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TAGUNGSBERICHTE „Demokratie jenseits klassischer Partizipationsformen.“ Jahrestagung des Arbeitskreises „Demokratieforschung“ der DVPW vom 6. bis 8. Juni 2013 an der FernUniversität in Hagen Im Fokus der diesjährigen Tagung des AK Demokratieforschung standen die scheinbar zunehmend in Demokratien an Bedeutung gewinnenden Phänomene unkonventioneller Partizipation, unterschiedliche Aspekte direkter Demokratie und – beide Themenfelder teilweise erweiternd – die Chancen und Herausforderungen der neuen Medien für die politische Partizipation. Michael Stoiber (Hagen), Gastgeber der Tagung an der FernUni- versität in Hagen, fasste dieses breite Spektrum an Forschungsfeldern augenzwinkernd unter dem treffenden Motto „Alles außer Wahlen“ zusammen. Als Hintergrundfolie des Tagungsthemas dienten zahlreiche Beobachtungen in der jüngeren Vergangenheit: Massenproteste in Südeuropa (Spanien, Portugal, Griechen- land) und der Türkei (Gezi-Park); die Blockupy-Bewegung in Frankfurt am Main sowie Occupy in den USA; sowie die Zunahme von Bürgerbeteiligungsverfahren v. a. auf kom- munaler Ebene (z. B. Bürgerhaushalte, Planungszellen). Die Tagung verfolgte dabei zwei Ziele: Erstens den Versuch, die empirischen Beob- achtungen zu systematisieren; und zweitens den Austausch von Theorie und Empirie in diesem Forschungsbereich zu intensivieren. Gerade die theoretischen Beiträge am zwei- ten und dritten Tag der Tagung waren dazu angedacht, die empirischen Beobachtungen besser mit ihren Ursachen und Wirkungen interpretieren zu können. Den Auftakt bestritten Christoph Bieber (Duisburg-Essen), Lars Holtkamp (Hagen) und Anna Christmann (Aarau) im Rahmen einer Podiumsdiskussion, die sich zum Ziel setzte, einen ersten Einstieg in die unterschiedlichen Themenkomplexe zu liefern. Chris- toph Bieber eröffnete das Podium und widmete sich in seinem Beitrag den Auswirkungen von Internet und Neuen Medien auf die politische Partizipation. Nach der ernüchtern- den Feststellung, dass empirisch abgesicherte Erkenntnisse aufgrund eines Mangels an Studien eher rar sind und in Anschluss an den Hinweis, dass die Analyse möglicher Effekte hohe Anforderungen an Methodendesign und Beobachtungsdauer stellt, fokussierte er die Frage, inwiefern sich der Partizipation-Begriff durch die Digitalisierung gesellschaftli- cher Kommunikation verändert. Dabei skizzierte er drei Entwicklungen: Erstens sei zu beobachten, dass sich neue Beteiligungsräume entwickelten, d. h. neue Arenen, in denen sich Politik- und Verwaltungsakteure, Medien und Bürger begegnen, wie beispielsweise digitale Bürgerforen und virtuelle Rathäuser. Zweitens sei die zunehmende Rolle „offener Daten“ zu berücksichtigen, die im Hinblick auf die Gleichzeitigkeit von Transparenz- und Z Vgl Polit Wiss (2013) 7:277–282 DOI 10.1007/s12286-013-0163-8 Online publiziert: 23.10.2013 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Tagungsberichte

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TagungsberichTe

„Demokratie jenseits klassischer Partizipationsformen.“ Jahrestagung des Arbeitskreises „Demokratieforschung“ der DVPW vom 6. bis 8. Juni 2013 an der FernUniversität in Hagen

Im Fokus der diesjährigen Tagung des AK Demokratieforschung standen die scheinbar zunehmend in Demokratien an Bedeutung gewinnenden Phänomene unkonventioneller Partizipation, unterschiedliche Aspekte direkter Demokratie und – beide Themenfelder teilweise erweiternd – die Chancen und Herausforderungen der neuen Medien für die politische Partizipation. Michael Stoiber (Hagen), Gastgeber der Tagung an der FernUni-versität in Hagen, fasste dieses breite Spektrum an Forschungsfeldern augenzwinkernd unter dem treffenden Motto „Alles außer Wahlen“ zusammen.

