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Forschungsleitende Hypothese Vor inzwischen mehr als 100 Jahren er- schien Emil Durkheims „Le Suicide“. Bekanntlich postulierte er darin 4 Typen des Suizids, die sich hinsicht- lich Regulation durch und Integration in die Gesellschaft voneinander unter- scheiden: der egoistische, der altruisti- sche, der anomische und der fatalisti- sche Selbstmord, wobei letzterer Ty- pus von Durkheim nicht mehr theore- tisch ausgebaut wurde, da er fand, dass dieser kaum noch aufträte. Seither ist die (soziologische) Suizidforschung mit dem Konzept der Anomie nach Durkheim verbunden. Die forschungsleitende Hypothese der Arbeit entwickelte sich unter dem Eindruck, dass die gravierenden ge- sellschaftspolitischen Umwälzungen, wie sie sich auf dem Gebiet der ehe- maligen DDR seit November 1989 vollzogen, nicht ohne Einfluss auf das Befinden – ob im positiven oder nega- tiven Sinn – der Menschen bleiben können. Daher erscheint es plausibel, dass sich diese Veränderungen gerade auch in einem solch sensiblen Phäno- men wie dem Suizid niederschlagen. Mit dem Thema Selbstmord begibt man sich definitorisch auf ein schwie- riges Gebiet. Es gibt keine allgemein gültige und akzeptierte Definition des Selbstmords. Auch innerhalb der So- ziologie gibt es sie nicht. Shneidman schreibt: „Suicide is one of those words that seems to have a core and a periphery.“ (Shneidman 1994, S. 6) Während der „Kern“ in seiner Bestim- mung eindeutig definierbar scheint, ist es die „Peripherie“, die problematisch ist. Hier gälte es v.a., das Verhältnis von Suizid und Suizidversuch zu klären, da man nicht davon ausgehen kann, dass alle Suizidversuche ohne le- tale Folgen geplant (also als wirklicher Suizid) bzw. vollendete Suizide tatsächlich als solche intendiert waren. In welchem Fall kann man von Selbst- mord reden? Sind Risikoverhaltens- weisen (Drogen- und Alkoholmiss- brauch oder Risikosportarten) verlän- gerte oder versteckte Suizide? Sind ge- sellschaftlich vorgeschriebene Tode (z. B. Mitverbrennungen von Witwen beim Tod ihres Ehegatten in Indien) Selbstmorde? Stengel schreibt: „Viele Selbstmordversuche und nicht wenige Selbstmorde werden in der Stimmung ,Es ist mir egal, ob ich am Leben blei- be oder sterbe‘ ausgeführt, nicht in der klaren, unzweideutigen Entschlossen- heit, dem Leben ein Ende zu setzen“ (Stengel 1969, S. 70). Anscheinend stellen Suizidenten und Suizidversucher eine sich über- schneidende Population dar, innerhalb derer es ein großes Spektrum hinsicht- lich der Intention und Ernsthaftigkeit des Suizids gibt. Letztendlich ist Suizid ein Label, das post mortem verliehen wird – oftmals ohne die dahinter ste- hende Absicht des Individuums mit Sicherheit nachträglich klären zu kön- nen. In vorliegendem Beitrag wird die Suizidkategorisierung offizieller Statis- System Familie (2000) 13 : 59–69 © Springer-Verlag 2000 Der Suizid und „die Wende“ in der DDR Zur Tragfähigkeit von Durkheims Konzeption des (anomischen) Selbstmords am Beispiel Thüringens Sibylle Straub Jena Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller- Universität, D-07740 Jena 59 Zusammenfassung Die gravierenden gesellschaft- lichen Umwälzungen auf dem Ge- biet der DDR seit dem November 1989 schlagen sich nicht in gestie- genen Suizidraten nieder, was Durkheims Konzept des anomi- schen Selbstmords erwarten lassen würde. In Thüringen, einem Land mit klassisch hohen Suizidraten, wird ein stetiger Rückgang der Su- izidziffern seit Ende der 80er-Jah- re beobachtet. Dieser betrifft im Wesentlichen alle Altersgruppen und beide Geschlechter. Ab 1993 konsolidiert sich die Abnahme auf einem – verglichen mit den voran- gegangenen Jahren – niedrigen Niveau. Dieser Rückgang lässt sich unter Rückgriff auf Emile Durkheims Theorie zum Selbst- mord mit dem des fatalistischen Selbstmords erklären. Ebenso wird Durkheims Auffassung bestätigt, dass in Zeiten politischer Krisen die Suizidzahlen rückläufig sind. FORSCHUNGSBERICHT

Der Suizid und „die Wende" in der DDR

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Page 1: Der Suizid und „die Wende" in der DDR

Forschungsleitende Hypothese

Vor inzwischen mehr als 100 Jahren er-schien Emil Durkheims „Le Suicide“.

Bekanntlich postulierte er darin 4 Typen des Suizids, die sich hinsicht-lich Regulation durch und Integrationin die Gesellschaft voneinander unter-scheiden: der egoistische, der altruisti-sche, der anomische und der fatalisti-sche Selbstmord, wobei letzterer Ty-pus von Durkheim nicht mehr theore-tisch ausgebaut wurde, da er fand, dassdieser kaum noch aufträte. Seither istdie (soziologische) Suizidforschungmit dem Konzept der Anomie nachDurkheim verbunden.

Die forschungsleitende Hypotheseder Arbeit entwickelte sich unter demEindruck, dass die gravierenden ge-sellschaftspolitischen Umwälzungen,wie sie sich auf dem Gebiet der ehe-maligen DDR seit November 1989vollzogen, nicht ohne Einfluss auf dasBefinden – ob im positiven oder nega-tiven Sinn – der Menschen bleibenkönnen. Daher erscheint es plausibel,dass sich diese Veränderungen geradeauch in einem solch sensiblen Phäno-men wie dem Suizid niederschlagen.

