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Der Fehler eines Fluglotsen nahm
Witalij Kalojew alles: Frau, Tochter,
Sohn. Er erstach den Mann. Nach fast vier
Jahren Haft ist er jetzt stellvertretender
Bauminister im Kaukasus. Wir fragten
ihn: Wie viel Trost bringt Vergeltung?
Text Felix Hutt Fotos justin jin
Am 1. Juli 2002, punkt 23 Uhr, 35 Minuten und
32 Sekunden, stürzte Kalojews Leben über
dem Bodensee ab. Seitdem ist der Friedhof Gizelskojo seine Heimat
Als er klein ist, ist es so einfach mit dem Glück: ein Tag in den Bergen, Kräuter sammeln. Als er älter wird, wird es kompliziert, wie bei allen Jungen, die Männer sein wollen. Und als er dann ein Mann ist, heißt das Glück für Witalij Kalojew plötzlich Swetlana: schwarze Haare, tolle Figur, aus gutem Hause, seine erste, seine einzige und letzte Liebe. Zwei Kinder, Konstantin und Diana, machen das Glück perfekt, so perfekt, dass er aus Dankbarkeit eine Kirche baut, mit Goldkuppeln, obwohl er gar nicht an Gott glaubt. An das Glück jetzt auch nicht mehr.
Durch die weißen Gardinen fallen Sonnenstrahlen, die im Zimmer Staubkristalle tanzen lassen; die Stimmung können sie nicht erhellen. In Wladikawkas, Nordossetien, 300 000 Einwohner, sieben
WITALIJ KALOJEW
Schuld und Sühne
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WITALIJ KALOJEW
Wodkabrennereien, schmilzt der Schnee. Ossetien ist geteilt, der Norden russisch, der Süden georgisch. Ganz nah die Felsen des Kaukasus, die so steil und spitz in den Himmel stechen, als wäre Gott ein Fakir und das Gebirge sein Nagelbett. Zum Flughafen ist Witalij Kalojew, 52, selbst gekommen; er raucht Kette, sein Händedruck ist fest, sein Blick gesenkt. Jetzt steht er im Kinderzimmer, einem Friedhof der Kuscheltiere, und sagt, dass man im Bett seines toten Sohnes schlafen solle. Gefühle seien manchmal bessere Antworten als Erklärungen. Am 1. Juli 2002, um 23 Uhr, 35 Minuten und 32 Sekunden, explodiert sein Glück. Über dem Bodensee bei Überlingen stößt eine Tupolew 154 mit einer DHLFrachtmaschine zusammen: 71 Tote, darunter Swetlana, 42, Konstantin, 10, und Diana, 4.
Goofy hängt über der Sofalehne, Lupo und Micky Maus liegen wie erschlagen auf dem Boden, erster Stock, am Ende vom Gang, links. Rechts das Schlafzimmer von Witalij Kalojew, der nur Schwarz trägt, auch nachts, seit fast sechs Jahren. Es ist Freitagmittag, der 22. Februar 2008, und Kalojew wird gleich noch einmal arbeiten gehen. Vor einem Monat ernannte ihn die nordossetische Regierung zum stellvertretenden Bauminister. Jetzt sucht Kalojew nach Investoren, die wie er an diese raue Gegend glauben. Das Wochenende ist kein
Über seine Tat kann man nicht
urteilen,wenn man seinen Schmerz nicht erlebt hat
gewöhnliches, in zwei Tagen jährt sich sein Mord: Am 24. Februar 2004 ersticht Kalojew den Fluglotsen Peter Nielsen, 36, in dessen Garten in ZürichKloten, nicht weit vom Tower, in dem Nielsen die Befehle gab, die zur Katastrophe führten.
