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Der nerv6se und der psychotische Beziehungskranke. Von Vera und Chariot Strasser (ZUrich). ( Eingegangen am 31. Januar 1923.) Es gibt einen Krankheitsbegriff. Eine derartige Feststellung muB man nur deswegen machen, well in der Psychiutrie und Psychologie noch immer yon l~bergi~ngen und l~bergi~ngen geredet wird. Die Grfinde zu dieser Unentschiedenheit liegen darin, dub man bis jetzt die Kra:k- heiten rein nach detl Symptomen, ja oft nach den Klagen des Kranken diagnostizierte und nicht nach dem Gesamtcharukter, welcher die Symptome und uuch die Klugen nach sich zieht. Die Symptome als solche verwischen sich gar leicht im Anfang jeder psychischen Erkrankung fiir den nicht nach dem Gesamtcharakter, nach der seelischen Grund- konstruktion suchenden Forscher. Wobei unter Grundcharakter und Grundkonstruktion nicht allein eine feste, angeborene Grundlage zu verstehen ist, sondern auch eine bestimmte Kombination der Verwen- dung uller F~higkeiten, fiber die das Individuum verffigt. Bei der Einschatzung der Bedeutung der Symptome miissen sich Psychologen und Psychiater gewissermnl~en yon anderen ~rzten unter- seheiden. Der Arzt fiir kSrperliche Erkrunkungen kann, ja muB sogur im allgemeinen eine Diagnose nach den Symptomen stellen und nicht den GesamtkSrper als Grundlage zur Beurteilung der Krnnkheit an- nehmen -- das kann er tun, wenn es sich um die Therapie und die Prognose handelt --, well sich der Symptomenkomplex bei den kSrper- lichen Erkrankungen mit dem Krankheitsbflde unbedingt deckt. Wi~h- rend bei den psychischen Kranken die Symptome eine periphere Er- seheinung eine Gesamtzustandes, Gesamtcharakters, des seelischen Seins sind. Eine und dieselbe Geis!eskrankheit kann ganz verschiedene Symptome aufweisen. Der eine Geisteskranke kunn Reue zeigen, der andere kann ein reueloser MSrder sein. Der eine kann unendliche Liebe zur Schau tragen (wie H6lderlin in seinem Hyperion oder wie muncher Geisteskranke in seinem religiSsen, das Ich aufl5senden MitflieBen mit der Welt), der andere einen Hag gegen die Welt bis zu der feindseligsten, rohesten, antisozialen Handlung. Bei der Geisteskrankheit und Ner- vositi~t ist nieht das Symptom das Ausschlaggebende, sondern die Qualit~t des Gesamtchurakters, wie er seine F~higkeiten verwendet, die Qualit~t der totalen seelischen Funktionsweise, die einmal diese, einmul

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Der nerv6se und der psychotische Beziehungskranke.

Von Vera und Chariot Strasser (ZUrich).

( Eingegangen am 31. Januar 1923.)

Es gibt einen Krankheitsbegriff. Eine derartige Feststellung muB man nur deswegen machen, well in der Psychiutrie und Psychologie noch immer yon l~bergi~ngen und l~bergi~ngen geredet wird. Die Grfinde zu dieser Unentschiedenheit liegen darin, dub man bis jetzt die Kra:k- heiten rein nach detl Symptomen, ja oft nach den Klagen des Kranken diagnostizierte und nicht nach dem Gesamtcharukter, welcher die Symptome und uuch die Klugen nach sich zieht. Die Symptome als solche verwischen sich gar leicht im Anfang jeder psychischen Erkrankung fiir den nicht nach dem Gesamtcharakter, nach der seelischen Grund- konstruktion suchenden Forscher. Wobei unter Grundcharakter und Grundkonstruktion nicht allein eine feste, angeborene Grundlage zu verstehen ist, sondern auch eine bestimmte Kombination der Verwen- dung uller F~higkeiten, fiber die das Individuum verffigt.

Bei der Einschatzung der Bedeutung der Symptome miissen sich Psychologen und Psychiater gewissermnl~en yon anderen ~rzten unter- seheiden. Der Arzt fiir kSrperliche Erkrunkungen kann, ja muB sogur im allgemeinen eine Diagnose nach den Symptomen stellen und nicht den GesamtkSrper als Grundlage zur Beurteilung der Krnnkheit an- nehmen - - das kann er tun, wenn es sich um die Therapie und die Prognose handelt -- , well sich der Symptomenkomplex bei den kSrper- lichen Erkrankungen mit dem Krankheitsbflde unbedingt deckt. Wi~h- rend bei den psychischen Kranken die Symptome eine periphere Er- seheinung eine Gesamtzustandes, Gesamtcharakters, des seelischen Seins sind. Eine und dieselbe Geis!eskrankheit kann ganz verschiedene Symptome aufweisen. Der eine Geisteskranke kunn Reue zeigen, der andere kann ein reueloser MSrder sein. Der eine kann unendliche Liebe zur Schau tragen (wie H6lderlin in seinem Hyperion oder wie muncher Geisteskranke in seinem religiSsen, das Ich aufl5senden MitflieBen mit der Welt), der andere einen Hag gegen die Welt bis zu der feindseligsten, rohesten, antisozialen Handlung. Bei der Geisteskrankheit und Ner- vositi~t ist nieht das Symptom das Ausschlaggebende, sondern die Qualit~t des Gesamtchurakters, wie er seine F~higkeiten verwendet, die Qualit~t der totalen seelischen Funktionsweise, die einmal diese, einmul

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andere Symptome zeitigt, die nur je nachdem von dem der Krankheit entsprechenden Charaktermechanismus gespeist werden.

