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S154 Die Behandlung von Rupturen des hin- teren Kreuzbands wird international auch im Jahr 1998 noch immer kontro- vers diskutiert. Zahlreiche Fragen zur funktionellen Anatomie, zum Spontan- verlauf nach Ruptur, zur chirurgischen Technik sowie zum Heilungsverlauf sind unbeantwortet. Letztlich entspre- chen die Erkenntnisse zum hinteren Kreuzband noch lange nicht dem, was wir heute über das vordere Kreuzband wissen [1, 4–9, 11–15, 17–19, 23]. Die Empfehlung, isolierte Rupturen des hinteren Kreuzbands (HKB) kon- servativ-funktionell zu behandeln, ist jedoch – mit Ausnahme der ossären Ausrisse – nach wie vor aktuell. – War- um? Ergebnisse verschiedener Operationsverfahren Bisher ist mit keiner prospektiven, ran- domisierten Langzeitstudie bewiesen worden, daß die heutigen Operations- verfahren reproduzierbar zu besseren Ergebnissen führen. Klinische und ex- perimentelle Studien haben gezeigt: 1. Die Naht des hinteren Kreuzbands führte in mehr als 50% der Fälle nicht zu einem objektiv und subjektiv stabi- len Kniegelenk [1, 11, 12, 14]. 2. Dynamische Sehnenplastiken er- füllten nicht die Erwartungen [6, 23]. 3. Auch Kunststoffbänder haben als HKB-Prothesen bisher versagt. Bisher ist kein Kunststoffband in der Lage, den vielfachen und hohen mechani- schen Anforderungen unter Dauerbe- lastung Stand zu halten. Der Dauer- bruch des Kunststoffbands ist somit absehbar und führt zum alten Instabi- litätszustand des Gelenks. Bandprothe- sen haben sich daher nicht bewährt – nicht zuletzt auch aufgrund starker Entzündungsreaktionen durch Abrieb- partikel. Diese können über eine Zell- aktivierung und Enzymausschüttung Knorpelschäden und letztlich eine Ar- throse verursachen [12, 16]. 4. Allogene Transplantate haben eine verlängerte Einheilungszeit. Immuno- logische Reaktionen bis hin zur Un- verträglichkeit dürfen nicht unter- schätzt werden. Angesichts des Risi- kos der Übertragung viraler Erkran- kungen ist zudem ein hoher logisti- scher Aufwand notwendig [10, 14]. 5. Auch die wenigen, teils wider- sprüchlichen Daten über Ersatzplasti- ken mit einem Patellarsehnentrans- plantat rechtfertigen nicht die generel- le Empfehlung zur primären Operati- on. Dieser Eingriff ist schwierig, kom- plikationsträchtig und erfordert Spe- zialinstrumente sowie ein erfahrenes Team. Der komplexen Anatomie und Funktion des hinteren Kreuzbands kann auch das Patellarsehnentrans- plantat nicht gerecht werden. Weiter- hin ist noch ungeklärt, wie belastbar das biologische Transplantat insbeson- dere während der langen Einheilung ist Trauma Berufskrankh (2000) 2 [Suppl 1] : S154–S156 © Springer-Verlag 2000 Der hintere Kreuzbandriß Operation? Konservative Therapie? (Pro konservative Therapie) U. Bosch Unfallchirurgische Klinik, Medizinische Hochschule Hannover Prof. Dr. U. Bosch, Unfallchirurgische Klinik, Medizinische Hochschule Hannover, Carl-Neu- berg-Straße 1, D-30625 Hannover Tel.: 0511-5322179, Fax: 0511-5325877 Zusammenfassung Die Behandlung von Rupturen des hinteren Kreuzbands wird interna- tional noch immer kontrovers dis- kutiert. Zahlreiche Fragen zur funktionellen Anatomie, zum Spon- tanverlauf nach Ruptur, zur chir- urgischen Technik sowie zum Hei- lungsverlauf sind unbeantwortet. Gesichert ist, daß die primäre ope- rative Versorgung von knöchernen Ausrissen des hinteren Kreuzbands zu guten Ergebnissen führt. Bei kombinierten Knieinstabilitäten sollte das verletzte hintere Kreuz- band auch operativ versorgt wer- den. Für die isolierte, interligamen- täre Ruptur des hinteren Kreuz- bands konnte bisher jedoch mit keiner prospektiven, randomisier- ten Langzeitstudie bewiesen wer- den, daß die heutigen Operations- verfahren reproduzierbar zu bes- seren Ergebnissen führen als die konservativ-funktionelle Behand- lung. Für die konservative Thera- pie sprechen die nur mäßige Insta- bilität nach isolierter Ruptur des hinteren Kreuzbands, der günstige Spontanverlauf und der Erhalt der Propriozeption des Kniegelenks sowie die im Verlauf nur geringe Arthroserate. Schlüsselwörter Hinteres Kreuzband · Isolierte Ruptur · Therapie · Prognose BEHANDLUNGSVERFAHREN