Kalojews Schwestern Zafira und Soja backen in der Küche das ossetische Nationalgericht Pirok, Fladen gefüllt mit Hackfleisch oder Schafskäse. Eine gerade
Im Zimmer von Diana und Konstantin wurde nichts verändert. Es ist, als würde Witalij Kalojew jeden Augenblick er- warten, dass die Kinder kreischend reinkämen und er ihnen eine Gutenachtgeschichte erzählen könnte nach einem langen, fröhlichen Tag im Schnee
Anzahl Pirok steht für Trauer, eine ungerade für Freude. Witalij Kalojew hatte drei bestellt, ausnahmsweise, der Gäste wegen. Nach dem Essen ist er in sein Büro in der Stadtmitte gefahren. Seine Schwestern servieren zum Tee seine Geschichte. In der geht es sehr häufig um „die da im Westen und uns hier unten“, um Missverständnisse zwischen den Kulturen. Eines dieser Missverständnisse sei der 14. November 2007 gewesen, als er freigekommen ist, nach knapp vier Jahren Haft, wegen eines Gutachtens, das ihm eine starke Traumatisierung attestierte, und in der Heimat begeistert empfangen wurde. „Mitteleuropäern mögen unsere Bräuche seltsam erscheinen, aber ein Mann, der sich für seine Familie einsetzt, ist hier ein Held“, sagt Soja und zeigt einen Pokal, den ihr Bruder kürzlich bekommen hat. „Ossete des Jahres 2007“ steht darauf.
Ihr Bruder sei kein Mörder, der habe noch nicht einmal ein Huhn vom Markt schlachten können, sagt Zafira, die sich tagelang heulend eingesperrt hat, als sie von seiner Tat hörte. Die Kalojews
sprechen von seinem Mord nicht als Rache, sondern von „der zweiten Tragödie“.
Er habe nicht bewusst, sondern im Affekt zugestochen, vom Verlust seiner Familie traumatisiert. Das ist die Version, an die die Frauen glauben und die Kalojew immer wieder erzählt hat, vor Gericht und in den Anhörungen. Ihr Bruder sei ein Opfer, das zum Täter gemacht worden ist, sagt Soja, die Ältere, keiner der Deutschen und Schweizer habe verstanden, dass es ihm um eine Entschuldigung gegangen sei, nicht um Geld. Soja weint, wenn sie das Fotoalbum zeigt, in dem sie seine Vergangenheit archiviert hat, die spielenden Kinder, die glücklichen Eltern. „Schauen Sie sich im Kinderzimmer um, dann merken Sie, dass er nicht loslassen kann. Über seine Tat kann man nicht urteilen, wenn man seinen Schmerz nicht erlebt hat.“
Im Kinderzimmer steht ein weißes Babybett, daneben sitzt Benjamin Blümchen und beschützt immer noch Diana. Auf der Decke ihr Foto, schwarzweiß, darauf eine Krone, wie sie Mädchen zum Karneval tragen. Gegenüber das Bett von Konstantin, der heute vor dem Schulabschluss stünde, sein Löwe auf dem Kopfkissen. An der Wand mit der rosa Tapete die Bilder der Toten. Die Betten sind ge
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Grund getrunken wird, und an Gründen zu trinken mangelt es Witalij Kalojew nicht. „Auf dass es sich die Toten schmecken lassen!“ Cousin Tamik nickt. „Lada in Russki wie Porsche“, hat er vorher lachend gesagt, weil er Kalojew mit seinem Lada durch die Stadt fährt, zur Arbeit oder um eine Stange Marlboro zu kaufen. Jetzt sagt Tamik nichts mehr. Auch Ruslan, der Nachbar, der gerade noch von seinen Schaschlikspießen geschwärmt hat, blickt
feiern eine Woche lang kräftig. Am 19. November 1991 kommt Konstantin auf die Welt. Kalojew gründet eine Baufirma, seine Frau leitet die Filiale einer Bank. Sie leben in einer Zweizimmerwohnung, träumen von mehr, ohne mit dem Jetzt unzufrieden zu sein. Der kleine Konstantin ist ganz der Vater, begeistert sich für Dinosaurier, ein gesunder Stammhalter bedeutet alles in dieser patriarchalischen Gesellschaft. Aber Swetlana wünscht sich noch ein Töchterchen. Es will lange nicht klappen, irgendwann reist die Gläubige an eine heilige Stätte im Kaukasus und betet, betet tagelang. Am 7. März 1998 wird Diana geboren. Kalojew baut seiner Familie ein Haus, eigenhändig, in einem besseren Stadtteil. Seiner Swetlana schenkt er die Kirche mit den goldenen Kuppeln, die sie vom Schlafzimmer aus sehen kann. Im Garten pflanzt er Hagebuttensträucher, Quitten, Aprikosen und Apfelbäume.