Mit dem Thema Selbstmord begibtman sich definitorisch auf ein schwie-riges Gebiet. Es gibt keine allgemeingültige und akzeptierte Definition desSelbstmords. Auch innerhalb der So-ziologie gibt es sie nicht. Shneidmanschreibt: „Suicide is one of thosewords that seems to have a core and a

periphery.“ (Shneidman 1994, S. 6)Während der „Kern“ in seiner Bestim-mung eindeutig definierbar scheint, istes die „Peripherie“, die problematischist. Hier gälte es v. a., das Verhältnisvon Suizid und Suizidversuch zuklären, da man nicht davon ausgehenkann, dass alle Suizidversuche ohne le-tale Folgen geplant (also als wirklicherSuizid) bzw. vollendete Suizidetatsächlich als solche intendiert waren.In welchem Fall kann man von Selbst-mord reden? Sind Risikoverhaltens-weisen (Drogen- und Alkoholmiss-brauch oder Risikosportarten) verlän-gerte oder versteckte Suizide? Sind ge-sellschaftlich vorgeschriebene Tode (z. B. Mitverbrennungen von Witwenbeim Tod ihres Ehegatten in Indien)Selbstmorde? Stengel schreibt: „VieleSelbstmordversuche und nicht wenigeSelbstmorde werden in der Stimmung,Es ist mir egal, ob ich am Leben blei-be oder sterbe‘ ausgeführt, nicht in derklaren, unzweideutigen Entschlossen-heit, dem Leben ein Ende zu setzen“(Stengel 1969, S.70).

Anscheinend stellen Suizidentenund Suizidversucher eine sich über-schneidende Population dar, innerhalbderer es ein großes Spektrum hinsicht-lich der Intention und Ernsthaftigkeitdes Suizids gibt. Letztendlich ist Suizidein Label, das post mortem verliehenwird – oftmals ohne die dahinter ste-hende Absicht des Individuums mit Sicherheit nachträglich klären zu kön-nen.

In vorliegendem Beitrag wird dieSuizidkategorisierung offizieller Statis-

System Familie (2000) 13 :59–69 © Springer-Verlag 2000

Der Suizid und „die Wende“ in der DDRZur Tragfähigkeit von Durkheims Konzeption des (anomischen) Selbstmords am Beispiel Thüringens

Sibylle StraubJena

Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität, D-07740 Jena

59

Zusammenfassung

Die gravierenden gesellschaft-lichen Umwälzungen auf dem Ge-biet der DDR seit dem November1989 schlagen sich nicht in gestie-genen Suizidraten nieder, wasDurkheims Konzept des anomi-schen Selbstmords erwarten lassenwürde. In Thüringen, einem Landmit klassisch hohen Suizidraten,wird ein stetiger Rückgang der Su-izidziffern seit Ende der 80er-Jah-re beobachtet. Dieser betrifft imWesentlichen alle Altersgruppenund beide Geschlechter. Ab 1993konsolidiert sich die Abnahme aufeinem – verglichen mit den voran-gegangenen Jahren – niedrigenNiveau. Dieser Rückgang lässtsich unter Rückgriff auf EmileDurkheims Theorie zum Selbst-mord mit dem des fatalistischenSelbstmords erklären. Ebenso wirdDurkheims Auffassung bestätigt,dass in Zeiten politischer Krisendie Suizidzahlen rückläufig sind.

FORSCHUNGSBERICHT

Page 2: Der Suizid und „die Wende" in der DDR

tiken akzeptiert, auf denen die Arbeitteilweise basiert.

Gleichzeitig mit den Umwälzungenwurde der Suizid plötzlich in der Öf-fentlichkeit thematisiert. Immer wiederberichteten die Medien über spekta-kuläre Suizide bzw. über Suizide über-haupt – eine Erscheinung, an die zuDDR-Zeiten nicht zu denken war, dennder Suizid war hier strikt tabuisiert, Me-dien durften darüber nicht berichten.

Diese Öffentlichkeit, mit der dasThema Suizid auf einmal bedacht wor-den ist, und die landläufige Meinungder Leute (jeder hatte von einem ande-ren gehört, der sich im Zuge der Wen-de umgebracht hatte), lassen den Ein-druck entstehen, dass die Zahl der Sui-zide zugenommen habe – und zwar indirekter Folge der Wende. Befürchtun-gen wurden laut, die eine regelrechte„Selbstmordepidemie“ auf den OstenDeutschlands zukommen sahen.

Der Eindruck und die Befürchtun-gen erscheinen durchaus überprüfens-wert, zumal bekannt war, dass dieDDR bereits mit einer der höchstenSuizidraten1 (wenn nicht sogar derhöchsten) Europas behaftet war. Einweiterer Anstieg hätte somit eineenorm hohe Rate zur Folge.

In Kenntnis von Durkheims Werk„Der Selbstmord“ und seines Anomie-konzepts wurde die Hypothese folgen-dermaßen formuliert:

Durch die massiven Umbrüche, mit de-nen sich die Bevölkerung der ehemali-gen DDR seit Herbst 1989 konfrontiertsah, ist eine Auswirkung auf die Suizid-rate zu erwarten.

Ausgehend von den Umwälzungen,die in nahezu allen Lebensbereichengreifen, stehen die Menschen im OstenDeutschlands vor der Notwendigkeiteiner völligen Neuorientierung. IhreLebenskonzeptionen und Wertvorstel-lungen sind nicht mehr haltbar. Sie se-hen sich vor der Aufgabe der Neu-strukturierung und Neugestaltung ih-res Lebens in einem eigenverantwort-lichen Maße, wie es für sie in dem pa-ternalistischen DDR-Staat bislang völ-lig unbekannt war. Dies kann bei Men-schen zu Überforderungserscheinun-gen bis hin zum Verlust ihrer Perspek-tiven – kurzum zu Krisensituationenführen, in denen Suizid als einzigerAusweg gesehen wird. Gerade auch äl-tere und alte Menschen, die in ihrerAnpassung nicht mehr flexibel sind,scheinen davon betroffen (Casper et al.1990, S 231) bzw. auch Menschen, diebesonders in das gesellschaftliche Sys-tem der DDR involviert waren.

Mit Herbst 1989 scheint in der ehe-maligen DDR eine anomische Situationim Sinne Durkheims entstanden zu sein,eine massive Störung der bisherigen so-

zialen Ordnung. „Jedes Mal wenn es imsozialen Körper tief greifende Umstel-lungen gibt, sei es infolge plötzlichenWachstums oder nach unerwarteten Er-schütterungen, gibt der Mensch derVersuchung zum Selbstmord leichternach.“ (Durkheim 1990, S. 279)

Aus Gründen der Überschaubarkeitwurde die Arbeit auf das BundeslandThüringen (fast identisch mit denfrüheren Bezirken, Erfurt, Gera, Suhl)beschränkt. Zudem kann damit einerevtl. regionalen SonderentwicklungRechnung getragen werden.

Der Zeitraum (1980–1996) ist eben-falls aus Gründen der Übersichtlichkeitgewählt. Um statistische Trends abzu-lesen, erschienen 16 Jahre als hinrei-chend. Die statistischen Suizidverläufe,9 Jahre vor der Wende beginnend, zuanalysieren, sollte ausreichen, um denangenommenen Einfluss der Um-brüche absehen zu können. Nach obenist der Zeitraum ohnehin durch die jun-ge Vergangenheit der Wende und dasentsprechende Vorliegen endgültigerstatistischer Daten bis 1996 (teilweiseauch nur bis 1995) begrenzt.