Der hintere Kreuzbandriß

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Page 1: Der hintere Kreuzbandriß

S154

Die Behandlung von Rupturen des hin-teren Kreuzbands wird internationalauch im Jahr 1998 noch immer kontro-vers diskutiert. Zahlreiche Fragen zurfunktionellen Anatomie, zum Spontan-verlauf nach Ruptur, zur chirurgischenTechnik sowie zum Heilungsverlaufsind unbeantwortet. Letztlich entspre-chen die Erkenntnisse zum hinterenKreuzband noch lange nicht dem, waswir heute über das vordere Kreuzbandwissen [1, 4–9, 11–15, 17–19, 23].

Die Empfehlung, isolierte Rupturendes hinteren Kreuzbands (HKB) kon-servativ-funktionell zu behandeln, istjedoch – mit Ausnahme der ossärenAusrisse – nach wie vor aktuell. – War-um?

Ergebnisse verschiedenerOperationsverfahren

Bisher ist mit keiner prospektiven, ran-domisierten Langzeitstudie bewiesenworden, daß die heutigen Operations-verfahren reproduzierbar zu besserenErgebnissen führen. Klinische und ex-perimentelle Studien haben gezeigt:

1. Die Naht des hinteren Kreuzbandsführte in mehr als 50% der Fälle nichtzu einem objektiv und subjektiv stabi-len Kniegelenk [1, 11, 12, 14].

2. Dynamische Sehnenplastiken er-füllten nicht die Erwartungen [6, 23].

3. Auch Kunststoffbänder haben alsHKB-Prothesen bisher versagt. Bisherist kein Kunststoffband in der Lage,den vielfachen und hohen mechani-schen Anforderungen unter Dauerbe-lastung Stand zu halten. Der Dauer-bruch des Kunststoffbands ist somitabsehbar und führt zum alten Instabi-litätszustand des Gelenks. Bandprothe-sen haben sich daher nicht bewährt –nicht zuletzt auch aufgrund starkerEntzündungsreaktionen durch Abrieb-partikel. Diese können über eine Zell-aktivierung und EnzymausschüttungKnorpelschäden und letztlich eine Ar-throse verursachen [12, 16].

4. Allogene Transplantate haben eineverlängerte Einheilungszeit. Immuno-logische Reaktionen bis hin zur Un-verträglichkeit dürfen nicht unter-schätzt werden. Angesichts des Risi-kos der Übertragung viraler Erkran-kungen ist zudem ein hoher logisti-scher Aufwand notwendig [10, 14].

5. Auch die wenigen, teils wider-sprüchlichen Daten über Ersatzplasti-ken mit einem Patellarsehnentrans-plantat rechtfertigen nicht die generel-le Empfehlung zur primären Operati-on. Dieser Eingriff ist schwierig, kom-plikationsträchtig und erfordert Spe-zialinstrumente sowie ein erfahrenesTeam. Der komplexen Anatomie undFunktion des hinteren Kreuzbandskann auch das Patellarsehnentrans-plantat nicht gerecht werden. Weiter-hin ist noch ungeklärt, wie belastbardas biologische Transplantat insbeson-dere während der langen Einheilung ist

Trauma Berufskrankh (2000) 2 [Suppl 1] : S154–S156 © Springer-Verlag 2000

Der hintere KreuzbandrißOperation? Konservative Therapie? (Pro konservative Therapie)

U. BoschUnfallchirurgische Klinik, Medizinische Hochschule Hannover

Prof. Dr. U. Bosch, Unfallchirurgische Klinik,Medizinische Hochschule Hannover, Carl-Neu-berg-Straße 1, D-30625 Hannover Tel.: 0511-5322179, Fax: 0511-5325877

Zusammenfassung

Die Behandlung von Rupturen deshinteren Kreuzbands wird interna-tional noch immer kontrovers dis-kutiert. Zahlreiche Fragen zurfunktionellen Anatomie, zum Spon-tanverlauf nach Ruptur, zur chir-urgischen Technik sowie zum Hei-lungsverlauf sind unbeantwortet.Gesichert ist, daß die primäre ope-rative Versorgung von knöchernenAusrissen des hinteren Kreuzbandszu guten Ergebnissen führt. Beikombinierten Knieinstabilitätensollte das verletzte hintere Kreuz-band auch operativ versorgt wer-den. Für die isolierte, interligamen-täre Ruptur des hinteren Kreuz-bands konnte bisher jedoch mitkeiner prospektiven, randomisier-ten Langzeitstudie bewiesen wer-den, daß die heutigen Operations-verfahren reproduzierbar zu bes-seren Ergebnissen führen als diekonservativ-funktionelle Behand-lung. Für die konservative Thera-pie sprechen die nur mäßige Insta-bilität nach isolierter Ruptur deshinteren Kreuzbands, der günstigeSpontanverlauf und der Erhalt derPropriozeption des Kniegelenkssowie die im Verlauf nur geringeArthroserate.