Als Hintergrundfolie des Tagungsthemas dienten zahlreiche Beobachtungen in der jüngeren Vergangenheit: Massenproteste in Südeuropa (Spanien, Portugal, Griechen-land) und der Türkei (Gezi-Park); die Blockupy-Bewegung in Frankfurt am Main sowie Occupy in den USA; sowie die Zunahme von Bürgerbeteiligungsverfahren v. a. auf kom-munaler Ebene (z. B. Bürgerhaushalte, Planungszellen).

Die Tagung verfolgte dabei zwei Ziele: Erstens den Versuch, die empirischen Beob-achtungen zu systematisieren; und zweitens den Austausch von Theorie und Empirie in diesem Forschungsbereich zu intensivieren. Gerade die theoretischen Beiträge am zwei-ten und dritten Tag der Tagung waren dazu angedacht, die empirischen Beobachtungen besser mit ihren Ursachen und Wirkungen interpretieren zu können.

Den Auftakt bestritten Christoph Bieber (Duisburg-Essen), Lars Holtkamp (Hagen) und Anna Christmann (Aarau) im Rahmen einer Podiumsdiskussion, die sich zum Ziel setzte, einen ersten Einstieg in die unterschiedlichen Themenkomplexe zu liefern. Chris-toph Bieber eröffnete das Podium und widmete sich in seinem Beitrag den Auswirkungen von Internet und Neuen Medien auf die politische Partizipation. Nach der ernüchtern-den Feststellung, dass empirisch abgesicherte Erkenntnisse aufgrund eines Mangels an Studien eher rar sind und in Anschluss an den Hinweis, dass die Analyse möglicher Effekte hohe Anforderungen an Methodendesign und Beobachtungsdauer stellt, fokussierte er die Frage, inwiefern sich der Partizipation-Begriff durch die Digitalisierung gesellschaftli-cher Kommunikation verändert. Dabei skizzierte er drei Entwicklungen: Erstens sei zu beobachten, dass sich neue Beteiligungsräume entwickelten, d. h. neue Arenen, in denen sich Politik- und Verwaltungsakteure, Medien und Bürger begegnen, wie beispielsweise digitale Bürgerforen und virtuelle Rathäuser. Zweitens sei die zunehmende Rolle „offener Daten“ zu berücksichtigen, die im Hinblick auf die Gleichzeitigkeit von Transparenz- und

Z Vgl Polit Wiss (2013) 7:277–282DOI 10.1007/s12286-013-0163-8

Online publiziert: 23.10.2013 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

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Datenschutzforderungen einen veränderten Umgang mit Verwaltungsdaten erfordern. Schließlich würde sich drittens aufgrund der wachsenden Verfügbarkeit von Daten ein neues Spannungsfeld der Digitalisierung der Lebenswelt ergeben, so dass Beispiele wie WikiLeaks, Guttenplag-Wiki oder Adhocracy dazu führen, einerseits Formen politischer Entscheidungsvorbereitung und –findung zu verändern, andererseits die Entstehung von Zugänge zu neuen Machtressourcen zu ermöglichen.

Lars Holtkamp konzentrierte sich im zweiten Podiumsbeitrag auf neue Partizipa-tionsmöglichkeiten im kommunalen Kontext. Er verwies darauf, dass Kommunalpolitik beispielhaft für das Zusammenspiel unterschiedlicher Demokratieformen steht (repräsen-tative Demokratie + direkte Demokratie + kooperative Demokratie), die alle durch die aufkommende E-Democracy-Debatte verändert werden. Während Holtkamp einerseits betonte, dass es noch nie so viele Beteiligungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene gab wie derzeit, wies er andererseits auf das Problem hin, dass aufgrund der Haushalts-krise der deutschen Kommunen zugleich immer weniger zu entscheiden sei. Auf Basis eines Soll-Ist-Vergleichs kooperativer Demokratie auf kommunaler Ebene konstatierte Holtkamp eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen, die an die Beteiligungsformate gestellt werden und den damit verbundenen realen Problemen.