Auswertung der Thüringer Suizidstatistik2

Traditionell war Thüringen von jehermit einer hohen Suizidziffer belas-tet.3 Die Erklärung dafür im Charakter

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FORSCHUNGSBERICHT

System Familie (2000) 13 :59–69 © Springer-Verlag 2000

Suicide and the changes in the former GDR.Soundress of Durkheim’s concept of (anomic) suicide using Thuringia as an example

Sibylle Straub

Summary

The radical social changes that havetaken place in the former GDR sinceNovember 1989 have not led to an increase in suicides, as EmileDurkheim’s concept of anomic sui-cide would suggest. In Thuringia, afederal state with usually high sui-cide rates, a steady decrease in sui-cides has been observed since the

late 1980s. This decline actually ap-plies to all ages and both genders.Compared to previous years, the de-crease in suicides has stayed constantsince 1993. Using Emile Durkheim’stheory of suicide, this drop can beexplained by the idea of the fatalisticsuicide. It also confirms EmileDurkheim’s opinion that suiciderates dwindle in times of politicalcrises.

1 Als Suizidrate bezeichnet man die absolute An-zahl der Suizide bezogen auf die Gesamtbevölke-rung eines Landes (oder auch einer Region etc.)innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Mit Sui-zidziffer hingegen wird die Anzahl der Suizidemeist auf 100.000 der durchschnittlichen Bevöl-kerung in einem bestimmten Zeitraum angegeben

2 Auf eine Diskussion von Reliabilität und Vali-dität der Selbstmordstatistik muss aus Platzgrün-den verzichtet werden. Man kann aber davon aus-gehen, dass „[trotz] vieler Unschärfen bei der Er-fassung und Feststellung der Todesursachen (...)die amtliche Todesursachenstatistik nach wie vorwichtige Basisdaten für die epidemiologische For-schung sowie wichtige Vergleichsinformationenfür todesursachenspezifische Mortalitätsdaten[liefert] ...“ (Schmidtke u. Weinacker 1994, S. 13)

3 Bekanntermaßen hatte die DDR eine höhereSuizidsterblichkeit als die Bundesrepublik. Al-lerdings befand sich die DDR aber auf Gebieten,die historisch immer eine größere Selbstmord-rate aufwiesen – besonders gilt das für die Län-der Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt.„Stark ist die Suizidzahl der DDR belastet mitder bekannt großen Neigung der sächsisch-thüringischen Bevölkerung zum Suizid . . .“(Winkler, nach Oschlies 1976, S. 42). Diese 3 Länder erzeugen nach Schmidtke undWeinacker im Wesentlichen die Differenz zwi-schen alten und neuen Bundesländern (Schmidt-ke u. Weinacker 1994, S. 4)

Page 3: Der Suizid und „die Wende" in der DDR

der Bevölkerung zu finden, so wie esWinkler versuchte (Winkler, nachOschlies 1976, S. 42), scheint frag-würdig. Fast könnte man geneigt sein,Durkheims Überlegungen zum Protes-tantismus und Katholizismus im Hin-blick auf den Suizid aufzunehmen.Thüringen war überwiegend protestan-tisch, wie dies auch generell für dieDDR gilt. Nach Durkheim weisen dieProtestanten eine höhere Suizidrate alsdie Katholiken auf. Mit dieser Konfes-sionstheorie wären aber keineswegsdie Variationen zwischen den einzel-nen Gebieten der ehemaligen DDR be-friedigend erklärt.4

Betrachtet man den Verlauf der Sui-zidziffern5 in Thüringen von 1980–1996 (Abb.1, Tabelle 1), wird späte-stens ab 1987 ein relativ konstanterAbfall deutlich. Dieser Abfall hält bis1993 an, um zunächst 1994 und 1995wieder leicht anzusteigen und dann1996 auf die niedrigste Suizidziffer indem 16-Jahre-Zeitraum überhaupt ab-zusinken. (Bei den Männern wird der-selbe Minimalwert allerdings schon1993 erreicht.) Dieser Verlauf gilt fürbeide Geschlechter. (Bei den Männernsind bereits 1984 und 1986 extremeEinbrüche der Suizidziffer zu ver-zeichnen. Im Jahr 1986 mit einem Wertvon 36,1 pro 100.000 Einwohner un-terschreitet er sogar die Ziffern von

1990 – 36,7 und 1991 – 36,2.) DerRückgang bei den Thüringer Frauenbeträgt zwischen 1987 und 199658,45%, bei den Thüringer Männern40,36%. Wie deutschlandweit über-haupt liegen auch in Thüringen dieSuizidziffern der Frauen deutlich unterdenen der Männer.

Nimmt man 1980 und 1996 als Eck-daten, beträgt der Rückgang in Thürin-gen für diesen Untersuchungszeitraumbei den Männern 39,12%, bei denFrauen 61,6%.

Insgesamt scheint sich auch fürThüringen der deutschlandweite Trenddes Rückgangs der Suizidziffern ab et-wa Mitte der 80er-Jahre abzuzeichnen,der für die Männer schon nach 1988,für die Frauen spätestens ab 1989 auf-fällig steil scheint.

Dieser Eindruck bestätigt sich,wenn man den Verlauf der Suizidzif-fern in Thüringen mit denen West-deutschlands vergleicht (Abb.2, Tabel-le 2). Erwartungsgemäß liegen dieThüringer Suizidziffern deutlich höher

61

5 Die statistischen Daten für Deutschland Ostund West stammen aus Veröffentlichungen desStatistischen Bundesamtes in Berlin, diejenigenfür Thüringen wurden vom Statistischen Lan-desamt Thüringen zur Verfügung gestellt

Tabelle 1Suizidziffern (pro 100.000 Einwohner) in Thüringen 1980–1996

Jahr 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96

Suizidziffern 32,9 32,6 34,6 32,4 30,5 32,4 27,8 32,5 31,3 28,8 25,7 25,1 21,5 18,2 18,7 19,8 17,5gesamt

Suizidziffern 43,2 44,7 43,9 45,3 40,3 44,0 36,1 44,1 43,6 38,5 36,7 36,2 30,6 26,3 27,5 28,8 26,3männlich

Suizidziffern 23,7 21,8 26,2 20,7 21,7 22,0 20,3 21,9 20,4 20,0 15,7 14,9 13,0 10,6 10,6 11,4 9,1weiblich

Abb.1. Suizidziffern (pro 100.000 Einwohner) in Thüringen 1980–1996

4 Überhaupt scheint es sehr schwierig, die Rolleder Religion in den 80er- und 90er-Jahren in ei-nem – zumindest offiziell – säkularisierten Staatwie der DDR im Bezug auf das Suizidverhaltenzu bestimmen. Dies setzt eigene Untersuchun-gen voraus

Page 4: Der Suizid und „die Wende" in der DDR

als die westdeutschen. Überdies fälltim Vergleich mit Westdeutschland v. a.der wesentlich ausgeprägtere Rück-gang spätestens nach 1989 auf. Anson-sten findet man auch in Thüringen denbereits für Westdeutschland konstatier-ten leichten Anstieg der Suizidziffernfür 1994 und 1995 und den Abfall 1996auf die niedrigste Suizidziffer über-haupt.