Man m6chte an dieser Stelle darauf hinweisen, dab die Psyehiatrie bis heute sich iibrigens auch verhi~ltnism~13ig wenig mit diesen obenge- nannten Symptomen in Form von Charaktereigenschaften beschi~ftigte, sondern dab man beispielsweise nach bestimmten Schulen die Aufmerk- samkeit auf StSrungen yon Affekten, Geftihten und auf den Assoziations- ablauf konzentrierte und naeh ihnen sich einen Wegweiser konstruierte. Allem anderen hat man nur einen beili~ufigen Wert beigelegt. Als ob Affekte, Gefiihle und Assoziationen in der Funktion der Fi~higkeiten an sich und in der Funktion der Eigenschaften nicht inbegriffen wi~ren und nicht vonder h6chsten Entfaltung bis zum vSlligen Darniederliegen der Funktionen von Mensch zu Menseh, yon Kranken zu Kranken, nieht nur bei verschiedenen, sondern bei ein und demselben Kranken abweehsellen. Je naeh dem Ziele und der Ziellosigkeit und tiberhaupt nach der Quantiti~t und Qualiti~t der Ausniitzung aller anwendbaren Fur ktionen modifizieren sich ja die Affekte, Gefiihle und der gesamte Assoziationsablauf.

Da man ohne Demonstration der Kranken nicht restlos beweisen kann und an das Glauben, das in der Wissenschaft viel zu sehr mil~- braucht wurde, nicht appellieren soll, so wird es das beste sei, an ein nieht zweifelhaftes, historiseh erhi~rtetes Beispiel der sch6pferischen De- mentia-praecox~ aus der Weltliteratur zu erinnern. Gerade hier muB erwi~hnt werden, weil es viel zu ersichtlich ist, dag Hdlderlin nicht nur Affektiviti~t zeigte, sondern einer derartigen Affektwirkung fi~hig war, wie sie vielleieht kaum der begabte, um so weniger der gewShnliche Durchschnittssterbliche zustande br~ehte. DaB die Assoziationen des Arztes Aufmerksamkeit fiir die Erkli~rung der Erkrankung nicht so stark absorbieren sollten, zeigen uns die Fi~lle, die im Laufe einer und derselben Stunde yon der gr6Bten, ja sogar der blSdesten Dissoziation bis zu den konzentriertesten, zielvollen Assoziationsreihen alle ~bergi~nge aufweisen. Wieder ist uns Hdlderlin ein sehr interessantes Beispiel fiir die Fi~higkeit der konzentriertesten Assoziationsreihen. Selbstversti~ndlich miissen wir nicht nach dem Psyehotiker unsere Erfahrungen erhi~rten, tier eine Zeitlang hinter den Wi~nden der Irrenanstalt mit ihrer gi~nz- lichen Abgeschlossenheit gerade dieser seiner wichtigsten, ihn in seiner Zusammenhangslosigkeit mit der Welt unterstfitzenden Gefahr ausgesetzt war. Aber auch nicht nach denjenigen F~llen, die nicht nur manifest krank sind, sondern schon der ganzlichen Reduktion ihrer PersSnlichkeit, der funktionellen Demenz unterlagen. Assoziationen, Affekte und Ge- fiihle, wie aueh das sogenannte ,,Unbewugte", sind als Grundlage zum Diagnostizieren der Krankheit eine unzulangliche Quelle. Hier heil~t es umwer ten.

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Wenn es sich bei NervSsen nur um subjektiv und objcktiv unbc*- queme, stSrende Charakterzusammenstellungen, linkische Benutzungen der Eigenschaften im VerhMtnis zu den durchschnittlichen Anforde- rungen an Ich und Welt handeln wfirde, so kSnnte man oft mit Recht sagen, dal~ es schwer zu entscheiden wi~re, was als krank, als gesund, als einfach unfi~hig, als boshaft, gemein, verbrecherisch zu gelten h~tte. Man mSchte bei einer derartigen Auffassung leicht dazu neigcn, alle die yon bestimmten Einheiten des Zusammenlebens abweichendcn Eigenschaften in das Gebiet des Krankhaften zu verweisen. Das ist oft der Konflikt in der Humaniti~tsbreite des Arztcs, wo er alles, was ab- weicht, irrtiimlicherweise ins Krankhafte hineintri~gt, und der Kampf eines anderen Arztes mit ihm, der diese Gefiihligkeit mit Recht in der Wissenschaft nicht zuli~13t oder sonst auch ohne ethische Verpflichtungen, entsprechend einem schwankenden geltenden Rcchte, sich unentschiedeu zeigt. Eine Feststellung des Krankhaften, well es yon irgendeiner kon- struiertcn, geltenden Skala abweicht, wi~re tatsi~chlich schon praktisch unzuli~nglich, wissenschaftlich stSrend, manchem Abnormen selbst nicht erwiinscht, wtirde zu keinen nutzbringenden Resultaten ffihren, sondern hSchstens eine mchr oder weniger humane Einstellung und vielleicht auch das betonte Verantwortlichkeitsgefiihl des einzelnen allen anderen gegenfiber dokumentieren.

