51 oder M54 und deren relative Veränderung zwischen
2007/2008 und 2014/2015
Fälle je 100.000 Einwohner, direkt standardisiert an der Bevölkerung des Jahres 2014 nach Altersgruppen und Geschlecht, Bevölkerung im Alter ab 15 Jahren
nn 2007/2008 nn 2014/2015 Abbildung 3 | Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnung IGES 2017, Faktencheck Gesundheit 2017
Saarland
Rheinland-Pfalz
Nordrhein-Westfalen
Sachsen-Anhalt
Thüringen
Hessen
Bayern
Deutschland
Brandenburg
Niedersachsen
Sachsen
Mecklenburg-Vorpommern
Schleswig-Holstein
Baden-Württemberg
Bremen
Berlin
Hamburg 437
472
484
487
564
575
638
668
694
701
756
759
811
819
833
864
924
413
379
495
422
521
497
458
539
579
540
580
517
660
613
595
671
635
2%
16%
8%
16%
39%
24%
20%
30%
30%
47%
23%
34%
40%
29%
45%
6%Þ
Þ
Þ
Þ
Þ
Þ
Þ
25%Þ
Þ
Þ
Þ
Þ
Þ
Þ
Þ
Þ
Þ
Notfallpraxen vermeiden Klinikaufenthalte
In Schleswig-Holstein wurden seit dem Jahr
2007 flächendeckend an 30 Krankenhaus-
standorten allgemein-ärztliche Notfallpraxen
eingerichtet. Daraus resultierte, dass außerhalb
der üblichen Praxisöffnungszeiten kaum noch
Patienten aufgrund von Rückenschmerzen
stationär aufgenommen werden. In nahezu allen
schleswig-holsteinischen Stadt- und Landkrei-
sen liegt die Aufnahmerate unter dem bundes-
weiten Durchschnitt, wie die Analysen der Ber-
telsmann Stiftung zeigen. Das Beispiel illustriert,
wie die Potenziale zur Vermeidung stationärer
Aufnahmen bei Patienten, die ebenso gut ambu-
lant behandelt werden können, gehoben werden
können.
Spotlight Gesundheit – Thema: Rückenoperationen 5
32 Prozent (63 % im Bundesdurchschnitt), bei den Diagnosen „Bandscheibenschäden“ und „Spondy-lose“ verringerten sich die stationären Fälle sogar. Ein Grund könnten unterschiedliche Versorgungs-strukturen sein (siehe Kasten, Seite 4).
Regionale Muster verstärken sich
Die Unterschiede in der Versorgung sind zwischen den 402 deutschen Stadt- und Landkreisen noch viel ausgeprägter als beim Ländervergleich. Sie haben sich seit 2007 auch noch vergrößert: Damals betrug der Unterschied zwischen dem Kreis mit der geringsten Krankenhausrate und dem mit der höchsten Rate das 4,9-Fache, heute ist es das 6,3-Fache. Bei Versteifungsoperationen der Wirbelsäule stieg der Quotient aus höchster und niedrigster Rate sogar von 7,8 auf 13,2.
Im Landkreis Birkenfeld (Rheinland-Pfalz) kommen Patienten mit Rückenschmerzen etwa viermal häufiger ins Krankenhaus als in Ludwigs-burg (Baden-Württemberg), Patienten aus Unna dreimal häufiger als in Ulm. In den Kreisen Fulda und Hersfeld-Rotenburg (beide Hessen) wird Patienten fünfmal häufiger die Wirbelsäule ver-steift als im Kreis Ravensburg (Baden-Württem-berg) oder in Essen; im Vergleich zu Frankfurt (Oder) sogar 13-mal häufiger. In Nordrhein- Westfalen liegt Hamm an der Spitze bei diesem sehr aufwendigen Eingriff. Die Entfernung von knöchernen Strukturen der Wirbelsäule wird in einigen Kreisen Nordosthessens bis zu sieben- mal häufiger vorgenommen als in Marburg-Bie-denkopf oder in Leipzig (siehe Abbildungen 4 und 6).