Den Abschluss der Diskussions-Vorträge bildete der Beitrag von Anna Christmann zu Effekten direktdemokratischer Verfahren. Dabei beleuchtete sie zunächst die deutsche Debatte, die einerseits die Erwartungen an diese Beteiligungsverfahren überhöht (z. B. Steigerung des politischen Interesses, Verminderung der Politikverdrossenheit), ande-rerseits negative Aspekte ebenfalls überbewertet (Minderheitenfeindlichkeit, Populis-musgefahr). Daran anschließend unterschied Christmann drei Effekttypen, die auf Basis bisheriger Forschung zu identifizieren sind: System-, Policy- und Individualeffekte. Die bisherigen empirischen Befunde bestätigten letztlich die optimistischen und pessimisti-schen Argumente der Debatte. Während auf der einen Seite direktdemokratische Verfahren zum Beispiel Minderheitenrechte gefährden können, wenn diese Minderheiten schlecht integriert sind, können auf der anderen Seite Thesen wie jene, die von der Zunahme an Lobby-Einflüssen ausgeht, nicht bestätigt werden. Zudem scheinen direktdemokratische Verfahren primär Instrumente des Bildungsbürgertums zu sein, wie es auch bei Wahlen immer mehr der Fall ist.

Die im Anschluss an die drei Vorträge eröffnete allgemeine Diskussion mit den Podi-umsteilnehmerInnen drehte sich im Kern um Fragen der Funktionsfähigkeit direktdemo-kratischer Instrumente in Deutschland und die Sinnhaftigkeit der Konstruktion solcher Instrumente, wenn diese nicht unbedingt erfolgsversprechend sind.

Die erste Session des zweiten Tages widmete sich den „Auswirkungen neuer Partizipationsformen“ und ging auf die Suche nach Ursachen, Mechanismen bzw. Funktionsweisen und Effekten neuer Partizipationsformen. Ausgehend von dem Befund, dass sinkende Wahlbeteiligungen auf allen politischen Ebenen in Deutschland zugleich auch eine Zunahme der Beteiligungsungleichheit zwischen sozialen Gruppen bedeuten, widmete sich Armin Schäfer (MPIfG Köln) der Frage, ob andere Beteiligungsformen die zunehmend zu beobachtende Ungleichheit bei der Wahlbeteiligung kompensieren, oder dieses Problem gar verschärfen würden. Auf Basis verschiedener Analysen skizzierte er ein eher ernüchterndes Bild der oft geforderten „Beteiligungsdemokratie“: Die drei ent-scheidenden Faktoren Bildungsgrad, Schichtzugehörigkeit und Einkommen seien analog

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zur Wahlbeteiligung entscheidend für die Bereitschaft, sich in Parteien oder anderen poli-tischen Organisationen zu engagieren. Im Rahmen der anschließenden Diskussion wurde unter anderem darüber debattiert, ob weniger Beteiligung gleichzusetzen sei mit weniger gemeinwohlorientierter Politik. Hierzu wurde angeführt, dass Partizipationslücken zu Repräsentationslücken und so zu Präferenzverschiebungen im Hinblick auf policies wie Rentenpolitik versus Jugendarbeitslosigkeit führen können und somit Gruppen stärker bevorzugen, die als ‚eher wahlrelevant’ erachtet werden,.