Andererseits hat bis jetzt die Psychologic es sich geleistet, nach dem Krankcn den Gesunden zu etikettieren. Die Pathologic wurde ein Hilfsmittel fiir die Erhellung der gesunden Psyche. Wieder einer yon den Kardinalfehlern unserer psychologischen Forschung. Die gesunde Psyche, sogar die des Durchschnittsmensehen, ist dem Leben ent- sprechend immer noch so variabel, da~ der Kranke, auch wenn (,r im Verhi~ltnis zum Gesunden zufi~lligerweise begabter sein sollte, doch auf den Gesunden nach dem Kranken nicht schlieBen li~t. Um- gekehrt aber ist der Gesunde wirklich ein Maitstab, den wir anwenden kSnnen, wenn wir die abweichende krankc Stele zu bestimmen und so- gar zu bemessen uns vornehmen. Jeder Kranke hat seinen gesunden Mal3stab, der einem lebensnotwendigen Fm~ktionsminimum der Existenz an sich entspricht, durchwoben yon individuellen Fi~higkeiten und MSg- lichkeiten. Jeden Kranken kSnnen wir vcrgleichen mit sich selbst, wie er ware, wenn er gesund dastiinde, das heil~t, wenn er in der Wechsel- wirkung mit der Welt seine PersSnlichkeit mindcstens leidlich durch- gesetzt hi~tte und sich in seincm Alltagserleben nicht behindert fiihlte und im weiteren das VermSgen besii]e, als Individual-Ich sich auszu- reihen und fast im namlichen Atemzuge als Sozial-Ich sich einzureihen.

Der Mensch ist ein Wesen, welches vermag, mit Hilfe einer Reihe von F~higkeiten an sich, Beziehungen einzugehen. Vor der Erfahrung be- steht in ihm die MSglichkeit zu dieser Fi~higkeit. Wie die Muskeln ira-

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stande sind, Kri~fte zu entfalten, wie die Sehzellen vor der Empirie auf Licht und Farben eingestellt sind. Jeder Mensch wird zum Menschen unter Menschen, wenn er sich der gebotenen Beziehungen mit richtigen Griffen, mit richtiger, wenn auch unwissentlicher Methode, mit einer dem Leben entsprechenden Art und Weise und nicllt mit einer ein- schr~inkenden Technik bedient. Jeder versueht, den anderen in den Be- ziehungen zu sich und zu den Vielen zu verstehen, abet niemand denkt daran, wenn er sich an den Tisch setzt, um eine Lehre fiber das Seelen- leben des Menschen zu schreiben, sich unter anderem die Bedeutung davon, dab jeder Einzelne sogar in seinen Einzelfunktionen nur unter den Vielen, das heil3t in der Wechselbeziehung mit der Umwelt existiert, zu vergegenwi~rtigen. Auch die scheinbar einfache Tatsache wird vicl zu wenig beriicksichtigt, dab jede Handlung ein bestimmtes Minimum yon Fi~higkeiten und Eigenschaften erfordert, die, um das Leben lebendig zu erhalten, anzuwenden sind. Man li~Bt leicht auger acht, da{~ in diesen Fhhigkeiten und Eigenschaften der Zweck und die Zwecklosigkeit, das Anwenden der Hypothesen und Fiktionen, des Zufalls und der Kau- saliti~t, des Absoluten und des Relativen, der Kombinationen aller dieser Momente eingeschlossen sind, und dab sie yon jedem Einzelnen wie auch vom Forscher die zur Lebenserhaltung nStige Berficksichtigung verlangen. Kurz, man betonte den Wert der allgemeinen Gfiltigkeit und Gesetzmi~Bigkeit dieser selbstversti~ndlichen Gedanken nicht. Wenn wir yon Beziehungen reden, so handelt es sich um das Kennenlernen des Menschen durch Feststellung seiner relativen Beziehungsart und seiner absoluten Wege, seines Hin- und Herschwankens zwischen sich und der AuBenwelt, der tausend M6glichkeiten, die er zu verwenden vermag, der yon ihm und den anderen um diese M6glichkeiten aufgeworfenen Forderungen, der Vervollkommnung der Menschen dutch Eingehen yon richtigen Beziehungen, die den einen zum Ourchschnitt, den anderen zum Haltlosen, Unsozialen, den drit ten zum unsozialen Verbrecherischen, dann welter zum sozialen oder unsozialen leidenden Nerv6sen, zum gi~nzlich asozialen Psychotiker ffihren. Aus den Ann~therungs- und Distanz- versuchen, aus der Fi~higkeit, sich mit der Welt zu vermischen und sich andererseits aus den Vielen herauszusondern, aus der Fi~higkeit, eigene Fi~higkeiten in verschiedenartiger Verwebung mit anderen eigenen Fi~higkeiten anzuwenden, aus der Fi~higkeit, sich zu behaupten, aber auch abhi~ngig zu sein und sich bis zur klebrigen Gebundenheit zu versklaven, bildet sich der starke, der groBe, der kranke, der gesunde, der durchschnittliche, der schwache Mensch usw. Es hi~ngt z. B. davon ab, in welchem Mai3e und nach welchen Richtungen eine Entfremdung v o n d e r Ffille einer zu erlebenden Wirklichkeit stattfindet, weleher Art die befremdende Beziehung ist. Eine yon Opfern begleitete Gfite ]~Bt sich auch aus der Entfremdung von der Wirklichkeit ableiten, noch viel

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mehr als ein Zeichen falscher Anwendung der eigenen F~higkeiten an sich erkl~ren. Es klingt zunachst beinahe paradox: Gfite ist im Grunde ein bindender, VcrsShnung bringender, das Ich und die Vielen erhaltender Beziehungsstoff. Wenn aber die Gfite als Mittel zum einseitig orien- tierten persSnlichen Zwecke oder zu einseitig orientierten Soziet~ts- bindungen verwertet wird, wirkt sie nicht mehr als versShnendes und fiir die Ich-Entfaltung gedeihliches Bindemittel, sondern als unf~higer, schwacher Sozi~lsinn oder als unfruchtbarer Egoismus. Gfite kann aueh ein aus Schwache, aus Ohnmacht sich ergebendes Bediirfnis zur sklavi- schen nervSsen Abh~ngigkeit und Untert~nigkeit werden.

