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Der Kampf um Schatzen

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Nr. 1226

Der Kampf um Schatzen

Vitalkraft gegen Graueinfluß - dasDuell in den Kavernen

von Kurt Mahr

Der Kampf um die Führung der Endlosen Armada ist im Sommer 428 NGZ längstzugunsten Perry Rhodans entschieden. Und Kazzenkatt, der Lenker des Dekalogs,hat bei seinen Angriffen auf die Endlose Armada und auf verschiedene Chronofossili-en, die er zu pervertieren versuchte, nach anfänglichen Erfolgen eine ganze Reiheschwerer Niederlagen einstecken müssen. Ja, es kommt sogar dazu, daß zwei derdrei Basen des Dekalogs in die Gewalt der Gegenseite geraten und für Kazzenkattskünftige Operationen somit nur noch die Basis LAGER verbleibt.

Derartig in seiner Macht geschwächt, ist es dem Element der Lenkung auch nichtmöglich, das wichtige Chronofossil Hundertsonnenwelt länger zu halten. Vielmehrmuß Kazzenkatt sich mit dem Rest seiner Streitkräfte überstürzt zurückziehen undden Planeten wieder den Posbis überlassen. Auf dem Schauplatz Tiefenland jedoch– wobei wir ins Frühjahr 428 NGZ zurückblenden – sieht die Lage für die drei Ritterder Tiefe wenig ermutigend aus. Atlan, Jen Salik und Lethos-Terakdschan müssendas Herrschaftsgebiet Mhuthans, des Grauen Lords schleunigst verlassen.

Sie flüchten nach Schatzen, dem Museumsland. Doch die Übermächtigen HordenMhuthans sind bereits angetreten, um das Museumsland in ein Graugebiet zu ver-wandeln – und so entbrennt DER KAMPF UM SCHATZEN...

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Die Hautpersonen des Romans:Mhuthan - Der Graue Lord setzt zum Angriff auf das Museumsland an.Nervrid - Heerführer des Grauen Lords.Atlan, Jen Salik und Lethos-Terakdschan - Drei Ritter der Tiefe im Kampf gegen das Grauleben.Domo Sokrat und Twirl - Unentbehrliche Helfer der Ritter der Tiefe.Gluschuw-Nasvedbin und Henner-Bak - Archivare von Schatzen.

1.

Atlan sah sie unter dem grauen Himmelihre Bahn ziehen: Tausende von Ratanen,bemannt mit aber Tausenden von Paladinen.Die Streitmächte des Grauen LordsMhuthan, im Angriff auf das Land Schatzen.

Die mächtige Horde der Ratane bewegtesich auf nordöstlichem Kurs. Sie bedeutetekeine unmittelbare Gefahr für das Museum.Mit Interesse beobachtete er eine Schar grö-ßerer Objekte, die sich in scheinbar wahllo-ser Verteilung inmitten des Ratan-Schwarmsbewegten. Der Graue Lord griff nicht nurmit konventionellen Truppen an; er hattesich offenbar ein paar zusätzliche Tricks ein-fallen lassen.

Atlan stand jenseits des äußeren Gebäude-rings, der die Grenze des Museums bildete,dem Gluschuw-Nasvedbin als Kurator vor-stand. Vor wenigen Minuten erst war es ge-schehen, daß der Roboter Schizo in dieKammer des Tabernakels gestürmt war undden Beginn der grauen Invasion verkündethatte. Seit Tagen schon standen LordMhuthans Truppen an den Grenzen des Lan-des Schatzen bereit. Die Absicht des GrauenLords war klar: Er wollte Schatzen zumGrauland machen und seinem Herrschafts-bereich eingliedern.

Der Blick des Arkoniden glitt über dieFahrzeuge, die im Vorgelände des Museumsabgestellt waren. Insgesamt dreizehn Archi-vare waren Gluschuw-Nasvedbins Einla-dung zu einer außerordentlichen Versamm-lung gefolgt. Der Zweck der Versammlunghatte nach Gluschuws Ansicht sein sollen,daß Atlan und seine Begleiter im Angesichtdes Tabernakels von Holt zu Spionen derGraumacht erklärt würden. Aber es war an-

ders gekommen. Das Tabernakel hatte At-lan, Jen Salik und Lethos-Terakdschan alsRitter der Tiefe identifiziert und den versam-melten Archivaren zu verstehen gegeben,daß diese in der Rangordnung des Tiefen-lands weit über ihnen stünden. Die Archiva-re hatten sich dem Spruch des Tabernakelsgebeugt. Das war der Augenblick gewesen,in dem Schizo mit seiner Hiobsbotschaft indie Kammer gestürmt kam.

Atlan und Jen Salik waren nach draußengeeilt, während der Rest der Truppe mit denArchivaren im Ausstellungsraum des Taber-nakels zurückblieb. An der Richtigkeit derBeobachtung, die Schizo gemacht hatte, gabes keinen Zweifel. Die eilends dahinziehen-den Scharen der Ratane verkündeten lautund deutlich: Die graue Invasion hatte be-gonnen.

»Auf uns scheinen sie es vorläufig nochnicht abgesehen zu haben«, meinte Jen Sa-lik.

»Das kommt noch«, prophezeite Atlandüster. »Lord Mhuthan kann es sich nichtleisten, uns unangefochten entkommen zulassen.«

»Soll er uns suchen«, sagte Salik leicht-hin. »Schatzen ist rund eine ViertelmillionQuadratkilometer groß, wenn man sich aufDomo Sokrats Angaben verlassen kann.Woher will der hohe Lord wissen, wo wir zufinden sind?«

»Oh, ich fürchte, er weiß es auf den Metergenau«, lächelte der Arkonide. Er wies aufdie Dachkante eines Gebäudes des mittlerenMuseumsrings.

In zwanzig Metern Höhe war das WinzigeGeschöpf kaum zu erkennen. Es war eindunkler Punkt gegen den grauen Hinter-grund des Himmels. Nur der Stachel, derlang und spitz aus dem Vorderkörper her-

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vorragte, verriet es. Es war ein Mini-Ratan –ein Ratan-Späher. Ratan-Späher besaßen dieGröße eines Sperlings. Sie wurden für Auf-klärungszwecke eingesetzt, aber auch fürheimtückische Angriffe auf Einzelweseneigneten sie sich dank ihres tödlichen Sta-chels vorzüglich.

Blitzschnell riß Atlan den rechten Arm indie Höhe. Eine der Waffen, die in die Hand-gelenkspasse der TIRUN-Montur eingebautwaren, entlud sich mit hellem Summen. DerRatan-Späher versuchte sich in Sicherheit zubringen. Seine Reaktion kam zu spät. Wieein Stein sackte die synthetische Kreatur pa-ralysiert zu Boden.

Jen Salik vollendete das Werk, indem erden Späher zerstrahlte.

»Wenigstens einer, von dem der GraueLord keine zusätzlichen Informationen mehrbekommen wird«, sagte er grimmig.

»Schwacher Trost«, belehrte ihn Atlan.»Ich bin überzeugt, es sind Hunderte vonSpähern in der Nähe.«

Sie waren auf dem Weg zum inneren Mu-seumsring. Plötzlich hielt Salik an.

»Spürst du etwas von Graueinfluß?« frag-te er.

»Nichts«, antwortete Atlan ein wenig ver-wirrt. »Wie könnte ich auch...«

»Aber der Späher saß dort oben auf demDach«, unterbrach ihn Salik hastig. »Diesynthetischen Erzeugnisse des Grauen Lordszerfallen, sobald sie die Sphäre des Graule-bens verlassen. Wie kann er dort gesessenhaben, wenn hier die Graukraft noch nichtwirksam ist?«

Salik hatte recht. Noch herrschte im Landder Archivare die Aura des Reallebens. DerSpäher hätte dort oben nicht sitzen dürfen,es sei denn...

»Hier kommt vermutlich deine Antwort«,sagte Atlan, als er scheppernde Geräuschehörte, die sich vom inneren Ring des Muse-ums näherten.

Es war Schizo, der sich seinen Weg zwi-schen zwei Gebäuden des Innenrings hin-durch bahnte. Er war nach dem Vorbild sei-nes Herrn erschaffen; einen Meter groß, mit

kurzen, stämmigen Säulenbeinen und einemkürbisförmigen Schädel, in den Augen, Naseund Mund wie in eine altmodische Maskegeschnitten zu sein schienen. Anstelle vonArmen besaß er Bündel tentakelähnlicherPseudopodien, die ihm auf beiden Körper-seiten von der Achsel bis zur Hüfte wuch-sen. Auf dem Rücken trug Schizo ein ruck-sackähnliches Gebilde, das dem symbioti-schen Partner der Archivare nachempfundenwar.

Organisches Gehabe simulierend, bautesich der Roboter vor den beiden Rittern derTiefe auf, als sei er vom raschen Laufen au-ßer Atem.

»Ihr müßt kommen... die Herren in derKammer... sie sind...«

Dem Paket auf seinem Rücken war dieseArt der Berichterstattung offenbar nicht zü-gig genug. Mit schriller Stimme fiel es ein:

»Die Archivare sind samt und sondersübergeschnappt.«

Atlan und Jen Salik warfen einander be-zeichnende Blicke zu. Dann schlossen siesich dem Roboter an, der sie in Richtung desinneren Museumsrings führte.

Von der Höhe des Podests herab, auf demsein Thronsessel stand, musterte LordMhuthan seine Heerführer. Acht Tizidenstanden im Halbkreis vor ihm, acht schlan-ke, bleiche Gestalten, im Durchschnitt dreiMeter groß. Ihre Gesichter, die in Form ei-nes flachen Reliefs aus der Körpermitte her-vortraten, wurden von einem großen, starrblickenden Auge beherrscht. Ihre Augen wa-ren auf den Grauen Lord gerichtet.

Dessen Gestalt war von einer grauen Kut-te verhüllt, die seinen Körper vollständigverbarg. An der Form des Gewandes ließsich erkennen, daß der Lord von annäherndhumanoider Erscheinungsform sein mußte.Doch die weit geschnittenen Ärmel der Kut-te bedeckten seine Arme und Hände bis überdie Fingerspitzen hinaus, und die Kapuzewar so weit nach vorn gezogen, daß das Ge-sicht nur als konturlose, graue Fläche erschi-en, in der mitunter ein glitzernder Reflexaufleuchtete.

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Die Stimme des Grauen Lords war tiefund kräftig.

»Wie verläuft die Invasion?« fragte erherrisch. »Ich erwarte euren Bericht. Ner-vrid, fang du an.«

Alle anwesenden Titziden waren infolgegenetischer Experimente, die sie an sichselbst vorgenommen hatten, mehr, oder we-niger verunstaltet. Der Angesprochene, Ner-vrid, wirkte auf den ersten Blick normal, bisüber seine rechte Schulter das schlangenähn-liche Gebilde auftauchte, das ihm aus, demRücken wuchs. Es war spontaner Bewegungfähig und trug an der vorderen Seite desplattgedrückten Schädels ein Gesicht, das ei-ne Miniaturausgabe der Physiognomie sei-nes Schöpfers war. Die Schlange konntesich auch seitwärts um Nervrids Leib krüm-men, was sie gerne tat, wenn sie ihrem Er-schaffer etwas zuflüstern wollte.

Vorläufig jedoch blieb die Schlange, dievon Nervrid auf den Namen Tssk getauftworden war, ruhig.

»Die Invasion verläuft wie geplant«, ver-kündete Nervrid forsch. »Zum vereinbartenZeitpunkt haben die Vitalsaboteure drei wei-tere Adern Vitalenergie durchtrennt, so daßder Zufluß von Vitalenergie nach Schatzeninzwischen fast völlig unterbunden ist. Dieeinzige Quelle der Vitalkraft, über dieSchatzen nach wie vor verfügt, ist der Spei-cher unter dem Spiralmonument. Dieser be-sitzt jedoch nicht die Kapazität, das ganzeLand zu versorgen. Schatzen liegt unterfünfzig Prozent Graueinfluß, wodurch ge-währleistet wird, daß sich unsere Truppen inentsprechender Höhe ungefährdet bewegenkönnen. Beim Angriff auf bodengebundeneZiele wird freilich der Graugenerator einge-setzt werden müssen.«

»Gut«, lobte Lord Mhuthan. »Die Trup-pen sind also unterwegs. Wann wird mitdem ersten Angriff gerechnet?«

»In einer Stunde, mein Lord«, antworteteNervrid unterwürfig. »Unsere Strategie siehtvor, daß die ersten Angriffe im entferntestgelegenen Teil des Landes Schatzen stattfin-den. Damit sollen die Archivare verwirrt

werden.«»Auch das ist gut«, bestätigte der Graue

Lord. »Ihr kennt meinen Plan. Sobald dieAngriffe auf die Peripherie von Schatzen imGange sind, nehme ich mir das zentrale Mu-seum und das Spiralmonument vor. Stehenmeine Truppen bereit?«

»Jederzeit, mein Lord«, rief Nervrid.Lord Mhuthan wandte sich zur Seite und

blickte durch das große Fenster, dessenWölbung dem Rund der Gondelwand folgte.Die Gondel war der Wohnsitz des GrauenLords und gleichzeitig seine fliegende Kom-mandozentrale. Im Augenblick schwebte dasFahrzeug fünfzehnhundert Meter über demgrauen Niemandsland, das die Grenze zwi-schen den Ländern Mhuthan und Schatzenbildete. Vorab stieg aus dem Dunst einrechteckig geformter Tafelberg in die Höhe.Der Lord gab einen zischenden Laut desMißfallens von sich, als er seiner ansichtigwurde.

»Wer von euch übernimmt es, Korz-branch zu besetzen?« fragte er.

Die Kapuze hob sich überrascht, als dreiSekunden verstrichen, ohne daß er Antworterhielt.

»Nun, was ist das?« grollte der Lord.»Nervrid, ich dachte, du würdest dich um ei-ne derart ehrenhafte Aufgabe bewerben.«

»Wenn es deiner Lordschaft beliebt«, kames aus Nervrids humanoid anmutendemMund, »so möchte ich lieber ein anderesProblem angehen.«

»Eines nach dem ändern«, nörgelte LordMhuthan. »Zuerst brauchen wir einen, dersich um Korzbranch kümmert. Die ver-dammte Kolonie ist mir schon seit langemein Dorn im Auge. Niemand meldet sichfreiwillig? Also dann: Scharrott, du über-nimmst die Sache.«

»Wie deine Lordschaft wünscht«, erwi-derte der Angesprochene. Jedoch merkteman den Worten an, daß der Auftrag Schar-rott zuwider war. Die Bewohner der KolonieKorzbranch waren als Kämpfer bekannt. Zu-dem gab es unter dem Tafelfelsen Vitalener-gieströme, die die Saboteure niemals hatten

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finden können. Korzbranch würde, wennüberhaupt, erst nach langer Belagerung fal-len. Den Ruhm ernteten inzwischen die an-deren, die mit ihren Truppen das LandSchatzen unterjochten.

Lord Mhuthan wandte sich von neuem anNervrid.

»Also, was hast du dir ausgesucht?« woll-te der Lord wissen.

»Unsere Späher haben die Verräter aus-findig gemacht«, antwortete Nervrid.

»Aha!« dröhnte die Stimme des Lords be-friedigt. »Endlich. Wo halten sie sich ver-steckt?«

»In dem Museum, das der Westgrenze desLandes Schatzen am nächsten liegt. Es wirdvon einem Archivar betreut, der sich Glu-schuw-Nasvedbin nennt.«

»Von dem habe ich gehört«, lachte derGraue Lord.. »Domo Sokrat hat oft genugvon ihm gesprochen, als er noch...«

Er vollendete den Satz nicht Der Gedankean den Haluter, den er für einen der treue-sten unter den Seinen gehalten hätte, bis ersich unversehens aus dem Staub machte, er-füllte ihn mit Mißbehagen.

»Also?« fuhr er Nervrid schroff an.»Ich möchte die Verräter fassen«, antwor-

tete der Tizide.»Mach ihnen lieber den Garaus«, dröhnte

Lord Mhuthan.»Wie deine Lordschaft wünscht«, antwor-

tete Nervrid ergeben.Entschlossen richtete der Lord sich auf.»Es ist also alles geregelt«, donnerte er.

»Jeder von euch kennt seine Aufgabe. So-bald die erste Nachricht eines erfolgreichenAngriffs vorliegt, wird die Gondel eins vondieser Station abgekuppelt. Ich übernehmepersönlich die Führung der Streitkräfte, diegegen das Zentralmuseum und das Spiral-monument vorstoßen.«

*

Wo in der Gondel etwas Bedeutungsvol-les geschah, das mit der Vorbereitung derInvasion von Schatzen zu tun hatte, da fand

man Nervrid. Ohne Diskussion stand fest,daß er die Leitung des Kommandozentrumsübernehmen würde, sobald Lord Mhuthansich mit Gondel 1 in Richtung des Spiralmo-numents abgesetzt hatte.

Die Gondel war ein recht komplexesFahrzeug. Sie bestand aus insgesamt fünftellerförmigen Gebilden, die wie die Schüs-seln eines Camping-Geschirrs übereinandergestapelt waren. Gondel 1, das oberste undumfangreichste der fünf aneinandergekop-pelten Fahrzeuge, war der Sitz des GrauenLords und besaß einen Durchmesser von500 Metern, eine Höhe von 50m. Umfangund Höhe der übrigen vier Gondeln nahmenstufenweise ab. Gondel fünf betrug nur nocheinhundert Meter im Durchmesser und be-saß eine Höhe von 10m. Gondel 5 war übri-gens jener Fahrzeugteil, den Lethos-Terakdschan von Lord Mhuthans Komman-dostation abgekuppelt und mit dem er seineGefährten in die Freiheit geflogen hatte.Gondel 5 war im Niemandsland diesseits derKolonie Korzbranch niedergegangen, offen-bar beeinflußt von einer Programmierung,die ihr verbot, über die Grenzen des LandesMhuthan vorzudringen. Ein Versuch derGraumacht, die Fliehenden am Notlandeortder Gondel zu stellen, war fehlgeschlagen.Atlan und Gefährten hatten es fertigge-bracht, sich nach Korzbranch durchzuschla-gen. Lord Mhuthan hatte mit seinem Kom-mandofahrzeug nachgesetzt und die Gondel5 wieder angekuppelt.

Nervrid begab sich an seinen Arbeitsplatz,der in der dritten Gondel lag. Von seinemprivaten Computer rief er ein Schaubild ab,das die Anordnung der Invasionsverbändezeigte. Schatzen, du bist verloren! dachte erhämisch. Das Land Schatzen, mit einem Flä-cheninhalt von rund 250.000 Quadratkilo-metern, grenzte auf drei Seiten an denMachtbereich des Lords Mhuthan. Nach dervierten Seite hin wurde es durch einen Ge-birgszug begrenzt, dessen Gipfel bis nahe andie Tiefenkonstante heranreichten. Mit an-deren Worten: Schatzen war eingeschlossen,denn die Bergkette konnte nicht überstiegen

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werden.Mit Befriedigung notierte Nervrid die Po-

sitionen der acht Heeresgruppen entlang derGrenze. Zwei der auf dem Schaubild ver-merkten Ausgangsstellungen waren inzwi-schen leer. Die Gruppen, die dort stationiertgewesen waren, befanden sich auf dem Wegzur Ostgrenze des Landes Schatzen. Er kon-zentrierte seine Aufmerksamkeit auf eineder beiden Gruppen, die unmittelbar vordem Westrand des Landes der Archivare la-gen. Es war jene, die seinem Befehl unter-stand. Die andere gehörte Scharrott, dem derGraue Lord die unangenehme Aufgabe über-tragen hatte, die Kolonie Korzbranch anzu-greifen.

Nervrid holte eine Ausschnittsvergröße-rung heran und musterte seine Armee. Siebestand zunächst aus 400.000 Paladinen, dieauf 80.000 Ratanen in den Kampf reitenwürden. Hinzu kamen Spezialtruppen, diemit Mitteln der bakteriologischen Kriegsfüh-rung ausgestattet waren. Nachdenklich ruhteNeryrids Blick auf einem massiven Gerät,das auf dem Schaubild als leuchtend roterReflex dargestellt wurde. Das war der Grau-generator, eine Maschine, die aus dem tech-nischen Arsenal Lord Mhuthans stammte.Niemand außer dem Lord selbst wußte, wiesie funktionierte. Bekannt war nur, daß derGraugenerator eine Zone des Graueinflussesschuf, ohne die Ratane und Paladine in derSphäre des Reallebens nicht eingesetzt wer-den konnten.

Er spürte eine Bewegung in seinemRücken.

»Nicht jetzt, Tssk«, sagte er unwillig.Die Schlange, sein zweites Ich, hervorge-

gangen aus einem erfolgreichen gentechni-schen Experiment, ließ sich nicht beirren.Sie schob sich in die Höhe, bis sie über seineSchulter hinweg das Schaubild betrachtenkonnte.

»Du könntest deine Truppen von hier aussteuern, wie Scharrott und Hinneken, undwie sonst noch alle heißen mögen, es tunwerden. Aber du bist nicht so dumm, dir die-se einmalige Chance entgehen zu lassen.

Denk an den unsterblichen Ruhm, den siedir einbrächte.«

»Ich denke darüber nach, Tssk«, sagteNervrid.

»Du an Bord des Graugenerators«, fuhrdie Schlange beschwörend fort. »Der Feld-herr in vorderster Linie mit seinen Truppen.Der Sieg. Die Vernichtung der Verräter, vondeiner eigenen Hand bewirkt! Der GraueLord wäre gezwungen, dich zu seinem Stell-vertreter auf Lebenszeit zu machen.«

»Du bist ein Verführer, Tssk«, sagte Ner-vrid.

Dann stand er auf – so hastig, daß dieSchlange Mühe hatte, das Gleichgewicht zuwahren.

»Aber du hast recht«, stieß er hervor. »Sowerden wir es halten.«

Ein helles, vibrierendes Summen ließ ihnaufhorchen. Ein Videosystem hatte sichselbständig aktiviert. Es zeigte den Orterre-flex eines großen Flugobjekts, das sich mitbemerkenswerter Geschwindigkeit von derBildmitte auf den Rand des Bildes zu be-wegte.

»Ah, gut«, sagte Nervrid. »Lord Mhuthanist mit der Gondel eins unterwegs.«

*

»Es hat keinen Sinn zu kämpfen«, erklärteGluschuw-Nasvedbin düster.

Die vierzehn Archivare standen in einerdichtgedrängten Gruppe. Sie bildeten eineFront gegenüber den drei Rittern der Tiefeund ihren Orbitern. Vor einer halben Stundenoch waren sie bereit gewesen, alle nötigenVorbereitungen zur Abwehr der Invasion zutreffen. Ihr abrupter Sinneswandel ließ nureine Erklärung zu: Der Graueinfluß hatteeingesetzt.

Wie in allen Ländern der Tiefe war auchin Schatzen das Realleben abhängig von ei-nem steten Fluß Vitalenergie, der vom Va-genda kam und durch das weitverzweigteSystem der Kavernen strömte. Ein Teil desVitalenergiestroms floß in große Aktivato-ren, von denen die Lebenskraft nach einem

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sorgfältig berechneten Schema über dasLand verteilt wurde. Schatzen besaß nureinen solchen Aktivator. Er stand in einerriesigen Kaverne unter dem Spiralmonu-ment, das den Mittelpunkt des großen Zen-tralmuseums bildete.

Seit vielen Tiefenjahren waren die GrauenLords bestrebt, den Fluß von Vitalenergie indie noch von Realleben erfüllten Teile desTiefenlands zu unterbinden. Zu diesemZweck hatten sie von ihren genetischen In-genieuren die Spezies der Vitalsaboteure er-schaffen lassen. Über die Saboteure wußteman nur wenig. Fest stand jedoch, daß sie indieser Sekunde irgendwo tief unter demLand Schatzen am Werk waren.

Atlan kannte die Wirkung des Grauein-flusses. Er hätte in der Kolonie KorzbranchSeite an Seite mit dem Tiziden Fonneher ge-gen Lord Mhuthans Krieger gekämpft. Auchdamals war es den Saboteuren gelungen, denFluß der Vitalenergie vorübergehend zu un-terbrechen. Fonneher war aufsässig und stör-risch gewesen. Aber durch grobes Zuredenhatte er sich zur Kopperation bewegen las-sen. Die jetzige Situation erforderte offenbardieselbe Art von Taktik.

»Ihr werdet uns helfen«, forderte der Ar-konide mit harter Stimme.

Einer der Archivare trat vor.»Wir können dir nicht helfen«, sagte er.

»Du hast kein Recht...«»Wer bist du?« fuhr Atlan ihn grob an.