Peter Patze-Diordiychuk konzentrierte sich in seinem Vortrag auf die Verrechtlichung der kooperativen Demokratie, die laut seiner Definition auf eine frühzeitige, beratende, repräsentative, dialogorientierte und effektive Beteiligung der Bürgerschaft an allen wesentlichen kommunalpolitischen Entscheidungen abzielt. Dabei vertrat er die These, dass eine weitere Verrechtlichung sinnvoll sei, um der zunehmenden Gefahr der Über-forderung von Bürgern und Verwaltungen auf kommunaler Ebene entgegenzuwirken. Am Fallbeispiel Sachsen zeigte er auf, dass aufgrund der kommunalen Realitäten (u. a. sinkende Mitgliederzahlen der Parteien, zu wenig Personal für Stadt- oder Gemeinderäte, zunehmende Wissensdefizite bei Stadträten), eine Reform der Sächsischen Gemeindeord-nung dringend nötig sei, um die Schwächen der Parteiendemokratie auszugleichen. Dabei waren für ihn fünf Aspekte zentral: die Einführung eines Transparenzgesetzes im Stile Hamburgs, die Stärkung von Einwohnerversammlungen, die Beteiligung an Haushalts-planungsverfahren transparenter und einfacher zu gestalten, die Reform der Infrastruktur-planung sowie die zunehmende Institutionalisierung kommunaler Mediationsstellen, um aufkeimende Konflikte besser lösen zu können.

Die zweite Session legte den Schwerpunkt auf das Themenfeld der direkten Demo-kratie. Samuel Salzborn (Göttingen) referierte aus ideengeschichtlicher Perspektive über die falschen Versprechen der direkten Demokratie. Seine zentrale These lautete dabei, dass direktdemokratische Elemente repräsentative Demokratien strukturell überfordern und somit notwendig neue Politikunzufriedenheit generieren würden. Unter Bezugnahme auf Überlegungen insbesondere von Rousseau schilderte Salzborn, dass ohne die Besei-tigung struktureller Ungleichheiten, wie z. B. der ungleichen Verteilung von Eigentum, die repräsentative Demokratie mittels direktdemokratischer Verfahren nur punktuell und nicht strukturell ergänzt werden würde. Um tatsächlich mündig agieren zu können, benö-tige man die Ressourcen Zeit und Geld, die jedoch beide ungleich verteilt sind und so einen Einfluss auf die allgemeine Willensbildung haben.

Thorsten Faas (Mainz) lenkte den Blick in seinem Vortrag auf den baden-württem-bergischen Kontext und lieferte auf Basis einer umfangreichen Online-Panelbefra-gung Hintergründe zum Volksentscheid zu Stuttgart 21. Dabei wurden verschiedene Einflussfaktoren analysiert, die eine Beteiligung an der Landtagswahl 2011 sowie am Volksentscheid erklären. Ein zentraler Befund hierbei war, dass die Höhe des politischen Interesses für die Teilnahme an der Volksabstimmung keinen sonderlichen Effekt hatte, aber das Thema „S 21“ ein starker Antreiber für die Teilnahme an der Landtagswahl. Des Weiteren konnte festgestellt werden, dass direktdemokratische Abstimmungen wie zu Stuttgart 21 ähnliche Partizipationsmuster aufweisen wie bei Wahlen und als regionaler Faktor von Bedeutung sein können.

Zum Abschluss der Session widmete sich Anna Christmann (Aarau) den Effekten direkter Demokratie. Sie ging dabei der Frage nach, warum sich ein mehr oder weniger

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an direktdemokratischen Beteiligungsmöglichkeiten unterschiedlich auf politische Ent-scheidungsfindungen auswirkt. Hierfür stellte sie zunächst eine Typologie direktdemokra-tischer Effekte (direkte, halbdirekte, indirekte und keine Effekte) vor, die sie im Kontext einer vergleichenden Studie der politischen Praxis in deutschen Bundesländern empirisch testete. Zu den Ergebnissen der Analyse zählen u. a., dass die Zahl der Verfahren sehr viel höher ist als die der zu beobachtenden Effekte, und zum anderen, dass sich die Typen direktdemokratischer Effekte in der Häufigkeit ihrer Beobachtung unterscheiden.