Jene Funktionsarten, die wir die seelischen nennen, die in der Be- ziehungswelt sich auflSsen, verirren und verweben und in unendlieh vielen Verbindungen und Eigenarten varfieren, mfissen wir, wenn wir auch alles, was sich im Gehirn abspielt, wissen kSnnten und voraus- bereehnen wfirden, doch als Studium an sich, als Lehre yon den Be- ziehungen mit ihren mannigfaltigen Qualit~ten und Quantit~ten uns ver- traut maehen. Es ist an sich ein Studienstoff, wie ein Mensch, ob es sich nun in seinem Gehirn abspielte oder nicht, seine religi5sen Gefiihls- gedanken eine Zeitlang hegt und nachher wieder nicht hegt, wie er seine ~sthetischen Geffihlsgedanken wandclt, wie er sich zum Absoluten hingezogen ffihlt, wie er die Relativit~ten schafft, wie er mit tIypo- thesen, Zwecken, Fiktionen, Ziellosigkeiten, Zuf~llen und allen mSg- lichen Mechanismen und Teehniken herumlaboriert usw. Ob der Mensch die Neigung besitzt, Beziehungen zur Welt zu entfalten oder nicht, unvermeidlich ist unter allen Umst~nden, dab der Einzelne die Be- ziehungen zur Welt, denen eine Reihe yon F~higkeiten an sich zugrunde liegen, hat und haben muB, dab aus der Art und Weise dieser Beziehun- gen das menschliche Zusammensein und des Menschen Wohlsein resul- tiert, und daB daraus die ganze Kultur mit ihren Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten entsteht. Von diesen persSnlichen, famili~ren, staatlichen, weltliehen, kosmisehen Beziehungen h~ngt der Bau des Menschen je nachdem ab. Jedem Einzelnen werden viele Kombinationen der F~higkeiten an sich und viele AnschluBkreise an die AuBenwelt als MSglichkeit zur Beziehungsanknfipfung geboten.

Das neugeborene Kind wird in die Welt mit einer mannigfaltigen Anlage der F~higkeiten ~n sich hineirgestellt, mit denen .es sich sparer erprobt und entwiekelt. In Anbetracht dcr komplizierten Welt reduzier~ sich das Kind eher bei der Ausbildung der einzelnen F~higkeiten, als dab es seinen latenten Reichtum ausniitzt. Die Seele ist gebfldet aus den Anlagen an sich - - der schwache K5rper laBt den KSrper und Geist anders vibrieren als der starke --, aus den F~higkeiten an sich, aus der Summe der Wechselwirkungen der Innenwclt mit der AuBenwelt und aus all den genannten F~higkeiten untereinander und ihren Vorstellun-

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gen. Daraus ergibt sich von selbst, dab die Kausal- und Zwecklinien, deren sich die Psychologen zur Erkli~rung aller seelischen Phgnomene bedienen, nur die kleinste, wenn auch im Alltagsleben praktisehste, vielleicht sogar allzu praktische, aber auch die Verwirrung mit sich bringende Seite unseres Seelenlebens ausmachen, trotzdem, daI~ der Mensch den Kausalreihen, den Zweckrichtungen nicht nut eine unend- liche Bedeutung beigelegt hat, sondern alle seine Fghigkeiten fast ge- waltsam ihnen opferte.

Wie wollen wir nun an dieser so gesehenen seelischen PersSnlichkeit die Begriffe des Normalen und Anormalen, die Begriffe von gesund und krank festsetzen ?

Selbstversti~ndlich ist es unsinnig, den Normalmenschen gleieh einer Normalkerze bestimmen zu wollen. Ein Menseh aber, der einerseits seine Urspriinglichkeit, sein Sich-selbst-leben-Lassen dureh die Einseitigkeit der Verstandsspekulationen nicht erstickt, der andrerseits die Forde- rungen der reiehen Beziehungstatsaehen durch das Sich-selbst-leben- Lassen f5 dert, der sich in dem Sinne leben li~Bt, dab er denkt, das Leben erforscht, sieh entfaltet in der weitestgehenden Unabhi~ngigkeit, dab er ohne Vorurteil, ohne umsti~ndliche, das Dasein hemmende Er- satzwege frei lebt, daf~ er die Kausaliti~t, die Finaliti~t, die Wandlungs- bereitsehaft zu benutzen und zu erleben versteht, k5nnte als Normal- menseh gelten.

Derartige Normalmenschen sind natiirhch selten genug. Man mSehte geneigt sein, sie als Originale auszugeben. Sie haben aber mit don Originalen niehts gemein. Zum Original gehSrt die Verabsolutierung der einen oder anderen Lebensfunktion, ein in einer Richtung zuge- spitztes Denken, ein besonderes Unterstreiehen irgendeiner Wechsel- beziehung, die es, das Original, au~ einer rein p~rsSnlichen finalen, nicht ab~r allgemein gfiltgen Orientierung ausgestaltet. Es unter- scheidet sich yon dem Durchschnittsmensehen dadurch, dab letzterer zielbewuBt, um der geltenden Zwecke willen, der vereinfachten An- passung wegen und unter allen Umstinden nich~ selbstiindig verab- solutiert und simplifiziert.