»Noch habe ich nicht gelernt, eure Gesichtervoneinander zu unterscheiden.«

»Ich bin Velwesch-Glod«, antwortete derArchivar eingeschüchtert.

»Wir sind der Kurator des großen Nord-museums«, kreischte es von seinem Rückenher. Velweschs zyrmischem Symbiotenmochte die Antwort ein wenig zu dürftig er-schienen sein. Die Zyrmii stellten ihr Lichtnicht gern unter den Scheffel.

»Ihr werdet uns helfen«, wiederholte At-lan. »Ich weiß, daß ihr euch vor wenigenStunden in Gluschuw-Nasvedbins Haus ver-sammeltet, um über Abwehrmaßnahmen zusprechen. Es gibt also Mittel, mit denen ihr

euch gegen die grauen Invasionstruppenwehren könnt.«

Die übrigen Mitglieder der Gruppe hieltensich abseits und überließen die Verhand-lungsführung dem Arkoniden. Domo Sokrat,der riesige Haluter, stand reglos in der Nähedes Durchgangs, der in den angrenzendenRaum führte. Lethos-Terakdschan hatte sichnahe der mit samtenem Material verkleide-ten Säule postiert, auf der das Tabernakelvon Holt ruhte. Ihm zu Füßen hockte Twirl,der junge Abaker. Jen Salik hatte sich an dergegenüberliegenden Wand des Raumes aufdem Boden niedergelassen. Er wirkte ent-spannt. Sein leicht gerötetes Gesicht und diekräftig ausgebildete Nase vermittelten denEindruck der Harmlosigkeit.

»Es hat keinen Zweck«, begann Velwe-sch-Glod zaghaft. »Der Graue Lord ist unsüberlegen...«

»Er ist ein Feigling!« zeterte der Symbi-ont. »Alle Alesterwanen sind Feiglinge.«

»Es liegt nicht an Feigheit«, verteidigtesich Velwesch. »Die Versammlung, von derdu sprachst, endete in Streit. Aber selbstwenn sie zu einem Entschluß geführt hätte,wäre es wahrscheinlich der gewesen, daßwir so rasch wie möglich fliehen müßten.«

»Wohin wolltet ihr fliehen?« fragte Atlan.»Der Graue Lord hat es auf ganz Schatzenabgesehen. Es gibt keinen Ausweg füreuch.«

Velwesch machte mit einigen Tentakelnabwehrende Gesten.

»Wir wollten Schatzen nicht verlassen...«, begann er.

»Sie wollten sich ins Zentralmuseum ret-ten!« keifte Glod, der Symbiont.

»Was ist dort?« wollte Atlan wissen.»Im Zentralmuseum werden Waffen der

Vergangenheit aufbewahrt«, antwortete Vel-wesch. »Ich dachte, wir könnten sie viel-leicht benützen, um uns gegen die Angreiferzu wehren. Im Zentralmuseum steht außer-dem das Spiralmonument, in dem sich dereinzige Zugang zur Welt der Kavernen be-findet. Ich war der Ansicht, wenn uns dieGegenwehr nicht den gewünschten Erfolg

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brächte, hätten wir die Möglichkeit, uns inden Höhlen zu verstecken.«

Der Arkonide horchte auf.»Durch das Spiralmonument führt der

einzige Weg in die Kavernen?« fragte er.»Das ist richtig.«Ihm war ein Verdacht gekommen.»Steht dort unten ein großer, goldener Be-

hälter?« wollte er wissen. Er nestelte an demHalsverschluß des TIRUNS und brachte sei-nen Zellaktivator zum Vorschein. »Von die-ser Form, nur vieltausendfach größer?«

Beim Anblick des Aktivators waren Vel-weschs Augen groß geworden. Der Grauein-fluß machte sich bemerkbar. Von dem sonstso unscheinbaren Gebilde ging ein goldenerSchimmer aus.

»Du meinst den Lebensspeicher?« fragteder Archivar. »Er steht unter dem Spiralmo-nument in bedeutender Tiefe.«

»Den meine ich«, bestätigte der Arkonide.Er wandte sich an Jen Salik. »Unter diesenUmständen sollten wir ebenfalls zum Zen-tralmuseum ausweichen. Die entscheidendeSchlacht wird dort geschlagen werden. DerGraue Lord läßt sich die Chance nicht entge-hen, den Aktivator in seinen Besitz zu brin-gen und Schatzen ein für allemal von jegli-cher Zufuhr an Vitalenergie abzuschnei-den.«

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«,wandte Lethos-Terakdschan ein. »Das Zen-tralmuseum ist nicht das einzige, das überWaffen verfügt. Ich habe in den Räumen,durch die Schizo uns führte, etliche Dingegesehen, die wir gegen Lord MhuthansTruppen einsetzen könnten. Es wäre vorteil-haft, wenn wir...« Weiter kam er nicht.Durch die Öffnung, neben der Domo Sokratsich aufgebaut hatte, drang blechernes Ge-klapper. Der Roboter Schizo näherte sichmit eiligen Schritten. Sobald er sich in Hör-weite der Versammelten befand, begann erzu schreien:

»Alarm! Alarm! Die grauen Truppen grei-fen an!«

*

Unter den übrigen Tiziden an Bord derfliegenden Kommandostation, die jetzt nurnoch aus vier Gondeln bestand, erregte Ner-vrids Entschluß Unwillen.

»So führt man keinen Krieg«, wurde ihmvorgeworfen. »Der Stratege zieht nicht mitseinen Truppen in den Kampf.«

»Du manövrierst uns in eine ungünstigePosition«, lautete eine andere Beschwerde.»Von der Stelle aus, die du ansteuerst, las-sen sich die Truppen an der Südgrenze vonSchatzen kaum noch kontrollieren.«

Aber Nervrid hatte auf seinem Standpunktbeharrt.

»Erstens bin ich in der Abwesenheit sei-ner Lordschaft der Befehlshaber an Borddieser Station, also entscheide ich nach mei-nem Ermessen. Zweitens führe ich meineKriege so, daß die gewünschte Wirkung aufdem schnellsten Weg erzielt wird. Die Ritterder Tiefe sind gefährliche Gegner. In diesemFall halte ich es für besser, wenn der Strate-ge sich bei der Truppe befindet. Drittensmögt wohl ihr benachteiligt sein, derenStreitkräfte an der Südgrenze von Schatzenstehen; aber Scharrott, der die schwierigstealler Aufgaben übernommen hat, befindetsich im Vorteil. Die Position, die ich ausge-wählt habe, liegt in unmittelbarer Nähe derKolonie Korzbranch.«

Und nachdem er sie überzeugt hatte, daßan seinem Entschluß nicht zu rütteln war,fügte er in versöhnlicherem Ton hinzu:

»Außerdem ernenne ich Scharrott hiermitzu meinem Stellvertreter. Sobald ich michabgesetzt habe, wendet euch an ihn. Viel-leicht ist er bereit, die Station an einem an-deren Ort zu positionieren.«

Die vier Gondeln glitten über das Plateaudes Tafelbergs Korzbranch hinweg. DieNachweisgeräte zeigten an, daß in der Kolo-nie intensive Vorbereitungen der Verteidi-gung im Gang waren. Die Tiziden empfan-den vorübergehendes Unwohlsein, als dieKommandostation sich durch die Aura desReallebens bewegte, die von Korzbranchausstrahlte; aber der Effekt war nur von kur-zer Dauer.

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Nervrid nahm die letzten Messungen vor.Seine Truppen waren zum Aufbruch gerü-stet. Der Graugenerator stand startbereit.Von den Vitalsaboteuren war eine Meldungeingegangen, daß es ihnen gelungen sei, eineweitere Vitalenergieader zu blockieren. Ner-vrid triumphierte. Bis er mit seiner Streit-macht an den Einsatzort gelangte, würdekeiner der Archivare mehr in der Lage sein,sich zu wehren. Die Ritter der Tiefe hattenkeine Unterstützung. Er würde leichtes Spielmit ihnen haben.

Mit Bedacht legte er die flugfähigeKampfmontur an. Er verabschiedete sichvon Scharrott, dann ging er von Bord. Ausfünfzehnhundert Metern Höhe segelte erhinab in das Aufmarschgebiet seiner Armee.Über ihm verschwand die Kommandostationin den nebligen Dünsten, die aus den Tiefendes Grauwalds aufstiegen. Kurze Zeit spätertauchten die Umrisse des Graugeneratorsvor ihm auf. Der Generator war ein annä-hernd würfelförmiges Gerät mit abgerunde-ten Kanten und leicht gewölbten Oberflä-chen. Seine Höhe betrug zehn Meter. Ner-vrid landete auf der Oberseite des Würfels.Ohne Mühe öffnete er das Luk, das ins Inne-re führte. Durch einen kurzen Schacht han-gelte er sich hinab in die kleine Kontrollzen-trale. Er machte sich mit den Einrichtungender Zentrale vertraut und vergewisserte sich,daß er von hier aus seine Armee auf dieselbeArt und Weise würde steuern können, wie eres von seinem Arbeitsraum in der Gondelaus getan hätte. Er aktivierte die Bildgeräteund ließ den Blick befriedigt über die schierendlosen Reihen der Ratane gleiten, die sichin langgestreckten Lichtungen innerhalb desGraudschungels niedergelassen hatten. DiePaladine hatten es sich zwischen den Ge-wächsen des Unterholzes bequem gemacht,stets des Befehls gegenwärtig, der sie auf dieRücken der Ratane trieb.

In Gedanken ging Nervrid die einzelnenPunkte seiner Strategie noch einmal durch.Von den Archivaren erwartete er keineSchwierigkeiten. Bis er Gluschuw-Nasved-bins Museum erreichte, war der Graueinfluß

über Schatzen noch intensiver geworden undnahm den Archivhütern endgültig die Kraft,sich zu wehren. Er hatte es nur mit den Rit-tern und ihren beiden Begleitern zu tun: demHaluter Domo Sokrat und dem jungen Aba-ker Bonsin. Nervrid spürte sein wissen-schaftliches Interesse erwachen. Sokrat be-zeichnete sich als grau, wies jedoch keineder üblichen Charakteristiken des Graule-bens auf. Der Abaker war aufgrund eines ge-netischen Experiments, das der unglückseli-ge Dovhan mit ihm und seinen Eltern ange-stellt hatte, gegen den Graueinfluß gefeit.Und die Ritter der Tiefe schienen auch im-mun zu sein.

Ein wenig erstaunt nahm er zur Kenntnis,daß die Aussicht auf den bevorstehendenKampf ihn erregte. Es war sein Kampf, aufden er sich vorbereitete. Indem er die Ritterder Tiefe vernichtete, brachte er der verhaß-ten Kraft des Reallebens eine schwere Nie-derlage bei. Voller Triumph malte er sichden Empfang aus, den man ihm bereitenwürde, wenn er siegreich zur Kommandosta-tion zurückkehrte. Der Erfolg war zum Grei-fen nahe. Lord Mhuthan konnte ihm seineDankbarkeit nicht versagen. Schließlich hat-te er fünf gefährliche Gegner beseitigt, dievor kurzem dem Lord selbst ernsthafteSchwierigkeiten bereitet und sich sodannseinem Zugriff entzogen hatten.

Man würde den Namen Nervrid in einemAtemzug mit dem des Grauen Lords nennen.Nervrid, der Siegreiche! Nervrid, der Be-zwinger der Ritter! Berauscht von den Vi-sionen einer glorreichen Zukunft, aktivierteer den Kodegeber, der den organischenComputern in den Bewußtseinen der Rataneund Paladine den Befehl zum Aufbruchsandte.

2.

»Raus hier!« donnerte Atlan. »Flieht indie Haine, in die Wälder! Im Museum seidihr nicht sicher.«

Die Archivare reagierten zunächst nicht.Aus der Ferne drang gedämpft das Krachen

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einer Explosion. Selbst das schien die Muse-umshüter nicht zu beeindrucken. Dann abersetzte Domo Sokrat sich in Bewegung. Indrohender Haltung schritt er auf die Archi-vare zu. Sie mochten unter dem Graueinflußleiden; aber sie erkannten eine Gefahr, wennsie auf sie zukam. Sie wichen vor dem Halu-ter zurück. Als Sokrat unbeirrt weiterging,wandten sie sich um und flohen in wilderHast durch die weite Öffnung, die in den an-grenzenden Raum führte. Man hörte ihre ha-stigen Schritte sich eilends entfernen.

»Für euch ist hier auch nicht der sicherstePlatz«, meldete sich eine Stimme aus demHintergrund.

Atlan drehte sich um. Auf dem mit samte-nem Material verkleideten Sockel ruhte dasTabernakel von Holt, ein unscheinbarer,schwarzer Kasten mit den Abmessungen 45mal 20 mal 15 cm. Es war nicht das erste-mal, daß das geheimnisvolle Gebilde zu At-lan und seinen Gefährten sprach. Höchstenseine Stunde war es her, seit es den Arkoni-den, Jen Salik und Lethos-Terakdschan alsRitter der Tiefe begrüßt und sich bereit er-klärt hatte, ihnen sein Wissen zu enthüllen.

»Wir bleiben hier«, antwortete der Arko-nide kurz. »Wir lassen dich nicht im Stich.«

»Red keinen Unsinn«, drang es aus demKasten. Das Tabernakel hatte eine Vorliebefür saloppe Redeweise. »Ich bin nicht so un-beweglich, wie du denkst.«

Zum Beweis seiner Worte hob es von derOberfläche des Sockels ab und schwebte inRichtung der Öffnung, durch die vor weni-gen Augenblicken die Archivare geflohenwaren.

»Wohin?« rief Atlan.»Zum äußeren Gebäudering«, antwortete

das Tabernakel. »Das Mauerwerk ist dortstärker. Außerdem haben wir mehr Platz undmehr Verstecke.«

Der eigenartige Zug geriet in Bewegung.Voran schwebte der schwarze Kasten desTabernakels. Dann kamen Atlan und Jen Sa-lik, gefolgt von Lethos-Terakdschan, derseinen Orbiter Twirl, vormals Bonsin ge-nannt, keine Sekunde aus den Augen ließ.

Den Abschluß der Gruppe bildete Domo So-krat, dreieinhalb Meter groß, ein Symbol un-beugsamer Kraft.

Von draußen hallten donnernde Ge-räusche. Lord Mhuthans Truppen griffen dasMuseum an. Atlan sorgte sich um die Archi-vare. Draußen im Freien waren sie in Sicher-heit. Aber war es ihnen gelungen, den Muse-umskomplex rechtzeitig zu verlassen?

Staub wallte jenseits der Tür, die nachdraußen führte. Graue Schatten glitten durchden Dunst: Ratane mit je fünf Paladinen aufdem Rücken. Die Standardbewaffnung derPaladine bestand aus schweren Desintegra-toren. Sie schössen ziellos. Der Westsektordes mittleren Museumsrings lag in Trüm-mern. Dichte Schwaden vergasten Gesteinslagerten über dem Boden.

»Da kommen wir nicht durch«, sagte JenSalik.

Atlan wandte sich in Richtung des schwe-benden schwarzen Kastens, der unter derTüröffnung angehalten hatte.

»Du wirst dich tragen lassen müssen,wenn du von hier entkommen willst«, sagteer.

»Du bist verrückt«, erwiderte das Taber-nakel empört. »Seit Tausenden von Tiefen-jahren hat es niemand mehr gewagt, michanzurühren. Ich weiß mich zu wehren...«

»Gut für dich«, fiel Atlan der aufgeregtenStimme ins Wort. »Aber hier geht's darum,daß Lord Mhuthans Paladine dich nicht indeine molekularen Bestandteile auflösen. Esist einer unter uns, der dich in den äußerenMuseumsring bringen kann, ohne daß dieGrauen es bemerken.«

»Oh...«, sagte das Tabernakel.»Ich bin's!« schrie Twirl begeistert und

wedelte mit vier Armen. »Ich bringe dich si-cher an Ort und Stelle. Du mußt mir nur be-schreiben, wohin du willst.« »Das ist ein-fach...«

Das Tabernakel gab dem jungen Abakerdie gewünschten Auskünfte. Twirl faßte denschwarzen Kasten mit zwei Händen. Imnächsten Augenblick waren beide ver-schwunden. Twirl hatte teleportiert. Atlan

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verlor keine Sekunde.»Lethos, du hast deinen eigenen Schutz«,

sagte er.Der Hathor nickte. Seine Umrisse ver-

schwammen; von einer Sekunde zur anderenlöste er sich in Nichts auf. Die Montur, dieer mitsamt seinem Körper aus seiner frühe-ren materiellen Existenz in die Gegenwartprojiziert hatte, verfügte über ein beachtli-ches Arsenal von Waffen und technischenTricks. Nicht das leiseste Geräusch war zuhören, als der Unsichtbare davon schritt.

»Sokrates, du bist auf dich selbst ge-stellt«, erklärte der Arkonide seinem Orbi-ter.

Der Haluter antwortete nicht. Er beugtesich vornüber und verlagerte einen Teil desKörpergewichts auf das untere Armpaar.Das tiefe Schwarz seiner Körperoberflächeund das Rot der halutischen Kampfmonturwurden glanzlos und stumpf, während dieKörpersubstanz den Prozeß der Molekular-verfestigung durchlief und sich in stahlharteMaterie verwandelte. Mit einem dumpfenLaut setzte Domo Sokrat sich in Bewegung.Er sprang aus dem Stand in vollen Lauf.Wie ein lebendes Projektil schoß er durchdie Türöffnung und haarscharf an der Wanddes Gebäudes entlang. Aufgewirbelter Staubund in die Höhe geschleuderte Pflanzenteilemarkierten seinen Weg. Binnen weniger Se-kunden war er um die nächste Mauerkanteverschwunden.

»Bleiben noch wir beide«, sagte Jen Salik.»Gerade die, auf die es der Graue Lord

abgesehen hat«, antwortete Atlan, und eingrimmiges Lächeln huschte über sein Ge-sicht. »Wir wollen ihm ein Kunststück zei-gen – oder auch zwei, wenn es sein muß.«

Per Gedankenbefehl aktivierten sie die In-dividualschützschirme der TIRUNS, sodannden Antigrav. Sanft hoben sie vom Bodenab, glitten durch die offene Tür und an derWand des Museums in die Höhe.

Atlan spähte durch den Dunst. Er sah diemächtigen Schatten der Ratane, die in gerin-ger Höhe über die Dächer des Museums-komplexes hinwegschossen. Die Paladine,

die auf den Rücken der synthetischen Flug-echsen hockten, feuerten wahllos auf alles,was ihnen vor den Lauf kam. Er zögerte eineSekunde. Mit einemmal war ihm nicht mehrso zuversichtlich zumute. Er sah die unge-heure Zahl der Ratane, die durch den aufge-wirbelten Staub glitten. Es mußten Hundertesein. Hatte er sich zuviel vorgenommen?Gab es überhaupt eine Chance, diesenKampf zu gewinnen?

»Komm«, hörte er Jen Salik neben sichsagen.

*

Mit Befriedigung sah Nervrid die Staub-wolken, die aus dem Gemäuer des alten Mu-seums aufstiegen. Es lag ihm nichts daran,die Anlage zu vernichten. Eher im Gegen-teil: Der Graue Lord legte Wert darauf, daßihm so viele Artefakte wie möglich in dieHände fielen. Sie stammten aus der Zeit, dadie Raum-Zeit-Ingenieure uneingeschränktüber das ganze Tiefenland herrschten. LordMhuthan hatte sich ausgerechnet, daß er sei-nen Status innerhalb des Gremiums derGrauen Lords nicht unerheblich würde auf-bessern können, wenn er das technischeVermächtnis der Vergangenheit in seinenBesitz brachte.

Aber Nervrid wußte, was er tat. Die Ritterder Tiefe hielten sich mit ihren Begleitern ir-gendwo im Innern des Museums versteckt.Er hatte keine Zeit, den ganzen Komplex zudurchsuchen. Er mußte sie ins Freie treiben.Sie würden zu fliehen versuchen, wenn siebemerkten, daß ringsum die Gebäude ein-stürzten, dessen war er sicher. Fünf Video-Monitoren überwachten das gesamte Arealdes Museums. Der Computer war angewie-sen, auf jede verdächtige Bewegung zu ach-ten. Der Feind konnte ihm nicht entgehen.Sobald er sich im Freien zeigte, würde Ner-vrid ihn fassen.

Der Graugenerator schwebte achthundertMeter über den drei Gebäuderingen des Mu-seumskomplexes. Er breitete eine unsichtba-re Glocke aus Graukraft über das Land, in-

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nerhalb deren die Ratane und Paladine sichungefährdet bewegen konnten. Vor einigenMinuten hatte der Computer eine kleineGruppe von Archivaren bemerkt, die den in-neren Gebäudering verließen und in wilderFlucht nordwärts stoben. Nervrid hatte einekleine Abteilung hinter ihnen hergeschickt,die sich vergewissern sollte, daß sich unterden Archivaren keine Ritter der Tiefe befan-den. Die Auskunft war negativ gewesen. Be-vor die Museumshüter die Deckung derWälder erreichten, hatten die Paladine einpaar Schüsse auf sie abgefeuert. Das lagnicht in Nervrids Sinn. Tote Archivarebrachten ihm und dem Grauen Lord keinenNutzen. Aber sobald es zum Nahkampf kam,hatte er nur noch minimale Kontrolle überdie Aktionen der Paladine.

Inzwischen hatten die Zerstörungen, dievon den Paladinen im Bereich des Museumsangerichtet worden waren, umfangreicheMassen an Staub aufgewirbelt. Die Stan-dardwaffe der Truppen war ein schwererDesintegrator. Der Desintegratorstrahllöschte die molekulare Bindung innerhalbfester und flüssiger Substanzen und verwan-delte sie in gasförmige Materie. Die Waffewar von furchteinflößender Effizienz, Aberim Augenblick verfluchte Nervrid diedicken Staubwolken zu allen Teufeln Tizits.Sie verdarben ihm die Sicht. Selbst der In-frarotsucher drang nur mit Mühe bis zumGrund. Nur auf den Orter war Verlaß; aberder zeigte nur an, was energetische Streu-strahlung von sich gab.

Plötzlich fuhr er auf. Inmitten der wir-belnden Staubmassen hatte er einen Umrißbemerkt. Er bewegte sich mit bedeutenderGeschwindigkeit auf den nördlichen Randdes Museumskomplexes zu. Der Computermeldete sich mit warnendem Summen.

»Einer der Gesuchten bemüht sich, ausdem Areal des Museums zu entkommen«,sagte die mechanische Stimme.

Nervrid spürte eine Bewegung auf seinemRücken. Tssk war der langen Untätigkeitmüde geworden. Der flache Schlangenkör-per wand sich um Nervrids Schulter und

glitt über die Brust des Tiziden hinab, bisNervrids Auge das kleine Gesicht, das nachseinem eigenen geformt war, dicht vor sicherblickte.

»Du weißt, was sie vorhaben, nichtwahr?« flüsterte Tssk.

»Ich vermute es«, antwortete Nervrid zu-rückhaltend.

»Sie fliehen nach Norden, wie vor ihnendie Archivare. Sie wollen dem Bereich desGraueinflusses entkommen, den der Genera-tor verbreitet. Die Wälder bieten ihnenSchutz. Wenn es ihnen gelingt, die Sphäreder Graukraft zu verlassen, wirst du mit demGenerator manövrieren müssen. Das bringtdeine Schlachtordnung durcheinander. Inder Zwischenzeit gehen sie dir durch dieLappen.«

»Eine Abteilung Ratane soll die Konturverfolgen«, rief Nervrid dem Computer zu.

Der Kodegeber trat in Tätigkeit. »Duweißt, daß es niemand anders als Domo So-krat sein kann, nicht wahr?« nörgelte Tssk.

»Ich weiß es«, knurrte Nervrid. »Waswillst du? Hast du einen Plan?«

»Mit Angriffen nur aus der Luft erreichstdu nichts«, sagte die Schlange. »Ein Teildeiner Truppen muß landen.«

»Damit ich meine Beweglichkeit vollendsverliere?« brauste Nervrid auf.

»Was nützt dir die Beweglichkeit«, spot-tete Tssk, »wenn du den gewünschten Erfolgnicht erzielst?«

»Zwei energetische Reflexe«, meldete derComputer mit teilnahmsloser Stimme. »Siebewegen sich auf den Nordrand des Gelän-des zu.«

»Wie alle anderen auch«, höhnte Tssk.»Jetzt wirst du auf mich hören?«

Zwei Reflexe! Nervrid wußte, daß dieRitter der Tiefe Hochleistungsschutzmontu-ren trugen. Das mußten sie sein? Sein Blickglitt über die Orteranzeige. Sie wies zweigrelle Lichtkleckse aus, die sich langsamüber die Konturen der Museumsgebäude be-wegten.