Im Zuge der dritten Session des Tages stand die lokale Untersuchungsebene und mit ihr die dort angesiedelten alternativen Partizipationsformen im Fokus der Betrachtung. Martina Neunecker (Frankfurt a. M.) stellte mit ihrem konzeptionell angelegten Beitrag die Frage, ob die konsultative Beteiligung von BürgerInnen mittels vollwertiger, thema-tisch offener Bürgerhaushalte mit Prioritäten-Listen zu einem Wandel von Policy-Making auf der lokalen Ebene beiträgt. Die Einschätzungen hinsichtlich des Einflusses auf die Entscheidungen kommunaler Parlamente wurden mit einem ersten empirischen Befund abgerundet, wonach in zahlreichen Fällen diesbezüglich keine eindeutig positiven oder negativen Entscheidungen durch den Rat getroffen wurden und in einzelnen Kommunen stattdessen gesamte Prioritäten-Listen pauschal mit ‚zur Kenntnis genommen’ beschie-den und abgelegt wurden.

Am Beispiel des „Aktiven Kommunalen Beschwerdemanagements“ präsentierte Marc Seuberlich (Bochum) Ergebnisse eines Forschungsprojekts, das die Reflexivität von Kommunalpolitik und -verwaltung infrage stellt. Auf der Grundlage von Fallstudien konnte mit Blick auf drei mittelgroße Städte in Nordrhein-Westfalen festgestellt werden, dass es dort an einer systematischen Abarbeitung des BürgerInnen-Inputs ebenso man-gele wie generell an systematischen Überblicken, die den Verlauf des Beschwerdever-fahrens dokumentierten. Im Zuge der anschließenden Diskussion bestand weitgehendes Einvernehmen darüber, dass die involvierten Akteure und nicht das Instrument selbst für die Defizite in der Umsetzung verantwortlich zeichneten, worauf mit zunehmender Ver-rechtlichung zu antworten sei.

Mit ihrem Beitrag zur mikroorientierten Repräsentations- und Responsivitätsfor-schung hinterfragten Sebastian Kuhn (Jena) und Markus Tausendpfund (Jena) anschlie-ßend die Entfremdungstendenzen zwischen BürgerInnen und PolitikerInnen, indem sie die Wahrnehmungskongruenzen und -diskongruenzen hinsichtlich der Informations- und Beteiligungsmöglichkeiten in 28 hessischen Städten und Gemeinden analysierten. Die diesbezüglichen Unterschiede zwischen den einzelnen Gemeinden könnten nur mithilfe eines komplexen Faktorenbündels erklärt werden, wobei insgesamt als positiv zu ver-zeichnen sei, dass eine über alle Gemeinden verteilte Entfremdung zwischen Eliten und BürgerInnen nicht bestünde und die Zufriedenheit der BürgerInnen mit den Informations- und Beteiligungsmöglichkeiten sogar weit verbreitet sei, so Kuhn.

Mit Session 4 zu „Nutzung und Effekte[n] von Online-Beteiligungsformaten“ wur-den zum Abschluss des zweiten Tagungstages einerseits das Mobilisierungspotential des neuen Mediums, andererseits die Erwartungen und Erfahrungen von BürgerInnen mit Bezug auf die Partizipationsmöglichkeiten, die das ‚World Wide Web‘ bietet, einer genau-eren Betrachtung unterzogen. Ausgehend von der Analyse einer deutschen und einer bri-tischen Kommunikationsvermittlungsplattform, über die BürgerInnen die Chance haben, in direkten Kontakt mit ihren gewählten Abgeordneten zu treten, diskutierte Tobias Escher