Dem Original verwandt ist der Geisteslcranke. Nur, dab seine Ver- absolutierungen die zum geistigen Leben allernotwendigsten Gesetze der AuBenwelt und der Innenwelt ginzlich ausschlieBen. W~hrend das Original, trotz seiner Originalit~tssucht, im groBen und ganzen sich wie ein Durchschnittsmensch angepaBt erweist.

Nun ist aber der Begriff des Normalmenschen keineswegs der einzige Typus, den wir als den seelisch gesunden hinstellen mSchten. Den Durchschnittsmenschen, der weir entfernt vom Beziehungsreichtum des Normalmenschen ist, dfirfen wir darum, weft er die Norm nich~ erreicht, noch keineswegs als krank, als pathologisch bezeichnen. Unter dem

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Durchschnittsmenschen verstehen wir den ffir die geltende Welt be- ziehungsf~higen, zwar die Entfaltung und Freiheit seines Ichs kfirzen- den, aber in der Welt angepaBten Menschen, der zur Durchsetzung seiner Ziele und Fiktionen just ebensoviel F~higkeiten, Kenntnisse, Charakter- eigenschaften sich angew6hnt hat, als ~ie sie ihm zu seiner mehr oder weniger auf ein Minimum reduzierten Existenz n6tig sind. Sein Leben und Dasein geht in diesen gutfrisierten Zielen auf. Er kann in der Welt sehr niitzlich sein, kann ein ganz fleil3iger Wissenschaftler werden, der selbstverst~ndlieh die Wissenschaft nur aus den eng vorgeschriebencn Kausalreihen aufbaut, die, wenn sie nicht die Freiheit der Zusammen- hi~nge und Kombinationen erfordern, wie zum Beispiel Statistiken, Experimente, Systematisierungen, historische Zusammenstellungca, wertvolles Material anh~ufen, aber sonst produktiv unzuli~nglich sind. Der Durchschnittsmensch kann im allt~glichen Ameisenbetrieb seinen stillen, bescheidenen und un besche'der en, aufgebauschten und anspruchs- losen Dienst verrichten. Er ist gebunden an die geltenden Gesetze und Regeln, abhhngig yon den Urteilen und Vorurteilen der Majorit~ten, brutal oder zartffihlend, fleil3ig oder faul, anerkennungssfichtig oder g~nzlich indifferent, je nach seiner Pers6nlichkeit, immer aber im Ver- h~ltnis zu dem reichen Gehalt der vom Durchschnitt nicht geschmi~lerten Wirklichkeit und im Verhi~ltnis zu sich selbst auf ein Minimum der Be- ziehungen reduziert. Auch in ihnen, seinen reduzierten Beziehungcn, geht er stets nur seinen vorgeschriebenen Trab. Der trockene Zusam- menlebensgeist, der den Durchschnittsmenschen auszeichnet, entwickelt sich nicht an sich, ffir sich, aus der konkreten Notwendigkeit, sondern meistens macht er diese Wandlung a~f Grund eines miBverstandenen, verirrten Sicheinreihens in die Welt durcb. Vom praktischen Tell des Lebens wird der gr61~te Tell des Ichs bei ihm absorbiert.

I)er nerv6se Charakter sieht aus seiner Gebundenheit dem Durch- schnittsmenschen am i~hnlichsten. Nur dal~ der Durchschnittsmensch wirklich zufrieden ist, in seiner kleinen Umgebung, mit seinen kleinen Wiinschen und Bestrebungen sich herumkreiselt und in seinen Zielen derart aufgeht, dab sich ihm sein eigenes Ich in keiner Weise aufdr~ngt. W~hrend der Nerv6se, nicht dal3 er gr61~ere Wfinsche, gr6Bere Bestre- bungen in sich trfige, seine Bedfirfnisse reduziert, leidet, unzufrieden ist und sieh besti~ndig quasi vor sieh selber auf der Wagsehale sieht. Er macht nicht etwa aus der Not eine Tugend, sondern beschri~nkt sich auf seine rollenlose Rolle, empfindet dieselbe aber im Gegensatz zum Ge- sunden als subjektiv st6rende Gebundenheit und Abh~ngigkeit, naeh der er doch immer wieder die Hand ausstreckt. Der Nerv6se tibertrifit in seiner Unfreiheit den Durchschnitt. Er vermag weder etwas anderes zu wollen, noch das Sollen zum Wollen umzugestalten. Er besitzt im Ver- h~ltnis zum Durchschnitt noch eine rein subjektive Liste der Abhangig-

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keit, die er genau, wie der Durchschnitt iiberhaupt seine Abhi~ngigkeit, nicht zu iibersehen vermag. Er verirrt sich in seinen Techniken, die er sich deswegen anlegt, well er mit seinen eigenen Fi~higkeiten und denen der Welt nicht umzugehen versteht, wobei er immer wieder versucht, sich wenigstens den Kontakt mit der Welt vorzustellen.