Die Bäume sind noch ohne Knospen, auf einigen Ästen liegt Schnee. Witalij Kalojew hält einen Strauß Blumen in der Hand und Konfietki, Zwetschgenbonbons mit Schokolade, die sein Töchterchen so geliebt hat. Es ist Samstagnachmittag, Kalojew steigt in seinen Pickup und fährt zu seiner Familie, ortsauswärts, Richtung Kaukasus. Hinter einer RosneftTankstelle biegt er rechts ab, dann sind es nur noch wenige Meter zum Friedhof Gizelskojo. Die Gräber tragen Frost, sehen aus wie Krapfen mit Glasur, auf den Grabsteinen sind die Gesichter der Toten eingraviert. Viele sterben jung in Nordossetien, wo Muslime gegen RussischOrthodoxe kämpfen, um Territorien, um Unabhängigkeit, um Religion. Kalojews Elternhaus im Dorf Tschermen, 15 Kilometer von Wladikawkas, wird 1992 von Inguschen abgefackelt.
Am Eingang rechts liegt das größte Grab, das der Kalojews. Daneben drei Tannen, die er für seine Toten gepflanzt hat. Kalojew tritt von hinten an den Grabstein und berührt ihn mit beiden Händen.
Auf dem Rückweg erzählt er von seiner Firma, die irgendwann keine Aufträge mehr bekam, und von Ibragim Tedeev, einem reichen Freund, der in Barcelona ein Ferienhaus baute und einen guten Bauleiter suchte. Im September 2000 verlässt Kalojew seine Familie, er wird auch über Weihnachten in Spanien bleiben. Witalij und Swetlana sparen jeden Rubel,
WITALIJ KALOJEW
macht, alles sieht so aus, als würde es gleich kommen, das Geschrei, das Gelache, das Gebalge und Gutenachtsagen nach einem Tag im Schnee. Als wäre es Kalojew gelungen, in diesem Zimmer die Zeit zu überlisten, sie da anzuhalten, als sie noch für ihn lief. Aber der Sekundenzeiger der Holzuhr, die über dem Schreibtisch hängt, tickt vorwärts. Ticktack, ticktack! Ansonsten: Stille.
Nicht so in der Küche. Sie ist der Treffpunkt, oft sind Freunde und Verwandte zu Besuch. Draußen ist es dunkel, der Himmel sternenklar. Der Hausherr ist zurück. Es findet sich wenig, von dem er sich nicht angegriffen fühlt. „Herr Kalojew, Sie
sehen ein bisschen aus wie Jean Reno!“„Sie meinen, wie ein Killer?“„Nein, wie der Schauspieler.“„Aber seine beste Rolle ist der Killer in
‚Léon – Der Profi‘.“„Bereuen Sie, dass Sie vor vier Jahren
tatsächlich zum Killer wurden?“„Nein. Ich bin kein Killer. Ein Killer ist
ein bezahlter Mörder. Ich habe nur getan, was ich für meine Familie tun musste!“
Dann steht er auf und spricht einen Toast, weil in seinem Haus nicht ohne
ernst zum Kopfende des Tisches, wo Witalij Kalojew ein Stück Weißbrot bricht, es mit Salz bestreut und ein paar Tropfen seines Wodkas darüberträufelt. Das Wodkaglas hält er mit dem Daumen am oberen Rand und dem kleinen Finger am Glasboden, so ist es Brauch in Nordossetien. Für die Seinen, die nicht mehr sind! Prost!
