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DER WEG ZUR ONTOLOGISCHEN KANTINTERPRETATION Kritischer und metaphysischer, methodischer und historischer, systematischer und aporetischer, standpunktlicher und überstandpunktlicher Kant. Heinz Heimsoeths historisch-systematische Interpretation der kritizistischen Kritik und Metaphysik. Zum 12. 8.1971 von Gerhard Funke, Mainz „Mit der Kritik der reinen Vernunft wollte Kant, wie auch das zugleich mit der neuen Vorrede zur zweiten Auflage vorausgeschickte Motto aus dem Programm- werk Bacons andeutet, eine Instauratio magna in Gang setzen: Reform der Meta- physik — von der Art, daß jede künftige Metaphysik ,als Wissenschaft wird auf- treten können 5 ." Mit diesen Worten läßt Heinz Heimsoeth eine zusammenfassende Betrachtung über Kants Erfahrung mit den Erfahrungswissenschaften 1 be- ginnen, welche er dem zweiten Bande seiner Studien zur Philosophie Immanuel Kants (1970) voransetzt. In solcher Feststellung wird von Heimsoeth selbst das Fazit aus einer lebenslangen Bemühung um die historisch-systematisch ange- messene Deutung der Kantischen Kritik und Metaphysik gezogen 2 , die ihrerseits in ihrem Rahmen epochemachend gewesen ist. Heimsoeth nimmt für Kants „eigenste Neuwendung in der Metaphysik" den Titel „Metaphysik von der Meta- physik" in Anspruch 3 . Er verweist darauf, daß Kant sein Unternehmen in dem von ihm eigens so apostrophierten „Zeitalter der Kritik" als Erkundungsfahrt „zwischen den beiden Klippen des Dogmatismus und Skeptizismus" aufgefaßt hat 4 . Kritik ist, wie Heimsoeth bei Kant hervorhebt, „scharfe Beurteilung des 1 Heinz Heimsoeth, Studien zur Philosophie Immanuel Kants II. Methodenbegriffe der Erfahrungswissenschaften und Gegensätzlichkeiten spekulativer Weltkonzeption. Bonn 1970 (= Gesammelte Abhandlungen, Bd. III. Kantstudien-Ergänzungsheft 100), S. 1. 2 „Kritik" und Metaphysik" ist nadi Absidit und Ziel der durchaus sachgemäße Titel der Heimsoeth zum aditzigsten Geburtstag gewidmeten Studien (hrsg. v. F. Kaul- bach und J. Ritter, Berlin 1966), für die „Kritik" kein ausschließender Gegenbegriff zur „Metaphysik** wie für die Neukantianer strenger Observanz geworden ist. Vgl. F. Nicolin in seiner Bibliographie Heinz Heimsoeth, Kritik und Metaphysik, S. 383—395, bes. S. 385. 8 Studien II, S. 8. 4 Studien II, S. 7. 446 Brought to you by | Brown University Rockefeller Library (Brown University Rockefel Authenticated | 172.16.1.226 Download Date | 5/25/12 3:27 PM

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DER WEG ZUR ONTOLOGISCHENKANTINTERPRETATION

Kritischer und metaphysischer, methodischer und historischer, systematischer undaporetischer, standpunktlicher und überstandpunktlicher Kant. Heinz Heimsoethshistorisch-systematische Interpretation der kritizistischen Kritik und Metaphysik.

Zum 12. 8.1971

von Gerhard Funke, Mainz

„Mit der Kritik der reinen Vernunft wollte Kant, wie auch das zugleich mit derneuen Vorrede zur zweiten Auflage vorausgeschickte Motto aus dem Programm-werk Bacons andeutet, eine Instauratio magna in Gang setzen: Reform der Meta-physik — von der Art, daß jede künftige Metaphysik ,als Wissenschaft wird auf-treten können5." Mit diesen Worten läßt Heinz Heimsoeth eine zusammenfassendeBetrachtung über Kants Erfahrung mit den Erfahrungswissenschaften1 be-ginnen, welche er dem zweiten Bande seiner Studien zur Philosophie ImmanuelKants (1970) voransetzt. In solcher Feststellung wird von Heimsoeth selbst dasFazit aus einer lebenslangen Bemühung um die historisch-systematisch ange-messene Deutung der Kantischen Kritik und Metaphysik gezogen 2, die ihrerseitsin ihrem Rahmen epochemachend gewesen ist. Heimsoeth nimmt für Kants„eigenste Neuwendung in der Metaphysik" den Titel „Metaphysik von der Meta-physik" in Anspruch 3. Er verweist darauf, daß Kant sein Unternehmen in demvon ihm eigens so apostrophierten „Zeitalter der Kritik" als Erkundungsfahrt„zwischen den beiden Klippen des Dogmatismus und Skeptizismus" aufgefaßthat4. Kritik ist, wie Heimsoeth bei Kant hervorhebt, „scharfe Beurteilung des