Schlüsselwörter

Hinteres Kreuzband · IsolierteRuptur · Therapie · Prognose

BEHANDLUNGSVERFAHREN

Page 2: Der hintere Kreuzbandriß

und wie groß das Risiko der sekun-dären Degeneration durch Überla-stung. Eine Restitutio ad integrum wirdnicht erreicht. In der Mehrzahl der Fäl-le verbleibt eine gewisse Restinstabi-lität [2, 3, 7, 10, 12, 14, 20].

Vorteile der konservativenTherapie

Dagegen spricht für die konservativeTherapie, daß die isolierte HKB-Ruptur nur zu einer mäßigen hinterenSchublade führt. Sie verursacht keinewesentliche Varus-Valgus- und keineRotationsinstabilität [8, 9, 15, 20]. DerSpontanverlauf ist günstig. Bei gutermuskulärer Rehabilitation kann auchüber Jahre ein hohes Aktivitätsniveaugehalten werden [1, 4, 5, 7, 13, 14, 20,21]. Gerade die konservative Therapieschont den wichtigsten Agonisten desHKB, den Quadrizepsmuskel [3–5, 7,10, 12]. Die Ersatzplastik mit einemPatellarsehnentransplantat induziertdagegen, wenn auch nur passager, einedeutliche Schwächung des Streckap-parats. Die konservative Therapie be-wahrt auch die sekundären Stabilisato-ren des HKB, die durch das chirurgi-sche Trauma potentiell geschwächtwerden. Damit wird auch die Proprio-zeption des Kniegelenks, einer derwichtigsten Faktoren für das subjekti-ve Stabilitätsgefühl, nicht beeinträch-tigt [10].

Nachteile der konservativen Therapie

Bleibt als Argument gegen die konser-vative Therapie die Instabilitätsarthro-se [6, 20, 22]. Neuere Untersuchungenzeigen jedoch, daß nur etwa 5% der Pa-tienten mit isolierter HKB-Ruptur eineposttraumatische Arthrose entwickeln[1, 21]. Shino et al. [21] verfolgten 15Sportler mit konservativ behandelterisolierter HKB-Ruptur über mehr als 4Jahre. Nur 1 Sportler entwickelte nacheinem erneuten Trauma mit Knorpel-schaden eine Arthrose. Keiner der an-deren zeigte Arthrosezeichen, trotz ho-her sportlicher Aktivität.

Resümee

„Weniger ist oft mehr“ – dies trifft auchheute noch für die isolierte Ruptur desHKB zu. In der Gesamtschau rechtfer-tigen die bisherigen Ergebnisse nichtdie primäre operative Versorgung.Vielmehr sollten die Patienten engma-schig kontrolliert werden. Patienten,die im Verlauf klinisch und radiolo-gisch eine Verschlechterung zeigen,

profitieren dann am ehesten von einerErsatzplastik des HKB [20].

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S155

Trauma Berufskrankh (2000) 2 [Suppl 1] : S154–S156© Springer-Verlag 2000

The posterior cruciate ligament tear.Operative or nonoperative treatment?

U. Bosch

Abstract

The treatment of injuries to thePCL is still controversial. Thereare still no answers to many ques-tions on the biomechanics of PCL,the natural history of PCL injury,the surgical technique of PCL re-construction and the biology ofPCL healing. It is well establishedthat primary repair of bony avul-sions of the PCL provides goodstatic and functional results. PCLtears should also be treated surgi-cally in combined knee ligamentinjuries. For isolated midsubstancetears of the PCL, however, noprospective randomised long-termstudies are available to date demon-strating that surgical treatmentwith current techniques leads tobetter results than nonoperative,functional treatment. Nonopera-tive management is advocated be-cause the knee instability follow-ing isolated PCL midsubstancetear is only moderate, the naturalhistory has been seen to end in ac-ceptable functional stability, kneeproprioception is preserved, andthe incidence of late osteoarthritisis low.

Key words

Posterior cruciate ligament · Isola-ted tears · Treatment · Prognosis

Page 3: Der hintere Kreuzbandriß

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BEHANDLUNGSVERFAHREN