Flughafenkapelle Zürich, Terminal 1, wenige Wochen zuvor. „Kommen Sie, um zu beten?“, will Pfarrer Walter Meier, 56, am Telefon wissen, und nach der Antwort „Nein, ich glaube nicht an Gott“ lacht Meier kurz und sagt, da habe man mit Kalojew ja schon etwas gemeinsam. Am 2. Juli 2002 bekommt er um acht Uhr morgens vom Passenger Care Center der Swissair einen Anruf, einer der Angehörigen des Flugzeugunglücks von vergangener Nacht über dem Bodensee sei auf dem Weg von Barcelona nach Zürich, der Russe habe seine Familie, Frau und zwei Kinder, verloren. Protestant Meier, zwei Meter groß, mit grauem Schnurrbart und gelassener Stimme, empfängt den verstörten Witalij Kalojew um kurz nach neun am Gate. „Ich habe schon für die Angehörigen der Toten des SwissairFluges 111, der 1998 vor Halifax mit mehr als 200 Menschen ins Meer gestürzt ist, als Seelsorger gearbeitet“, sagt Meier, „aber so eine Verkettung von Zufällen, so eine Tragödie wie die von Kalojew habe ich noch nie erlebt.“
Witalij Kalojew, geboren am 15. Januar 1956 in Wladikawkas, ist das jüngste von
sechs Kindern. Ein Junge mit schwarzem Haar und Mandelaugen. Spielzeug gibt es wenig, dafür viel Zuneigung seiner Eltern und Geschwister. Der Zusammenhalt der Familie ist in Ossetien das höchste Gut. Kalojew, hochbegabt, studiert Architektur und Ingenieurswesen. Im Alter von 35 Jahren lernt er Swetlana kennen, sehr spät für ossetische Verhältnisse. Zur Hochzeit am 5. Januar 1991 werden ein Schaf und ein junger Ochse geschlachtet, 500 Gäste
„Herr Kalojew, Sie sehen ein bisschen aus wie Jean Reno.“ „Sie meinen, wie ein Killer?“
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In den Bergen seiner kaukasischen Heimat findet
Witalij Kalojew manchmal die Ruhe, die ihm auch Wodka nicht geben kann. Im Februar
2004 ermordete er Peter Nielsen (l.) vor dessen Haus in
Zürich-Kloten (u. l.). Gegen seine Inhaftierung protestierten
seine Landsleute 2005 vor der Schweizer Botschaft in
Moskau (u. r.)
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„Mein Gewissen ist rein“, sagt Witalij Kalojew. Sollte der Sohn des Fluglotsen irgendwann kommen, um sich zu rächen, bitte
damit die Kinder später im Ausland studieren können. Anfang Juni 2002 ist das Haus fertig, und der reiche Freund bietet Kalojew an, seine Familie einzufliegen, für ein paar Wochen Urlaub. Swetlana ist begeistert, weil sie ihren Mann wiedersehen wird und weil Konstantin allergiegeplagt ist; die Sonne und das Meerwasser werden ihm guttun. Und außerdem: Wann kommt die Gelegenheit zu so einer tollen Reise noch einmal?
Bei einem Reisebüro in Wladikawkas bucht Swetlana Kalojewa die Flüge. Die Tickets werden ihr nur bis Moskau ausgestellt, dort soll sie die Flugscheine zum
Weiterflug abholen. In Moskau sagt man ihr, sie müsse warten. Witalij Kalojew kann in Barcelona vor Vorfreude und Ungeduld kaum sitzen. Es dauert. Und dauert. Und dauert. Im Juni wollen mehr Russen an die Costa Brava als zu Dolce & Gabbana. Dann der Anruf: Eine Chartermaschine der Bashkirian Airlines mit Schulkindern aus Ufa habe noch drei Plätze frei, drei der Schüler haben keine Visa bekommen. Die Cousine, die noch mit will, verzichtet, die Kalojews starten am 1. Juli 2002 um 20.48 Uhr vom Moskauer Flughafen Domodedowo. Flug BTC2937 hätte 4.20 Stunden später in Barcelona landen sollen.