Unter den Durchsehnitt gehen die Beziehungsreduzierten bis zu den vSllig Beziehungslosen. Die extremste Form der ganzlichen Zusammen- hangslosigkeit innerhalb der Innenwelt und im Verh~ltnis zur Aul~en- welt wie die extremste Form der Einschr~nkung der Lebensmethode fiihrt als Mechanismus zur /unktionellen Demenz. Der vegetierende, passive psychotische Beziehungskranke, der geffittert und gereinigt werden mul~, ist der lebende Leichnam in krassester Gestalt. Unter den Beziehungsreduzierten dieser Art .werden wir die Kranken ohne weiteres finden. Der nervSse Beziehungskranke, dessert Querschnitt nur sehr teilweise erkrankt sein kann, der noch diese und jene durchaus normale, vollerhaltene Beziehung zu einem Abschnitt der Lebensfront besitzt, der in gewissen Teflstiicken, wo Unabhi~ngigkeit nicht allzusehr verlangt wird, sogar Hochwertiges leisten kann, der aber immer wieder gewissen Anforderungen des Lebens nicht zu entsprechen vermag, sich als beziehungsungeschickt erweist und, ohne es zu merken, vor der Rea]iti~t, noch viel mehr vor der Totalit~t der Zusammenhi~nge aus- weicht, trotzdem er sie gewisserma~en erkennt, auch in gebundener, ab- h~ngiger Weise wie der Durchschnittsmensch mit ihr rechnet, ist als krank je nachdem nut teilweise zu erkennen und zu bezeichnen. Die g~tnzlich yon den Zusammenh~ngen der Geistes- und Lebensgesetze wie auch yon der Welt abgewandte Dementia praecox rechnet auf der HShe der Erkrankung tiberhaupt nicht mit der Realit~t, kennt sie nicht. An den Teilstficken der Front, die ihr noch erhalten sind, wo sie noch mit der Aul~enwelt auskommt, ist die weltabgewandte Technik des De- mentia-praecox-Charakters immer ersichtlich, wenn wir nicht nur das Teilstiick als solches ins Auge fassen.

Wo haben wir nun den Krankheitsbegri// einzusetzen ? Bei kSrper- lichen Krankheiten bezeichnet man als das krankhafte Hauptsymptom, Hauptmerkmal nicht dasjenige, was von der Norm abweicht, wie zum Beispiel den sechsten Finger, einen abnorm gebauten Appendix, heraus- ragende Zi~hne, einen zurfickweichenden Unterkiefer oder umgekehrt, ein Hundegebi~ usw., sondern diejenigen kSrperlichen Erscheinungen, unter denen der Mensch in irgendeiner Form zu leiden hat, die ihn stSren, ihn auf irgendwelche Weise behindern. Da~ kompensierte, also das wieder leistungsfi~hige tIerz ist dann nieht als krank zu bezeiehnen.

Das bemerkbare oder unbemerkbare Leiden unter einem Symptom, das Konstatieren, da~ ein KSrperteil, ein seelischer Zustand, eine Geistes- veffassung, einen mehr oder weniger lange dauernden unangenehmen

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Einfluis auf den Zustand des Menschen ausiiben, ist der Wegweiser zur Feststellung, ob es sieh um das Gesunde oder Krankhafte handelt. Ferner ist eine eingeschr~nkte Lebensweise auf eine Technik, das heiist, auf eine einseJtig orientierte, immer sich wiederholende Ausnfitzung der gegebenen Geistesf~higkeiten naeh subjektiver Methode gegenfiber der immer neu und anders werdenden Front des Lebens ebenfalls ein Indicator fiir die Krankheit. Zwar wells man, dais zum Beispiel ein dem Arzte yon anderen, yon der Umgebung zugefiihrter, nieht selbst zu ihm gekommener NervSser gerade, weft er sich jeglicher Lebenskur ent- zieht, sich lieber als Unf~higen bezeiehnen lassen wiirde, denn als Kran- ker gelten wollte. Solehes sind zwar unter den NervSsen Ausnahmef~lle. Es bedarf aueh yon seiten des Arztes keiner groisen Anstrengungen, bis ein derartiger NervSser mindestens anerkennt, wie wenig er das Leben genieise und zu genieisen verstehe, oder bis er klein beigibt, wie sehwer sein Ich samt der Welt auf ihm zu lasten seheine, wie gerne er es anders haben mSchte, wie beziehungsbeschr~nkt und modulationsm f~hig er ist, wie sehwer es ihm f~llt, seine subjektive und nur subjektive Methode, die dem wandelbaren Leben nicht entspricht, zu verlassen. Dieses sub- jektive Erleiden entsprieht ja der Vernaehl~ssigung yon absolut n6tigen, in diesem Sinne objektiven Forderungen. Der auiser]ich vom Spie~- biirgertum Emanzipierte wiirde sich damit briisten, dais nur der Phi- ]ister, der Sehwaehsinnige oder hSchstens der Diekh~utige das jetzige Leben genieise und immer zufrieden sei. Dem differenzierten Menschen aber, dem Kulturellen bleibe niehts anderes fibrig, als die Welt zu er- leiden. Dais eine derartige Auffassung fiir ein rein oberfl~chliches Be- urteilen zeugt, ist nicht sehwer nachzuweisen. Der Gesunde unterschei- det sieh in diesem Leiden und Erleiden, ohne dabei leichtsinnig oder saturiert zu sein, vom NervSsen dadurch, dais bei ihm das Erleiden mit angenehmem Erleben und Sich-am-Leben-Freuen abweehselt, dais das Leiden bei ihm nicht anh~lt und haupts~chlieh nicht in dem Sinne an- halt, als es auf seine Lebensfunktion hemmend zu wirken vermSchte. Umgekehrt sogar: Bei produktiven Gesunden ist aueh das Erleiden ein Ansporn zu einem erneuten, gekraftigten Lebensstrom. Wenn zwar der Gesunde den Pessimismus, Skeptizismus, die Unzufriedenheit aueh aufzubringen versteht, so geschieht dies bei ihm doeh nur stoisweise und beschr~nkt sich auf den Bereich der Betrachtungen und nicht auf die Lebensaktivit~t. In demselben Atemzuge, im Handumdrehen ist die ganze gedankliche l~lSrgelei bei ihm versehwunden, und er bejaht das Sein und Werden und ist bereit, sich zu vergessen, sich in der Tatig- keit, im All, im Leben aufzul6sen. Selbstverst~ndlieh kann man die eine oder andere nervSse Linie, die dem nervSsen Leiden analog ist, als eine vereinzelte Richtung auch beim Gesunden treffen. Aber dies gibt uns noch lange nicht das Recht, sie fiir den Fall, dais sie vereinzelt wirkt,