»Vier Abteilungen – sofort die Verfol-gung aufnehmen«, befahl er.

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»Vier Abteilungen sind unterwegs«, ant-wortete der Computer.

»Weitere zehn sollen sich zur Landung imNordsektor des Museums bereithalten«, fuhrNervrid fort.

»Endlich wirst du vernünftig«, bemerkteTssk sarkastisch.

Auf den Bildschirmen war zu sehen, wievorübergehend Unordnung in die Reihen derTruppen geriet, als sie sich gemäß NervridsBefehl neu formierten. Die winzigen Gestal-ten der beiden Ritter der Tiefe wurden vonder Optik nicht erfaßt. Die Staubwolken bo-ten ihnen Deckung. Dagegen konnte Nervriddie angreifenden Ratane deutlich sehen. Siebewegten sich oberhalb des Dunstes. JedeAbteilung bestand aus einhundert Flugech-sen, bemannt mit fünfhundert Paladinen.Was konnten selbst Ritter der Tiefe einersolchen Streitmacht entgegenzusetzen ha-ben?

Er zuckte unwillkürlich zusammen, alsein greller Blitz über die Bildfläche huschte.

»Zwei Ratane zerstört«, meldete derComputer. »Treffer aus Thermowaffen.«

»Zehn Abteilungen landen!« schrie Ner-vrid zornig. »Das gesamte Gebiet ist nachNorden hin abzuriegeln.«

»Wird ausgeführt«, kam die Antwort.»Es ist unklug, die Erregung überhand-

nehmen zu lassen«, zischte Tssk. »Der Stra-tege hat ruhig und gelassen zu bleiben.«

»Halt den Mund!« brüllte Nervrid inhöchster Wut. »Ich habe genug...«

Er unterbrach sich abrupt, als ein zweiterBlitz aufleuchtete. Gleichzeitig erloschendie beiden Lichtkleckse auf dem Orterbild.

»Drei weitere...«, begann die Computer-stimme.

»Weiß ich«, schrie Nervrid. »Was ist mitdem Orter?«

»Die beiden Fremdobjekte werden nichtmehr angemessen«, lautete die Antwort.

»Also – nun zeig deine Strategenkunst«,flüsterte die Schlange.

*

Die Staubmassen boten ihnen eine gewis-se Deckung – vor der Sicht, aber nicht vorden Ortergeräten des Gegners. Die Energie-felder der TIRUNS und die Antigrav-Ge-neratoren waren kräftige Streustrahler; manwürde sie nicht übersehen.

Atlans Hypothese erwies sich als richtig.Er schwebte an Jen Saliks Seite über die Dä-cher des mittleren Gebäuderings, als er dieSchar von Ratanen bemerkte, die durch denDunst aus nordwestlicher Richtung auf siezustieß.

»Es geht los«, knurrte er ärgerlich.Er schwenkte sich in Rückenlage, so daß

er die Angreifer bequem im Auge haltenkonnte. Die Paladine auf den Rücken derFlugechsen feuerten wie besessen. Aber derwallende Staub verdarb ihnen das Ziel. At-lan erhielt einen Streifschuß, der seinen In-dividualschirm hell aufflackern ließ.

Er hatte den rechten Arm leicht angeho-ben. Vor der ausgestreckten Hand flimmertedie Zielmarkierung. Er brauchte nur daranzu denken, und eine der Waffen, die in dieHandgelenkspasse des TIRUNS eingebautwar, würde zu feuern beginnen. Die Kampf-monturen waren porleytische Arbeit. TengriLethos-Terakdschan hatte ihre Konstruktionim Dom Kesdschan memoriert; und die An-züge aufgrund seines Erinnerungsmustersaus der Formenergie der Stadtmauer vonStarsen nachgebaut. Atlan ließ sich Zeit. Erwollte seines Zieles sicher sein. Es wider-strebte ihm, organisches Leben zu vernich-ten, auch wenn es synthetischer Herkunftwar. Aber hier ging es um mehr als nur seineund Jen Saliks Existenz. Lord Mhuthanwollte Schatzen in Grauland verwandeln.Dadurch würde dem Plan der Kosmokratenein weiterer schwerer Schlag zugefügt, DieRückkehr des Frostrubins würde sich verzö-gern, und ein weiter, blühender Landstrichmit Tausenden von Bewohnern unter demlebensverneinenden Einfluß der Graukraftversinken.

Er empfing zwei weitere Treffer. Je näherdie Ratane kamen, desto besser schossen diePaladine sich ein. Der Arkonide war sicher,

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daß sie seinem Feldschirm nichts anhabenkonnten, solange sie nicht mit mehrerenWaffen gleichzeitig auf ihn feuerten. Erwandte den Kopf leicht zur Seite und sahsich nach Jen Salik um. Der Terraner lächel-te, als er den Blick des Freundes bemerkte.Die Gelassenheit, die er ausstrahlte, griff aufAtlan über.

Der vorderste Ratan strich heran. Der auf-geblähte Leib der synthetischen Echse ver-riet die ungeheuren Mengen an Leichtgasen,die sie um des besseren Auftriebs willen inihrem Leib gespeichert hatte. LederneSchwingen mit einer Spannweite von über15 Metern bewegten sich träge. Die Paladineauf dem Rücken des Ratans schössen, wasdie Läufe hielten. Atlan erhielt mehrereTreffer gleichzeitig. Der Schutzschirmflammte. Er hatte nicht mehr viel Zeit; abertrotzdem wartete er, bis die zweite Echse nä-her herangekommen war.

Ein greller, nadeldünner Strahl stachdurch die dunstige Luft, als er den Gedan-kenbefehl gab. Der Ratan wurde in die Seitegetroffen. Knallend entwich das in seinenKörperkavernen gespeicherte Leichtgas. Eingreller Blitz zuckte auf, als die ausströmen-den Gase sich mit dem Sauerstoff der. Luftmischten. Der ohrenbetäubende Donner ei-ner gewaltigen Explosion hüllte den Arkoni-den ein, und die heiße Schockfront der Ex-plosion trieb ihn vor sich her. Es gab einenzweiten Knall. Jen Salik haue ebenfalls ge-schossen. Atlan sah die Dächer des äußerenMuseumsrings geschwind unter sich hin-weggleiten. Als er Zeit fand, sich umzudre-hen, sah er die Front der angreifenden Rata-ne in hoffnungslosem Durcheinander. Fet-zen der explodierten Tiere stürzten in dieTiefe. Paladine, plötzlich ihres Reittiers be-raubt, regneten hinterher. Die Detonationenhatten die übrigen Flugechsen aus demGleichgewicht gebracht. Sie schlugen wildmit den Schwingen und verursachten dabeiklatschende Geräusche wie die Rotoren alt-modischer Hubschrauber. Ein ungeheuresDurcheinander entstand, in dem mehrere Ra-tane miteinander kollidierten.

»Nichts wie weg!« rief der Arkonide.Jenseits des äußeren Gebäuderings verrin-

gerten sie die Flughöhe. Dicht über dem Bo-den strichen sie auf ein Gehölz zu, das in et-lichen Hundert Metern Entfernung vor ihnenaufragte. Es war nicht der lockere Hain, indem Gluschuw-Nasvedbins Kate lag; es wardichter, von Unterholz durchwucherterWald.

In Atlans Bewußtsein waren inzwischendie Umrisse eines Plans entstanden. Er erin-nerte sich an den Gedanken, den Lethos-Terakdschan gehabt hatte, kurz bevor Schizodie Meldung vom Herannahen der feindli-chen Streitkräfte überbrachte. Das Museumenthielt alte Waffen und Geräte, mit denenman sich gegen den Angriff wehren konnte.Einige davon befanden sich in den niederenGebäuden des inneren Museumsrings. Wei-taus größere – und hoffentlich wirksamere –mußten in den Mammuthallen des äußerenRings zu finden sein: dort, wo Domo Sokratvor vielen Tiefenjahren den Gleiter gestoh-len hatte.

Atlan nahm an, daß Lethos-Terakdschan,Twirl mit dem Kasten des Tabernakels unterdem Arm und Domo Sokrat ihr Ziel im äu-ßeren Gebäudering inzwischen erreicht hat-ten. Es war wichtig, den Gegner abzulenken.Er mußte davon überzeugt werden, daß das,wonach er suchte, sich weit außerhalb desMuseumskomplexes befand. Allein deswe-gen hatte sich der Arkonide willig demDruck der Schockwelle überlassen, die ihnüber die Dächer der äußeren Museumsbau-ten hinwegtrieb. Und Jen Salik hatte, wiegewöhnlich, seine Absicht ohne zusätzlicheErklärung verstanden.

Sie landeten am Fuß der vorderstenBaumreihe. Aber der Feind war auf der Hut.Vier Wellen Ratane griffen von Westen heran. Atlan und Jen Salik wehrten sich auf diemittlerweile bewährte Weise. Diesmal wa-ren es drei Flugechsen, die unter dem Be-schuß aus Impulsstrahlern explodierten. DieSerie der Detonationen brachte so viel Ver-wirrung in die Reihen der Angreifer, daß diebeiden Ritter der Tiefe inzwischen Gelegen-

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heit hatten, im Unterholz zu verschwinden.»Schutzschirme aus!« stieß der Arkonide

hervor. »Von jetzt an geht's zu Fuß weiter Jeschwerer wir zu orten sind, desto besser füruns.«

*

Lethos-Terakdschan legte den Mantel derUnsichtbarkeit ab, als er das Gebäude betrat,in das Twirl sich mit dem Tabernakel vonHolt gerettet hatte. Bis vor kurzem hatte ernoch die donnernden Geräusche gehört, mitdenen die schweren Desintegratoren der Pa-ladine Gebäudewände und – decken zumEinsturz brachten. Jetzt aber schien sich derKampf lärm nach Norden zu verziehen. DerHathor nahm an, daß Atlan und Jen Salik et-was damit zu tun hatten.

Twirl saß hoch oben auf einem mitgroßen Rändern ausgestatteten Gerät, das ei-nem Traktor der terranischen Vergangenheitnicht unähnlich sah. Er hatte es sich in ei-nem sattelartigen Sitz so bequem wie mög-lich gemacht und hielt den schwarzen Ka-sten des Tabernakels im Schoß. Auch jetztvermittelte der Junge den Eindruck heitererGelassenheit. Die großen, wachen Augen,über denen sich dicke, borstige Brauenwölbten, die breite, plattgedrückte Nase, derbreite Mund, der ständig zu einem Grinsenverzogen zu sein schien, und schließlich dielangen Schlappohren, die zu beiden Seitendes Schädels herabhingen wie bei einemBassethound – das alles vereinigte sich zueinem Bild friedlicher, fröhlicher Harmlo-sigkeit.

Und doch war er ein Mutant erster Gütemit paraphysischen und parapsychischenGaben ausgestattet, deren vollen Umfangnicht einmal er selbst kannte. Er war dreißigTiefenjahre alt, weniger als zehn Standard-jahre, ein Kind noch selbst in den Vorstel-lungen seines eigenen Volkes, der Abaker.

»Wo ist Domo Sokrat?« erkundigte sichder Hathor. »Wo ist Schizo, der Roboter?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Twirl.»Seitdem wir hier angekommen sind, hat

sich niemand sehen lassen.«Lethos-Terakdschan sah sich um. Die

Halle war von beeindruckender Größe. Erschätzte ihre Höhe auf knapp achtzig Meter.Die Geräte, die hier untergebracht waren,gehörten zu den Erzeugnissen einer Groß-technik, deren Kenntnis den Bewohnern desTiefenlands längst verlorengegangen war.Gewaltige Maschinen gehörten dazu, die un-zweifelhaft Waffen waren, schwere Strahl-geschütze und Intervallkanonen. Fahrzeugewaren zu sehen, von denen manche wie klei-ne Raumschiffe wirkten, die Idee kam ihmwieder in den Sinn, die sein Bewußtsein vorkurzem drüben in der Kammer des Taberna-kels formuliert hatte.

»Mit dem, was hier steht, ließe sich derAngriff der grauen Truppen mühelos zu-rückschlagen«, sagte er halblaut, mehr imSelbstgespräch.

Das Tabernakel jedoch hatte ihn gehört.»Mach dir keine falschen Hoffnungen«,

sagte es. »Die Museumsstücke sind konser-viert. Niemand kann sie mehr in Betrieb set-zen.«

»Konserviert? Wie?« wollte der Hathorwissen.

»Sie sind in dünnschichtige, aber un-durchdringliche Felder aus konzentrierterVitalenergie eingebettet«, antwortete dieStimme aus dem Kasten.

»Ich kann sie spüren«, bestätigte Twirl.»Wer hat das veranlaßt?« fragte Lethos-

Terakdschan. »Und wann geschah es?Schließlich hat Domo Sokrat aus diesemMuseum das Fahrzeug entwendet, mit demer...«

»Ich habe es veranlaßt«, unterbrach ihndas Tabernakel. »Und der Grund dafür wareben euer Freund Sokrat. Es sollte kein an-deres Ausstellungsstück jemals wieder ausdiesem Museum gestohlen werden.«

»Wenn du die psionische Hülle erzeugthast, kannst du sie auch wieder lösen«, hieltTengri Lethos dem Orakel entgegen.

»Mitnichten«, kam die Antwort »Indemich das Schutzfeld anlegte, gehorchte ich ei-ner uralten Programmierung. Ich habe die

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Fähigkeit, das Feld zu erzeugen, aber nicht,es wieder zu löschen.«

»Ich könnte es versuchen«, meldete sichTwirl ein zweites Mal zu Wort.

»Du?« Die Stimme des Tabernakels klangungläubig, spöttisch. »Bilde dir nichts ein,Junge. Die Schichten sind unzerstörbar.«

»Red's ihm nicht aus«, sagte Lethos-Terakdschan. »Du kennst seine Fähigkeitennicht. Er kann mehr als dich mit einem Tele-portersprung in Sicherheit bringen.«

Das Tabernakel schwieg. Lethos wandtesich an den jungen Abaker.

»Willst du's versuchen?« fragte er.Twirls Augen leuchteten. Er setzte den

schwarzen Kasten behutsam auf den Sattel-sitz der traktorähnlichen Maschine undsprang herab.

»Sicher will ich es versuchen«, beteuerteer. »Es steckt noch eine Menge Kraft inmir.«

»Tabernakel von Holt!« sagte der Hathormit harter Stimme. »Du hast nichts gegendiesen Versuch einzuwenden?«

»Nicht, solange du gegen das Graulebenkämpfst«, kam die Antwort aus dem Kasten.Etwas lockerer fügte die Stimme hinzu:»Die Frage erscheint mir obendrein bedeu-tungslos. Es wird euch nicht gelingen, dieFeldschicht zu lösen.«

»Das laß unsere Sorge sein«, sagteLethos-Terakdschan. »Wirst du uns im Ge-brauch der Maschinen unterweisen?«

»Solange ihr gegen das Graulebenkämpft, ich sagte es schon«, antwortete dasTabernakel.

Der Hathor drehte sich um und wies aufdas mächtige Aggregat, das er für ein Strahl-geschütz hielt.

»Damit fang an«, forderte er Twirl auf.

*

Die Strahlen der Desintegratoren fuhrenrauschend und krachend ins Dickicht desWaldes. Aber es wurde bald offenbar, daßdie Angreifer die Spur der Verfolgten verlo-ren hatten. Jen Salik und der Arkonide hat-

ten sich scharf nach rechts gewandt und eil-ten parallel zum Waldrand dahin, währendder Gegner vermutete, sie hätten die Fluchtgeradlinig fortgesetzt.

Vergastes Gehölz wurde zu graugrünenDämpfen, die den Wald überlagerten und indichten Schwaden durch das Unterholzdrangen. Atlan fiel auf, daß das Laubwerkeine düstere, graugrüne Färbung angenom-men hatte – ein Symptom des Graueinflus-ses, der sich immer intensiver über Schatzenausbreitete.

Gewohnheitsmäßig suchte er nach einerLücke im Laubwerk, die ihm einen Blick indie Höhe erlaubte. Verdutzt blieb er stehen.Hoch über dem Dach des Waldes schwebteein eigenartiges Gebilde im Grau des Him-mels. Es hatte die Form eines Würfels mitgerundeten Kanten und leicht gewölbtenOberflächen. Es verhielt reglos. Atlan fiel esschwer zu Schatzen, in welcher Höhe es sichbefand. Er hatte intuitiv den Eindruck, esmüsse etwa das Volumen eines mittlerenWohnhauses besitzen.

Jen Salik hatte das Objekt seiner Verwun-derung inzwischen ebenfalls bemerkt.

»Ich frage mich, wozu es gut sein mag«,sagte er.

»Eine fliegende Kommandostation?« spe-kulierte der Arkonide.

»Kaum. Der Graue Lord hat seine Tizi-den, die den Einsatz der Truppen von seinerGondel aus steuern.«

Eine merkwürdige Idee fuhr Atlan durchden Sinn. Der Logiksektor reagierte sofort.

Du bist auf der richtigen Spur, meine ich.Du meinst, sie können Graukraft synthe-

tisch erzeugen?Ich wüßte nicht, wie sie sonst je auf Er-

oberung ausziehen könnten.Sie haben die Vitalsaboteure...Es gibt Dutzende von Haupt- und Hun-

derte von Nebenkanälen der Vitalenergie.Die Saboteure können nicht überall sein. Beikleineren Unternehmen, wie zum Beispielden Angriffen auf Korzbranch, mag sichLord Mhuthan auf sie verlassen. Aber bei ei-ner Großoffensive braucht er Gewißheit.

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Das dort oben wäre also ein Generator fürsynthetische Graukraft?

So sehe ich es.Man müßte ihn...Ja, man müßte. Aber es wird nicht leicht

sein.Bedenken?Und wie! Wenn der Graue Lord Genera-

toren dieser Art nach Belieben herstellenkönnte, würde er jedem Einsatztrupp wenig-stens zwei davon mitgeben. In der Redun-danz liegt Sicherheit. Die wenigen, die erproduzieren kann, werden dementsprechendintensiv abgesichert sein.

Mit anderen Worten: Es gibt nur wenigesolcher Generatoren?

Das nehme ich an. Und sie sind kostbar.Du bringst mich auf eine Idee...Das war meine Absicht.»Seid ihr sicher, daß ihr Zeit genug für ei-

ne Unterhaltung habt?« erkundigte sich JenSalik, dem nicht entgangen war, mit wel-chem Gesprächspartner der Arkonide instummer Weise kommunizierte.

Atlan sah auf. Das Rauschen und Don-nern der schweren Desintegratoren hattesich weit nach Norden verzogen. Er schüt-telte den Kopf.

»Nein, nicht wirklich«, sagte er. »Aber eswar wichtig. Wir müssen auf dem schnell-sten Weg zum Museum zurück – ohne daßdie Grauen es bemerken. Ich erinnere michan Tengri Lethos' Plan. In den Gebäudendort gibt es Waffen, die wir wirkungsvolleinsetzen können.«

Sie drangen parallel zum Waldrand weiternach Osten vor. Zumeist versperrte ihnendas dichte Blätterwerk des Waldes den Aus-blick. Die Geräusche der Desintegratorwaf-fen waren nahezu verstummt, nur aus weiterFerne drang zuweilen noch das Fauchen ei-ner Entladung. Aber das Knallen und Knat-tern lederner Ratanschwingen war überall inder Nähe zu hören. Atlan wurde unruhig.Was hatten die grauen Truppen in der un-mittelbaren Umgebung des Museums zu su-chen, wenn alle Anzeichen darauf hinwie-sen, daß die Verfolgten sich durch den Wald

nach Norden abgesetzt hatten?Daß sie plötzlich auf eine breite Schneise

stoßen würden, damit hatten sie nicht ge-rechnet. Jen Salik prellte ein paar Schritteweit auf die freie, deckungslose Fläche hin-aus. Geistesgegenwärtig warf er sich herumund kehrte in den Schutz des Unterholzeszurück. Inzwischen aber hatte er zur Seitegeblickt. Atemlos stieß er hervor:

»Sie landen dort draußen! Die Ratane!Die Paladine sitzen ab.«

Atlan schob sich vorsichtig bis an denRand der Schneise und spähte nach Süden.Der Waldrand war nicht mehr als zehn Me-ter entfernt. Sein Blick ging unbehindert bishinaus auf die breite Grasebene, die den Mu-seumskomplex umgab. Er zählte allein indem schmalen Blickfeld, das die Schneiseihm gestattete, mehr als ein Dutzend Ratane,die im Gras gelandet waren, und an die ein-hundert Paladine, die sich anschickten, einenRing um die Gebäude des Museums zu bil-den.

Etwas anderes noch erregte seine Auf-merksamkeit. Die Sohle der Schneide bilde-ten frische Baumstümpfe, die knapp überdem Boden abgeschnitten waren. Die Hand-schrift des schweren Desintegrators war un-verkennbar. Die Schneise hatte eine Breitevon acht Metern. Sie hätte von dem graugrü-nen Dunst verdampfter Pflanzenmaterie er-füllt sein müssen. Aber die Luft war klar. Esmußte längere Zeit her sein, seit die Desinte-gratoren der Paladine hier gewütet hatten.

Wie lange?Er sah die Lache lichtroter Flüssigkeit, die

unter den Büschen am Rand der Schneisehervorgesickert war und sich auf dem kahl-gesengten Boden gesammelt hatte. Er schobsich durch das Gestrüpp. Der Körper des Ar-chivars war in der Mitte entzweigeschnitten.Die untere Hälfte fehlte. Sie war verdampftim vernichtenden Strahl des Desintegrators.

Das war es also! Die Schneise war eineStunde alt. Die Ratane des Grauen Lordshatten die Archivare verfolgt, als sie auf At-lans Befehl hin die Flucht ergriffen. Die Pa-ladine hatten wahllos auf alles geschossen,

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was sich bewegte.Atlan wandte sich ab. Es war ihm trocken

in der Kehle, und der Puls pochte so heftig,daß er ihn im Rauschen des Blutes hörte. JenSalik starrte ihn verwundert an.

»Was ist...«, begann er.»Sie haben uns den Weg verlegt.« Die

Stimme klang rauh. »Aber wir stürmentrotzdem...«

3.

Mit einem bösen Fluch gab Nervrid denPaladinen die Jagd frei. Mochten sie sich andem Programm orientieren, das in ihrenkleinen Gehirnen ablief. Die zentrale Len-kung der Truppe war illusorisch geworden,seit er selbst das Ziel nicht mehr definierenkonnte.

Das Unternehmen verlief nicht so, wie eres geplant hatte. Ein gutes Drittel des Muse-ums lag in Schutt und Trümmern. LordMhuthan würde darüber nicht begeistertsein. Die Ausrüstung der Fremden war wei-taus besser als ursprünglich angenommen.Die Ratane waren ihren Waffen gegenüberschutzlos. Und zu guter Letzt hatte er nochdie beiden Ritter der Tiefe aus den Augenverloren.

Immerhin waren zehn Abteilungen Rataneund Paladine planmäßig gelandet und hattenden Museumskomplex eingeschlossen. Eskam niemand mehr unbemerkt hinein oderheraus. Und wenn er recht darüber nach-dachte, war auch das Verschwinden der Rit-ter nicht allzu schwerwiegend. Wohin konn-ten sie sich wenden? Sie staken im Wald,wo sie nur durch Zufall entdeckt werdenkonnten. Aber sobald sie das Gehölz verlie-ßen, würde die Optik sie erfassen. Wenn siedagegen ihr Versteck nicht aufgeben woll-ten? Nun, dann standen ihm 400.000 Kämp-fer zur Verfügung, die den gesamten Waldinnerhalb weniger Stunden vernichten wür-den.

Inzwischen hatte Tssk sich wieder aus derKaverne im Rucken des Tiziden hervorge-wagt.

»Ich weiß, was du denkst«, flüsterte Tssk.»Ich sage dir: Du unterschätzt sie immernoch.«

»Wen?«»Wen? fragt er«, höhnte die Schlange.

»Die Ritter der Tiefe!«Der Graugenerator hatte inzwischen seine

Flughöhe um die Hälfte verringert. Das Ge-rät schwebte vierhundert Meter hoch überdem südlichen Rand des Waldes, in dem diebeiden Gesuchten verschwunden waren.

»Sie werden mir nicht entgehen«, sagteNervrid. »Sobald sie sich aus dem Dickichthervorwagen, fassen wir sie.«

»Wenn sie sich fassen lassen«, warnteTssk. »Im übrigen sprichst du nur von zwei-en. Wo der dritte sich versteckt hält, davonhast du nicht einmal eine Ahnung.«

Nervrid erstarrte, als er das warnendeSummen hörte. Die Worte der Computer-stimme entgingen ihm, denn inzwischen hat-te er die Bewegung unten am Waldrandselbst bemerkt. Erregung packte ihn.