1 Heinz Heimsoeth, Studien zur Philosophie Immanuel Kants II. Methodenbegriffe derErfahrungswissenschaften und Gegensätzlichkeiten spekulativer Weltkonzeption. Bonn1970 (= Gesammelte Abhandlungen, Bd. III. Kantstudien-Ergänzungsheft 100), S. 1.

2 „Kritik" und Metaphysik" ist nadi Absidit und Ziel der durchaus sachgemäßeTitel der Heimsoeth zum aditzigsten Geburtstag gewidmeten Studien (hrsg. v. F. Kaul-bach und J. Ritter, Berlin 1966), für die „Kritik" kein ausschließender Gegenbegriff zur„Metaphysik** wie für die Neukantianer strenger Observanz geworden ist. Vgl. F. Nicolinin seiner Bibliographie Heinz Heimsoeth, Kritik und Metaphysik, S. 383—395, bes.S. 385.

8 Studien II, S. 8.4 Studien II, S. 7.

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Fundaments aller Behauptungen, zu welcher uns die Erfahrenheit langer Zeiten,vielleicht auch die durch den berühmten Baco von Verulam in Gang gebrachtebehutsame Nachforschung der Natur durch Beobachtung und Experiment nichtallein in den Behauptungen der Naturwissenschaft, sondern nach Analogie auchin allen übrigen gebracht hat, von welcher die Alten nichts wußten und so anschwankende Meinungen (sc.: gerade auch in der Metaphysik!) gewohnt wa-ren*' 5. Und eben, wenn Kants Zeitalter das Zeitalter der Kritik eingeleitet hat,bezieht sich Heimsoeth methodisch auf Kant, um — bei Gelegenheit eines etwastandpunktlich gewordenen Kritizismus — zu zeigen, „was aus den kritischenVersuchen unserer Zeit, in Absicht auf Philosophie und Metaphysik insbesondere,werden wird" 6.

1. Es geht Heimsoeth auch bei diesen späten, in den Studien II zusammen-gefaßten Untersuchungen um die „als Progreß verstandene menschliche Erkennt-nis"7. Dieser Progreß wird einmal an Hand von „Kants Erfahrung mit denErfahrungswissenschaften" dargelegt, dann wird er bei Gelegenheit einer mehrgeistes- als problemgeschichtlichen Abhandlung über Astronomisches und Theo-logisches in Kants Weltverständnis bezüglich dessen verfolgt, was lange Zeit(z. B. bei Eugen Dühring, Erich Adickes u. a.) als reine „Privatmetaphysik" Kantsabqualifiziert worden ist8 und als sein bloßes „Weltverständnis" oder seineprivate „Welt-Anschauung", getrennt von seinem Standpunkt als „Erkenntnis-theoretiker" bzw. von seinem „in den drei Kritiken streng geformten Lehr-system"9, auch später noch abschätzig verworfen wird10; und endlich wird er imZusammenhang unter Bezug auf die Antinomienlehre herausgestellt, von denenHeimsoeth in den Studien II ganz ausführlich die zweite, als die Antinomie derTeilung11, die dritte, als die Antinomie der Freiheit12, und die vierte, als dieNotwendigkeits/Zufälligkeits-Antinomie behandelt13, nachdem die Frage der

5 Ak. Ausg. XVIII, S. 28 ff., bei Heimsoeth Stadien II, S. 7 ff.Ak. Ausg. IX, S. 31, bei Heimsoeth S. 8, Anm. 13.

7 Studien II, S. 9.8 Studien II, S. 86—108, bes. S. 86; vgl. G. Lehmann, Kritizismus und kritisches

Motiv in der Entwicklung der Kantisdyen Philosophie, in: Kant-Studien Bd. 48 (1956/7),S. 25—54, bes. S. 26 und S. 26, Anm. 3.