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als Symptom einer Neurose zu bezeiehnen, wenn sie die Lebensaktivit~t nieht allzusehr hemmt, sondern sie kann dann hSchstens als eine zweekm~Bige oder zwecklose, langweflige oder auch nieht langweilige Charaktereigenschaft gelten. Eine derartige Eigenschaft darf nur im Gebiete der normalen Charakterologie wissenschaftlieh verwertet werden.

Beim Psychotiker kSnnen wir das Leiden subjektiver Natur nur als Hil.~smaBstab fiir das Krankhafte verwenden. Hier sind wir rein auf die objektiv abnormen Eigensehaften, die ihn am Ablauf des Seelenlebens behindern, auf die objektiv unzul~ngliche Methode des Kranken ange- wiesen. Zum Leiden, das heist, zum Erkennen, Erfassen, Erfiihlen des Leidens muB der Betreffende die Beziehungen innerhalb des eigenen Ichs, wie zwischen sich und der Welt nicht nur besitzen, sondern sie irgendwie anerkennen, sie fiihlen, sieh mit ihnen besch~ftigen. Er darf nieht zusammenhangslos jede Geistesfunktion aktivieren und zugleich isoliert dastehen, wie es der Psychotiker tut. l~brigens, - - soweit der Psyehotiker zwischen sich und der Welt Beziehungen noch eingeht und anerkennt, oder soweit die Welt ihn in seiner Eigengesetzlichkeit und Isoliertheit stSrt, leidet auch er. Hat er aber g~nzlieh zusammen- hangslos laboriert und die Wand zwisehen sich und der Welt endgiiltig aufgerichtet, so vegetiert er in seiner Weltabgeschlossenheit dahin und ist sogar in seiner Lebensfahigkeit vSllig abgestumpft.

Meistens teilt man nach ~uBerliehen Krankheitserscheinungen ein. So entstanden die Begriffe der Neurasthenie, der Hysterie, der Angst-, Zwangs-, Magen-, Darm-, Pubert~ts-, Sexualneurosen usw. Die funk- tionelle Psychose wird heute unter einem viel einheitlicheren Gesiehts- punkte betrachtet, wird nieht mehr, wie die Neurose, bis ins Unend- liche nach Symptomen eingeteilt, sondern f~llt haupts~chlich unter den Begriff der Dementia praecox mit den Unterabteilungen der hebephrenen, katatonen und paranoiden Formen.

Da es sich bei den NervSsen wie bei den Geisteskranken um eine Un- I~higkeit handelt, die Q antit~t und Qualit~t der Bezie.hungen, worin die geistigen Fahigkeiten an sich mit inbegriffen sind, in richtigem Male einzugehen, wobei dann die Unzul~ngliehkeitsgeftihle und andere Symptome folgen, so lassen sich, nieht der Einteilung wegen, sondern als Wegweiser, die Beziehungskranken im grol~en und ganzen in die aktiven und inaktiven Charaktertypen einteilen. Die Inaktivit~t und die verirrte Aktivit~t (die nervSse Aktivitat ist ja meistens eine verirrte) kann die Quantit~t und die Qualit~t der hauptsachlichsten Beziehungen als die hauptshchliehsten geistigen Funktionen betreffen und sich schliel~lich nur auf eine fiir das lebenserhaltende Dasein doch notwen- dige Beziehung beschr~nken.

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352 V. und Ch. Strasser:

A. Der nerviise Beziehungskranke.

I. Der verirrt aktive Nerv6se.

a) Der verirrt aktive Nerv6se vermag seine Aktiviti~t daraufhin zu verwenden, dab er auch seine gutqualifizierte Aktiviti~t nur in einer Riehtung vorzugsweise mit der namlichen Technik ausiibt. Dadureh ist er schon an der Quantiti~t und auch eigentlich an der Qualiti~t der Be- ziehungen erkrankt. Ein solcher NervSser gibt sieh, weil er nur iu einer Riehtung aktiv ist, leicht als iiberaktiv, zielgespannt, wiederholend, alas Ich in den iibrigen Lebensbeziehungen hemmend. Der verirrt aktive Nerv5se ist aber 5fters in dem Sinne aktiv, dab er sich lediglich um seine eigene Achse dreht und deswegen den Wechselbeziehungen uwischen sich und der Welt nicht gewachsen ist.

b) Die Aktiviti~t kann den NervSsen zum einen oder anderen An- setzen tatsdchlicher Werte fiihren, die aber mindestens ein verirrtes Tempo, eine nutzlose Klebrigkeit und Gebundenheit aufweisen und damit die PersSnliehkeitsentfaltung, die Qualiti~t der Beziehungen schadigen.