Für Kalojew ist das Grab seine Heimat. Bei gemeinster Kälte hat er an den Steinen übernachtet, die Seinen angeschrien, angefleht, angeschwiegen und so lange geweint, bis er nicht mehr konnte. „Heute habe ich keine Tränen mehr“, sagt er nach der Rückkehr vom Friedhof. In der Küche vermischt sich Zigarettenrauch mit Bratfett, Soja kocht wieder. Warum ihm das Glück abhandengekommen ist, darüber habe er sich lange den Kopf zermartert. Seine Frau sei sehr gläubig gewesen, vielleicht ist sie mit den Kindern jetzt da, wo sie immer hinwollte, nur einfach etwas früher. Nein, die Rache habe es ihm nicht wiedergebracht, das Glück, und sein Schicksal sei auch nicht leichter zu ertragen, weil der Schuldige seine Strafe bekommen habe. Kalojew grollt über die Ungerechtigkeiten, die ihm widerfahren sind, darüber, dass die Untersuchungen so lange gedauert haben, darüber, dass die Presse über die 71 Toten so wenig und über den einen Toten, den Nielsen, so viel berichtet habe. „Ich glaube weder an Gott
WITALIJ KALOJEW
Eine Entschuldigung, irgendein Zeichen von Mitgefühl der Verantwortlichen hätte viel geändert
noch an Schicksal“, sagt Kalojew, „für mich gibt es Schuldige, die ihre Arbeit nicht gemacht haben.“
Am ersten Jahrestag der Katastrophe, dem 1. Juli 2003, findet eine Gedenkveranstaltung in Überlingen statt. Kalojew zeigt dem damaligen Chef der Firma Skyguide, Alain Rossier, die Fotos seiner Toten. Skyguide, der Arbeitgeber von Peter Nielsen, ist in der Nacht der Katastrophe für die Flugüberwachung zuständig. Rossier bekundet gegenüber Kalojew sein Bedauern, entschuldigt sich aber nicht. Wer in Nordossetien eine schlimme Schuld begeht, der geht 500 Meter auf Knien zum Haus dessen, dem er etwas angetan hat, und bittet um Vergebung. Niemand erklärt Kalojew und den Hinterbliebenen der anderen Opfer, dass sich die Anwälte von Skyguide nie entschuldigen werden, da eine Entschuldigung ein juristisches Schuldeingeständnis bedeuten würde.
Wir saßen hier, haben mitangesehen, wie unser Bruder sein ganzes Leben verliert, bekamen weder eine Erklärung noch eine Entschuldigung und wurden stattdessen immer wieder
hingehalten“, sagt Soja, die nach dem Abendessen am Tisch sitzt. Eine Entschuldigung, ein menschliches Signal des Mitleids aus der Schweiz hätte vieles geändert. So habe man sich gefühlt wie der letzte Dreck, als wäre es nicht weiter schlimm, wenn ein paar Russen verrecken.
Am 17. November 2003 kommt ein Brief in Wladikawkas an, adressiert an Witalij Kalojew. Skyguide biete für jedes Kind 50 000 Franken, für seine Frau 60 000 Franken Entschädigung. Mit der Unterschrift seien Kalojews Rechte abgegolten, auch für den Fall, dass Skyguide bei einer Schadensersatzklage in den USA mehr Geld pro Opfer zahlen müsse. Kalojew kann nicht fassen, was er liest: Sie wollen meine Familie in Geld aufwiegen und auch noch an ihr verdienen? „Diesen Schweinen zeige ich den kaukasischen Weg“, sagt er unter Tränen. Kalojew be
stellt über eine Moskauer Detektei Fotos vom Haus des Fluglotsen Peter Nielsen in Zürich, Rebweg 26, nicht weit vom Flughafen. Am 21. Februar 2004 reist er in die Schweiz, angeblich mit einem WeiterflugTicket nach Barcelona und einer teuren Uhr, die er reparieren lassen soll. In einem VictorinoxGeschäft am Flughafen kauft er ein Messer, Typ Ranger, NeunZentimeterKlinge. Kalojew steigt im Hotel Welcome Inn ab. Am 24. Februar 2004 steht er in Nielsens Garten, kurz darauf ist der Fluglotse tot. Kalojew wird sagen, dass er nur mit Nielsen habe reden wollen, nur ein kleines Taschenmesser bei sich gehabt habe, dass er Nielsen nur die Fotos seiner Kinder habe zeigen wollen. Er erzählt, dass Nielsen ihn weggestoßen und er, Kalojew, dann einen Blackout gehabt habe. Nielsens Frau Mette, die mit den Kindern im Haus steht, gibt bei den Anhörungen zu Protokoll, dass keine Konversation stattgefunden, Kalojew ihren Mann ohne Vorwarnung abgestochen habe. Eine, die die Obduktionsbilder des toten Peter Nielsen später sieht, sagt, dass Nielsens Leiche genauso aussah wie die des kleinen Konstantin. Kalojew habe sein Blut gerächt.