Bis 1986 unter- bzw. überschreitendie Thüringer Suizidziffern fast ab-wechselnd die von Ostdeutschland (s.Abb.2, Tabelle 2). In den Jahren 1984und 1986 liegen die Thüringer Zahlendeutlich unterhalb der Zahlen Ost-deutschlands, was hauptsächlich denEinbrüchen bei den männlichen Sui-zidziffern zuzuschreiben ist. Zwischen1987 und 1990 überschreitet dann aberdie Thüringer Suizidziffer konstant

und mit erheblichem Abstand die ge-samtostdeutsche. Nach 1990 nähertsich die Thüringer Suizidziffer dannder gesamtostdeutschen an, um sie1993 und 1996 zu unterschreiten.

Für den Verlauf der Suizidziffernder Männer in Thüringen, DeutschlandWest und Deutschland Ost ergibt sichdas in Abb.3 und Tabelle 3 dargestell-te Bild.

Der Verlauf der Suizidziffern derThüringer Männer folgt im Wesentli-chen dem Verlauf in Ostdeutschlandüberhaupt. Abgesehen von den „Aus-reißern“ 1984 und 1986 liegen die Sui-zidziffern der Thüringer Männer bis1991 eher über denen von Ostdeutsch-land. Ab 1992 gleichen sich dieThüringer Suizidziffern der Männer andie gesamtostdeutschen an und unter-schreiten sie 1993 sogar deutlich. Im

Vergleich zu Westdeutschland findetman bei den Thüringer Männern densteileren Abfall der Suizidziffer nach1989 mit ihrem Minimalwert 1993.Dieser Wert wird 1996 nach leichtenAnstiegen der Suizidziffer 1994 und1995 nochmals erreicht. Die Suizidzif-fer der Thüringer Männer unterschrei-tet auch 1993 erstmals die Suizidzif-fern, die von den westdeutschen Män-nern in den 80er-Jahren erreicht wur-den. Prinzipiell zeichnet sich für dieThüringer Männer – wie für die ost-deutschen überhaupt – ab 1993 eineKonsolidierung der Suizidziffer ab aufeinem – gegenüber den 80er-Jahren –extrem niedrigen Niveau. Für die Män-ner in Westdeutschland sind die Sui-zidziffern bereits ab 1990 relativ kon-stant.

Die Differenz der Suizidziffernzwischen den Thüringer und den west-deutschen Männern ist deutlich höherals zwischen den Frauen in Thüringenund Westdeutschland. Die Thüringer

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FORSCHUNGSBERICHT

Tabelle 2Suizidziffern (pro 100.000 Einwohner) in Ost- und Westdeutschland und in Thüringen 1980–1996

Jahr 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96

Deutschland 20,9 21,7 21,3 21,3 20,5 20,7 19,0 19,0 17,6 16,5 15,8 15,6 15,6 14,7 14,9 15,0 14,1West

Deutschland 34,0 33,0 34,0 33,0 32,0 32,0 30,0 30,0 29,0 26,0 24,4 25,1 21,3 19,6 18,8 19,1 18,4Ost

Thüringen 32,9 32,6 34,6 32,4 30,5 32,4 27,8 32,5 31,5 28,8 25,7 25,1 21,5 18,2 18,7 19,8 17,5

Abb.2. Suizidziffern (pro 100.000 Einwohner) in Ost- und Westdeutschland und in Thüringen1980–1996

Page 5: Der Suizid und „die Wende" in der DDR

Frauen unterschreiten erstmals 1992die Suizidziffern, die die westdeut-schen Frauen noch Anfang der 80er-Jahre innehatten (Abb. 4, Tabelle 4).Bei den Thüringer Frauen ist im Ver-gleich zu den westdeutschen ein we-sentlich steilerer Abfall der Suizidzif-fern nach 1989 zu beobachten. Ab1993 scheinen sich auch ihre Ziffernzu konsolidieren.

Betrachtet man den Verlauf der Sui-zidziffern der thüringer und der ost-deutschen Frauen, findet man ein ähn-liches Muster wie bei den Männern (s.Abb.4, s. Tabelle 4).

Die bislang untersuchten „rohen“Suizidziffern – lediglich nach Ge-schlecht differenziert – können aller-dings nur ein recht oberflächlichesBild des Suizidgeschehens wiederge-ben. Da die Suizide in der gesamtenBundesrepublik dem sog. „ungari-

schen Muster“ – nämlich dem Anstiegder Suizide mit dem Alter – folgen,scheint es sinnvoll, die Verteilung derSuizidraten in den verschiedenen Al-tersgruppen im Einzelnen zu betrach-ten. Gerade auch bei Vergleichen zwi-schen den einzelnen Bundesländern istes notwendig, dem möglicherweise un-terschiedlichen Altersaufbau der ver-schiedenen Bundesländer Rechnungzu tragen. Deshalb benutzten Schmidt-ke und Weinacker in ihrer Untersu-chung altersadjustierte Suizidziffernfür die einzelnen Bundesländer undfanden für Thüringen die dritthöchsteZiffer für die Männer (nach Sachsenund Sachsen-Anhalt) und die zweit-höchste bei den Frauen (wiederumnach Sachsen und vor Sachsen-Anhalt;Schmidtke u. Weinacker 1994, S. 8).

Für nachfolgende Betrachtung wur-de die Thüringer Bevölkerung in je-

weils 10-jährigem Abstand zusammen-gefasst. Die absoluten Zahlen der Sui-zide für die einzelnen Altersgruppenstanden allerdings nur bis 1995 zur Ver-fügung, sodass der untersuchte Zeit-raum in diesem Fall nur 1980–1995 betrifft. Aufgrund der geringenFallzahlen in den einzelnen Altersgrup-pen und der besseren Veranschauli-chung wurden die Suizidziffern hierbeiin ‰ – also pro Tausend – errechnet.