In Kreisen, in denen die Zahl der Krankenhaus- aufenthalte und Operationen bei Rückenproblemen bereits 2007/2008 besonders hoch war, ist dies auch heute meist noch der Fall. Und das Versor-gungsmuster färbt auf Nachbarkreise ab: So ist in Nord- und Osthessen sowie im angrenzenden Westthüringen mittlerweile ein großes zusammen- hängendes Gebiet entstanden, in dem fast alle Stadt- und Landkreise eine sehr hohe Kranken-hausinanspruchnahme und Operationsrate auf-weisen (siehe Abbildung 5).
Lokale Strukturen fördern regionale Fehlversorgung
Die regionalen Versorgungsunterschiede können viele Gründe haben: So unterschiedlich Patienten sind, so verschieden sind Ärzte und auch Struk- turen, ist die Zusammenarbeit von Praxen und
Am häufigsten: Am seltensten:
567 Hersfeld- Rotenburg514 Fulda461 Unstrut- Hainich-Kreis
85 Sächsische Schweiz- Osterzgebirge87 Cottbus91 Dresden
355 Fulda284 Hersfeld- Rotenburg266 Vogelsbergkreis
27 Frankfurt (Oder)50 Cottbus51 Osnabrück
549 Fulda404 Hersfeld- Rotenburg390 Vogelsbergkreis
40 Frankfurt (Oder)43 Brandenburg an der Havel52 Cottbus
Hersfeld- Rotenburg
Sächsische Schweiz- Osterz- gebirge
Cottbus
Dresden
Frankfurt (Oder)
Osnabrück Brandenburg an der Havel
Unstrut- Hainich- Kreis
Vogelsberg- kreis
Fulda
Bandscheiben-Operation (OPS 5-831)199 Bundesdurchschnitt
Verblockung/Versteifung von Wirbelkörpern (OPS 5-836) 102 Bundesdurchschnitt
Knöcherne Dekompression (OPS 5-839.6)155 Bundesdurchschnitt
Eingriffe am Rücken: Wo wird am häufigsten operiert?
Operative Eingriffe je 100.000 Einwohner, 2014/2015, direkt standardisiert an der Bevölkerung des Jahres 2014 nach Altersgruppen, Bevölkerung im Alter ab 15 Jahren
Abbildung 4 | Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnung IGES 2017, Faktencheck Gesundheit 2017
„Ausdehnung“ des operativen Eingriffs „Knöcherne Dekompression“
(OPS 5-839.6) in Nord- und Osthessen und Westthüringen zwischen
2007/2008 und 2014/2015
Veränderung der regionalen Prozedurenhäufigkeit von 2007/2008 auf 2014/2015 (Prozentangaben) und Häufigkeit des operativen Eingriffs je 100.000 Einwohner im Vergleich zum Bundesdurchschnitt (Farbgebung), direkt standardisiert an der Bevölkerung des Jahres 2014, Bevölkerung ab 15 Jahren
Abbildung 5 | Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnung IGES 2017, Faktencheck Gesundheit 2017
LandkreisKassel
Waldeck-Frankenberg Schwalm-
Eder-KreisHersfeld-
Rotenburg
Fulda
Vogelsberg-kreis
Marburg-Biedenkopf
Werra-Meißner-Kreis
Eisenach
Wartburg-kreis
Gotha
Schmalkalden-Meiningen
Rhön-Grabfeld
Bad Kissingen
Gießen
Wetteraukreis
Main-Kinzig-Kreis
+131%
+96%
+96%
+72%
+97%
+206%+89%
+126%
+171%
+328%
+1.224%+229%
+162%+122%
+187%
+1.004%
+53%
1
2
3
4
5
2007 / 2008 2014 / 2015
Unter dem Bundesdurchschnitt Bundesdurchschnitt über dem Bundesdurchschnitt
6 Spotlight Gesundheit – Thema: Rückenoperationen
Kliniken, sind Indikationsstellungen und wirt-schaftliche Interessen.