Kopenhagen, März 2008. Mette Nielsen arbeitet wieder. Die Witwe von Peter Nielsen ist wie ihr toter Mann Fluglotse. Nach dem Mord hält sie es in der Schweiz nicht mehr aus und findet bei der Firma Naviair in Kopenhagen einen Job. Mitte der Neunziger ziehen die Nielsens nach Zürich, da in der Schweiz Flugverkehrsleiter gebraucht werden und weil sie die Berge lieben und das Skifahren. Mette Nielsen bringt einen Sohn mit in die Ehe, sie bekommen noch ein Kind, als ihr Mann stirbt, ist sie mit dem dritten schwanger. Die Nielsens fühlen sich nach der Katastrophe vom 1. Juli 2002 von ihrem Arbeitgeber, der Skyguide, im Stich gelassen. Aber für Mette Nielsen geht es heute nicht mehr um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft; über eine Freundin lässt sie ausrichten, dass sie ein neues Leben angefangen habe.
So weit ist Witalij Kalojew noch nicht, auch wenn seine Schwestern sagen, die Arbeit gebe ihm eine Aufgabe. Pfarrer Meier, der Kalojew nach seiner Tat betreut, befürchtet anfangs, Kalojew würde sich das Leben nehmen. Heute glaubt er, Kalojew sehe Licht am Ende seines Tunnels.
Das Abendessen ist beendet, die erste Flasche Wodka leer. Hat sich Kalojew bei Mette Nielsen entschuldigt, er, der immer wieder eine Entschuldigung für seinen Verlust gefordert hat? „Ich muss mich für nichts entschuldigen. Die Kinder von Nielsen leben, meine sind tot“, sagt Kalojew. „Ich habe ein reines Gewissen, meine Tür steht offen. Wenn der Sohn von Nielsen eines Tages hier auftaucht, um sich für seinen Vater zu rächen, bitte.“ In Russland, sagt Soja, sei der Mann der Kopf und die Frau der Hals. Seit Swetlana weg ist, ist Kalojew starr und trotzig. Der morgige Sonntag, an dem sich der Mord zum vierten Mal jährt, der bedeute ihm nichts. Soja schüttelt den Kopf, weil sie ihren Bruder so nicht reden hören will. „Wenn ein Mann in Ossetien trauert, dann lässt er sich einen Bart wachsen, den er nach einem Jahr abmacht, weil er so seine Toten in den Himmel lässt. Witalij, du hast deinen Bart seit fast sechs Jahren, bitte rasier ihn und lass Swetlana, Diana und Konstantin gehen!“ Kalojew schüttelt den Kopf. Der größte Wunsch der Familie sei es, ergänzt Soja, dass Witalij noch einmal eine Frau findet und einen Stammhalter zeugt, der eines Tages das Haus übernimmt.
Der Sonntag bedeutet für Witalij Kalojew dann doch etwas. Über die alte georgische Heerstraße fährt ihn Tamik in die Berge, zum ersten Mal seit der Katastrophe. Früher sei er oft mit seinem Sohn hier hoch gekommen, sagt Kalojew, sie haben Kräuter gesammelt, und Swetlana habe daraus Tee gekocht. Diese Erinnerungen haben nicht zugelassen, dass er eher zurückkehrt, an seinen Ursprung. Kalojew zeigt stolz auf den Elbrus, mit 5642 Metern der höchste der KaukasusBerge, und lächelt. Für einen Moment ist es wieder da, das Glück.____
Mette Nielsen, die Witwe des Flug-lotsen, hat ein neues Leben angefangen.
So weit ist Kalojew noch nicht
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