Abbildung 5 veranschaulicht deut-lich das „ungarische Muster“ – alsoden Anstieg der Suizide mit steigen-dem Alter. (Nur in ganz wenigen Aus-nahmefällen erreicht die Suizidziffereiner 10-Jahres-Gruppe höhere Werteals die der nächstfolgenden – z.B. dieGruppe der 50- bis 60-Jährigen ge-genüber den 60- bis 70-Jährigen bzw.die 60- bis 70-Jährigen gegenüber den70- bis 80-Jährigen.) Augenfällig ist v.a. die hohe Suizidrate bei den 70- bis80-Jährigen und 80-Jährigen und Älte-ren. Hier spiegelt sich offensichtlichdie sehr hohe Alterssuizidalität in der

63

Tabelle 3Suizidziffern der Männer (pro 100.000) in Ost- und Westdeutschland und in Thüringen 1980–1996

Jahr 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96

Männer 28,3 29,6 29,8 29,0 28,5 29,4 26,6 26,7 24,9 23,5 22,4 22,3 22,3 21,3 21,8 22,0 20,5West

Männer 44,0 44,0 45,0 44,0 43,0 44,0 41,0 42,0 40,0 36,0 34,8 36,0 30,4 28,8 28,3 28,5 27,8Ost

Männer 43,2 44,7 43,9 45,3 40,3 44,0 36,1 44,1 43,6 38,5 36,7 36,2 30,6 26,3 27,5 28,8 26,3Thüringen

Abb.3. Suizidziffern der Männer (pro 100.000) in Ost- und Westdeutschland und in Thüringen1980–1996

Page 6: Der Suizid und „die Wende" in der DDR

DDR wider, die sich ab Ende der 80er-Jahre zu modifizieren beginnt.Der starke Rückgang der Suizidzifferder 70- bis 80-Jährigen (ab 1988) undder 80-Jährigen und Älteren (ab 1989)scheint hauptsächlich den Rückgangder Suizidziffern auszumachen.

In der Gruppe der bis zu 10-Jähri-gen findet man über den gesamtenZeitraum hinweg keinen bis maximal 4 Suizide (1981), was auf die Gesamt-population der bis zu 10-Jährigen 0–0,012‰ ausmacht. Die 10- bis 20-Jährigen verzeichnen ab 1985 tenden-ziell einen Rückgang der Suizidrate,der 1993 und 1994 mit 0,021‰ in denhier betrachteten 15 Jahren sein Mini-mum findet. Ein ähnliches Bild zeich-net sich auch für die Gruppe der 20- bis30-Jährigen, die 1993 mit 0,084‰ aufden niedrigsten Wert kamen. Der Ver-lauf der Suizidraten der 30- bis 40-

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FORSCHUNGSBERICHT

Tabelle 4Suizidziffern der Frauen (pro 100.000) in Ost- und Westdeutschland und in Thüringen 1980–1996

Jahr 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96

Frauen 14,1 14,4 13,6 14,3 13,2 12,7 12,0 11,9 10,8 10,0 9,6 9,4 9,2 8,4 8,3 8,4 8,1West

Frauen 24,0 23,0 24,0 22,0 21,0 21,0 20,0 20,0 19,0 16,0 14,8 15,2 12,9 11,9 9,9 10,2 9,6Ost

Frauen 23,7 21,8 262,2 20,7 21,7 22,0 20,3 21,9 20,4 20,0 15,7 14,9 13,0 10,6 10,6 11,4 9,1Thüringen

Abb.4. Suizidziffern der Frauen (pro 100.000) in Ost- und Westdeutschland und in Thüringen 1980–1996

Abb.5. Verlauf der Suizidziffern in ‰ (pro 1000 Einwohner) für die verschiedenen Altersgruppenin Thüringen 1980–1995

Page 7: Der Suizid und „die Wende" in der DDR

Jährigen und 40- bis 50-Jährigen folgtim Wesentlichen auch dem Muster derjüngeren Altersgruppen. Auch hierstellt das Jahr 1993 mit 0,138‰ bzw.0,218‰ das vorläufige Minimum dar.

Etwas anders gestaltet sich der Ver-lauf für die Gruppe der 50- bis 60-Jährigen. Bei ihnen spiegelt sich nichtder Rückgang der Suizidrate ab Mitteder 80er-Jahre wider. Im Jahr 1987 er-reicht hier die Suizidziffer in dem 15-Jahre-Zeitraum ihr Maximum, fällt1988 wieder, um zwischen 1989 und1991 erneut anzusteigen. Nach 1991 istdann auch in dieser Altersgruppe dieSuizidrate deutlich rückläufig mit ei-nem Minimum 1994 (0,251‰) und ei-nem erneuten leichten Ansteigen 1995.

Im Jahr 1982 erreicht die Suizidzif-fer in der Gruppe der 60- bis 70-Jähri-gen mit 0,599‰ ihr Maximum. Nach1987 findet man in dieser Gruppezunächst einen deutlichen Rückgangder Suizidziffer, mit einem erneutenAnstieg 1991, der noch die Werte von1988 und 1989 übersteigt. Im Jahr1992 fällt die Suizidziffer wieder, er-reicht 1993 mit 0,254‰ ihr vorläufigesMinimum und steigt in den beiden Fol-gejahren wieder etwas an.

Offensichtlich weisen die 70- bis80-Jährigen eine deutlich höhere Sui-zidrate als alle vorangegangenen Al-tersgruppen auf. Die Ziffern – auf ei-nem hohen Niveau relativ konstant –erreichen 1988 ein absolutes Maxi-mum, um ab dann bis 1994 drastischabzusinken (von 1988–1994 sinken sieum 66,51%). Für 1995 ist dann wiederein leichter Anstieg zu verzeichnen.

Aufgrund des „ungarischen Mus-ters“ finden wir erwartungsgemäß beider Gruppe der über 80-Jährigen diehöchsten Suizidziffern. Nach einemeher oszillierenden Verlauf in den80er-Jahren, verzeichnet man auchhier ab 1989 einen relativ konstantenund starken Abfall mit einem vorläufi-gen Minimum 1993 von 0,629‰ undeinem erneuten Anstieg 1994 und1995.

Die geschlechtsspezifischen Grafi-ken für die einzelnen Altersgruppensind in Abb.6 und 7 dargestellt.

Die Suizide in der Gruppe der bis zu10-Jährigen wurden mit einer Ausnah-me 1991 durchweg von Personenmännlichen Geschlechts verübt. Über-haupt finden wir erwartungsgemäß in

allen Altersgruppen eine höhere Sui-zidziffer bei den Männern als bei denFrauen. Teilweise beträgt sie das Vier-fache.