Nach der Studie der Bertelsmann Stiftung hat die Zahl der Krankenhausbetten, der Hausärzte und Orthopäden sowie der Belegabteilungen nur einen geringen statistisch nachweisbaren Einfluss auf die Versorgung von Rückenpatienten. Das gilt auch für soziale Indikatoren wie die Arbeitslosen-quote oder den Anteil der Rentner mit Grund- sicherung sowie den Kreistyp (von großstädtisch bis ländlich). All diese objektiven Faktoren erklä-ren die regionalen Unterschiede bei der Rücken-versorgung statistisch nur zu rund zehn Prozent. Es ist daher davon auszugehen, dass andere Ein-flussfaktoren bestimmend sind.
Wissenschaftlich gut belegt ist, dass regionale Unterschiede immer dann besonders groß sind, wenn klare medizinische Leitlinien fehlen, wie es bei spezifischen Kreuzschmerzen der Fall ist. Die Spielräume für lokale Besonderheiten sind umso größer, je unsicherer die Evidenzlage ist. Daraus entstehen lokale Versorgungsmuster: „surgical signatures“. Auch die extremen Unterschiede bei
der Versorgung von Patienten mit Rückenleiden in Deutschland können ihre Ursache in regional vorherrschenden Versorgungsgewohnheiten der ortsansässigen Leistungserbringer haben.
Steuerungsmechanismen versagen
Die drastische Zunahme der Leistungen bei Rückenerkrankungen kann viele strukturelle und infrastrukturelle Ursachen haben. Finanzielle Anreize, attraktive Vergütungen oder Budgetvor- gaben treiben das Mengenwachstum ebenso wie Patientenerwartungen, Marketing sowie man-gelnde Abstimmung und Koordination der Leis-tungserbringer. Auch technologische Weiterent- wicklungen und die Notwendigkeit der Amortisie-rung von Geräten haben in der Vergangenheit dazu geführt, dass Krankenhäuser teilweise gezielt mehr Patienten stationär behandelt haben, als es medi-zinisch erforderlich gewesen wäre.
Die Versuche, durch bessere Planung und Steu-erung die Versorgung bei Rückenerkrankungen bedarfsgerechter zu gestalten und die Mengen-
Häufigkeit des operativen Eingriffs …
Je 100.000 Einwohner, 2014/2015, direkt standardisiert an der Bevölkerung des Jahres 2014 nach Altersgruppen, Bevölkerung ab 15 Jahren
Die Werte einzelner Kreise können im interaktiven Kartentool auf faktencheck-rücken.de eingesehen und vergleichen werden.Abbildung 6 | Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnung IGES 2017, Faktencheck Gesundheit 2017
n < 79,8 (0) n●≥ 79,8 – < 119,6 (20)
n●≥ 119,6 – < 159,5 (62) n●≥ 159,5 – < 239,3 (194)
n●≥ 239,3– < 279,1 (70) n●≥ 279,1 – < 319,0 (31)
n●≥ 319,0 (25)
n < 61,9 (3) n●●≥ 61,9 – < 92,8 (17)
n●≥ 92,8 – < 123,8 (99) n●≥ 123,8 – < 185,7 (165)
n●≥ 185,7 – < 216,6 (69) n●≥ 216,6 – < 247,6 (28)
n●≥ 247,6 (21)
n < 40,7 (1) n●≥ 40,7 – < 61,0 (15)
n●≥ 61,0 – < 81,4 (81) n●≥ 81,4 – < 122,0 (203)
n●≥ 122,0– < 142,4 (56) n●≥ 142,4 – < 162,7 (26)
n●≥ 162,7 (20)
… „Entfernung von Bandscheibengewebe“ (OPS 5-831)
… „Knöcherne Dekompression“ (OPS-5-839.6)
… „Verblockung/Versteifung von Wirbelkörpern“ (OPS 5-836)
Spotlight Gesundheit – Thema: Rückenoperationen 7
entwicklung zu beeinflussen, waren bisher nicht sehr erfolgreich. Das liegt unter anderem daran, dass die Bundesländer es den Krankenkassen und Kliniken weitgehend überlassen haben, Leistungs- mengen und Vergütungen für die stationäre Behandlung von Rückenerkrankungen zu verein-baren, statt auch Festlegungen über die Kranken-hausplanung vorzunehmen.