»Sie kommen heraus«, zischte er. »Sieverlassen das Versteck. Sie zielen nach Sü-den, auf das Museum zu. Das Ganze war nurein Ablenkungsmanöver ...«

In die Reihen der Paladine kam Bewe-gung. Sie hatten den Gegner erkannt. Jetztist es soweit, triumphierte er. Mochten dieRitter der Tiefe auch Waffen besitzen, wiesie das Universum noch nie erlebt hatte:Dieser Übermacht waren sie nicht gewach-sen.

Nervrid verzog unwillig den Mund, alsein Ratan mit grellem Blitz explodierte. Derlaute Knall der Detonation drang eine guteSekunde später bis in die kleine Kommando-zentrale des Graugenerators. Fiebernd er-wartete Nervrid das Auftauchen der Ritter.Der Waldrand war in Bewegung. Die Pala-dine rückten zu Fuß vor. Sie schienen zuwissen, wo sich die Gesuchten befanden.Aber die Fremden ließen sich nicht sehen.

Dafür machte sich ein anderes Phänomenbemerkbar. Nervrid erschrak. Am Südranddes Belagerungsrings, in unmittelbarer Näheder Museumsgebäude, waren die Ratane in

Der Kampf um Schatzen 19

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Panik geraten. In wilder Flucht stoben dieFlugechsen nach allen Richtungen davon. Ersah eine, die mit wild flatternden Schwingenvom Boden abzuheben versuchte und plötz-lich mitten in der Bewegung innehielt, alssei sie gegen eine unsichtbare Mauer ge-rannt. Eine rätselhafte Kraft zerriß denmächtigen Körper in zwei Teile. Voller Ent-setzen verfolgte Nervrid, wie die Zone derZerstörung sich mit abenteuerlicher Schnel-ligkeit durch die Formationen seiner Trup-pen ausbreitete. Paladine schnellten wie vomKatapult geschossen in die Höhe. Rataneflogen zur Seite und blieben reglos liegen.Hier und da erschien das fahle Leuchten ei-nes Desintegrators und legte Beweis dafürab, daß einige der synthetischen Kämpfersich noch wehrten. Aber die verheerendeKraft, die dort unten am Werk war, ließ sichnicht bremsen. Nervrid konnte lange Zeitnicht erkennen, wovon sie ausging. Aberschließlich sah er die Gestalt, winzig anzu-sehen aus dieser Höhe, die wie eine Kano-nenkugel in den Reihen der Paladine undRatane umherraste.

»Der Haluter«, stöhnte er.»Siehst du?« spottete Tssk. »Den hast du

auch vergessen.«

*

Grimmiger und entschlossener hatte JenSalik den Arkoniden nie gesehen. Atlansprach nicht über den Fund, den er am Randder Schneise gemacht hatte; aber der Terra-ner empfand wohl, daß er erschütternd ge-wesen sein mochte. Im Unterholz entlangdes Waldrands gingen sie in Deckung.

Das Stück freien Graslands, das sie über-queren mußten, um den äußersten Gebäude-ring des Museums zu erreichen, war an die-ser Stelle 300 Meter breit. Atlan zählte etwazwanzig Ratane, mit denen sie es zu tun be-kommen würden, wenn sie durchzubrechenversuchten. Hinzu kamen einhundert mitschweren Desintegratoren ausgerüstete Pala-dine, die von ihren Reittieren abgestiegenwaren und reglos Wache standen, die Auf-

merksamkeit teils dem Waldrand, teils demMuseum zugewandt. Weiter rechts und linkslagen weitere graue Truppenverbände. Mitihnen, meinte der Arkonide, brauchte ernicht zu rechnen. Wenn sein Plan gelang,würden sie nicht rechtzeitig zum Einsatzkommen.

Blieb die Horde, die weit im Norden nachden verschwundenen Rittern der Tiefe such-te. Wenn es das Unglück wollte, kehrte sieum und erschien gerade zum falschen Zeit-punkt auf dem Plan. Das war ein Risiko, dassich nicht umgehen ließ.

Er setzte Jen Salik sein Vorhaben, ausein-ander. Viel brauchte er nicht zu erklären. Sa-lik hatte sich ausgerechnet, welchen Plan erentwickeln würde.

»Funkverbindung bleibt bestehen«, sagteAtlan. »Solange wir in Deckung bleiben undnach jedem Schuß den Standort wechseln,können sie uns nicht viel anhaben. Wenn wirdie nötige Verwirrung gestiftet haben –Schutzschirme an und raus!«

Jen Salik nickte wortlos. Sie trennten sich.Atlan suchte sich sein Ziel mit Sorgfalt. Erwählte mit Absicht nicht einen der Ratane,die dem Waldrand am nächsten lagen. Solltesich der Gegner ein wenig den Kopf darüberzerbrechen, woher der Schuß gekommenwar.

Er feuerte. Er nahm sich keine Zeit zu be-obachten, ob er einen Treffer erzielt hatte.Blitzschnell warf er sich zur Seite. Hinterihm her rollte der brüllende Donner einerschweren Explosion. Volltreffer! Atlan hattewenig Grund, sich zu freuen. Das Signal wargegeben. Von jetzt an ging's ums Leben. Erhastete zehn Schritte weit an einer dichtenHecke entlang, warf sich zu Boden undrobbte vorwärts, Dort, von wo er vor weni-gen Sekunden seinen ersten Schuß abgefeu-ert hatte, rauschte und knallte es im Unter-holz. Graugrüne Schwaden verdampfterPflanzenmaterie quollen auf. Atlan war ent-täuscht. Sein Trick hatte ihm nichts genützt.Die grauen Truppen hatten sofort erkannt,woher sie beschossen wurden.

Das Bild, das sich ihm bot, war entmuti-

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gend. Die vordersten zwei Reihen Ratanehatten Front gegen den Wald gemacht undkamen näher. Sie stampften auf ihren Säu-lenbeinen einher, daß der Boden zitterte. DiePaladine waren zum Teil aufgesessen, zumTeil marschierten sie neben den Flugechsenher. Weiter im Hintergrund lagen die zer-fetzten Überreste des explodierten Ratans.Die Detonation hatte Verwirrung in die For-mation der grauen Truppen gebracht.

Was war aus Jen Salik geworden? Warumschoß er nicht?

Er hatte die Frage kaum zu Ende gedacht,da schoß weit drüben am rechten Flügel derheranrückenden Phalanx ein greller Blitz indie Höhe. Sekunden vergingen, bis der Don-ner Atlans Standort erreichte. Er sah drübendie Paladine in Laufschritt verfallen und imLaufen schießen. Hoffentlich hatte Saliksich sofort aus dem Staub gemacht. Die fah-len Energiebündel der Desintegratoren fra-ßen tiefe Breschen in den Wald. DüstererQualm überlagerte die Szene.

Atlan suchte sein nächstes Ziel. Viel Zeitblieb ihm nicht mehr. Plötzlich stutzte er. ImHintergrund war wilder Lärm entstanden.Die trompetenden Schreie der Paladinemischten sich mit dem schrillen Gekreischder Ratana Ungläubig beobachtete AtlanScharen grauer Truppen, die in wilder Panikauseinander stoben. Eine der Echsen suchteihr Heil in der Luft. Aber bevor die hektischflatternden Schwingen sie noch vom Bödenabheben konnten, kollidierte sie mit einemzunächst noch unsichtbaren Hindernis, undzwar mit solcher Wucht, daß sie in zweiStücke zerrissen wurde.

Der vordersten Phalanx blieb nicht langeverborgen, daß in ihrem Rücken das Chaosausgebrochen war. Sie hielt an. Paladine undRatane wandten sich um. Atlan nützte dieGelegenheit zum Schuß. Die dritte Echseexplodierte in einem leuchtenden Feuerball.Der Arkonide hetzte davon. Im Laufen hörteer ein eigenartiges, erschreckendes Ge-räusch. Es war ein röhrendes Dröhnen, ähn-lich dem Laut, den in längst vergangenenZeiten die Nebelhörner terranischer Über-

seeschiffe von sich zu geben pflegten. EinenAugenblick lang war er verwirrt; aber dannsetzte plötzlich die Erinnerung ein.

Der halutische Kampfschrei!Hastig warf er sich zu Boden und schob

sich nach vorne, bis er den äußeren Randdes Gestrüpps erreicht hatte. Tatsächlich, erhatte sich nicht getäuscht. Domo Sokrat wü-tete dort draußen. Der Haluter befand sich invollem Lauf. Offenbar hatte er seine Körper-substanz molekularverdichtet. Was mit ihmzusammenprallte, wurde in hohem Bogendavon geschleudert. Die grauen Truppen ka-men nicht zur Gegenwehr. Domo Sokrat be-wegte sich mit einer Geschwindigkeit vonweit über 100km/h. Trotz seines Temposbrachte er es fertig, rechtwinklige Haken zuschlagen und den Gegner immer wieder zuverwirren. Hier und da leuchtete fahl dasEnergiebündel eines Desintegrators; aber derHaluter geriet niemals in ernsthafte Gefahr.

Vorläufig, dachte Atlan besorgt. Am Bo-den waren die Ratane langsam und unbehol-fen. In der Luft dagegen entwickelten sienicht nur bedeutende Geschwindigkeit, son-dern auch Wendigkeit. Wer auch immer die-se Truppe kontrollierte – er würde bald dar-auf kommen, daß er des rasenden Zyklopennur mit einem Angriff von oben Herr wer-den konnte. Wie lange blieb dem Haluternoch?

Er hatte längst erreicht, was Atlans undJen Saliks Ziel gewesen war: den Gegner zuverwirren, so daß sie unbeschadet ins Muse-um gelangen konnten.

»Jen, hörst du mich?« fragte der Arkoni-de.

»Laut und deutlich«, kam die Antwortüber TIRUN-Funk. »Ist es nicht herrlich,wenn man solche Freunde hat?«

»Schutzschirme an und fort!« sagte Atlan.Während er den Gedankenbefehl zur Ak-

tivierung des Feldschirms und des Antigravsgab, reichte eine Mentalstimme in sein Be-wußtsein. Er hörte Lethos-Terakdschan sa-gen:

»Atlan, Jen Salik kehrt zurück. Wir habeneine Waffe.«

Der Kampf um Schatzen 21

Page 22: Der Kampf um Schatzen

*

Nervrid verlor Wertvolle Sekunden, bis erden Schock überwunden hatte. Dann aller-dings machte er sich fieberhaft an die Ar-beit.

»Je zwei Abteilungen rechts und links derEinbruchstelle abziehen«, trug er dem Com-puter auf. »Sie sollen das Monstrum aus derLuft angreifen.«

»Verstanden und ausgeführt«, antwortetedie Computerstimme.

Nervrid griff mit einer seiner sechs Händenach dem Kopf der Schlange und schob siebeiseite, damit sie ihm den Blick nicht ver-sperrte.

Er sah, wie die abgerufenen Abteilungensich in Bewegung setzten. Die Ratane warenphantastische Kampfmaschinen; aber siebrauchten lange, um sich in die Luft zu erhe-ben. Inzwischen fuhr der Haluter fort zu ra-sen. Nervrids Blick wurde starr, als er aufdem Orterschirm plötzlich zwei leuchtendePunkte erblickte, die sich Über das Kampfgeschehen hinweg in Richtung des Muse-ums bewegten.

Die beiden Ritter der Tiefe! Er hatte ansie kaum mehr gedacht, seitdem das haluti-sche Ungeheuer auf der Szene erschienenwar.

Nervrid sah sich um. Draußen, in weitemUmkreis um das Museum, schwebte dasGros seiner Streitmacht. Er befand sich aufWarteposition. Diese Truppen hatte er ersteinsetzen wollen, wenn der Gegner geschla-gen war und es daran ging, das Museumauszuräumen. Aber die Lage hatte sich ver-ändert. Nervrid fühlte sich seiner Sachelängst nicht mehr so sicher wie zu Anfang.Er hatte dem Kampf mit Interesse entgegen-gesehen, Das war längst vorbei. Statt dessenfühlte er Panik in sich aufsteigen.

Mit Besorgnis verfolgte er die Bewegungder zwei Leuchtpunkte auf dem Orterschirm.Das Bildgerät wies aus, daß der Haluter in-zwischen zu wüten aufgehört hatte. Er fandkeine Opfer mehr. Nervrid war sicher, daß

das Ganze abgekartetes Spiel war. Die bei-den Ritter waren nach Norden geflohen, umdie Verfolger hinter sich herzuziehen undvom Museum fortzulocken. In weitem Bo-gen hatten sie zurückkehren und sich unbe-merkt in eines der Gebäude schleichen wol-len. Diese Absicht war durch die Landungder zehn Kampfeinheiten vereitelt worden.Aber der Haluter hatte bereitgestanden. Alsdie Ritter der Tiefe erkannten, daß sie unbe-merkt das Museum nicht erreichen konnten,hatten sie Domo Sokrat eingesetzt. Er schlugihnen eine Bresche.

»Wo bleiben die vier Einheiten?« stieß erungeduldig hervor.

»Sind unterwegs«, antwortete der Compu-ter.

Nervrid sah die beiden grauen Reihen sichnähern, die eine von Osten, die andere vonWesten. Viel zu langsam, verdammt, ging esihm durch den Sinn.

»Sie werden es nicht schaffen«, flüsterteTssk von Nervrids Hüfte her.

Auf dem Bildschirm suchte Nervrid dasGebäude, dessen Umriß sich die beiden Re-flexe auf dem Orterbild näherten. Es war ei-ne der großen Hallen des äußeren Museums-rings. Er wollte den Blick abwenden, als ei-ne Bewegung seine Aufmerksamkeit erreg-te. Er schaltete auf Vergrößerung und beob-achtete verblüfft, wie das Dach des mächti-gen Gebäudes zur Seite glitt. Der Vorgangwar ihm völlig unerklärlich.

»Gefahr!« zischte Tssk.»Unsinn«, wehrte Nervrid ab. Er wußte

nicht, was das Öffnen des Daches zu bedeu-ten hatte. Aber er sah augenblicklich seinenVorteil. »Lenk die vier Einheiten zu demGebäude mit dem offenen Dach«, befahl erdem Computer. »Ich nehme an, daß sämtli-che Gesuchten sich dort befinden.«

»Verstanden und ausgeführt«, lautete dieAntwort.

»Hör auf mich«, zeterte Tssk. »Es gehtum unser Leben. Warum, meinst du, habensie das Dach aufgefahren. Sie haben eine...«

Nervrid schlug mit dem Handrücken zu.Er traf das kleine Gesicht mit voller Wucht.

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Page 23: Der Kampf um Schatzen

Tssk schrie vor Schreck und Schmerz lautauf. Im nächsten Augenblick war er in derHöhlung auf dem Rücken des Tiziden ver-schwunden.

Ohne sich über den Zwischenfall auch nureinen Gedanken zu machen, wandte Nervridseine Aufmerksamkeit den Bildgeräten zuund verfolgte die Annäherung der beidenRatanfronten. Sie waren eingeschwenkt undhielten auf das offene Gebäude zu. Er ver-suchte, die Entfernung zu Schatzen. DieEchsen hatten inzwischen bedeutend anFahrt gewonnen. Nur noch ein paar Sekun-den, und...

Nervrid stutzte. Was leuchtete da aus derdachlosen Halle zu ihm herauf? Woherkannte er das geheimnisvolle, violette Wa-bern? Er suchte in seiner Erinnerung, abervor lauter Entsetzen war der Verstand ge-lähmt. Nervrid verlor die entscheidenden Se-kunden seines Lebens, während er in seinemGedächtnis forschte.

Die Intervallkanone! Eine der fürchter-lichsten Waffen der Raum-Zeit-Ingenieure.Die Technik war längst verlorengegangen;aber es hielten sich beharrlich Gerüchte,nach denen es hier und dort noch ein Exem-plar geben sollte.

Nervrid schrie entsetzt auf. Mit sich über-schlagender Stimme schrie er den Computeran:

»Sofort Fahrt aufnehmen! Wir kehrennach Mhuthan zurück. Sämtliche Truppen-verbände ebenfalls zurück nach Mhuthan.Höchste...«

Weiter kam er nicht. Ein greller Blitz er-füllte die kleine Steuerzentrale. Ein dunklesDröhnen wie von einer angeschlagenenGlocke brachte die Hülle des Graugenera-tors zum Erzittern. Wie aus einer Düse ge-schossen fauchte Außenluft durch die Kabi-ne. Die Wucht des Treffers hatte Nervrid andie rückwärtige Wand geschleudert. Haltlosrutschte er in sich zusammen. Während seinBewußtsein erlosch, sah er, daß das Fahr-zeug nur zum Teil zerstört war.

Vielleicht... noch Hoffnung, dachte ermühsam.

Dann wurde es dunkel.

*

Aus den Augenwinkeln sah Atlan die bei-den Scharen der Angreifer sich nähern. Dasist besser eine wirksame Waffe, die Lethosda hat, ging es ihm grimmig durch den Sinn.Er erreichte die Gasse die zwischen den bei-den hohen Museumsgebäuden dahinführte,und ging zu Boden. Antigrav aus, Individu-alschirm aus – das Risiko der Ortung mußteso gering wie möglich gehalten werden. JenSalik landete hinter ihm. Den Abschlußmachte Domo Sokrat.

»Das war Rettung in höchster Not, Sokra-tes«, rief Atlan im Laufen. »Wir schuldendir Dank.«

Der Haluter hatte die Molekularverdich-tung seiner Körpersubstanz rückgängig ge-macht. Er grinste breit und zeigte das mäch-tige, aus kegelförmigen Zähnen bestehendeGebiß.

»Es war mir ein Vergnügen«, sagte er,und seine Stimme hallte zwischen den bei-den engstehenden Wänden hin und her wieKanonendonner.

Im Laufschritt umrundeten sie die Mauer-ecke. Über sich hörte Atlan ein merkwürdi-ges Geräusch. Er konnte nicht erkennen, wo-her es kam. Die Ratane konnten es nichtsein. Deren Flügelklatschen hörte er laut unddeutlich; die beiden Fronten waren jeweilsnoch einen Kilometer entfernt.

Wie hätte er wissen sollen, daß in diesenAugenblicken das Dach der großen Muse-umshalle geöffnet wurde?

Sie traten durch das große Portal. Bei demeigenartigen Anblick, der sich ihnen bot,stockten sie unwillkürlich. Die riesige Hallewar von gigantischen Erzeugnissen einerfremden Technik erfüllt Eines davon hatteunverkennbare Ähnlichkeit mit einemStrahlgeschütz – und gewiß doch: Auf einerBank, vor der eine kleine, anscheinend un-komplizierte Armaturentafel angebrachtwar, saßen Lethos-Terakdschan und sein Or-biter, der junge Abaker. Twirl hielt das Ta-

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bernakel von Holt im Schoß. Der kleine Ka-sten sprach eifrig auf den Hathor ein.

»Nun mach schon. Denkst du, der dortoben sieht nicht, was du tust?«

»Abstrahlgenerator, fertig«, sagte Lethos-Terakdschan trocken.

Seine Hand fuhr über eine quadratischeLeuchtfläche. Ein lautes, dröhnendes Sum-men ertönte. Überrascht sah der Arkonideauf. Der große Abstrahltrichter des Geschüt-zes, einem altertümlichen Kanonenrohr ähn-lich, zielte unmittelbar in den grauen Him-mel hinauf. Die Halle hatte kein Dach mehr!Und dort, im trüben Grau, schwebte jenesgeheimnisvolle Fahrzeug, über das er undder Logiksektor sich vor kurzem Gedankengemacht hatten.

»Versuch, ihn nicht ganz zu zerstören«,rief Atlan hastig, als er sah, daß der Hathorsich zum Feuern anschickte.

Ohne sich umzudrehen, hob Lethos-Terakdschan beruhigend die Hand. »Schondaran gedacht«, sollte das bedeuten. Aberder Zufall machte ihm einen Strich durchden Plan. Der dort oben mußte im letztenAugenblick bemerkt haben, welches Schick-sal ihm drohte. Das würfelförmige Gefährtsetzte sich mit einem Ruck in Bewegung.

In diesem Augenblick schoß Lethos. Einscharfes, vibrierendes Summen überlagertesich für Sekundenbruchteile dem Brummendes Generators. Das Abstrahlfeld an deroberen Mündung des Trichters flammte grellauf. Eine Zehntelsekunde lang zog sich eingreller Lichtstreifen von der Halle bis hinaufzu dem grauen Würfel.

Ein Blitz zuckte auf. Trümmerstückespritzten aus den Seiten des fremden Fahr-zeugs, Der Würfel begann zu taumeln, Erexistierte nur noch zur Hälfte und hatte of-fenbar den größten Teil seiner Flugfähigkeiteingebüßt. Er sackte in die Tiefe – viel zurasch, als daß ein organisches Wesen, fallssich eines an Bord befand, bei diesem Ab-sturz noch Überlebenschancen gehabt hätte.

»Gerechtes Licht!« stöhnte der Hathor.»Das wollte ich nicht.«

Er stand auf und wandte sich um. Die

Bank stand auf einem Podest, zu dem vomBoden der Halle eine kurze Leiter hinauf-führte. Lethos-Terakdschan ergriff die Lei-terholme. Er zuckte zusammen, als vondraußen der dumpfe Laut des Aufschlagshereinscholl.

»Bleib oben«, rief ihm der Arkonide zu.»Es sind mindestens zweihundert Ratane imAnflug.«

»Ich kann nicht...«, ächzte Lethos.»Wenn du nicht, wer sonst?« fuhr Atlan

ihn ärgerlich an. »Keiner von uns hat mehrZeit, die Bedienung zu lernen.«

Wie ein Automat kehrte der Hathor zurBank zurück. Er aktivierte ein Bildgerät.

»Westen«, sagte Atlan.Lethos nickte.»Einhundert«, bestätigte er.»Dasselbe im Osten.«Die Kamera schwenkte.»Nochmals einhundert. Sie sind noch...«

Er sprach nicht weiter.»Sie sind noch was?« drängte der Arkoni-

de ungeduldig.»Sie drehen ab. Laß mich sehen...« Die

Kamera schwenkte ein zweites Mal. »Es istwahr«, rief er, und tiefe Erleichterungschwang in seiner Stimme: »Sie drehen alleab!«

Durch das offene Dach drang das charak-teristische Klatschen und Knallen von Rat-anschwingen. Eine Viertelminute später wa-ren entlang des Dachrands die ersten Umris-se von Flugechsen zu sehen, die sich mit aufgesessener Besatzung auf eiligem Weg nachWesten befanden.

»Wahrscheinlich hat der Befehlshaber imWürfel im letzten Augenblick noch einenallgemeinen Rückzugsbefehl abgesetzt«,vermutete Jen Salik.

»Warum schießt ihr sie nicht alle ab?«rief Domo Sokrat zornig.

Da wandte Twirl sich um und sagte mitvorwurfsvoller Stimme:

»Sie sind Leben, Sokrates.«»Grauleben!«»Ich dachte, du wärest durch und durch

grau«, wandte Jen Salik sich an den Haluter.

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»Das ist etwas anderes...«»Ich glaube, es ist jetzt relativ sicher drau-

ßen«, fiel der Arkonide ihm ins Wort. »Wirwollen uns um den Würfel kümmern.«

*

»Da lebt nichts mehr drin.« Trotz seinesPessimismus zögerte Atlan nicht, in aller Ei-le verbogene Platten, Streben und Plastiktei-le beiseite zu räumen und einen Weg ins In-nere des Fahrzeugs zu bahnen, Lethos-Terakdschans Treffer hatte den Würfel inder Mitte auseinandergerissen und eineHälfte völlig zerfetzt. Die andere Hälfte hat-te beim Aufschlag zusätzlichen Schaden er-litten. Sie war kaum mehr als ein Haufenwirr aufeinandergetürmter Trümmerstücke.Lethos-Terakdschans ursprünglicher Planwar gewesen, den Würfel mit einem Streif-schuß zu treffen und so zu beschädigen, daßer Notzulanden gezwungen war. Durch seinplötzliches Manöver hatte sich das Fahrzeugjedoch nahezu ins Wirkungszentrum des In-tervallstrahlfelds versetzt. Der Treffer warweitaus schwerer ausgefallen, als der Hathorsich gewünscht hatte.

Atlan erstarrte mitten in der Bewegung,als er aus dem Dunkel im Innern des Wür-fels ein halblautes Stöhnen hörte.

»Ein wenig Licht«, befahl er dem Psi-Prozessor, der die technischen Aspekte desTIRUNS kontrollierte.