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(Düsseldorf) die Frage, ob das Internet zu politischer Partizipation mobilisiere. Hierbei stellte Escher zum einen Gründe für das vergleichsweise hohe Mobilisierungspotential dieser Online-Beteiligungsmöglichkeit vor und kam überdies zu dem Ergebnis, dass die Beteiligung auch im virtuellen Bereich in der Hauptsache von jenen Teilen der Bevölke-rung ausginge, die ohnehin stark am politischen Prozess partizipierten. Zudem würden Art und Qualität der Verwendung erheblich von den Nutzungsmöglichkeiten, welche die Plattformen eröffnen, beeinflusst. Während nicht-öffentliche Plattformen (GB) z. B. zu einer stärkeren Formulierung privater Anliegen führten, konnte auf offenen Plattformen (D) verstärkt Politiker-Bashing beobachtet werden. In der anschließenden Diskussion wurden Eschers Ausführungen als neuer Ansatz im Forschungsfeld zur Online-Partizi-pation gewürdigt, da er mit der Suche nach diesbezüglichen Erklärungsansätzen über die Feststellung hinausgehe, dass das Internet als neues Beteiligungsinstrument fungiert. Alma Kolleck (Frankfurt a. M.) knüpfte mit ihrem Vortrag an diesen Aspekt an, indem sie die Existenz unterschiedlicher Nutzertypen von politischen Online-Beteiligungsverfah-ren diskutierte. Hierbei legte sie zunächst die Relevanz von Online-Nutzertypologien dar, wobei mögliche Ansätze zur Typologisierung der Nutzertypen im Zentrum des weiteren Beitrags und seiner anschließenden Besprechung standen.

Die fünfte Session, die den Auftakt zum letzten Tagungstag gab, griff erneut die Dis-kussion um das Konzept der „Direkten Demokratie“ auf. Vor dem Hintergrund beständiger Skepsis, die gegenüber der Durchführbarkeit groß angelegter deliberativer Partizipations-prozesse geäußert wird, warf Thamy Pogrebinschi (Berlin) mit ihrem Beitrag die Frage auf, ob partizipative Demokratieelemente auch auf nationaler Ebene Anwendung finden können, ohne dass hierbei ihre deliberative Ausrichtung verwirkt wird. Dass Partizipation und Deliberation durchaus auch auf nationaler Ebene durchführbar und in der Konse-quenz effektiv sein können, veranschaulichte Pogrebinschi mithilfe eines theoretischen Modells, das im weiteren Forschungsprozess am Beispiel der brasilianischen „National Public Policy Conferences“ empirisch überprüft werden soll. Im Anschluss an den Vor-trag wurde diskutiert, inwiefern eine Synthese repräsentativer und deliberativer Ansätze möglich und nötig sei.

Dass das Thema des Panels nicht ausschließlich einer empirisch-analytischen Auf-arbeitung bedarf, sondern ebenso nach einer demokratietheoretischen Reflexion verlangt, konnte durch den Vortrag von Philipp Erbentraut (Siegen) einmal mehr verdeutlicht werden. Als einen „vergessenen Klassiker der direkten Demokratie“ präsentierte Erben-traut das Lebenswerk von Moritz Rittinghausen, der im 19. Jahrhundert selbstbewusst für die Realisierbarkeit einer anti-parlamentarischen Systemalternative innerhalb moderner Nationalstaaten eintrat. Die Monopolisierung des gesamten Gesetzgebungsprozesses in den Händen des Bürgers war sein ambitioniertes Ziel, das er nicht ohne ein gewisses Maß an Pragmatismus, bspw. mit Blick auf die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen, verfolgte. Was von den Überzeugungen des Radikaldemokraten auch in der Gegenwart anregend wirken könne, sei der „Stachel“, den Rittinghausen gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit des Parlamentarismus setzte und mit dem er zugleich die Mängel in der Umsetzung des demokratischen Ideals zu untermauern verstand. Den Aspekt der Systemeffekte direkter Demokratie aus dem zweiten Panel aufgreifend, fokussierte Eike-Christian Hornig (Gießen) mit seinem konzeptionellen Paper die Auswirkungen direkt-demokratischer Entscheidungen mit Blick auf die Konstitution und das repräsentative

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Machtgefüge am Beispiel Deutschlands. Vor dem Hintergrund einer funktionalen Theorie direkter Demokratie nach Gordon Smith plädierte Hornig für eine dezidierte Erforschung von Intentionen und Effekten von direkter Demokratie im Bereich der politics und stellte zum Abschluss des Panels deren adäquate Operationalisierung zur Diskussion.