In der männlichen Gruppe der 10-bis 20-Jährigen findet man nach 1985einen Rückgang der Suizidziffern, die1992 mit 0,018‰ ihr Minimum errei-chen. Die ohnehin wesentlich geringe-ren Suizidziffern bei den Frauen in die-ser Altersgruppe erreichen 1988 einabsolutes Minimum in dem 15-Jahre-Zeitraum mit 0,006‰ (entspricht in je-

nem Jahr einem Suizidfall) und bleibenin den folgenden Jahren auf einemniedrigen Niveau relativ konstant (mitleichten Anstiegen 1993 und 1995).

Die zunächst recht gleich bleibendeSuizidziffer der 20- bis 30-JährigenMänner erfährt ab 1987 einen konstan-ten Abfall mit einem Minimum 1993von 0,150‰. In den Jahren 1994 und1995 sind dann wieder Anstiege zuverzeichnen. Dieselbe Altersgruppebei den Frauen unterliegt während der80er-Jahre größeren Schwankungen,

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Abb.6. Verlauf der Suizidziffern in ‰ (pro 1000 Einwohner) für die verschiedenen männlichenAltersgruppen in Thüringen 1980–1995

Abb.7. Verlauf der Suizidziffern in ‰ (pro 1000 Einwohner) für die verschiedenen weiblichen Al-tersgruppen in Thüringen 1980–1995

Page 8: Der Suizid und „die Wende" in der DDR

erfährt aber spätestens ab 1988 einenfast konstanten Abfall. Wie die Män-ner, erreichen die Frauen 1993 ein vor-läufiges Minimum mit 0,012‰, waseiner Fallzahl von 2 Suiziden in demJahr entspricht. Auch bei den Frauenerhöht sich die Suizidziffer 1994 und1995 erneut.

Einen recht wechselhaften Verlaufweist die Suizidziffer der 30- bis 40-jährigen Thüringer Männer auf. Auchhier findet man 1993 ein Minimum.Insgesamt bewegen sich die Suizidra-ten der 90er-Jahre gegenüber den 80er-Jahren auf einem deutlich niedrigerenNiveau. Für die Frauen gilt ebenfallsein recht wechselhafter Verlauf für die80er-Jahre. Ein relativ konstanter Ab-fall ist nach 1989 zu beobachten. ImJahr 1994 sinkt die Suizidziffer bei denFrauen auf ihr vorläufiges Minimumvon 0,050‰.

Die Gruppe der 40- bis 50-jährigenMänner verzeichnet nach 1990 einenkonstanten Abfall der Suizidrate underreicht ihr vorläufiges Minimum 1995mit 0,318‰. Gegenüber 1988 – dasden Maximalwert in diesem 15-Jahre-Zeitraum aufweist – bedeutet dies ei-nen Rückgang um mehr als 50%. Ab1987 ist die Suizidziffer der Frauendieser Altersgruppe konstant bis 1993rückläufig, um sich dann bis 1995 auffast das Doppelte des Wertes von 1993zu erhöhen.

Die Suizidziffern der 50- bis 60-jährigen Männer gestalten sich eherschwankend. Ihr Maximum im unter-suchten 15-Jahre-Zeitraum erreichensie 1987. Auch die Werte von 1990 und1991 sind höher als die restlichen Wer-te der 80er-Jahre. Nach 1991 ist dannbis 1994 ein deutlicher Abfall der Sui-zidziffern zu verzeichnen mit einer er-neuten Zunahme 1995. Die bei weitemnicht so hohen Suizidziffern bei denFrauen dieser Altersgruppe weisen aucheinen recht schwankenden Verlauf auf.Wenn auch keinen konstanten Rück-gang, so findet man doch ab 1990 Sui-zidziffern, die alle unter der Höhe derin den 80er-Jahren verzeichneten liegen.

Die zu Beginn der 80er-Jahre (1980–1983) sehr hohe Suizidziffer der 60-bis 70-jährigen Männer fällt 1984 auf0,531‰. Dieser Wert wird erstmals1992 wieder unterboten. Im Jahr 1993erreicht die Suizidziffer im fraglichenZeitraum mit 0,353‰ ihr vorläufiges

Minimum, um 1994 und 1995 wiederanzusteigen. Die Suizidziffern dieserAltersgruppe liegen in den 90er-Jahren(und auch 1984) teilweise unter denender 50- bis 60-jährigen Männer. Beiden Frauen bewegen sich die Suizid-ziffern nach 1989 auf einem deutlichniedrigeren Niveau. Auch sie erreichenihr Minimum 1993 mit 0,179‰.

Die Suizidziffern der 70- bis 80-jährigen Männer übersteigen die dervorangegangenen Altersgruppe in den80er-Jahren oft um das Doppelte bisfast um das Dreifache 1988. Letztge-nanntes Jahr stellt auch den Maximal-wert der Suizidziffer mit 1,824‰ indiesem 15-Jahre-Zeitraum dar. Ab1988 kann man dann auch von starkrückläufigen Suizidziffern in dieser Al-tersgruppe sprechen. Im Jahr 1994wird mit 0,576‰ ein vorläufiges Mi-nimum erreicht. Gegenüber 1988 stelltdies einen Rückgang der Suizidzifferum 68,42% dar. Bei den Frauen dieserAltersgruppe ist nach 1989 ein kon-stanter Rückgang der Suizidziffer zuverzeichnen, der ebenfalls 1994 seinvorläufiges Minimum mit 0,257‰ fin-det und 1995 wieder leicht ansteigt.Auch die Werte der Frauen übersteigendie der vorangegangenen Altersgruppebis über das Doppelte, bewegen sichaber insgesamt auf einer deutlich nied-rigeren Höhe als die der Männer.

Die Gruppe der ab 80-jährigenMänner weist, verglichen mit den an-

deren Altersgruppen, extrem hohe Sui-zidziffern auf. Im Jahr 1989 findet manmit 3,042‰ den Maximalwert des hierbetrachteten Zeitraums. Nach 1989 istein drastischer Rückgang zu verzeich-nen. Allein die Abnahme zwischen1989 und 1990 beträgt fast 28%. Dasvorläufige Minimum ist 1993 mit1,378‰ erreicht. Gegenüber 1989 be-deutet das einen Rückgang um fast55%. Auch die Gruppe der 80-jährigenund älteren Frauen weist vergleichs-weise mit den anderen Altersgruppendie höchsten Suizidziffern auf. Sie be-wegen sich allerdings auf einem weit-aus niedrigeren Niveau, und ihre Dif-ferenz zur nächstjüngeren Altersgrup-pe ist viel kleiner. Für die Frauen die-ser Altersgruppe gilt im Prinzip eineAbnahme der Suizidziffer nach 1988mit einem vorläufigen Minimum 1995von 0,322‰. Gegenüber dem Maxi-malwert von 1982 von 1,101‰ stelltdies eine Abnahme um fast 71% dar.