Ein mattes, gelbliches Leuchten ging vonder Montur aus und schuf genug Helligkeit,so daß der Arkonide erkennen konnte, wo ersich befand. Die Umrisse des kleinen Raum-es ließen sich nur noch mit viel Phantasie re-konstruieren. Aber unzweifelhaft war diesdie Kontrollzentrale des Würfels gewesen;das erkannte er an der großen Menge zu-meist zertrümmerten Kontrollgeräts. Unterden Trümmern ragte der kalkigweiße Ober-leib eines Tiziden hervor. Atlan ging lang-sam auf die Knie und räumte vorsichtig denSchutt von dem langgestreckten Körper desGen-Technikers. Eine der Hände machte ei-ne wedelnde Bewegung, als wolle sie ihm

die Nutzlosigkeit seiner Bemühung klarma-chen. Inzwischen waren Auge und Mundfreigelegt. Die Lippen bewegten sich; aberes verging geraume Zeit, bis der Schwerver-letzte das erste Wort hervorbrachte.

»Du bist... Ritter... der Tiefe?« fragte ermühsam, jedoch in gut verständlichem Tie-fenslang.

»Ja, das bin ich«, antwortete der Arkoni-de. »Und die beiden, die hinter mir stehen,ebenso.«

»Ich... Grauleben«, preßte der Tizide mitMühe hervor. »Nervrid. Diener des... Grau-en Lords.«

»Sprich nicht soviel«, warnte Atlan. »Dubrauchst deine Kräfte. Wir holen dich hierheraus und...«

»Nicht heraus«, hauchte Nervrid. »Ichbin... so gut wie tot. Tssk hat mich schonverlassen. Ich hätte auf seinen Rat hören sol-len. Ich... habe ihn geschlagen...«

Seine Stimme wurde schwächer. Impulsivzog Atlan seinen Zellaktivator aus der Mon-tur hervor. Das kleine Gerät gab einen sanf-ten, goldenen Schimmer von sich. NervridsAuge wurde größer.

»Ich weiß, du bist Grauleben«, sagte derArkonide sanft. »Aber vielleicht vermag dieKraft des echten Lebens deine letzten Au-genblicke zu erleichtern.«

»Ich spüre sie«, hauchte der Tizide. Erstreckte eine der Hände nach der Kapsel aus;aber er hatte nicht mehr genüg Kraft. Atlanbeugte sich weiter nach vorne, damit er sieberühren konnte. Noch einmal schien frischeEnergie durch Nervrids Adern zu rinnen.»Wenn alle im grauen Land wüßten, was dieKraft des echten Lebens ist...«, begann er.

Plötzlich bäumte sein ausgemergelterKörper sich auf. Er hielt den Aktivator festumklammert.

»Ihr müßt Schatzen retten«, stieß er mitletzter Kraft hervor. »Ohne eure Hilfe istSchatzen verloren.«

»Wie?« fragte der Arkonide. »Was sollenwir tun.«

»Das Zentralmuseum.« Die Stimme desTiziden war nur noch ein mühsames Äch-

Der Kampf um Schatzen 25

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zen. »Das Spiralmonument. Der Graue Lordist...«

Er sank zurück. Der Mund blieb offen.Das Auge schrumpfte, bis es in der von Sen-sorhärchen umrahmten Höhle fast kaummehr zu sehen war. Nervrid, der Diener desGrauen Lords, war tot.

Behutsam löste Atlan die Finger der star-ren Hand, die noch immer die Kapsel desAktivators umklammert hielt. Er stand aufund stieß sich prompt den Schädel an einervon der Decke herabhängenden Metallplatte.

»Wir haben hier nichts mehr verloren«,sagte er.

*

Es bestand kein Zweifel, daß die grauenTruppen das Feld vollständig geräumt hat-ten. Zurückgeblieben waren nur ihre Toten –die Ratane, die Paladine und der Tizide Ner-vrid, der in seinen letzten Sekunden noch dieFreude der, goldenen Kraft des Reallebensgespürt hatte.

Den Archivaren war der Abzug des Geg-ners nicht entgangen. Sie kamen aus ihrenVerstecken hervor. Es stellte sich heraus,daß drei von ihnen fehlten. Atlan beschriebden Ort, an dem er die Leiche gefunden hat-te. Im übrigen stellte er fest, daß er mit denMuseumshütern nicht sonderlich gut aus-kam. Sie standen immer noch teilweise unterGraueinfluß. Offenbar waren die Vitalsabo-teure in den Kavernen unter Schatzen wei-terhin am Werk. Die Archivare stritten sichuntereinander und mit ihren Symbionten. Eswar ein unaufhörliches Gezänk, das dem Ar-koniden rasch auf die Nerven ging. Er wink-te die Gefährten zu sich. Sie kehrten zu derHalle zurück, in der Lethos-Terakdschan soerfolgreich die Intervallkanone bedient hat-te. Kaum waren sie durch das Portal getre-ten, da stellte sich ihnen eine metallischschimmernde Gestalt in den Weg.

»Wer hat es gewagt, das Dach zu öff-nen?« dröhnte die Stimme des Roboters.

»Schizo«, lachte Atlan spöttisch. »Wohast du die ganze Zeit über gesteckt?«

»Im Wald«, lautete die hoheitsvolle Ant-wort. »Ich war um die Sicherheit meinerPerson besorgt.«

»Personen«, keifte der robotische Symbi-ont auf seinem Rücken.

»Aha, aber die Sicherheit des Museumsging dich nichts an«, sagte der Arkonide sar-kastisch.

»Vorübergehend nicht«, erklärte Schizo.»Jetzt jedoch muß ich zusehen ...«

»Ich weiß, was du jetzt zusehen mußt«,sagte Atlan und wies in Richtung des Por-tals. »Draußen irgendwo irrt dein Herr Glu-schuw-Nasvedbin umher. Finde ihn und sor-ge dafür, daß er sich nicht verläuft.«

»Aber...«»Hau ab, Blechkasten!« schimpfte es aus

dem schwarzen Kasten des Tabernakels vonHolt.

Diesem Befehl durfte Schizo sich nichtwidersetzen.

»Jawohl«, sagte er feierlich und stampftedurch das hohe Tor hinaus.

»wir haben hier nichts mehr verloren«,sagte Atlan. »Ich möchte diesen streitsüchti-gen Archivaren erst wieder begegnen, wennsie ganz vom Graueinfluß befreit sind. Ihrkennt unser Ziel. Aus Nervrids Worten gehthervor, daß der Graue Lord selbst das Zen-tralmuseum angreift. Wir wissen, worauf eres abgesehen hat. Unter dem Spiralmonu-ment steht der große Vitalenergiespeicher.Wenn es Lord Mhuthan auf irgendeine Wei-se gelingt, den Speicher in seinen Besitz zubringen oder zu zerstören, ist Schatzen un-widerruflich verloren.«

Er blickte an dem großen Entladungs-trichter der Intervallkanone empor.

»Ich nehme an, es war nicht besondersleicht, das Geschütz zu aktivieren?« sagte er.

Lethos-Terakdschan berichtete, hin undwieder unterbrochen von erklärenden Ein-schüben, die das Tabernakel von sich gab.Atlan strich dem jungen Abaker über denKopf.

»Ich frage mich«, sagte er ernst, »ob eswirklich nur ein Zufall oder die Fügung desSchicksals war, daß wir mit dir zusammen-

26 Kurt Mahr

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trafen. Ohne dich wäre unser Zug schon lan-ge am Ende gewesen.«

Twirl wurde verlegen.»Och, es war nichts«, sagte er, verbesserte

sich jedoch rasch. »Fast nichts.«»Es war anstrengend, nicht wahr?«»Könntest du es noch einmal tun?«Begeistert machte Twirl das Zeichen der

Zustimmung.»Noch einmal ganz bestimmt«, versicher-

te er.Der Junge hatte das Tabernakel auf den

Sockel einer Maschine gesetzt.»Welches Fahrzeug ist geeignet, uns auf

dem schnellsten Weg zum Zentralmuseumzu bringen?« fragte Atlan in Richtung desschwarzen Kastens.

»Ein möglichst unkompliziertes«, antwor-tete das Tabernakel. »So wie dieser dort sichbeim Erlernen der Bedienung des Geschüt-zes angestellt hat, brauchtet ihr sonst zuvielZeit...«

»Keine Beleidigungen«, unterbrach derArkonide lächelnd den Redefluß. »Welchesalso?«

»Wir müssen diesen Klotz von einem Ha-luter mitnehmen«, sagte das Tabernakel.»Das schränkt unsere Auswahl ein.«

Atlan hatte aufmerksam hingehört.»Du sagst ›wir‹. Bist du bereit, mit uns zu

kommen?«»Selbstverständlich. Oder möchtet ihr das

nicht?«»Ich hätte dich sonst darum gebeten.«»Also gut, das ist erledigt. Nehmen wir

diesen Kasten dort«, sagte das Tabernakel.Es hob von dem Maschinensockel ab und

glitt durch die Halle. Vor einem anspruchs-losen Gebilde, das in der Tat wie ein großerKasten aussah, hielt es an. Das Fahrzeugwar quaderförmig mit einer Länge vonknapp zwanzig Metern und einem quadrati-schen Querschnitt, dessen Kantenlänge fünfMeter betrug. In den Wänden befanden sichgroße Fenster, in den beiden Längswändendazu je zwei Türen. Irgendwie fühlte sichder Arkonide an einen zu groß geratenen Ei-senbahnwaggon des ausgehenden terrani-

schen 19. Jahrhunderts erinnert.»Das Ding kann fliegen?« fragte er un-

gläubig.»Aerodynamische Form ist nicht erforder-

lich. Das Anemomobil erzeugt während desFluges ein Prallfeld, das die erforderlichenStrömungscharakteristiken erzeugt.«

»Der Name ist mir zu lang«, sagte Atlan.»Wenn es hält, was du versprichst, werdenwir es Luftbus nennen.«

»Red nicht lange, steig ein«, nörgelte dasTabernakel. »Übernimmst du das Steuer?«

»Mitnichten. Ob du es glaubst oder nicht:Lethos-Terakdschan ist der in technischenDingen Erfahrenste unter uns.«

»Oh, weh«, seufzte das Tabernakel.»Junge, bist du fertig?«

Während der lebhaften Debatte hatte nie-mand gemerkt, daß Twirl ein paar Schritteabseits getreten war. Er stand mit dem Ge-sicht dem Fahrzeug zugewendet, hatte je-doch die Augen geschlossen. Spannung undAnstrengung spiegelten sich auf dem sonstso lustigen Gesicht wider. Atlan wandte denKopf und sah, wie plötzlich das, was einespiegelnde Lackschicht gewesen zu seinschien, sich auflöste. Darunter kam das mat-te Polymermetall der Fahrzeugwände zumVorschein.

»Es ist getan«, sagte hinter ihm der jungeAbaker. Seine Stimme klang erschöpft.

Zwei Türen klappten auf. »Alles einstei-gen!« krähte das Tabernakel.

Das Innere war denkbar spartanisch ein-gerichtet. Sitzbänke boten den PassagierenPlatz. Der Pilot saß in einem Sessel unmit-telbar hinter dem Bugfenster. Ohne weitereAufforderung nahm Lethos-Terakdschanhinter der Kontrollkonsole Platz. Das Taber-nakel schwebte in der Luft neben ihm undbegann, die Handhabung des Steuerungsme-chanismus zu erklären. Inzwischen stand At-lan noch unter der offenen Vordertür, als ervom Eingang der Halle her eine dröhnendeStimme hörte. Diesmal war es nicht Schizo,sondern ein organischer Archivar, der mithastigen Schritten herbeieilte. Schon vonweitem schrie er:

Der Kampf um Schatzen 27

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»Wie könnt ihr es wagen, euch an denAusstellungsstücken meines Museums zuvergreifen?«

»Du vergißt, daß wir Ritter der Tiefesind«, rief Atlan ihm entgegen.

»Ritter, Schmitter«, empörte sich der Mu-seumshüter. »Hier wird nichts gestohlen.«

»Wahre deine Worte«, warnte ihn Atlan.»Du nennst dies dein Museum? Du bist Glu-schuw-Nasvedbin?«

»Ja, wir sind es«, krähte Nasvedbin.»Erkennst du mich nicht wieder?« wun-

derte sich Gluschuw.Aus dem Innern der Kabine meldete sich

Lethos-Terakdschan.»Wir sind soweit, Atlan.«Inzwischen war Gluschuw stutzig gewor-

den.»Wie habt ihr das Fahrzeug überhaupt

öffnen können?« wollte er wissen. »Es liegtunter psionischem Schutz.«

»Ich erzähl's dir beim nächsten Mal«, ver-sprach der Arkonide. »Inzwischen habe icheinen Auftrag für dich.«

»Welchen?« erkundigte sich der Archivarmißtrauisch.

»Wenn wir gestartet sind, mach das Dachwieder zu«, sagte Atlan freundlich.

4.

Der Luftbus war nicht schnell, aber er be-saß die merkwürdige Eigenschaft, daß erden überall durch das Land ziehenden Rat-anschwärmen nicht auffiel. Atlan wundertesich darüber. Das Tabernakel erklärte:

»Das Feld, in das das Fahrzeug gehüllt ist,schafft nicht nur aerodynamische Konturen,es dient auch als Ortungsschutz. Die Ratan-Armeen werden zentral gelenkt. Der Lenkermüßte erst einmal wissen, daß wir in der Nä-he seiner Armee sind, bevor er uns angreifenlassen kann.«

Je weiter sie ins Innere von Schatzen vor-drangen, desto deutlicher wurde, daß dieTruppen des Lords Mhuthan in der Tat dasganze Land überzogen hatten. Wenn Atlanin die Tiefe blickte, glaubte er zu sehen, wie

die Farbe der Vegetation immer deutlichervon Grün nach Grau hinüberwechselte.Schatzen versank unter der häßlichen Deckedes Graueinflusses. Inzwischen mußte esLord Mhuthans Saboteuren gelungen sein,nahezu alle Strömungen von Vitalenergie,die ins Land flössen, abzudämmen. Nur indar Nähe des Spiraldenkmals, so meinte dasTabernakel, gab es noch Hoffnung. Dortmachte sich die Vitalkraft bemerkbar, dieaus dem großen Speicher in den Kavernenaufstieg.

Während er über die Worte nachdachte,die das Tabernakel zu ihm gesprochen hatte,fiel ihm etwas auf.

»Du sagst, die Armeen werden zentral ge-lenkt«, bemerkte er. »Aber Nervrid kontrol-lierte seine Truppen vom Innern des Würfelsaus.«

»Das ist bisher noch nie vorgekommen«,antwortete der schwarze Kasten. »Nervridmuß danach getrachtet haben, eine besonde-re Tat zu vollbringen. Er war schon immerein Liebling des Grauen Lords. Wahrschein-lich wollte er seine Stellung festigen. Es istgut für ihn, daß er den Tod gefunden hat.«

»Aus welchem Grund?« fragte Atlan ver-wundert.

»Er hat einen der wertvollen Graugenera-toren verloren, die der Lord über allesschätzt. Mhuthan hätte ihm nie verziehen.«

»Graugeneratoren – das sind Geräte, diesynthetischen Graueinfluß erzeugen?«

»Ja. Sie werden in geheimen Werkstättenhergestellt. Ihr Geheimnis ist nur dem Lordbekannt. Es gibt nicht viele solcher Genera-toren. Sie werden dort eingesetzt, wo einwichtiger Angriff gegen ein von Reallebenerfülltes Gebiet zu führen ist.«

Der Arkonide war nachdenklich gewor-den. Die Worte des Tabernakels bestätigten,was der Logiksektor sich schon vor Stundenzurechtgelegt hatte. Er machte sich Vorwür-fe, daß sie nicht wenigstens einen Versuchunternommen hatten, den Generator zu un-tersuchen und seine Wirkungsweise zu er-mitteln. Keine Zeit. Das Zentralmuseumwartete. Die Archivare brauchten Hilfe. Au-

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ßerdem hoffte er, von dem Aktivator in denKavernen zu erfahren, in welcher Richtunger das Vagenda zu suchen hatte. Denn dort-hin waren sie schließlich unterwegs. Daswar ihr eigentlicher Auftrag: dem VagendaHilfe zu leisten. Das Vagenda, geheimnis-volle Quelle der Lebenskraft, von der alleinabhing, ob das Tiefenland real bleiben odergrau werden würde.

Nein, nicht darüber nachdenken. Die Ge-danken verloren sich zu leicht in diesemWust grotesker und unverständlicher Infor-mationen. Er wandte sich wieder an das Ta-bernakel.

»Man sagt, daß du dich seit unvordenkli-chen Zeiten in Gluschuw-Nasvedbins Muse-um befindest«, sagte er.

»Ganz so unvordenklich sind sie nicht«,antwortete die Stimme aus dem Kasten.»Damals war auch noch nicht Gluschuw derKurator, sondern ein ganz anderer. Aber duhast recht, eine recht lange Zeit ist es schonher.«

»Trotz deiner Abgeschlossenheit weißt duüber die jetzigen Verhältnisse im Tiefenlandrecht gut Bescheid.«

»Oh, weiß ich das?« Die Stimme klangspöttisch, aber freundlich. Im Zwiegesprächmit Atlan schien das Tabernakel auf seinesonstige raue Forschheit zu verzichten. »Ja,ich weiß einiges. Auch in der Abgeschlos-senheit stehen mir Informationsquellen zurVerfügung. Aber hüte dich davor, mich fürallwissend zu halten.«

»Wann Wirst du uns deine Geheimnisseenthüllen?« fragte der Arkonide.

»In einer Stunde der Muße und der Ru-he«, lautete die philosophische Antwort.»Im Augenblick liegen wichtigere Aufgabenvor uns. Schatzen muß gerettet werden.«

Atlan begriff, daß er weiter nichts erfah-ren würde. Er sah sich um. Lethos-Terakdschan saß an den Kontrollen undhandhabte das Fahrzeug mit der Nonchalan-ce des erfahrenen Piloten. Domo Sokrathockte auf dem Boden und war bemüht, sichnicht zu rühren. Heftige Bewegungen desmassigen Haluterkörpers hätten den Luftbus

zum Schaukeln bringen können. Jen Salikhatte es sich im Hintergrund der Kabine be-quem gemacht. Er hatte die Augen geschlos-sen. Man konnte nicht erkennen, ob er sch-lief.

Ohne Zweifel fest eingeschlafen war da-gegen Twirl. Sein regelmäßiges, schnaufen-des Atmen verriet es. Es war still im Innerndes Fahrzeugs. Keinerlei Triebwerksge-räusch war zu hören. Plötzlich empfand At-lan Mitleid mit Twirl. In den vergangenensechzig bis achtzig Stunden hatte er viel vonseiner natürlichen Fröhlichkeit verloren. DerErnst des Lebens hatte Twirl eingeholt. Erwußte jetzt, daß es nicht nur Spaß und Spielgab. Außerdem war er erschöpft. Mit derSchaffung des Realtunnels von Korzbranchnach Schatzen, mit einer Serie von Telepor-tationen und schließlich mit der »Enteisung«der beiden Geräte in Gluschuws Museumhatte er sich verausgabt.

Es werden frohere Zeiten kommen, dachteder Arkonide traurig.

Noch eine Stunde bis zum Zentralmuse-um, hatte das Tabernakel gesagt. Es wärenicht schlecht, wenn er sich auch eine kurzeRuhepause gönnte.

*

Die Anlage war gigantisch.Das Zentralmuseum bestand zwar nur aus

einem Gebäudering; aber dieser hatte einenDurchmesser von zehn Kilometern, und dieGebäude, durch schmale Gassen in Kreis-segmente unterteilt, besaßen eine Höhe von1000 Metern. In der Mitte des gewaltigenKreises ragte das Spiralmonument in dieHöhe. Es wirkte wie ein gewaltiges, ausweißem Marmor aufgeführtes Schnecken-haus mit einem Flachdach obenauf.

Der Umfang der Streitmacht, die LordMhuthan hier zusammengezogen hatte, waratemberaubend. Zehntausende von Ratanenschwebten unter dem grauen Himmel undflogen mit matten Schwingenschlägen weiteKreise. Zehntausende mehr lagerten in um-fangreichen Gruppen auf dem Boden. So

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stark war die Graustrahlung, die von densynthetischen Geschöpfen ausging, daß dort,wo sie sich niedergelassen hatten, in der üp-pig sprießenden Vegetation kein einzigesFleckchen Grün mehr zu sehen war.

Seltsam war die Art, wie der Graue Lordseine Streitkräfte angeordnet hatte. Keinerder Ratanenverbände, ob fliegend oder la-gernd, kam der Peripherie des Museums nä-her als fünfzehn Kilometer. Die Truppen be-fanden sich in Warteposition. Worauf siewarteten, ließ sich nicht erkennen.

Der Luftbus stieg in die Höhe, bis er sichder Tiefenkonstante näherte. Die fliegendenRatane zogen ihre Kreise eintausend Metertiefer. Das kastenförmige Fahrzeug strichmit gemessener Fahrt auf den Museums-komplex zu, in jeder Sekunde bereit, denKurs zu wechseln und einem angreifendenVerband aus dem Weg zu gehen. Aber diegrauen Truppen nahmen die Anwesenheitdes fremden Fahrzeugs nicht zur Kenntnis.

Der riesige Innenhof, der sich zwischendem Gebäudering und der Basis des Spiral-monuments erstreckte, bot einen merkwürdi-gen Anblick. Er war in der Art eines Parksangepflanzt. Gebüschflächen wechselten mitlockeren Hainen, Wege wanden sich durchGesträuch und unter Bäumen hindurch; hierund da glitzerte matt die Oberfläche einesTeiches. Der Hof, von der nach innen ge-wandten Mauer der Gebäude bis zum Fußdes Monuments, hatte eine lichte Weite vondrei Kilometern und zog sich ringförmig umdas marmorne Schneckenhaus. Der äußereBereich des Hofes, in einer Breite von zweiKilometern, bot sich dem Auge in lichtem,gesundem Grün dar. Die innere Ringzone,unmittelbar an die Basis des Monuments an-schließend, erschien dagegen in düsteremGrau.

Jen Salik fand die Erklärung.»Seht dort«, sagte er und wies auf das

große Flachdach, das die höchste Erhebungdes Schneckenhauses krönte.

Atlan hatte dem Dach bisher nur flüchtigeBeachtung geschenkt. Aus der Ferne erschi-en es auf merkwürdige Art gegliedert, aus

mehreren Stufen bestehend. Jetzt, da derLuftbus den Gebäudering fast erreicht hatte,wurde das Bild deutlicher. Ein schüsselför-miger Gegenstand von bedeutenden Ausma-ßen ruhte auf dem Dach. Das Dach selbstwar völlig eben. Es war die Schüssel, die ausgroßer Entfernung den Eindruck einer stu-fenförmigen Gliederung erweckt hatte.

»Gondel eins«, sagte der Arkonide.»Mit einem Graugenerator an Bord, ohne

Zweifel«, fügte Jen Salik hinzu. »Er erzeugteine Sphäre des Graueinflusses, die das gan-ze Monument und einen Teil des Innenhofsumfaßt« Der Luftbus sank langsam in dieTiefe. Atlan achtete scharf auf die Gondeldes Grauen Lords; aber dort rührte sichnichts. Was ging dort vor? Wußte die Besat-zung nicht, was sie von dem eigenartig ge-formten Fahrzeug zu halten hatte? War dieGondel leer? Hatte der Graue Lord mit sei-nem gesamten Stab das Innere des Monu-ments aufgesucht?

Twirl räkelte sich und sagte:»Warum fragst du ihn nicht?«Atlan sah den Jungen lächelnd an. »Hast

du wieder in meinen Gedanken geschnüf-felt? Wen ihn?«

»Den schwarzen Kasten dort«, sagteTwirl.

»Wer will mich etwas fragen?« erkundig-te sich das Tabernakel keck.

Der Arkonide trug seine Überlegungenvor.