Im ganzen ist der nervSse Beziehungskranke aber ein Mensch, der dem Leben ausweicht, der die Zusammenhi~nge mit der Welt scheut, der sie hauptsi~ehlich in Gedanken vornimmt, der sich sogar einem Mini- mum von Forderungen des Lebens gegenfiber passiv ausnimmt.

II . Der von vornherein inaktive Nervsse. Er kommt in Ti~tigkeit, in Beziehungsverbindungen nur insoweit, als

er dutch den Verlau/ der Dinge hineingezogen wird. Dementsprechend verwendet er seine Fi~higkeiten an sich. Er wird viel mehr gestoBen, als er nach der Linie des kleinsten Widerstandes geht. Und auch in dieser Richtung des kleinsten Widerstandes versucht er das Minimste zu tun, weil er, ohne es selber festzustellen, alles Lebendige auf ein Minimum reduziert. Seine Aktiviti~t ist qualitativ und quantitativ unzuli~nglich. Er handelt noch mehr als der aktive Neurotiker gedanklich, nieht tat- si~ehlieh.

Beide Typen, der aktive wie der inaktive, entziehen sich, weft auf eine Technik im Leben und Erleben reduziert, der Wirkung der aufs reichste wandelbaren AuBenwelt, leben und erleben i~rmlicher, als es ihre Fi~higkeiten gestatten wfirden.

B. Der psychotische Beziehungskranke. Auf der n~mlichen Grundlage wie der NervSse litBt sich auch der

Psychotiker als alctiver und als passiver, rein vegetierender betrachten.

I. Der a]ctive Psychotilcer. Der alctive Psychotiker, fiir den die Lebensgesetze, die Welt nicht wirk-

lich existieren, das heiBt nur in willkiirlichen Zusammenhi~ngen bestehen,

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Der nervSse und der psychotische Beziehungskranke. 353

der seinen Ideen einfallsm~gig, nicht der nStigen Gesetzm~gigkeit ent- sprechend, vorbehaltlos nachstrebt, yon seinen und nur seinen willkiir- lieh gesehmiedeten Leitgedanken beeinfluBt handelt, d~bei aber die Wirkliehkeit der AuBenwelt und seiner eigenen Innenwelt gar nieht berficksichtigt und mit enganliegenden Scheuklappen seinen ihm ein- fallenden Gedanken, seinen Wahn aktiviert.

a) Unter diesen aktiven Psychotikern ist der Begabte, wenn auch gimzlich yon den minimsten Forderungen des Lebens und vonder Welt Abgewandte in bezug auf den Fortgang der Krankheit der weniger ge- fi~hrdete und vermag sogar Talentvolles und Eigenartiges zu leisten.

b) Der unbegabte aktive Psycholiker verlegt seine ganze Ti~tigkeit auf ein Nichts Ifir das Ieh, auf ein Nichts im Sinne der Sozieti~t, auf das Asoziale, ja sogar auf das Antisoziale. Es sind diejenigen Kranken, die sich it/Wahnideen als Christus, Napoleon, Pri~sident, Millioni~r, Erfinder oder auch als Verfolgte, Leidende aktivieren, immer in Bewegung ver- bleiben. Geht ihre Handlung ins Antisoziale fiber, so kSnnen sie auger- ordentlich gefi~hrlieh werden.

II. Der passive Psychotiker. Er stellt eigentlich keinem Zwecke nach, wendet sich yon der Welt

in solchcr Weise ab, da[3 er weder Zielsetzungen, noch Kampfversuche, noch Leiden ansetzt und, bevor der Kampf zwischen sich und der Welt beginnt, eine Wand aufrichtet. Er benutzt nicht einmal die Zusam- menhangslosigkeit der geistigen Fi~higkeiten an sich. Er kommt nicht zur Ansetzung der Ziele, lebt der Ziellosigkeit und li~l~t sich vor dem Chaos, das Furcht in ihm erwecken wiirde, nicht abschrecken. Er vegetiert nicht einmal wie das Tier, welches doch wenigstens ffir seine Nahrung und Fort- setzung sorgt. Der gi~nzlich passive Geisteskranke sorgt fiberhaupt nicht. Eher kann man ihn mit einer Maschine vergleichen, die zwar leer li~uft, welche vereinzelte Maschinenteile ohne Transmissionen mit anderen bewegt und welche nicht dem geringsten Zusammenhange und Bcfehle gehorcht. Unter ihnen gibt es ffir die Beziehungswelt noch irgendwie ertr~gliche, aber auch gi~nzlich unertr~gliche Typen, die nicht nur geffittert, sondern auch gereinigt usw. werden mfissen.

Die geistigen Fi~higkeiten an sich, die unumstSglichen Gesetzmi~gig- keiten der Beziehungswelt, die unerschfitterliehen Forderungen des Lebens, der Innen- und Augenwelt sind die Magsti~be, yon denen nicht, nur verschiedene Typen der gesunden Welt, sondern auch der NervSsc und der Geisteskranke sich ableiten lassen. Im Erfassen dieser Gesetze liegt die zukfinftige naturwissenschaftliche Methodik der Psychologic.

Z, f. d. g, Neur. u. Psych. L X X X I I . ~.q