Mit der Weiterentwicklung des DRG-Katalogs (Fallpauschalen) wird versucht, operative Ein-griffe an der Wirbelsäule weitgehend sachgerecht zu vergüten. Das hat die Mengensteigerung aber nicht verhindert. Qualitätsaspekte und die Frage, ob eine Operation überhaupt das Beste für den Patienten ist, werden bislang kaum beachtet. Bei Abrechnungsprüfungen des Medizinischen Diens-tes der Krankenkassen (MDK) zur Notwendigkeit und Dauer eines stationären Aufenthaltes gab es im Jahr 2010 bei gut der Hälfte der geprüften Fälle Beanstandungen.
Kürzlich wurde entschieden, die Vergütungen im Bereich Rückenerkrankungen ab 2017 um etwa sechs Prozent zu senken. Das im Dezember 2015 in Kraft getretene Krankenhausstrukturgesetz (KHSG) erlaubt solche Vergütungsabschläge, wenn Anhaltspunkte für wirtschaftlich begründete Fallzahlsteigerungen vorliegen.
Mindestmengen für Leistungen im Bereich der Erkrankungen der Wirbelsäule und des Rückens – und damit eine Zentralisierung auf wenige Anbieter – gibt es bisher nicht, auch keine Kriterien für die indikationsbezogene Notwendig-keit und Qualität diagnostischer und operativer Leistungen. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) der Ärzte, Krankenkassen und Kranken-häuser hat seine Regelungskompetenzen hier
bisher nicht genutzt. Wirbelsäulenoperationen sind bislang auch nicht als „mengenanfällige Eingriffe“ eingestuft worden, sodass gesetzlich Krankenversicherte noch keinen Anspruch auf eine ärztliche Zweitmeinung vor der Operation haben. Zweitmeinungsverfahren beeinflussen jedoch erwiesenermaßen die Art der Behandlung und die Operationshäufigkeit ganz erheblich.
Patientenwohl muss der ethische Maßstab für das Krankenhaus sein
Medizinisches und gesundheitspolitisches Ziel muss es sein, unerwünschte Versorgungsunter-schiede zu verringern. In Deutschland ist dieses Anliegen aufgrund der föderalistischen und selbst-verwalteten Organisation der Gesundheitsver- sorgung komplex. Zusätzlich erschwert wird es durch unzureichende Steuerungsmöglichkeiten der regionalen Einheiten, kreisfreien Städte und Landkreise. Umso mehr ist es für alle Beteiligten eine ethische Verpflichtung, eine präferenz- und bedarfsgerechte Versorgung der Patienten zu gewährleisten sowie unnötige Belastungen und Gefährdungen zu vermeiden. Das Patienten-wohl muss auch für die Krankenhäuser der ethi-sche Maßstab sein, so der Deutsche Ethikrat, der im vergangenen Jahr deshalb unter anderem die Entwicklung von Vergütungsmodellen zur Verhin-derung unnötiger Eingriffe forderte sowie eine am Patientenwohl ausgerichtete Krankenhaus- planung.
Die Analysen zu rücken- schmerzbedingten Kranken-hausaufenthalten und opera-tiven Eingriffen wurden vom IGES Institut auf Grundlage der DRG-Statistik und Sonderauswertungen des Statistischen Bundesamtes durchgeführt. Die regionalen Daten haben einen Wohn-ortbezug und sind direkt standardisiert.
Download der Studie unter faktencheck-rücken.de
2.115operative Eingriffe am Rücken gab es 2015 durchschnittlich pro Tag, 2007 waren es 1.238
611.000 Krankenausaufent-halte wurden 2015 wegen Erkrankun-gen des Rückens verzeichnet
-mal höher liegt die Rate der Versteifungs-operationen im Kreis mit der höchsten
Rate im Vergleich zur niedrigsten Rate. 2007
gab es nur 7,8-fache Unterschiede.