»Ich weiß es nicht«, lautete die Antwort.»Das Spiralmonument enthält den einzigenZugang zu den Kavernen unter Schatzen.Ich könnte mir gut vorstellen, daß LordMhuthan mit seinem ganzen Gefolge in dieUnterwelt aufgebrochen ist. Es kann aberauch sein, daß sie an Bord der Gondel glau-ben, sie hätten ohnehin alles sicher in derHand, was sich im Bannkreis des Museumsbefindet. Warum sollten sie uns also angrei-fen?«

Nachdenklich blickte Atlan hinab auf denbreiten, grünen Streifen, der den Innenhofsäumte. Lord Mhuthans Ziel lag auf derHand. Er war darauf aus, den großen Akti-

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vator in den Kavernen unter dem Monumentunwirksam zu machen. Bis jetzt war ihm dasnoch nicht gelungen, sonst hätte es dort un-ten kein Grün mehr gegeben. Aber wie vielZeit blieb ihnen noch? Atlan versuchte, einehypothetische Rechnung aufzustellen, undauf einmal erschien es ihm, als gebe es in-mitten aller Trübsal doch, noch einen klei-nen Hoffnungsschimmer. Der Aktivator gabmassive Dosen Vitalenergie von sich. Waswollte Lord Mhuthan gegen ihn ausrichten?Alles reguläre Grauleben verwandelte sichunter dem Einfluß der Vitalkraft in Realle-ben zurück. Synthetisches Grauleben – wiedie Ratane und die Paladine – zerfiel zuStaub. Wie wollte sich der Lord mit seinenKohorten dem Aktivator nähern? Mußte ernicht, sobald er in den Einflußbereich kon-zentrierter Vitalenergie geriet, alle Initiativeverlieren?

Denk nach, meldete sich der Extrasinn.Sollte der Lord wirklich so dumm sein, daßer von dieser Gefahr nichts wüßte?

Ob er davon weiß oder nicht – wie will ersie umgehen?

Der Extrasinn antwortete darauf nicht. In-zwischen war der Luftbus bis unter das Ni-veau der Museumsdächer gesunken, und At-lan wandte seine Aufmerksamkeit dem Lan-de-Vorgang zu. In einem der Gebäude hattesich ein Tor geöffnet. Eine sechsköpfige Ab-ordnung von Archivaren schritt gravitätischauf den voraussichtlichen Landeplatz desFahrzeugs zu. Lethos-Terakdschan war in-zwischen mit der Steuerung so vertraut, daßer den Bus ruckfrei aufsetzte.

Atlan war der erste, der die Tür öffneteund hinausstieg. Die Archivare, selbst nureinen Meter groß, musterten den für ihre Be-griffe riesigen Humanoiden mit unverhohle-nem Staunen. Einer der Museumshüter – einGeschöpf mit tiefroter, fast schwarzer Haut-farbe, die ihn als überaus altes Mitglied sei-ner Spezies auswies – trat zwei weitereSchritte vor und fragte den Arkoniden un-verblümt:

»Wer bist du, und was willst du hier?«Atlan hatte während der Ereignisse in

Gluschuw-Nasvedbins Museum eine ArtAllergie gegen Archivare entwickelt. Er ant-wortete daher in strengem, fast anmaßendemTon:

»Ich bin ein Ritter der Tiefe. In meinerBegleitung befinden sich zwei weitere Rit-ter. Wir kommen, um euch zu helfen, fallsdas überhaupt möglich ist.«

Gluschuw-Nasvedbin hatte nicht gewußt,was ein Ritter der Tiefe war. Er hatte sicherst vom Tabernakel darüber aufklären las-sen müssen. Atlan erwartete hier keine ande-re Reaktion. Er wurde überrascht.

Von den beiden Körperseiten des Archi-vars begannen die Tentakeln zu flattern, dieihm von der Schulter bis zur Hüfte in profu-ser Fülle wuchsen. Die flexiblen Pseudoar-me hoben, senkten und krümmten sich, Wievon sanftem Wellenschlag bewegt. Es schi-en dem Arkoniden eine überaus friedlicheGeste zu sein. Dazu neigte der Museumshü-ter den kürbisförmigen Schädel und verkün-dete mit tiefer Stimme: »Seid uns willkom-men, ihr Ritter. ihr kommt zur rechten Zeit.«

Der Chor seiner Begleiter vollzog die Ge-sten nach, ohne jedoch die Worte der Begrü-ßung zu sprechen. Atlan sprang auf den ebe-nen Grund. Hinter ihm kletterten die restli-chen Mitglieder der Expedition aus demLuftbus. Noch einmal gab es Erstaunen, so-gar Entsetzen, als Domo Sokrat zum Vor-schein kam. Die Reihe der fünf Archivarewich ängstlich einen halben Schritt zurück.Der Alte mit der schwarzroten Haut dagegenblieb unerschütterlich stehen.

»Sag mir deinen Namen«, bat Atlan.»Ich bin Henner-Bak, der Älteste des Mu-

seums«, antwortete der Archivar bereitwil-lig.

»Der Älteste? Es gibt in diesem Museummehr als einen Kurator?«

»O ja. Das Zentralmuseum ist das größteund wichtigste in ganz Schatzen. Wir habennormalerweise 200 Kuratoren hier. Jetzt al-lerdings zählen wir zweitausend. Alles, wassich sonst wo nicht mehr halten konnte, flohhierher.«

»Ich grüße dich, Henner-Bak«, sagte der

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Arkonide feierlich, »und verspreche dir, daßwir alles, was in unserer Macht steht, unter-nehmen werden, um nicht nur das Zentral-museum, sondern ganz Schatzen vor demGraueinfluß zu bewahren. Doch sag mir:Macht euch im Innern des Museums dieGraukraft schon zu schaffen?«

Henner-Bak blickte zu Atlan auf. SeineAugen glänzten zuversichtlich.

»Wenn die Ritter der Tiefe uns beistehen,wie können wir verlieren?« dröhnte seinetiefe Stimme. »Nein, Herr: In den Gebäudendes Museums herrscht die Graukraft nochnicht. Aber wie lange es noch so sein wird,das hängt allein davon ab, welcher Erfolgdem Bösen Lord beschieden ist.«

Mit mehreren seiner Tentakeln machte ereine Geste hinauf zum Flachdach des Spiral-monuments.

»Dann laß uns hineingehen«, schlug Atlanvor, »und beraten, was in dieser Lage zu tunist.«

Allein die Ausmaße der Halle verschlu-gen einem den Atem. Die Seitenwände wa-ren so geschnitten, daß eine Perspektive ent-stand, die in die Unendlichkeit zu führenschien. Die Decke war nicht einheitlichflach, sondern zu verschiedenen Ebenen ge-staltet, von denen indes keine weniger alszweihundert Meter vom Boden entfernt war.Helles Licht erfüllte den riesigen Raum. Eskam aus unregelmäßig, mitunter bizarr ge-formten Leuchtplatten, die in die verschiede-nen Deckenniveaus eingearbeitet waren.Auch hier gab es große Fenster. Sie dienten,wie Henner-Bak glaubhaft versicherte, nichtder Beleuchtung, sondern der Belehrung desMuseumsbesuchers, daß ungeachtet allerTechnik, die er hier zu sehen bekam, die Na-tur draußen fortfuhr zu existieren. Besucher,fügte er traurig hinzu, habe es allerdingsschon seit langem nicht mehr gegeben.

Atlans Abneigung gegen die Archivareschwand dahin. Man kam gut mit ihnen aus,solange sie nicht unter Graueinfluß standen.Als wohltuend empfand es der Arkonide,daß ihre Symbionten, die Zyrmii, die sie alspulsierende Rucksäcke unter den Schultern

trugen, hier weitaus weniger vorlaut warenals in Gluschuw-Nasvedbins Museum.

Die Ausstattung der Halle war überwälti-gend. Hier standen Maschinen, Aggregate,Fahrzeuge einer Ära, die das Tiefenlandlängst vergessen hatte und deren Technikverlorengegangen war. Hier gab es Waffengenug, um zehn solcher Armeen zu vertrei-ben, wie der Graue Lord sie rings um dasMuseum aufgestellt hatte.

Unwillkürlich sah der Arkonide sich nachTwirl um. Der Junge schritt am Ende derGruppe. Er bewegte sich auf eigentümlicheWeise, als verstecke er etwas hinter seinemRücken. Atlan wußte, worauf er es abgese-hen hatte, und lächelte ihm zu. Twirl winktefröhlich zurück.

Henner-Bak und seine Begleiter schrittenauf eine langgestreckte, pultähnliche Vor-richtung zu, die augenscheinlich nicht zuden ursprünglichen Ausstellungsgegenstän-den des Museums gehörte. Sie wirkte zwer-genhaft und primitiv im Vergleich zu denriesigen, glitzernden Maschinen in ihrerUmgebung und sah so aus, als sei sie erstvor kurzem und in aller Eile hier aufgestelltworden. Eine Gruppe von Archivaren, die andem Pult beschäftigt war, wich zurück, alsHenner-Bak sich mit seinen Gästen näherte– entweder aus Ehrfurcht vor dem Ältestenoder aus Angst vor den Fremden.

»Hier ist meine Kommandozentrale«, er-klärte der alte Archivar nicht ohne Stolz.»Von hier aus kontrollieren wir alles, was inder Umgebung des Museums geschieht.«

Atlan sah lange Fluchten primitiver Bild-geräte, Armeen von Schaltern und Kontakt-flächen und Batterien von Kommunikations-geräten mit mechanischen Mikrofonen undAnzeigeinstrumente, auf denen materielleZeiger vibrierten. Das also war, was imLand Schatzen von der überlegenen Technikder Raum-Zeit-Ingenieure noch übrig blieb.Kontrollieren, hatte Henner-Bak gesagt. Be-obachten war wohl der richtigere Ausdruck.

Der Arkonide hielt sich mit dem Betrach-ten der kleinen Bildflächen nicht lange auf.Er wandte sich an den Ältesten.

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»Welche Vorbereitungen habt ihr für dieVerteidigung des Museums getroffen?«fragte er.

»Keine«, antwortete Henner-Bak be-schämt. »Wir haben keine Waffen.«

Atlan streckte den Arm aus und vollführteeine halbe Drehung.

»Und was sind diese hier?« fragte er laut.Der Archivar schien zu erschrecken.»Oh, Herr«, sagte er, »das sind Museums-

stücke. Niemand darf sie berühren. Um ge-nau zu sein: Niemand kann sie berühren.«

Atlan drehte sich um, bis er Twirl Auge inAuge gegenüberstand.

»Was höre ich da? Du hast auch hier dieFinger im Spiel gehabt?«

Er sprach in ernstem Ton, und für die Ar-chivare mußte es so aussehen, als ob seinTadel für den Jungen bestimmt sei. Da erhobsich aber über Twirls Schulter der schwarzeKasten des Tabernakels von Holt, und ausseinem Innern ertönte die charakteristischrespektlose Stimme:

»Drüben bei Gluschuw war ich's. Hierwird's wohl ein anderer gewesen sein. DerBefehl erging an alle.«

»An alle was?«»Was geht's dich an, Ritter?« schimpfte

das Tabernakel.Atlan fühlte sich veranlaßt, Henner-Bak

eine Erklärung für das seltsame Verhaltenseines ungewöhnlichen Begleiters zu geben.Aber als er sich dem Archivar zuwandte, dalag dieser flach auf dem Boden, seine fünfBegleiter hatten dieselbe Haltung angenom-men, und selbst die, die zuvor am Pult gear-beitet hatten, waren niedergesunken.

Zögernd nur hob Henner-Bak den Kopf.Furchtsam blickten seine Augen, als er zudem Arkoniden aufsah.

»Herr«, sagte er mit zitternder Stimme.»Wenn jemand noch daran gezweifelt hätte,daß ihr Ritter der Tiefe seid – jetzt wissenwir es alle ganz genau. Niemanden sonsthätte das Tabernakel von Holt begleitet.«

*

Die Aussichten waren alles andere als ro-sig. Der Einwand des Logiksektors, als ersich mit ihm über Lord Mhuthans Vorstoß indie Welt der Kavernen unterhielt, gab Atlannachträglich zu denken. War es möglich,daß der Graue Lord über eine Geheimwaffeverfügte, die es ihm ermöglichte, sich allenTiefengesetzen zum Trotz dem großen Vita-lenergiespeicher zu nähern, ohne dabei sei-nen Graustatus zu verlieren? Die Art seinesVorgehens ließ eine solche Vermutungdurchaus plausibel erscheinen. Die riesigenHeerscharen, die weit jenseits der Peripheriedes Museums lagerten, dienten dem Lordnur als Reserve für den Notfall. Schließlichlegte er keinen Wert darauf, das Museum zuzerstören oder auch nur ernsthaft zu beschä-digen. Er hoffte, die Waffen und Geräte, diehier aufbewahrt wurden, in seine Hand zubringen und auf diese Weise einen Vorrang-status unter den Grauen Lords zu erringen.

Die Verteidigung hatte sich nach der Tak-tik des Angreifers zu richten. Zwei Vorstößewaren erforderlich: einer hinunter in die Ka-vernen, der andere gegen die grauen Trup-penmassen im Umkreis des Museums. Erste-rer war, in der Sprache konventioneller Mili-tärs, ein Stoßtruppunternehmen. Letzterererforderte den Einsatz der Waffen, die dasMuseum beherbergte.

»Könntet ihr diese Geräte bedienen, wennsie aus ihrer psionischen Hülle gelöst wür-den?« fragte Atlan den Ältesten.

»Es gibt einige Auserwählte unter uns, diesich darauf verstehen«, sagte Henner-Bak.

»Wie viele insgesamt?«»Sechsunddreißig, mich eingeschlossen.

Diese Gruppe bildet den Rat der Kuratoren.«»Das genügt.«»Aber, Herr, wie willst du...«Der Arkonide winkte besänftigend ab.»Das laß meine Sorge sein.« Er winkte

dem jungen Abaker zu. Twirl trat näher.»Ich weiß, du bist erschöpft ...«

»Oh, nicht erschöpft«, fiel ihm der Jungefröhlich ins Wort. »Nur ist kaum noch etwasvon der Lebenskraft in mir, die ich in Korz-branch vom Lichtteich erhalten habe.«

Der Kampf um Schatzen 33

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»Genug, um zurück zum Lichtteich zu te-leportieren?«

Ohne Zögern machte Twirl die Geste derZustimmung. Jen Salik und Lethos-Terakdschan traten herzu.

»Ich ahne, was du vorhast«, sagte derHathor. »Er ist mein Orbiter. Ich werde ihnbegleiten.«

»Es wird nicht auf einen Sprung gehen«,gab der Junge zu bedenken. »Wir werdenmehrere Sprünge machen und zwischen-durch rasten müssen.«

»Niemand hat mehr erwartet«, beruhigteihn der Arkonide. »Wenn du am Lichtteichalle Lebenskraft in dir aufgenommen hast,die dein Bewußtsein zu halten vermag, wirstdu in einem einzigen Sprung hierher zurück-kehren können. Du weißt, was wir beabsich-tigen?«

»O ja!« strahlte Twirl, und seine borsti-gen, buschigen Brauen richteten sich steil indie Höhe.

»Dann«, sagte Atlan, »macht euch auf denWeg.«

Twirl faßte des Hathors Hand. Ein letztes,grüßendes Winken – und beide waren ver-schwunden. Es gab einen matten Knall, alsdie Luft in das. Vakuum strömte, das siehinterlassen hatten.

Henner-Bak wollte sich in Ausrufen desStaunens ergehen, aber Atlan schnitt ihmkurzerhand das Wort ab.

»Vorläufig hat der Graue Lord offenbarnicht die Absicht, das Museum anzugreifen.Für uns liegt ein Vorteil darin, alle Archiva-re in einem Raum beisammen zu haben. Dusagst, es gibt euer insgesamt zweitausend?«Und als der Älteste mit seinen Tentakeln dasZeichen der Zustimmung machte, fuhr erfort: »Ruf sie alle hierher zusammen. Achtebesonders darauf, daß alle Auserwähltenhier sind. Wenn Twirl und sein Begleiter zu-rückkehren, werdet ihr in der Lage sein, dieWaffen zu benützen, die hier stehen. Derjunge Abaker ist in der Lage, die psionischeSchutzhülle zu entfernen. Aber seine Kräftesind begrenzt. Triff du die Auswahl der Ge-räte, mit denen ihr die grauen Truppen dort

draußen vertreiben wollt.«»O Herr«, brach es da aus Henner-Bak

hervor, »wir sind keine Krieger!«»Ihr habt die Wahl«, antwortete Atlan

schroff, »entweder Krieger oder grau zuwerden. Krieger seid ihr nur für kurze Zeit,grau für immer.«

Das leuchtete dem Alten ein. Er wiegteden massiven Schädel hin und her und mein-te:

»Wenn du es so darstellst, kann man dirnicht widersprechen.« Gleich darauf hatte erjedoch einen Einwand. »Warum wollt ihrRitter der Tiefe die Auswahl der Waffennicht treffen?«

»Wir kennen sie nicht so gut wie du. Au-ßerdem sind wir nicht mehr hier, wenn Twirlzurückkehrt.«

»Ooh«, machte Henner-Bak. Die Aus-sicht, demnächst auf die Anwesenheit derRitter der Tiefe verzichten zu müssen, warihm unangenehm. »Ihr wollt uns verlassen?«

Anstatt seine Frage zu beantworten, stellteder Arkonide eine Gegenfrage.

»Gibt es nur den einen Zugang zum Spi-ralmonument, den oben auf der Plattform?«

»Nein«, antwortete der Alte. »Es gibtzwei Eingänge in der Basis. Nur wenigekennen sie.«

»Du kannst sie uns beschreiben?«»Gewiß kann ich das.«Jen Salik und Domo Sokrat waren der

Unterhaltung aufmerksam gefolgt. Als Atlansie einen nach dem ändern ansah, las er Zu-stimmung in ihren Augen. Sie wußten, waser vorhatte.

»Herr«, meldete Henner-Bak sich zuWort. »Ich...«

»Nenne mich nicht Herr«, unterbrach ihnder Arkonide. »Mein Name ist Atlan.«

»Ich weiß wohl, was du planst«, begannder Älteste von neuem. »Es gibt nur wenigeBewohner von Schatzen, die es in jüngsterZeit gewagt haben, in die Kavernen einzu-dringen. Wenn sie zurückkamen, berichtetensie von fürchterlichen Graugeschöpfen, diesich dort unten herumtrieben, den Vitalsabo-teuren des Grauen Lords. Ich fürchte für eu-

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er Leben, falls ihr in die Tiefe steigt.«Er hielt Atlans forschendem Blick ohne

Mühe stand.»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte er.

»Ich will dir Furcht einflößen, weil ich dichlieber hier bei uns hätte als unten in den Ka-vernen. Das denkst du, nicht wahr? Aber esist nicht so. Wie könnte ich Rittern der TiefeAngst einjagen? Ich sorge mich wirklich umeuer Leben.«

Das war aufrichtig gesprochen.»Ich danke dir, Henner-Bak«, sagte Atlan.

»Aber wenn wir Schatzen gegen den GrauenLord verteidigen wollen, müssen wir aufzwei Ebenen kämpfen. Ihr hier oben, undwir dort unten. Es bleibt uns keine andereWahl. Und nun beschreibe uns bitte die bei-den Zugänge.«

*

Ihre Befürchtung, daß der Graue Lordüberall seine Wächter postiert habe, bewahr-heitete sich nicht. Dafür hatten sie ein ande-res Problem. Sie waren unbehindert durchden Eingang eingedrungen, den Henner-Bakihnen beschrieben hatte. Im Innern des Mo-numents fanden sie ein wahres Labyrinthvon Gängen, Hallen, Kammern, Räumen,Rampen und Korridoren, aber keinen Zu-gang zu den Kavernen. Seit einer halbenStunde waren sie schon unterwegs, und nochimmer wußten sie nicht, wo der Weg in dieTiefe begann.

Die Hallen und Räume, die sie durchquer-ten, waren öd und leer. Außer dem Geräuschihrer Schritte war kein Laut zu hören. DerWirrwarr der Anlage wirkte sinnlos, unddoch mußte er in ferner Vergangenheit ei-nem bestimmten und wohldurchdachtenZweck gedient haben. Niemand errichteteein Bauwerk dieses Umfangs und füllte esmit Räumlichkeiten, ohne eine, bestimmteVorstellung zu haben, wie all dies verwen-det werden sollte.

Als sie wieder einmal, wie schon so oftzuvor, am Eingang eines Antigravschachtsstanden, der nach oben führte, meinte Jen

Salik:»Es kann sein, daß wir die ganze Zeit

über in der falschen Richtung gesucht ha-ben. Vielleicht gibt es auf dieser Ebene kei-nen Zugang nach unten.«

»Die Idee hat etwas für sich«, nickte At-lan. »Wir wollen's versuchen.«

Sie glitten zwanzig Meter weit in die Hö-he und landeten in einer riesigen Halle, diewesentlich heller erleuchtet war als dieRäumlichkeiten, die sie bisher durchstreifthatten. Sie war ebenso kahl und öde wie al-les, was ihnen im Innern des Monumentsbislang zu Gesicht gekommen war; aber imHintergrund zeichnete sich, so hoch wie dasPortal am Dom Kesdschan, der Eingang ei-nes weiteren Antigravschachts ab. DomoSokrat stürmte los.

»Er führt nach unten«, rief er so laut, daßder Boden zitterte.

Atlan und Jen Salik aktivierten die Anti-gravs der TIRUN-Monturen. Vom Rand desSchachtes aus spähte der Arkonide in dieTiefe. Die Helligkeit war homogen, so daßjenseits einer Distanz von einhundert Meternkeine Konturen mehr erkennbar waren. JenSalik unternahm den ersten Versuch. Miteingeschaltetem Antigrav sprang er in denSchacht. Er kam nicht weit. Das Aggregatdes TIRUNS neutralisierte die abwärts be-schleunigende Wirkung des künstlichenSchwerefelds.

»Alles in Ordnung«, nickte der Terraner.»Der Schacht ist in Betrieb.«

Sie sanken in die Tiefe. Der Schacht warvon bedeutendem Umfang. Er besaß einenDurchmesser von zwanzig Metern undmochte früher zum Transport umfangreicherGüter gedient haben. Er erschien grundlos.Am unteren Ausgang erwartete Atlan,Wachposten des Grauen Lords zu finden. Erfragte sich, ob ihnen die Möglichkeit zurVerfügung stand, anders als durch direkteBeobachtung festzustellen, daß sich jemanddurch den Schacht näherte.

Dann aber entwickelten sich die Dingeganz anders, als er es sich vorgestellt hatte.Domo Sokrat manövrierte sich während des

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Schwebens in waagrechte Position undspähte nach unten.

»Ich sehe die Schachtsohle«, erklärte ermit unterdrückter Stimme. »Niemand inSicht.«

Seine drei Augen waren wesentlich schär-fer als die Sehorgane des Arkoniden oderdes Terraners, selbst das mittlere, das, wie erbehauptete, durch den Einfluß der Tiefe insGelbliche verfärbt worden war.

Es vergingen etliche Minuten, bevor auchAtlan das Ende des Schachts erkannte. Ersah, wie der Haluter sich zusammenkrümm-te. Im Schweben nahm er die typische Lauf-stellung ein, bei der er sich auf den Beinenund dem unteren Armpaar bewegte.

»Keine Unvorsichtigkeit«, warnte der Ar-konide.

»Sie warten auf uns. Ich spüre es«, sagteDomo Sokrat mit dumpfer Stimme.

Die Oberfläche seines Körpers wurdematt. Er hatte die Molekularverdichtungvollzogen. Die Sohle des Schachtes kam nä-her. Der Haluter manövrierte sich in die Nä-he der rückwärtigen Schachtwand. Noch be-vor er den Boden erreicht hatte, schnellte ersich nach vorne. Mit der Geschwindigkeiteines Geschosses fuhr er durch die Schacht-öffnung. Fünf Meter weiter prallte er mitdonnerndem Krach gegen ein massives Hin-dernis. Staub wallte auf, Gesteinsbrockenspritzten nach allen Seiten davon. Das hohleRauschen eines Desintegrators war zu hören.Aber schon hatte Domo Sokrat, vom Auf-prall zurückgeschleudert, einen anderenKurs eingeschlagen. Der Schuß verfehlteihn.

Jen Salik und Atlan stürmten aus demSchacht. Der Terraner sah den kugelförmi-gen Roboter, der inmitten der Staubwolkeschwebte, als ersten. Ein mentaler Befehlgenügte, den Impulsstrahler zu aktivieren,der zum Arsenal der Handgelenkspassen desTIRUNS gehörte.

Instinktiv warf er sich rückwärts und rißdabei den Arkoniden mit sich. Sie stürztenauf den Boden des Schachtes. Draußen gabes einen donnernden, ohrenbetäubenden

Knall. Eine Druckwelle fegte den Staub bei-seite. Metallene Bruchstücke schossen krei-schend am Schachtausgang vorbei und ver-gruben sich klatschend und knirschend insteinerne Wände.

Das dauerte knapp eine Sekunde, dannwurde es still. Atlan richtete sich auf.

»Das war schnell gehandelt und nochschneller gedacht«, sagte er anerkennend.»Ich danke dir, mein Freund.«

Von draußen waren die stampfenden Ge-räusche schwerer Schritte zu hören. DomoSokrats mächtige Gestalt erschien unter derSchachtöffnung. Der Haluter grinste übersganze Gesicht.