Um zu überprüfen, ob der Anteil derAlten und ganz Alten (ab 70 Jahre) ander Gesamtzahl der Suizide tatsächlichzurückgegangen ist und somit im We-sentlichen zum Absinken der gesam-ten Suizidrate beigetragen hat, wurdedie Thüringer Bevölkerung in 3 größe-re Altersgruppen6 unterteilt und ihr je-

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FORSCHUNGSBERICHT

Abb.8. Prozentuale Anteile zusammengefasster Altersgruppen an der Gesamtzahl der Suizide inThüringen 1980–1995

6 Hierbei konnten jeweils nur Gruppen in 10-jährigem Abstand zusammengefasst werden,weil die Daten nicht anders vorlagen

Page 9: Der Suizid und „die Wende" in der DDR

weiliger Anteil an der absoluten Zahlder Suizide prozentual errechnet (Abb.8). Die Berechnungen sagen nichtsüber den Gesamtverlauf der Suizidrateaus, sondern lediglich über den pro-zentualen Anteil der 3 Altersgruppenan den gesamten Suiziden. Das erwar-tete anteilmäßige Absinken der ältestenGruppe an den Suiziden muss dem-nach zulasten einer oder beider ande-ren Gruppen gehen. Die 3 Altersgrup-pen sind:

• die bis zu 30jährigen – also die jun-gen Leute,

• mittleres Alter bis alte Leute (30–70) und

• die alten bis ganz alten Leute (ab 70Jahre).

Wiederum stehen die Zahlen für nach-folgende Berechnungen nur bis 1995zur Verfügung.

Tatsächlich zeichnet sich bei der zu-sammengefassten Gruppe der ab 70-Jährigen ein Rückgang an der gesam-ten Suizidrate nach 1989 ab. Aber auchfür die zusammengefasste Gruppe derbis 30-Jährigen gilt ein Rückgang, dersich relativ konstant schon ab 1984 ab-zeichnet. Die Abnahme in diesen bei-den Gruppen geht notwendigerweisemit einer Steigerung des prozentualenAnteils der Suizide der mittleren Grup-pe einher.

Ein ähnliches Bild zeichnet sich fürdie Männer ab (Abb. 9). Die Vermu-tung bestand, dass der Rückgang der

Gesamtsuizidrate gerade auch auf ei-nen Rückgang der Suizide der Männerab 70 Jahren zurückzuführen sei. Dem-nach müsste ihr prozentualer Anteil anden gesamten Suiziden gefallen sein.

Wie vermutet, fällt der prozentualeAnteil der Männer ab 70 Jahre nach1988. Auch bei der Gruppe der bis 30-Jährigen setzt der Abfall schon nach1984 ein. Diese Rückgänge gehen wie-derum mit der Steigerung des Anteilsder mittleren Gruppe an den Suizideneinher.

Zusammenfassung

Insgesamt kann man also feststellen,dass der rückläufige Trend der Suizid-ziffern Ende der 80er-Jahre im We-sentlichen alle Altersgruppen und bei-de Geschlechter betrifft. Der auffälligeRückgang der ursprünglich sehr hohenAlterssuizidalität könnte im Hinblickauf die verbesserte (materielle) Situati-on alter Menschen zu interpretierensein. „Alte Menschen zählen demge-genüber, betrachtet man die Einkom-mensseite, zu den Gewinnern [derWende – Anm. d. Verf.] . . .“ (Bieback-Diel u. Hildenbrand 1998, S. 108) DieWerte der Suizidziffern liegen in der 1. Hälfte der 90er-Jahre zum größtenTeil unter denen der 80er-Jahren. Ab1993 scheint sich eine Konsolidierungder Suizidziffern auf einem niedrigenNiveau abzuzeichnen (bezogen auf denuntersuchten 16-jährigen Zeitraum).

Zu konstatieren bleibt eine deutli-che Abnahme der Suizidziffern. FürThüringen setzt diese Abnahme ca.1987 ein, bereits vor den gesellschafts-politischen Umwälzungen ab Herbst1989. Allerdings verstärkt sich derRückgang nach 1989. Ab 1993 scheintsich die Abnahme auf einem niedrigenNiveau (verglichen mit den vorange-gangenen Jahren) zu konsolidieren.Das Suizidgeschehen entwickelt sichalso völlig entgegengesetzt zur ein-gangs formulierten Hypothese.

Die angenommene anomische Si-tuation im Sinne Durkheims in Ost-deutschland, entstanden durch dieWende im Herbst 1989, scheint so-mit einen eher gegenläufigen Effektauf die Suizidziffern auszuüben: statteiner Zunahme von Suiziden eine Ab-nahme.

Zu fragen bleibt, inwieweit die ge-sellschaftspolitischen Umbrüche abHerbst 1989 in der ehemaligen DDRüberhaupt Einfluss auf das Suizidver-halten genommen haben, da der Rück-gangstrend schon vorher einsetzte. An-dererseits deuteten sich aber die anste-henden Veränderungen und eine Zu-spitzung der politischen Situation inder DDR auch schon vor diesem Zeit-punkt an. Erinnert sei an die massen-haften Abwanderungen vieler Men-schen im Zuge von Ausreisewellenbzw. an die Fluchten über Ungarn unddie damalige Tschechoslowakei. Ver-bissen wehrte sich die DDR-Führung

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Abb.9. Prozentuale Anteile zusammengefasster männlicher Altersgruppen an der Gesamtzahl der Suizide in Thüringen 1980–1995

Page 10: Der Suizid und „die Wende" in der DDR

gegen Glasnost und Perestroika aus derSowjetunion.

Auch die wirtschaftliche Situationspitzte sich in der DDR immer weiterzu. Zwar war das Realeinkommen derBevölkerung in den letzten Jahren ge-wachsen, was aber in einem deutlichdisproportionalen Verhältnis zum pro-duzierten Nationaleinkommen stand.„Der Rückgang der produktiven Akku-mulation ist Hauptursache für das Ab-schwächen des Wachstumstempos derProduktion und des Nationaleinkom-mens, das vor allem ab 1986 wirksamwurde, sowie zunehmende Dispropor-tionen.“ (Schürers Krisen-Analyse1992, S. 1114) Die Auslandsverschul-dung im Westen stieg.

