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Steffen Gresch Der Erbhof. Der Erbhof. Wenn man die mit Rotbuchen bepflanzte dreiundvierzigste Avenue entlang schlendert, und in die dritte Seitenstraße links einbiegt, fällt einem an deren Ende, kurz vor dem Supermercado ein größerer mutmaßlicher Antiquitätenladen ins Auge. Hinter dem großen gläsernen Schaufenster ist ein runder Ebenholztisch aufgestellt, mit aus reinem Elfenbein geschnitzten, ohne Armlehnen versehenen mannshohen Stühlen umgeben. Hier ist der Club der feisten Literaten zu hause. Einmal im Jahr kommen diese hier zusammen. Meistens im späten September: in der Zeit der Tag – und–Nacht-Gleiche. Ein reichhaltiges Angebot mit deftigen Speisen, erntefrischen fruchtigen Trauben, edlen Weinen und nackenden Nymphen, welche aufmerksam den schöpferischen Ergüssen jener hoch betagten wollüstig weisen Literaten folgen, schmückt nun die Tafel… Der Briefkasten an der Eingangstüre ist mit einem imposanten Siegel, auf dessen Emblem ein singender Greif erkennbar ist, verklebt. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass Nichteingeweihte, die dennoch von der Existenz des Clubs irgendwie Kenntnis bekommen haben, ihre Manuskripte einsenden oder gar dort einwerfen können.

Der Erbhof

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Page 1: Der Erbhof

Steffen Gresch Der Erbhof.Der Erbhof.

Wenn man die mit Rotbuchen bepflanzte dreiundvierzigste

Avenue entlang schlendert, und in die dritte Seitenstraße

links einbiegt, fällt einem an deren Ende, kurz vor dem

Supermercado ein größerer mutmaßlicher

Antiquitätenladen ins Auge. Hinter dem großen gläsernen

Schaufenster ist ein runder Ebenholztisch aufgestellt, mit

aus reinem Elfenbein geschnitzten, ohne Armlehnen

versehenen mannshohen Stühlen umgeben.

Hier ist der Club der feisten Literaten zu hause.

Einmal im Jahr kommen diese hier zusammen. Meistens im

späten September: in der Zeit der Tag – und–Nacht-Gleiche.

Ein reichhaltiges Angebot mit deftigen Speisen,

erntefrischen fruchtigen Trauben, edlen Weinen und

nackenden Nymphen, welche aufmerksam den

schöpferischen Ergüssen jener hoch betagten wollüstig

weisen Literaten folgen, schmückt nun die Tafel…

Der Briefkasten an der Eingangstüre ist mit einem

imposanten Siegel, auf dessen Emblem ein singender Greif

erkennbar ist, verklebt. Auf diese Weise soll verhindert

werden, dass Nichteingeweihte, die dennoch von der

Existenz des Clubs irgendwie Kenntnis bekommen haben,

ihre Manuskripte einsenden oder gar dort einwerfen

können.

Page 2: Der Erbhof

Tatsächlich gibt es nur diesen einen Weg, In jener Zeit des

heranreifenden Herbstes sich in eigener Person dem Forum

vorzustellen, seine Texte zu lesen, und höflichst um

Aufnahme in den Geheimbund zu bitten.

Alle zwölf Stühle sind besetzt. Entscheidet sich das

gesamte Gremium – es muss einstimmig sein – für den

Kandidaten, muss nun das Los darüber bestimmen - wer

seinen Elfenbeinstuhl für den Neuen räumen muss.

Wie üblich, wird dem Ausscheidenden dann der Gifttrunk

gereicht. Dezent darf der Delinquent im Beisein seiner

Lieblingsnymphe seine letzten Stunden in einer eigens

dafür eingerichteten Suite im Kellergeschoss verbringen.

Bei einem letzten Akt dyonysischer Ekstase, auf dem Wege in

die Ewigkeit - flösst die Narade ihm, streng dem Brauch

folgend, rittlings den Bronzenen Schierlingbecher ein.

Wohl wahr, der süsseste aller verordneten Tode.

Doch passiert Solches eher selten. Fast jeder Kandidat

scheitert nämlich an seiner mangelnden Eignung für die

seit fast drei Jahrhunderten bestehende Tafelrunde.

Streng wird das Geheimnis gehütet, was über Aufnahme

oder Ablehnung des meist jüngeren Kandidaten; Leben

oder Tod eines der Mitglieder des zwölfköpfigen Forums

zu entscheiden hat.

Page 3: Der Erbhof

Im Club der feisten Literaten halten alle zusammen. Nur

einmal in zweihundert Jahren, soll ein neuer auf diese

Weise in die Runde aufgenommen werden, meinen die

Experten.

Die aufgrund des natürlichen Ablebens bedingte

Nachfolge wird Allerdings per Erbrecht geregelt.

Und darum ist der Club der feisten Literaten auch ein

literarischer Erbhof, der viel auf sich hält – den aber kaum

jemand kennt. Die Schriften und Werke, welche er

verwaltet, sind nur einem kleinen, von ihm selbst

auserwählten Publikum zugänglich.

Die Mitgliedschaft ist bindend. Hat man einmal auf einem

jener zwölf Elfenbeinstühle Platz genommen, gibt es kein

Entrinnen mehr: Clubmitgliedschaft auf Lebenszeit – das

Giftcocktail-Risiko mit einbegriffen.

Jeden der zwölf feisten Erben könnte es Also irgendwann

wirklich treffen – Gott sei Dank aber und

glücklicherweise - nur einmal in zweihundert Jahren...

written 2006/2015 by

Steffen Gresch

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