»Atlanos, Salikos – ihr seid brauchbareMitkämpfer«, verkündete er mit dröhnenderStimme.

5.

Jetzt, nachdem der Schmutz und derQualm sich verzogen hatten, sahen sie, daßder Schacht auf einen tunnelähnlichen Kor-ridor mündete, der zur rechten Hand nachwenigen Metern vor einer glatten Wand en-dete, zur linken jedoch sich mit sanfter Ab-wärtsneigung fortsetzte, so weit das Augereichte. Die Beleuchtung des Tunnels kamaus großen, lumineszenten Platten, die Be-standteile der Decke bildeten.

Sie drangen einen halben Kilometer weitvor, Domo Sokrat an der Spitze. Sie sahenschon von weitem, daß die Kette der Leucht-körper plötzlich abbrach und der weitereVerlauf des Tunnels durch pechschwarzeFinsternis führte. Als sie den Punkt erreich-ten, an dem über ihnen die letzte Lumines-zenzplatte strahlte, wurden sie gewahr, daßhier nicht nur die Beleuchtung, sondern auchder Ausbau des Tunnels endete. Was vor ih-nen lag, war ein weiter, finsterer Stollen,dessen Wände, Decke und Boden aus nack-tem, unbehauenem Felsgestein bestanden.

Während Atlan und Jen Salik zurückblie-ben, drang Domo Sokrat in den Felsgangvor. Seine empfindlichen Augen waren bes-ser dazu geeignet, mit den winzigen Beträ-

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gen Restlicht zu arbeiten, die in der Tiefedes Stollens von den Leuchtkörpern desTunnels noch blieben. Er war lange unter-wegs. Atlan wurde allmählich unruhig, datauchte die massige Gestalt des Haluters ausder Dunkelheit auf. Es fiel auf, daß Sokrat,anstatt seine übliche, stampfende Gangartanzuschlagen, sich nahezu geräuschlos be-wegte.

»Ich spüre es.« Selbst sein Flüstern klangnoch wie eine rasche Folge von Sturmböen.»Ich kann Grauleben über Meilen hinwegriechen. Sie sind dort vor uns, auf dem Wegzum Vitalenergiespeicher. Weit in der Fernesehe ich einen goldenen Funken. Dort müs-sen sie sein.«

»Wer?« fragte Jen Salik.»Lord Mhuthans Vitalsaboteure.«Durch einen Gedankenbefehl aktivierte

Atlan die Leuchtkörper des TIRUNS. Er tratein Dutzend Schritte weit in den Stollen hin-ein. Die Wände bestanden aus rauem Fels.Keine Spur der Flechten- und Rankenvege-tation, die in den Kavernen unter der StadtStarsen so verbreitet war, zeigte sich hier.Durch diesen Gang mußte noch bis vor kur-zem Vitalenergie geflossen sein.

»Kommt«, sagte er kurz.Unterwegs zog er den Zellaktivator her-

vor. Er strahlte in derart intensivem Glanz,wie er es seit den Höhlen von Starsen nichtmehr erlebt hatte. Kein Zweifel: Sie befan-den sich inmitten der Grauzone. Durch die-sen Stollen floß keine Spur von Vitalenergiemehr, obwohl der große Aktivator nicht weitentfernt sein konnte.

Eine Viertelstunde lang drangen sie unge-hindert vor. Der Stollen wurde allmählichniedriger und enger. Domo Sokrat bliebplötzlich stehen; man hörte es an dem schar-renden Geräusch, das seine zyklopischenFüße auf dem unebenen Boden verursach-ten.

»Mach das Licht aus, Atlanos«, sagte er.»Wir sind nahe genug, daß auch eure Augenden Glanz sehen können.«

Der Arkonide tat, wie er geheißen war. Imersten Augenblick erschien ihm die Finster-

nis ebenso vollkommen wie zuvor. Aberdann, als die Augen sich an den Lichtmangelgewöhnten, glaubte er, in der Ferne einenwinzigen Funken Helligkeit zu erkennen.Der Eindruck verstärkte sich. Ja, da warLicht – warmes, goldenes Licht, das opti-sche Indiz für die Anwesenheit für Vital-energie.

»Weiter«, drängte Atlan.Abermals eine Viertelstunde später ge-

langten sie an eine Stelle, an der der Stollensich abrupt steiler in die Tiefe neigte. Siedrangen noch etliche Dutzend Meter weitervor; dann öffnete sich vor ihren Blicken eineSzene, die ebenso atemberaubend wie ent-setzlich war. Vor ihnen lag eine runde Halle,ein Felsenkessel von mehr als einhundertMetern Durchmesser und dreißig MeternHöhe. In die Wände des Kessels mündetenzahlreiche Stollen so wie der ihre. Ihnen ge-genüber jedoch befand sich die Öffnung ei-nes mächtigen Felsengangs, so hoch, daß siefast bis zur Decke des Kessels hinaufreichte.Der Gang war von leuchtend-goldener Hel-ligkeit erfüllt. Das goldene Licht hätte ausdem Gang herausströmen, den Kessel erfül-len und durch die zahlreichen Stollen davonfließen sollen. Denn das war der ursprüngli-che Zweck der Kavernen: als Leiter der Vi-talenergie zu dienen.

Aber der Kessel lag im Halbdunkel, er-hellt nicht von dem goldenen Licht selbst,sondern nur von seinem Widerschein, deraus dem Felsengang hervorsickerte – ja,sickerte, denn man sah deutlich, daß dortdrüben etwas am Werk war, den Strom gol-dener Helligkeit abzudämmen, ihn in sichaufzusaugen.

Das war das Entsetzliche an der Szene.

*

Sie sahen aus wie plattgedrückte Riesen-amöben, graue Fladen, die überall an denWänden, an der Decke und auf dem Bodendes Ganges klebten wie Kalkablagerungenan den Wandungen einer arterioskleroti-schen Ader. Die flachen, amorphen Körper

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pulsierten in hektischem Rhythmus. Wäh-rend sie die Vitalkraft in sich aufsogen,blähten sie sich auf und nahmen vorüberge-hend die Gestalt eines prall aufgeblasenenBallons an. Dann entluden sie sich mit halb-lautem Zischen und sanken in sich zusam-men, ihre ursprüngliche Gestalt wieder an-nehmend.

Das also waren Lord Mhuthans Vitalsabo-teure! Atlan schauderte. Was er vor sich sah,hatte Bedeutung weit über den Rahmen desBeobachtbaren hinaus.

Es war dem Grauen Lord gelungen, Grau-leben zu züchten, das gegen den Einfluß derVitalkraft immun war.

Bisher hatte man zwei Arten von Graule-ben gekannt: das organische, das unter derEinwirkung von Vitalenergie wieder zu Re-alleben wurde, und das synthetische, das un-ter dem Einfluß der Vitalenergie zu Staubzerfiel. In die erstere Kategorie gehörten alleWesen, die von Natur aus die grauen Tiefen-länder bewohnten, zur letzteren rechnetendie künstlichen Geschöpfe der Tiziden, dieRatane, Paladine und wie sie sonst noch hei-ßen mochten.

Hier war etwas völlig Neues. Die Sabo-teure besaßen nicht mehr passive Immunitätgegen die Vitalkraft: Sie konnten sie aktiv insich aufnehmen, in etwas Wertloses verwan-deln und das Wertlose mit leisem Zischenvon sich geben. Wie und nach welchemPrinzip der Umwandlungsprozeß verlief undwelches das Endprodukt war, ließ sich nichterkennen. Es fiel dem logischen Verstandschwer, sich auf das Sachliche zu konzen-trieren, während die Emotion mit der Häß-lichkeit des Bildes zuckender, sich aufblä-hender und wieder, in sich zusammensin-kender Amöbenkörper zu kämpfen hatte. Eswar beileibe nicht die Optik allein, die denEindruck der Widerwärtigkeit vermittelte.Es war, was sich hinter dem Bild verbarg:Hier wurde Vitalenergie vernichtet, wurdedie Umwandlung von Leben in Antilebenbetrieben.

Einem Impuls folgend, wandte Atlan sichan den Haluter.

»Bist du immer noch durch und durchgrau, Sokrates?« fragte er.

Zornig reckte Domo Sokrat den oberenrechten Arm in die Höhe. Zuckend stach einFinger in Richtung der grauen Fladen.

»Das hat nichts mit der Idee Grau zu tun«,grollte er. »Das ist... das ist...« In seinemZorn versagte ihm das Vokabular den Dienst»...das ist das Machwerk eines GrauenLords, den es nach Macht gelüstet.«

Jen Salik war blaß geworden. Aus großenAugen starrte er hinüber auf das unheiligeGewimmel der grauen Fladen.

»Das darf es nicht geben«, murmelte erwie im Selbstgespräch. »Es ist obszön...«

Atlan nickte.»Also laßt uns tun, was zu tun ist«, sagte

er.Sie schritten in den Kessel hinab, durch-

querten ihn zur Hälfte. Die Vitalsaboteurereagierten nicht. Sie waren hochspezialisier-te Kreaturen, ausschließlich darauf ge-trimmt, Vitalenergie zu zerstören. Sie warenwehrlos. Lord Mhuthan hatte nicht damit ge-rechnet, daß es je einer wagen würde, sichihnen in den Weg zu stellen.

Aus vierzig Metern Entfernung eröffnetenAtlan und Jen Salik das Feuer. Unter demEinfluß der nadelfeinen Impulsstrahlen bläh-ten die grauen Fladen sich auf. Ihrem ein-gleisigen Verstand mochte es erscheinen, dieEnergie der Strahler sei weiter nichts als ei-ne andere Form der Vitalkraft. Aber das,was jetzt auf sie einströmte, konnten sienicht auf die gewohnte Weise abblasen. IhreKörper wuchsen, bis sie den Felsengangvollständig ausfüllten und einander behin-derten.

Dann zerplatzten sie mit dumpfem Knall,ein Saboteur nach dem anderen. Die Explo-sion zerriß sie in Tausende und aber Tausen-de von Fragmenten grauer, synthetischerKörpersubstanz. Und jetzt, da der überspe-zialisierte Verstand nicht mehr funktionierte,forderte das Gesetz der Wechselwirkungzwischen Real- und Grauleben sein Recht:Die Bruchstücke und Fetzen der Saboteur-körper verwandelten sich zu Staub.

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Der Vorgang hatte nicht mehr als zweiMinuten in Anspruch genommen. Nunmehrunbehindert, flutete das goldene Leuchtender Vitalenergie in den Kessel, füllte ihn mitblendender Helligkeit und strömte in dieStollen, die Finsternis verdrängend.

Atlan sah sich um.»Das ist gut«, sagte er befriedigt. »Das

sollten sie oben spüren.«

*

»Was ist das?« fragte Henner verwundert.»Ich fühle mich plötzlich um Jahrzehnte jün-ger.«

Bak, der Zyrmii, bildete einen Pseudo-mund und sagte:

»Alles Einbildung. Eine Reaktion desKörpers, der weiß, daß er das Ende diesesTiefenjahrs nicht mehr erleben wird.«

»Oh, du siehst alles viel zu trübe«, klagteHenner. »Ich bin überzeugt, daß in den jüng-sten Minuten der Strom an Vitalenergie, deraus den Kavernen kommt, sich vervielfachthat.«

Bak fuhr seine Stielaugen so weit wiemöglich aus und sah sich um. Er konntenicht leugnen, daß sich die Archivare, diesich in seinem Blickkreis befanden, eine Artvermehrter Vitalität bemächtigt hatte. Siebewegten sich rascher, ihre Augen blicktenheller – ja, er selbst spürte sogar, wie ihmvon Sekunde zu Sekunde wohler zumutewurde.

»Wahrscheinlich hast du recht«, murmelteer und ließ den Pseudomund verschwinden.Vorerst hatte er nichts mehr zu sagen.

Die Rückrufaktion war in vollem Gang.In der riesigen Halle sammelten sich dieMuseumshüter, die aus den übrigen Berei-chen des Museums zusammengerufen wor-den waren. Es herrschte allgemeiner Opti-mismus. Es hatte sich herumgesprochen, daßdrei Ritter der Tiefe angekommen waren.Die Details waren unklar; aber alle, Alester-wanen wie Zyrmii, waren davon überzeugt,daß es mit der Not, die der Graue Lord her-aufbeschworen hatte, nun bald ein Ende ha-

ben würde.Henner-Bak stand in der Nähe des Kon-

trollpults. Die altmodischen Videogerätezeigten stets dasselbe Bild: Draußen rührtesich nichts. Es war über eine Stunde her, seitdie beiden Ritter der Tiefe in Begleitung desHaluters das Spiralmonument betreten hat-ten. Noch vor wenigen Minuten hatte sichder Älteste um ihr Schicksal gesorgt. Jetztaber, mit dem vermehrten Zufluß an Vital-kraft, waren seine Sorgen wie weggewischt.

Er wollte sich abwenden, als unmittelbarneben ihm die Luft zu flimmern begann. Er-schrocken trat er zwei Schritte beiseite undbeobachtete, wie das Flimmern Gestalt an-nahm. Die Luft schien sich zu verdichtenund formte zwei Körper. Fassungslosigkeitmischte sich mit Erleichterung, als Henner-Bak Twirl, den jungen Abaker, und den ineine bernsteingelbe Montur gekleideten Rit-ter der Tiefe erkannte, der sich Lethos-Terakdschan nannte.

»Heilige Tiefenkonstante!« stieß der Altemit Mühe hervor. »Müßt ihr mich so er-schrecken?«

»Sei froh, daß wir so bald wieder zurücksind«, lachte Twirl. Seine Augen leuchteten.»Es war nicht ungefährlich. Korzbranchwird von grauen Truppen ringsum belagert.Vorläufig aber wehren sich die Kolonistennoch erfolgreich.«

Henner-Bak musterte den Jungen auf-merksam. Er wirkte wesentlich lebendiger,als er ihn in Erinnerung hatte. Seine braunenAugen hatten einen goldenen Schimmer an-genommen. Henner-Bak erschauderte. Wardas reine, konzentrierte Vitalkraft, die ausdem Blick des jungen Abakers strahlte?

Das Tabernakel von Holt, das die vergan-gene Stunde ruhig in der Nische einesgroßen Maschinenaggregats zugebracht hat-te, schwebte herbei.

»Ich spüre die Kraft, die in dir steckt, Jun-ge«, sagte die Stimme aus dem schwarzenKasten. »Geh an die Arbeit, denn noch istder Graue Lord nicht geschlagen.«

»Sofort«, rief Twirl begeistert.»Ihr habt die Maschinen ausgesucht, mit

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denen ihr die grauen Truppen angreifenwollt?« erkundigte sich Lethos-Terakdschan.

»Das haben wir«, bestätigte Henner-Bak.Er winkte einen jüngeren Archivar herbei.»Mari-Les«, sprach er zu ihm, »du kennstunsere Beschlüsse. Zeig du dem Jungen dieWaffen und Geräte, die wir einsetzen wol-len. Er wird sie für uns aus ihrem psioni-schen Mantel befreien.«

»Geh mit ihm«, antwortete Tengri Lethosauf Twirls fragenden Blick. »Und verlierkeine Zeit« Das Tabernakel hatte sich inzwi-schen wieder in die Nische zurückgezogen.Lethos-Terakdschan erkundigte sich nachden Gefährten, und Henner-Bak erstatteteihm knappen Bericht. Viel wußte er in derTat nicht. Er hatte Atlan, Salik und Sokratim Innern des Spiralmonuments verschwin-den sehen; das war alles. Der Hathor schick-te seine Gedanken auf die Reise. Er versuch-te, mentalen Kontakt aufzunehmen; aberkeiner der drei meldete sich. Das beunruhig-te ihn. Es bestand kein wirklicher Anlaß zurSorge; es gab Hunderte von Dingen, die ei-ner Verbindung auf mentaler Ebene im We-ge stehen mochten. Aber es lag ihm daran,Atlan zu informieren, daß der Angriff aufLord Mhuthans Streitkräfte in Kürze begin-nen werde. Er war sicher, daß eine solcheNachricht die Zuversicht des Arkoniden be-flügeln würde.

Mari-Les und Twirl kehrten zurück. DieAugen des Jungen strahlten nach wie vor. Eswar offenbar, daß er nur einen geringenBruchteil der Lebenskraft, die er am Licht-teich in Korzbranch getankt hatte, auf dieAktivierung der konservierten Waffen undGeräte hatte verwenden müssen.

»Es ist soweit«, verkündete er mit heller,triumphierender Stimme.

Henner-Bak griff nach einem der Mikro-fone, mit denen das Kontrollpult ausgestattetwar. Donnernd dröhnten seine Worte durchdie riesige Halle.

»Hört mich alle! Der Augenblick der Tatist gekommen. Uns stehen Waffen zur Ver-fügung, wie sie das Tiefenland seit vielen

Jahrtausenden nicht mehr gesehen hat. Drau-ßen lagern Hunderttausende von Truppendes Grauen Lords, der gekommen ist, umsich das Land Schatzen zu unterwerfen. IhrAuserwählten wißt, was von euch verlangtwird. Wir sind keine Krieger, habe ich demRitter der Tiefe gesagt. Seine Antwort werdeich nie vergessen. Krieger, sägte er, brauchtihr nur auf kurze Zeit zu sein; unterdrücktwäret ihr für ewig.

An die Arbeit, ihr Kuratoren! Das Tiefen-land soll erfahren, daß die Bewohner vonSchatzen sich zu wehren wissen.«

Er trat näher an das Pult und betätigtemehrere Schalter. In der Höhe begann dasDach der Halle zur Seite zu weichen.

*

Sie folgten dem hohen Felsengang. Es be-stand kein Zweifel daran, daß er unmittelbarzu dem großen Lebenskraftspeicher führte,dessen Aufgabe es ursprünglich gewesenwar, das Land Schatzen mit Vitalenergie zuversorgen.

»Ich frage mich, ob Lord Mhuthan so weitvorgedrungen sein kann«, sagte Jen Salikunterwegs. »Er ist organisches Grauleben.Die Vitalkraft müßte ihn längst in Reallebenzurückverwandelt haben.«

»Unterschätze die Grauen Lords nicht«,antwortete der Arkonide. »Sie können wei-taus mehr Vitalenergie vertragen als ihreGeschöpfe. Erinnere dich an den Fittestender Geriokratie und an den Fratervorsteher,die viele Tiefenjahre lang mitten in einervon Vitalkraft erfüllten Zone lebten. Ich binsicher, daß wir den Lord noch vor uns ha-ben. Allerdings werden in seiner Begleitungkeine Paladine sein; die wären längst zuStaub zerfallen. Wahrscheinlich besteht seinGefolge aus Robotern – und einer Armeevon Vitalsaboteuren.«

Der Gang senkte sich in die Tiefe Er wur-de breiter. In den Wänden zur Rechten undzur Linken befanden sich zahlreiche finstereStollenmündungen. Niemand schenkte ihnenBeachtung. Der Anblick, der sich ihnen auf

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dem Grund des Stollens bot, war viel zugroßartig, als daß er auch nur die geringsteAblenkung neben sich geduldet hätte.

Ja – das war der große Vitalenergiespei-cher, ein ellipsoides Gebilde von einem Ki-lometer Höhe, eingebettet in eine Höhle, de-ren Ausmaße wahrhaft gigantisch waren.Das riesige Ei erstrahlte in intensivem, gol-denem Glanz. Majestätisch ragte es fast biszum Zenit der Höhlung empor – ein zeitlo-ses Produkt einer längst vergangenen Ära.

Vergiß die Seitenstollen nicht.Die Warnung des Logiksektors war hart

und kompromißlos. Atlan wandte den Blick.Was störte ihn an den dunklen Stollenmün-dungen, die er zuvor so geflissentlich über-sehen hatte?

Daß sie dunkel sind!Der Gedanke hatte sich kaum in seinem

Bewußtsein festgesetzt, als es aus den finste-ren Stollenmündungen hervorzuquellen be-gann: Scharen von Robotern aller Formen,schwebend, gleitend, auf Laufketten rollend,zu Fuß. Der Graue Lord hatte sein ganzeskybernetisches Arsenal aufgeboten. Atlanaktivierte instinktiv seinen Individualschirm;aber binnen einer Sekunde erkannte er, daßer auch damit der kombinierten Feuerkraftder Robottruppen nicht würde standhaltenkönnen. Aus mehr als acht Stollen kamen siehervor, Hunderte, und jetzt war ihm auchklar, was der Logiksektor ihm hatte mittei-len wollen. Wie konnte es hier, in unmittel-barer Nähe des Vitalenergiespeichers, finste-re Gänge geben? Hätte nicht alles vom gol-denen Leuchten der Lebenskraft erfüllt seinmüssen?

Die Roboter bildeten einen Ring um diedrei Eindringlinge. Sie standen oder schweb-ten mehrere Reihen tief gestaffelt. DomoSokrat gab ein drohendes Knurren von sich.

»Immer mit der Ruhe, Sokrates«, warnteAtlan. »Gegen diese Übermacht richten wirnichts aus.«

Im Wall der Roboter bildete sich eineLücke. Atlan stutzte. Bildete er es sich ein,oder war es wirklich so, daß dort, wo dieGasse sich bildete, das goldene Feuer der

Vitalenergie trüber wurde?Die Antwort ließ nicht lange auf sich war-

ten. Eine Schar grauer Fladen drängte sichdurch die Mauer der Roboter. Wellenförmi-ge, rhythmische Zuckungen bewegten dieflachen Körper vorwärts. Die Roboter wi-chen ein paar Meter zurück. Die Fladen be-gannen, einen engen Kreis zu bilden, undtatsächlich: Innerhalb des Kreises war diegoldene Helligkeit der Vitalenergie nur nochein düsteres Flimmern.

Das war es also. Die Seitengänge warenvon Vitalsaboteuren besetzt.

Deswegen erschienen die Stollenmündun-gen finster, wo sie eigentlich doch vom gol-denen Licht der Lebenskraft hätten durchflu-tet sein müssen. Atlan schalt sich einen Nar-ren, daß er auf diesen Umstand nicht recht-zeitig geachtet hatte.

Der Kreis der grauen Fladen hatte sichnoch nicht ganz geschlossen, da erschien un-ter dem Ausgang des Stollens, aus dem dieSaboteure hervorgequollen waren, einehochgewachsene Gestalt. Sie wirkte huma-noid; aber sicher konnte man seiner Sachenicht sein. Denn der Hochgewachsene warin eine graue Kutte gehüllt, die seinen Kör-per von Kopf bis Fuß bedeckte. Die Arme –falls er tatsächlich Arme hatte – steckten inweiten, faltigen Ärmeln. Eine Kapuze warso weit über den Schädel gezogen, daß sichdas Gesicht nicht erkennen ließ. Nur eineFläche von ungewissem Grau war zu sehen,in der ab und zu ein Lichtreflex aufzuleuch-ten schien.

Das kann nur Lord Mhuthan sein, erklärteAtlans Extrasinn. Interessiert, im Augen-blick kaum noch an die eigene Notlage den-kend, sah der Arkonide zu, wie LordMhuthan sich inmitten des Kreises der Fla-den postierte und wie der Kreis sich hinterihm schloß.

»Habe ich euch also endlich«, drang esdumpf unter der weiten Kapuze hervor.»Lange genug habe ich darauf warten müs-sen.«

»Du hattest uns schon einmal, erinnerstdu dich?« sagte Jen Salik. »Wir sind Ritter

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der Tiefe. Du kannst uns nicht halten.«»Das ist ein Fehlschluß«, antwortete der

Graue Lord, hörbar amüsiert. »Wer hindertemich daran, meinen Robotern den Schießbe-fehl zu geben? Ihr wäret in Sekundenschnel-le zu kleinen Aschehäuflein verwandelt.«

»Und nach uns kämen andere«, sagte At-lan. »Das Tiefenland muß gerettet werden,vor dir und deinesgleichen. Das ist der Willeder Kosmokraten, Was wäre aber der Ehr-geiz eines kleinen, armseligen GrauenLords, daß er sich gegen den Willen derKosmokraten stellen könnte?«

Es fuhr wie ein Ruck durch die ver-mummte Gestalt.