Dennoch ist der starke Rückgangder Suizidraten nach 1989 in Ost-deutschland insgesamt und in Thürin-gen speziell auffällig.

Deshalb sollen an diesem Punkt al-ternativ 2 andere Überlegung Durk-heims aufgenommen werden. Zum ei-nen bietet es sich hier an, DurkheimsKonzept des fatalistischen Suizids auf-zunehmen, das dieser allerdings selbst– wie weiter oben bereits erwähnt –nicht gebührend ausformulierte. Alsder Typ des Suizids, der aus einer ge-sellschaftlichen Überregulierung ent-springt, scheint er bei der Diskussiondes Suizidgeschehens in einer Diktaturam meisten Potenzial zu bergen.

Zum anderen sind Durkheims Aus-führungen zum Suizidverhalten in Zei-ten politischer Krisen gemeint. Politi-sche Krisen – wie Revolutionen undKriege – bewirken eine Abnahme derSuizidrate, weil „. . . die großen Volks-bewegungen wie die großen KriegeKollektivempfindungen wecken, denParteigeist ebenso wie den Patriotis-mus, den politischen Glauben wie dennationalen beleben und, indem alleKräfte auf ein einziges Ziel konzen-triert werden und wenigstens für eineZeit lang eine größere Integration desGanzen zuwege bringen. Nicht also derKrise selbst danken wir den von unsfestgestellten heilsamen Einfluss, son-dern den Kämpfen im Gefolge dieserKrisen. Wenn alle Menschen zusam-menstehen müssen, um einer gemein-samen Gefahr die Stirn zu bieten, danndenkt der Einzelne weniger an sich

selbst und mehr an die gemeinsame Sa-che. Im Übrigen ist es deutlich, dassdiese gegenseitige Verbundenheit nichtnur momentan ist, sondern gelegent-lich länger dauert als das, was sie un-mittelbar hervorgerufen hat, besonderswenn sie stark ist.“ (Durkheim 1990, S.231)

Durkheim nimmt in seiner Theorieeine Trennung von politischen undwirtschaftlichen Krisen vor. Ersteregeht einher mit einem Rückgang derSuizidrate. Die wirtschaftliche Krisehingegen verursacht eine anomischeSituation, die zum Anstieg der Suizid-rate führt. Zum einen ist es aberschwierig, politische Krisen von wirt-schaftlichen zu trennen. (Die Um-brüche in Ostdeutschland betrafen injedem Falle sowohl die politische alsauch die wirtschaftliche Situation.)Zum anderen bewirken auch politischeKrisen Anomiesituationen – „Störun-gen der kollektiven Ordnung“ (Durk-heim 1990, S. 278). Insofern scheintdie Trennung der politischen und wirt-schaftlichen Krise problematisch.

Trotz der theoretischen Inkonsistenzkann man sagen, dass die Befunde derThüringer Statistik mit DurkheimsAusführungen zu politischen Krisenübereinstimmen. Der beginnendeRückgang der Suizidziffern Ende der80er-Jahre fällt in eine Periode politi-scher Zuspitzung in der DDR. DerHöhepunkt der Krise wird mit der Wen-de im Herbst 1989 erreicht, in derenAnschluss die Suizidraten steil fallen.

Ab 1993 scheinen sie sich auf ei-nem niedrigen Niveau zu konsolidie-ren.7 Zu diesem Zeitpunkt waren Wie-dervereinigung und Währungsunionvollzogen, „. . . die Privatisierung desehemals staatlichen Unternehmenssek-tors bis 1994 nahezu abgeschlossen“(Bieback-Diel u. Hildenbrand 1998, S. 88). Möglicherweise war 1993 einPunkt erreicht, an dem im Großen undGanzen die gesellschaftspolitischenUmwälzungen und Umstrukturierun-gen zwar nicht beendet waren, aber einfunktionstüchtiges Stadium erreichthatten und die Menschen in den nun-mehr sog. neuen Bundesländern mit

den Veränderungen als Normalität zuleben begannen und sie nicht mehr alsAusnahmezustand begriffen.

Eine weitere Überlegung, die sichim Laufe der Arbeit entwickelte, ist dieeiner möglichen Substitution von Sui-zid durch Sucht, v. a. Alkoholsucht(Suizid und Sucht stehen ohnehin in ei-nem engen Verhältnis). Natürlich be-stand das Problem der Alkoholabhän-gigkeit bereits in der DDR in gravie-rendem Maße. Dennoch weisen Exper-ten, die ich im Zuge meiner Forschungbefragte, darauf hin, dass die Zahl derSuchterkrankungen nach der Wendegestiegen ist. Tasseit schreibt: „Unterder Randbedingung der Transformati-on gesamtgesellschaftlicher Strukturenerwarten wir ein durch Anomie beding-tes Ansteigen der Alkoholismusrateund erst eine Zeit später ein Ansteigender Suizidrate“ (Tasseit 1993, S. 6).8

Bei einer vergleichenden Betrachtungder Thüringer Zahlen der infolge vonAlkoholismus Verstorbenen mit denSuizidziffern ergibt sich allerdings fürden Untersuchungszeitraum ein gegen-läufiges Bild.9 Inwieweit das eine demanderen geschuldet ist, bedarf genaue-rer empirischer Überprüfung.

Für die Zukunft bleibt abzuwarten,wie sich das Suizidgeschehen ent-wickeln wird. Die wachsende und an-dauernde Arbeitslosigkeit in Ost-deutschland könnte die Vermutung ei-nes erneuten Suizidanstiegs nahe le-gen. Verstärkend kommt hinzu, dass inder DDR-Gesellschaft die Selbstver-wirklichung durch Arbeit als zentralesWertemuster dominierte (Bieback-Diel u. Hildenbrand 1998, S. 90), so-dass die Arbeitslosigkeit eine umso ne-gativere Auswirkung auf die psychi-sche Gesundheit der Ostdeutschen ha-ben dürfte.

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FORSCHUNGSBERICHT

7 Dieser Befund gilt z. B. auch für die Ehe-schließungs- und Scheidungshäufigkeit (Bie-back-Diel u. Hildenbrand 1998, S. 88)

8 Auch scheinen die Trinkmuster und die Sui-zidverteilung in Ostdeutschland in gleiche Rich-tung zu weisen: Dort, wo der Pro-Kopf-Alko-holverbrauch höher war (z.B. in Mecklenburg-Vorpommern), lag die Suizidziffer stets niedri-ger9 Natürlich muss man dabei mit einbeziehen,dass, um an Alkoholismus zu versterben, in denmeisten Fällen ein längerer Zeitraum des Trin-kens vorausgegangen sein muss

Page 11: Der Suizid und „die Wende" in der DDR

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