13
Spotlight Gesundheit – Thema: Rückenoperationen 8
Handlungsempfehlungen
SPOTLIGHT GESUNDHEIT ist ein Impulspapier des Programms „Versorgung verbessern – Patien- ten informieren“ der Bertelsmann Stiftung. Es erscheint in unregelmäßigen Abständen mehrmals pro Jahr und beschäftigt sich mit aktuellen Themen und Herausforderungen im Gesundheitswesen. Die Bertelsmann Stiftung setzt sich für ein Gesundheitssystem ein, das sich an den Bürgern orientiert. Mit ihren Projekten zielt sie auf eine konsequent am Bedarf ausgerichtete und hoch-wertige Versorgung sowie stabile finanzielle Grundlagen. Patienten sollen durch verständliche Informationen in ihrer Rolle gestärkt werden. Im Projekt „Faktencheck Gesundheit“ des Pro-gramms wird mehrmals jährlich ein Versorgungs- thema genauer beleuchtet. Der „Faktencheck Gesundheit“ will dazu beitragen, dass die begrenzten Ressourcen sachgerechter verwendet werden und Gesundheitsleistungen sich stärker am tatsächlichen Bedarf der Patienten orientieren.
Weitere Informationen auf
www.faktencheck-gesundheit.de.
Bildnachweis: Johnny Greig/iStockphoto, Steffen KrinkeGestaltung: Dietlind Ehlers Redaktion: Burkhard Rexin, Claudia Haschke Druck: Druckhaus Rihn
ISSN (Print): 2364-4788 ISSN (Online): 2364-5970
Veröffentlichung: Juni 2017
Herausgeber:Bertelsmann StiftungCarl-Bertelsmann-Str. 25633311 Güterslohwww.bertelsmann- stiftung.de
Verantwortlich: Uwe Schwenk Director des Programms „Versorgung verbessern – Patienten informieren“
Kontakt: Sonja Lütke-Bornefeldsonja.luetke-bornefeld@ bertelsmann-stiftung.deTel.: + 49 5241 81-81431
Impressum
Transparenz vor Ort herstellen – Planung und Steuerung am Patientenwohl ausrichten
Der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen hat bereits in seinem Gutachten 2000/2001 bei Rückenerkrankungen eine „Tendenz zur operativen Überversorgung“ und eine „zu großzügige Indikationsstel-lung“ festgestellt. Alle Versuche gegenzusteuern, waren bisher letztlich erfolglos – im Gegenteil: Die Zahl der stationären Behandlungen hat sich drastisch erhöht. Zugleich hängt die Art der Versorgung heute noch weit stärker vom Wohnort der Patienten ab als vor zehn Jahren. Folgende Maßnahmen sollten zum Abbau von regionalen Unterschieden ergriffen werden:
Regionale Unterschiede deutlich machen
›●Mehr regionale Transparenz schaffen, um zu verdeutlichen, wo die Versorgung nicht bedarfsgerecht erfolgt
›●Regional auffällige Leistungsmengen direkt an betroffene Krankenhäuser und Ärzte rückmelden, um Art und Umfang der Leistungserbringung zu verbessern
Leitlinien anwenden und Patienten besser informieren
›●Medizinische Fachgesellschaften sollten evidenzbasierte Leitlinien entwickeln; die Indikationsstellung sollte expliziter Bestandteil sein
›●Praxen und Kliniken sollten Leitlinien im Versorgungsalltag verankern
›●Ärzte sollten ihren Patienten Nutzen und Risiken einer Behandlung und möglicher Alternativen verständlich vermitteln, unabhängig von finanziellen Interessen
Strukturplanung und Finanzierung verändern
›●Prospektive, sektorenübergreifende, qualitätsorientierte Ansätze in den Krankenhausplanungen verstärken und Spezialisierung von Kliniken vorantreiben
›●Notfallpraxen flächendeckend etablieren, um unnötige stationäre Aufenthalte zu vermeiden
›●Finanzielle Anreize reduzieren, um Mengenausweitungen zu verhindern, und zudem Qualität finanziell belohnen