Die letzte Session der Tagung fokussierte schließlich auf „Unkonventionelle Partizi-pationsformen im Vergleich“. Dass die Präsenz unkonventioneller Beteiligungsformen mitunter auf die Initiative parteipolitischer Akteure zurückgeführt werden könne, machte Lukasz Jackiewicz (Berlin) in seinem Vortrag zu einem Beitrag, den er in Zusammenarbeit mit Michal Zabdyr-Jamroz (Krakau) und Marton Gero (Budapest) verfasst hatte, anhand der Fälle Ungarn und Polen deutlich. Als zentral erwies sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob sich die von solchen parteipolitisch intendierten Mobilisierungsstrategien ausgehenden Effekte von jenen (anderer) unkonventioneller Partizipationsmöglichkeiten unterscheiden. Insbesondere mit Bezug auf das Anliegen der erfolgreichen Demokratie-konsolidierung in diesen jungen Demokratien seien das beschriebene Phänomen und die mit ihm zusammenhängenden Gefahrenpotentiale zumindest kritisch zu begleiten, so der Grundtenor. Zum Abschluss der Tagung stellte Simon T. Franzmann (Düsseldorf) ein For-schungsvorhaben vor, das sich, inspiriert durch die Erkenntnisse und Forschungslücken der Oppositions- und Partizipationsforschung, künftig der Analyse der Wechselwirkung zwischen Opposition, Partizipation und Demokratietyp widmen soll. Ausgehend von unterschiedlichen Oppositions- und Demokratietypen sollen unter anderem die jeweili-gen Auswirkungen auf Partizipationsform und –niveau untersucht werden.

Insgesamt kann festgehalten werden, dass der Programmablauf, der sich an den inhalt-lichen Schwerpunkten der Tagung orientierte, vielerlei Anknüpfungspunkte für einen Austausch zwischen Empirie und Theorie bot, obwohl die einzelnen Sessions nicht dieser eher gängigen Unterteilung folgten. So kristallisierte sich als ein zentraler Diskussions-punkt heraus, dass ein Mehr an Partizipation nicht notwendigerweise mit der Zunahme politischer Gleichheit korrespondieren müsse und auch im Bereich unkonventioneller Beteiligung traditionelle Determinanten, wie die Ressourcenausstattung der BürgerIn-nen, ausschlaggebend für deren Mobilisierungspotential sein können. Zugleich fand die Frage danach, ob zunehmende Partizipation vorbehaltlos steigende Politikzufriedenheit bedeuten müsse oder ob sie nicht vielmehr Ausdruck und Ursache wachsender Unzufrie-denheit sein könne, wiederholt Beachtung. Im Rahmen verschiedener Sessions bestand zudem Konsens darüber, dass nicht unbedingt die vorhandenen und sich in der Entwick-lung befindenden Strukturen und Beteiligungsinstrumente selbst, sondern vielmehr die involvierten Akteure für hieraus resultierende negative Effekte wie z. B. ‚Politikverdros-senheit’ verantwortlich zeichneten und der Versuch unternommen werden sollte, auf die Lösung diesbezüglicher Probleme mittels stärkerer Verrechtlichung der entsprechenden Prozesse zu reagieren.

Die Hagener Tagung konnte verdeutlichen, dass die politische Partizipation jenseits der klassischen Beteiligungsformate ein lebendiges Forschungsfeld ist, das in den Berei-chen direkte Demokratie, lokale Partizipation und Online-Beteiligungsformate sowohl in empirischer als auch in (demokratie-)theoretischer Hinsicht gegenwärtig diverse For-schungsperspektiven eröffnet.

Christoph Mohamad-Klotzbach und Lisa Schäfer