»Schweig, du... du... unwissender Abge-sandter aus dem Hochland!« donnerte es un-ter der Kapuze hervor. »Weißt du etwa, wieweit meine Vorbereitungen schon gediehensind? Ich habe das Land Mhuthan unter-jocht. Ich bin im Begriff, das Land Schatzenmeinem Herrschaftsbereich einzuverleiben.Mit Schatzen fallen die Artefakte der Raum-Zeit-Ingenieure in meine Hand. Niemandwird mich mehr übertreffen können. Ichwerde unter den Grauen Lords der erste sein.Das ganze Tiefenland wird mir gehören.Und die Raum-Zeit-Ingenieure werden mirnicht länger widerstehen können.«

»Das bildest du dir ein, grauer Wicht«,antwortete Atlan. Seine Absicht war es,Lord Mhuthan aus der Reserve zu locken,und bisher hatte er damit Erfolg. »Es gibtmächtigere Kräfte als die deinen, die auf derSeite der Ingenieure stehen.«

»Ist das so? Und welche sollten dassein?« Die Stimme, die unter der grauen Ka-puze hervordrang, hatte einen fast hysteri-schen Klang angenommen. »Ich sage dir,wie die Dinge stehen. Die Grauen Lords ha-ben sich im Land Ni versammelt, das dieLichtebene der Raum-Zeit-Ingenieure ein-schließt. Die Lords stehen zum Angriff be-reit. Es gibt der Ingenieure nur noch wenige.Sie sind schwach und haben keine Kraft,sich zu wehren. Laß mich mit den Waffen,die ich in Schatzen erbeute, ins Land Ni vor-dringen, und die Stunde der Raum-

Zeit-Ingenieure hat endgültig geschlagen.«Atlan verzog das Gesicht zu einem ge-

ringschätzigen Lächeln.»Die Stunde der Ingenieure schlägt, wenn

die Kosmokraten es entscheiden«, sagte er.»Mittlerweile, sehe ich, hast du es nicht ein-mal fertiggebracht, den Vitalenergiespeichervon Schatzen unter deine Kontrolle zu brin-gen. Was ist? Versagen deine Vitalsaboteu-re?«

»Sie sind gegen Vitalkraft bis zu einer ge-wissen Konzentration gefeit«, antwortete derGraue Lord mühsam beherrscht. »Noch istdie Dichte der Vitalenergie in dieser Höhlezu groß. Aber sorge dich nicht, Ritter. Eineganze Armee von Saboteuren ist damit be-schäftigt, den Zustrom von Vitalenergie vomVagenda zu unterbinden. Sobald das gelingt,ist Schatzen mein!«

»Gib dich keinen falschen Hoffnungenhin«, sagte Atlan geringschätzig. »Es wirddir nicht gelingen.«

Die graue Gestalt ruckte in die Höhe.»Ihr habt den Tod verdient!« gellte es un-

ter der Kapuze hervor. »Roboter ...«Er wurde unterbrochen. Aus dem Hinter-

grund schwebte eine mattgraue Kugel heran.Schon von weitem verkündete sie mit me-chanischer Stimme:

»Eine wichtige Meldung für Seine Lord-schaft. Eine wichtige Meldung ...«

Lord Mhuthan wandte sich zur Seite. DasSpiel der Reflexe unter der finsteren Kapuzewurde intensiver. Ahnte der Graue Lord indiesem Augenblick, daß eine Nachricht, dieihn zu dieser Stunde erreichte, nur schlech-ten Inhalts sein konnte?

»Hör auf zu schreien«, donnerte er. »Ichbin hier. Gib deine Meldung ab.«

Zwei Meter vor Lord Mhuthan hielt derkugelförmige Robotbote an. Sein Durchmes-ser betrug 30cm. Die graue Metalloberflächewar glatt und ungegliedert.

»Sprich!« schrie der Graue Lord unbe-herrscht.

»Die Archivare haben deine Truppen an-gegriffen, o Lord«, begann der Bote. »Siebesitzen mächtige Waffen, gegen die die Ra-

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tane und Paladine nichts ausrichten können.Deine Armee ist zerschlagen, o Lord. Wasnoch übrig ist, irrt ziellos im Gelände um-her.«

Einige Sekunden lang war es totenstill amFuß der Rampe, die in die große Höhle desVitalenergiespeichers führte. Es war, alsempfänden selbst die Roboter das Nieder-schmetternde der Botschaft, die der GraueLord soeben erhalten hatte.

In die Stille hinein sagte Atlan:»Da hast du es, kleiner Grauling. Du bist

in Wirklichkeit nicht halb so mächtig, wiedu es dir immer einbildetest.«

Es irrlichterte auf der grauen Fläche, hin-ter der sich das Gesicht des Lords Mhuthanverbarg.

»Und wenn es so wäre, verdammter Rit-ter«, grollte er. »Was hättest du davon? Obmir Sieg oder Niederlage beschieden ist – duund deine Kumpane werden es nicht mehrerfahren.« Er richtete sich hoch auf. SeineStimme dröhnte bis in den hintersten Winkelder großen Höhle, als er in unbeherrschterWut schrie: »Roboter, diese Kreaturen sindauf der Stelle...«

Abermals wurde er unterbrochen. Eingreller Blitz zuckte durch den Felsengang.Die Fladenkörper der Vitalsaboteure, dieden Grauen Lord umringten, bäumten sichauf. Voller Staunen sah Atlan, wie sie sichzu kleinen Kugeln verformten, kaum so großwie zwei Fäuste, und wie die Kugeln zu zer-bröckeln begannen.

Aus dem Hintergrund schallte eine helle,triumphierende Stimme:

»Habt keine Angst! Der Graue Lord kanneuch nichts anhaben.«

*

Es war ein Schlachten, keine Schlacht.Das mächtige Heer war wehrlos. So fest

hatte Lord Mhuthan an den Erfolg seinesUnternehmens geglaubt, daß es ihm nichtnötig erschienen war, seiner Armee Anwei-sungen für den Notfall zu hinterlassen. DieTruppe wußte nicht, wie sie reagieren sollte,

als sie von den Archivaren angegriffen wur-de.

Eine halbe Stunde lang rollte der Donnerder Explosionen über das Land, unaufhör-lich, erbarmungslos. Der Blitz einer jedenDetonation bedeutete das Ende einer Ratan-gruppe. Schnelle, wendige Fahrzeuge jagtendie in der Höhe kreisenden Verbände undvernichteten sie mit Intervallgeschützen undhochbrisanten Raketen. Den Paladinen – underst recht den Ratanen – fehlte die Initiative.Sie waren Zombies, organische Roboter miteinem Computer anstelle eines Bewußtseins.Für eine Situation wie diese waren sie nichtprogrammiert.

Der einzige Instinkt, den sie besaßen –auch dieser nur ein Surrogat – war derSelbsterhaltungstrieb. Dieser gebot ihnenschließlich, das Heil in der Flucht zu suchen.Noch waren sie nicht gefährdet Noch lagSchatzen zum größten Teil unter dem Banndes Graueinflusses. Aber wehe ihnen, wennes den Verteidigern gelang, Lord Mhuthanendgültig zu schlagen und sich von derGraukraft zu befreien. Sie würden die Gren-ze des Landes Schatzen nicht erreichen, son-dern unterwegs zu Staub zerfallen.

Die siegreichen Kämpfer kehrten zurück.Wer erwartet hatte, sie stolz und voller Tri-umph zu sehen, der wurde enttäuscht. Siehatten getötet. Gewiß, es waren synthetischeGeschöpfe ohne Eigenbewußtsein gewesen,die sie vernichtet hatten. Aber sie wußten,daß jeder Ratan, jeder Paladin den Schmerzdes Todes gespürt hatte, als die Bombe ex-plodierte, die Rakete oder der gebündelteEnergiestrahl der Impulskanone ihn traf.

Henner-Bak, der Älteste, war an der Spit-ze der Auserwählten gegen die in der Luftkreisenden Truppen geflogen. Er landetesein Fluggerät behutsam an derselben Stelle,die es während Tausender von Tiefenjahreneingenommen hatte. Als er müde und mitfahrigen Bewegungen aus dem Cockpit derMaschine kletterte, wirkte er eher wie einer,der soeben eine entscheidende Schlacht ver-loren hat.

Twirl und der Hathor hatten den Verlauf

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des Kampfes auf den Videogeräten desKommandopults verfolgt. Der Alte trat aufsie zu.

»Wenn ich gewußt hätte, was es bedeutet,ein Krieger zu sein«, sagte er niedergeschla-gen, »ich hätte dem Grauen Lord das Muse-um auf einem Teller serviert.«

»So fühlst du jetzt«, antwortete Lethos-Terakdschan. »Laß dem Verstand Zeit, alleszu begreifen. Warte, bis du die Tragweiteeures Sieges überschaust. Dann bilde dir einUrteil. Im übrigen geht es nicht nur um dasMuseum. Die Schlacht, die ihr geschlagenhabt, kommt dem ganzen Land Schatzen zu-gute.«

Henner-Bak schloß die Augen. Einen Au-genblick lang stand er reglos, ein Bild derTrauer und der Verzweiflung. Die riesigeHalle war erfüllt vom Summen und Brum-men der Geräte, die an ihre ursprünglichenStandorte zurückkehrten. Annähernd zwei-tausend Archivare, die meisten von ihnenFlüchtlinge aus benachbarten Museen, ver-folgten in stummer Ehrfurcht die Manöverder Produkte einer uralten Technik, mit de-ren Hilfe es gelungen war, das graue Heerdes Lords Mhuthan zu vertreiben.

Twirl fuhr plötzlich auf. Sein Blick wurdedüster; das goldene Leuchten erlosch.

»Gefahr!« stieß er hervor. »Sie sind inGefahr – dort unten, in der Nähe des Spei-chers. Lord Mhuthan will sie töten. Ich mußhelfen...«

Ehe der Hathor darauf reagieren konnte,war Twirl entmaterialisiert. Bei dem mattenKnall, den sein Verschwinden verursachte,öffnete Henner-Bak die Augen.

»Was ist jetzt schon wieder?« fragte ermüde.

*

Es ist eigenartig, wie der Verstand der or-ganischen Intelligenz funktioniert. Er ist im-stande, Dutzende, ja Hunderte von verschie-denen Eindrücken gleichzeitig aufzunehmenund sie später, wenn er Muße hat, auseinan-der zu sortieren und in logischer Folge an-

einander zu reihen. So schafft er sich nach-träglich ein Bild des Chaos, das im Augen-blick des Geschehens völlig unüberschaubarwar.

Es ging alles viel zu schnell. Domo Sokratstieß einen gellenden Schrei aus, der dieWände des Felsgangs erzittern ließ. Dannstürzte er sich auf die Roboter. KlirrendesMetall kündete von der Wucht seines An-griffs. Atlan hatte sich herumgeworfen. Weithinten im Gang sah er die gedrungene Ge-stalt des jungen Abakers. Sie war in einegoldene Aura gehüllt, deren Glanz den Wi-derschein der Vitalenergie mühelos übertraf.Im Hintergrund seines Bewußtseins nahmAtlan zur Kenntnis, daß Twirl selbst zu einermächtigen Quelle der Vitalkraft gewordenwar – so mächtig, daß selbst Lord MhuthansSaboteure ihm nicht hatten widerstehen kön-nen. Sie waren zu Staub zerfallen. DerKreis, der den Grauen Lord gegen den Ein-fluß der Lebenskraft geschützt hatte, warzerstört.

Roboter drangen auf ihn ein. Sie konntenihre Waffen nicht gebrauchen, weil jederFehlschuß Lord Mhuthan gefährdet hätte.Atlan dagegen hatte keine solchen Beden-ken. Blitze sprühten aus den Handge-lenkspassen des TIRUNS. Eine Maschinenach der anderen sank zerstört zu Boden:Seite an Seite mit dem Arkoniden kämpfteJen Salik. Unablässig fauchten und sprühtenseine Waffen. Ein Wall funktionsunfähigerRoboter baute sich vor ihm auf.

Allmählich schafften sie sich Luft. In ih-rem Rücken hatte Domo Sokrat eine Scharvon Robotern in einen Schrotthaufen ver-wandelt. Es bestand kaum mehr Gefahr.Aber was war inzwischen aus dem GrauenLord geworden? Atlan warf sich herum. Imselben Augenblick gellte Twirls Schrei:

»Paßt auf, was jetzt geschieht!«Ein zweiter Blitz, weitaus greller als der

erste, zuckte durch den Felsengang. EinenAtemzug lang war die Szene in sonnenglei-che Helligkeit getaucht, die in den Augenschmerzte. Atlan sah die hochaufragendeGestalt des Grauen Lords unmittelbar vor

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sich, kaum drei Schritte entfernt. Die weite,faltenreiche Kutte wurde durchsichtig, siezerfiel. Für den Bruchteil einer Sekunde warLord Mhuthan eine leuchtende Erscheinungmit humanoiden Umrissen.

Der Blitz, die spukhafte Leuchtgestalt –das kam und ging so schnell, daß der Ver-stand sich auf die Eindrücke, die das Augeihm übermittelte, nicht verlassen konnte. At-lan wich zur Seite, als der letzte noch intakteRoboter an ihm vorbeidonnerte, mit demvorprogrammierten Instinkt seines positroni-schen Bewußtseins nur noch auf die Erhal-tung seiner selbst bedacht. Die blechernenGeräusche seines Kettenantriebs holpertendie Rampe hinauf, wurden leiser, erstarben...

Benommen sah der Arkonide sich um.Lord Mhuthan war verschwunden. Jenseitsdes Roboterschutthaufens stand Twirl, einlustiges Grinsen auf dem Gesicht und eingoldenes Funkeln in den Augen. Auf der an-deren Seite kauerte Domo Sokrat, erschöpftvon dem berserkerhaften Wutausbruch, dermehr als zwanzig Robotern das mechanischeLeben gekostet hatte. Jen Salik stand mithängenden Schultern, als sei ihm soeben diegrößte Enttäuschung seines Lebens wider-fahren.

»Er ist fort«, murmelte er.»Habe ich das wirklich gesehen?« fragte

Atlan verwundert.»Du hast es gesehen«, nickte der Terra-

ner. »Plötzlich war die graue Kutte ver-schwunden. Er leuchtete von innen heraus,und seine Gestalt war humanoid.« Ein mat-tes Lächeln huschte über Saliks Gesicht.»Ausgesprochen imposant war er anzuse-hen, muß ich sagen.«

Twirl kam herbei. Atlan legte ihm dieHand auf die Schulter.

»Junge, es ist nicht das erstemal, daß wirdir unser Leben verdanken«, sagte er ernst.»Wir stehen tief in deiner Schuld. Ich dankedir!«

»Heh, war das nicht ein Klasseauftritt?«rief Twirl, den solche Worte wie üblich inVerlegenheit brachten. »Die Fahrzeuge undWaffen droben im Museum zu enteisen, ko-

stete nur ganz wenig von der Lebenskraft,die ich am Lichtteich in mich aufgenommenhatte. Es blieb mir noch mehr als genug,zwei Blitze loszulassen, denen selbst derGraue Lord nicht standhalten konnte.«

Er klatschte in alle vier Hände und sprangvon einem Bein auf das andere – ein Kind,das nicht zu erfassen vermochte, daß es so-eben ein halbes Wunder vollbracht hatte.

»Was wird aus dem Grauen Lord?« groll-te Domo Sokrat. »Warum verfolgen wir ihnnicht?«

»Ich nehme an, daß er ein ganzes Arsenalvon Tricks besitzt«, antwortete Atlan. »Erhat sich entweder unsichtbar gemacht oderdie allgemeine Verwirrung benützt, in einender Seitengänge zu verschwinden. Mach dirum ihn keine Sorgen, Sokrates. LordMhuthan ist geschlagen. Wenn er Glück hat,gelingt es ihm, in sein Stammland zurückzu-kehren.«

Die Stollen, die auf die breite Rampemündeten, waren von goldenem Licht er-füllt, seit Twirl die zwei ultrastarken Vital-energieimpulse von sich gegeben hatte. Zu-mindest in diesem Teil des Landes Schatzenwar die Welt wieder in Ordnung. Nachdenk-lich musterte Atlan die kleinen Staubhäuf-chen, die von Lord Mhuthans Vitalsaboteu-ren übriggeblieben waren. Der Lord würdeseine tizidischen Gen-Techniker von neueman die Arbeit schicken müssen. Die Saboteu-re vertrugen zwar mehr Vitalkraft als dieRatane und Paladine; aber von einer gewis-sen Dosis an aufwärts erlosch, auch ihre Wi-derstandskraft.

Der Arkonide sah auf.»Freunde, wir müssen weiter«, sagte er.

»Das Land Schatzen hält uns nicht mehr.Wir haben den Hilferuf des Vagenda zu be-folgen, und zu diesem Zweck müssen wirden Transmitter in Mhuthan aufsuchen.Aber zuvor möchte ich mich von Henner-Bak verabschieden. Twirl, bist du kräftig ge-nug, uns hinaufzubringen?«

Er übersah Jen Saliks verwunderten Blick.»Aber klar«, rief der Junge freudig.

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*

Jubel herrschte in der großen Halle, alsTwirl mit seinen Begleitern dort materiali-sierte. Henner-Bak eilte ihnen entgegen.

»Schatzen ist frei!« rief er. »Überall ha-ben Lord Mhuthans Truppen sich zurückge-zogen. Die Vitalkraft fließt ungehindertdurch die Kavernen. Und all das haben wireuch zu verdanken.«

»Nein«, sagte Atlan. »All das habt ihr ihmzu verdanken.« Er faßte Twirls Hand festerund zog des Jungen Arm in die Höhe. »Erhat die Kavernen mit Vitalenergie geflutet.Vor ihm sind die Saboteure geflohen.«

Henner-Baks Begeisterung kannte keineGrenzen.

»Wir werden ein großes Fest feiern«, riefer. »Ihr sollt erfahren...«

»Ich fürchte«, fiel ihm der Arkonide ernstins Wort, »wir haben keine Zeit, eure Gast-freundschaft zu genießen. Noch ist die Ge-fahr nicht beseitigt. Wir haben eine Schlachtgewonnen, aber der Krieg geht weiter.« SeinBlick ging hinaus durch eines der großenFenster und glitt an den Windungen des Spi-ralmonuments empor. »Was ist aus der Gon-del geworden, die oben auf der Plattformlag?« erkundigte er sich.

»Es ist noch keine zehn Minuten her«,antwortete Henner-Bak eifrig, »da hob siesich plötzlich von ihrem Landeplatz undschoß davon. Wir dachten uns weiter nichtsdabei. Wir nahmen an, ihr hättet den GrauenLord verjagt.«

»Das haben wir wohl«, sagte Atlan nach-denklich, »Ich frage mich nur, wie er soschnell dort hinauf gekommen ist.« Gleichdarauf war er wieder voll bei der Sache.»Ich habe dir zu danken. Du und deine Ar-chivare – ihr wart uns die besten Bundesge-nossen, die wir uns hätten wünschen kön-nen. Als Zeichen unserer Dankbarkeit hin-terlassen wir dir ein Geschenk.«

»Ein Geschenk?« fragte der Älteste ver-wundert. »Wir haben kein Geschenk ver-dient. Wir handelten im eigenen Interessen-

ten kann nicht...«»Du wirst es annehmen müssen«, sagte

Atlan. »Wir können es nämlich nicht mit-nehmen.«

»Was ist es?«»Das kastenförmige Fahrzeug, das dort

draußen auf dem Hof steht. Wir nennen esden Luftbus. Es stammt aus Gluschuw-Nasvedbins Museum.

Vielleicht taucht er eines Tages hier auf,um es dir streitig zu machen.«

Henner verzog den Mund. Ein lustigesGlitzern erschien in seinen Augen.

»Er soll nur kommen«, sagte er. »Ich wer-de ihm eine Geschichte erzählen.« Gleichdarauf wurde er ernst. »Aber ihr?« fragte er.»Wohin wollt ihr, und was für ein Fahrzeugwerdet ihr benützen?«

»Wir führen unsere eigenen Fahrzeugemit uns«, antwortete der Arkonide. »Wirsind auf dem Weg nach Mhuthan – auf ei-nem Weg, den der Graue Lord uns kaumverlegen kann.«

Sein Blick traf den jungen Abaker.»Twirl, noch einmal?« fragte er.»Wann immer du willst«, antwortete der

Junge begeistert. »Wohin?«»Dorthin, woher wir gekommen sind«,

sagte Atlan.»Und ich dachte schon«, murmelte Jen

Salik, »du hattest etwas Wichtiges verges-sen.«

»Hatte er auch«, meldete sich eine munte-re Stimme aus der Hohe. »Was dachtet ihr,ich wollte hier im Zentralmuseum meine al-ten Tage verbringen?«

Salik sah verwirrt auf. Der schwarze Ka-sten des Tabernakels von Holt schwebte her-ab und landete in Twirls Armen.

»Dich meinte ich nicht«, sagte der Terra-ner. »Ich dachte, wir hatten noch eine Ver-abredung...«

*

Die Szene war unverändert, Hier lagendie zertrümmerten Roboter, dort die kleinenStaubhäufchen, die von Lord Mhuthans Vi-

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talsaboteuren übriggeblieben waren. DieRampe und die Stollen zu beiden Seitenleuchteten in ruhigem Goldglanz.

Sie schritten hinab in die mächtige Höhle,in dem der Vitalenergiespeicher stand. Atlantrat vor. Die Gefährten bildeten hinter ihmeinen Halbkreis: Domo Sokrat, Twirl mitdem Tabernakel von Holt in den Armen,Lethos-Terakdschan an seiner Seite, und JenSalik.

Der Arkonide schloß die Augen. Konzen-triert dachte er:

»Wir grüßen dich, Wahrer der Lebens-kraft. Wir sind Ritter der Tiefe. Wir kom-men, um dem Land der Tiefe gegen dieGraukraft beizustehen – und vor allen Din-gen, um dem Vagenda zu helfen.«

Er brauchte auf eine Antwort nicht langezu warten. In seinem Bewußtsein materiali-sierte die Mentalstimme, die aus dem Innerndes riesigen, goldenen Gehäuses kam.

»Ich habe eure Aura verspürt. Ich bin Au-genzeuge, wie ihr mit dem Grauen Lord ver-fahren seid. Rechnet auf meine Dienste.«

»Wir brauchen Informationen«, dachteAtlan. »Wo finden wir das Vagenda?«

»Ich weiß es nicht.«Einfach so, dachte der Arkonide bitter:

Ich weiß es nicht.»Du empfängst Vitalenergie aus der Quel-

le des Vagenda«, begehrte er auf. »Wie kannes sein, daß du nicht weißt, wo wir das Va-genda zu suchen haben?«

»Die Vitalkraft fließt durch Tausende ver-schiedener Kanäle«, kam die Antwort. »Ausihrem Fluß läßt sich auf den Standort desVagenda nicht schließen. Früher in längstvergangener Zeit, hatte ich mentalen Kon-takt mit der Quelle. Aber das liegt Zehntau-sende von Tiefenjahren zurück, Ich kanneuch nicht sagen, in welcher Richtung ihrnach dem Vagenda suchen sollt.«

Atlan ließ sich Zeit zum Nachdenken.Nach einet Halben Minute begann er vonneuem;

»Wir sind auf dem Weg nach Mhuthan«,sagten seine Gedanken. »Wir haben uns ent-schlossen, den Weg durch die Kavernen zuWählen. Dort erwartet der Graue Lord unsnicht. Du stehst mit dem Vitalenergiespei-cher von Mhuthan in Verbindung?«

»Nein.«Atlan öffnete die Augen. Unwillige Ver-

wunderung spiegelte sich in seinen Zügen.»Nein, einfach so?« fragte er laut.»Es gibt keine Verbindung mehr, seit der

Graue Lord das Land Mhuthan unterworfenhat«, materialisierte die Antwort des Riesen-aktivators in seinem Bewußtsein – und inden Bewußtseinen der Gefährten. »Undnoch eines muß ich dir sagen. Ihr habt einengroßen Sieg errungen. Das Land Schatzenist frei von Graueinfluß. Aber auf langeSicht ist Schatzen nur dann gerettet, wenndas Land Mhuthan vom Graueinfluß befreitwird. Solange der Graue Lord nicht endgül-tig beseitigt ist, besteht keine Garantie, daßSchatzen frei bleibt.«

Ein kurzes Rauschen folgte der Serie vonMentalimpulsen. Der Vitalenergiespeicherhatte die Verbindung unterbrochen. Atlanwandte sich um.

»Nicht allzu vielversprechend, wie?« sag-te er sarkastisch.

»Was macht das schon?« rief Twirl.»Wir kommen überall durch.«»Vergeßt nicht, daß ich bei euch bin«,

meldete sich das Tabernakel zu Wort.Atlan nickte.»Vielleicht nimmt mein Pessimismus un-

gerechtfertigterweise überhand«, sagte ernachdenklich. »Vielleicht vergesse ich im-mer wieder, welch prächtige Verbündete ichhabe.«

Schweigen folgte auf seine Worte. EineMinute verstrich. Dann sagte Jen Salik:

»Also – machen wir uns auf den Weg.«

E N D E

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