» Studien II, S. 86.10 Gerhard Lehmann hat in dem zitierten Aufsatz (Kant-Studien Bd. 48 (1956/7),

S. 26—27) auf das Problem der „Privatmetaphysik*' Kants und des „Privaten" überhaupthingewiesen und sich dabei auf Eugen Dührings Kritische Geschidrte der Philosophie,1869 (S. 390) bzw. vor allem auf Erich Adickes' Kants Opus postumum, 1920 (§ 290)bezogen.

11 Siehe Studien II: Atom, Seele, Monade. Historische Ursprünge und Hintergründevon Kants Antinomie der Teilung, bes. S. 145 ff. (insges. S. 133—247).

12 Siehe Studien II (S. 248—270): Zum kosmotheologischen Ursprung der KantischenFreiheitsantinomie, mit dem Verweis auf den Sadiursprung der Freiheitsantinomie imkosmologisdien Bereidi (S. 250 f.).

18 Siehe Studien II (S. 248—280): Metaphysische Gehalte in Kants Vierter Antinomie,besonders dort, wo nadi „der uns wohl vertrauten bedingten ,Möglidikeit der Existenz'"audi die „ »unbedingte Möglidikeit der Existenz* Problem wird" (S. 272).

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„Herkunft und Entwicklung von Kants Kategorientafel" 14 überhaupt aufgewor-fen und mit dem Hinweis entschieden worden ist, daß die zwölf Kategorien Kant„durch sein ganzes Leben gegenwärtig" waren „als Prägungen der überliefertenOntologie, samt den darauf Bezug nehmenden Bereichen der Metaphysica specia-lis" 15.

Heimsoeth ist in allen seinen Abhandlungen (1956, 1961, 1970) der Historikerder neuzeitlichen Metaphysik geblieben, der er seit seinen Untersuchungen überDescartes und Leibniz (1911, 1912 ff.) gewesen ist, und er erweist sich zugleichwiederum als Systematiker in seinem ständigen Rückgriff auf die Thematik derdeutschen Metaphysik, die er 1922 in dem Buch Die sechs großen Themen derabendländischen Metaphysik mit ihrem voluntaristischen Kern jener Gesamtbe-trachtung unterzog, welche dann die Hervorkehrung metaphysischer Motive auch inder Ausbildung des kritischen Idealismus (1924) überhaupt möglich gemacht hat16.Als „Problematiker der Metaphysik" 17 nimmt Kant gewiß einen eminenten Platzin der Metaphysikgeschichte für Heimsoeth auch dann ein, wenn er gelegentlich,wie in dem von ihm 1935 zu Windelbands Lehrbuch der Geschichte der Philo-sophie beigesteuerten Abschnitt über „Die Philosophie im 20. Jahrhundert",summierend davon spricht, daß Philosophie als Metaphysik „mindestens für be-stimmte Positionen der sogenannten „wissenschaftlichen Weltanschauung" vonNaturalismus, Positivismus und sozialkritischem Agnostizismus „ausgespielt" ha-be 18. Daß es wirklich um die Metaphysik so steht, erscheint freilich nach Heim-soeths letzter Darstellung in Kants Erfahrung .mit den Erfahmngswissenschaftendurchaus zweifelhaft, wo er bei der Erörterung des Problems der Organisa-tion lö mit Kant zu dem Schluß kommt: „Woher denn alle Organisation selbstursprünglich herkomme", diesem Problem kann in keiner Physik als Wissenschaftnachgefragt werden; die Beantwortung würde offenbar „außer der Naturwissen-schaft" in der Metaphysik liegen, und wo er weiterhin bei der Behandlung derFreiheitsproblematik feststellt, daß eben dies „Lebensproblem der Freiheit" nichtmehr als (ein höchster) „Grad" des Lebens begriffen werden kann, „sondern alsein Noumenon von allen uns auf Wegen der Naturgesetze und -Systematik er-kennbaren Kausalitäten sich unzweideutig abhebt"20 — eben solche Gegeben-heiten haben aber für Heimsoeth „ihren wahren Ort in dem Bereich einer ,Meta-

14 Siehe Studien II (S. 109—132), wo Heimsoeth auf den Brief Kants an Marcus Herzvom 21. 2. 1772 verweist und auf sein Problem, „alle Begriffe der gäntzlidi reinenVernunft" nun nicht mehr „aufs bloße Ungefähr", sondern so, „wie sie sidi selbst durdieinige wenige Grundgesetze des Verstandes ... in Classen eintheilen", als Elementar-formen des reinen Verstandes „in eine gewisse Zahl von categorien zu bringen" (S. 109).

15 Studien II, S. 111.16 Vgl. G. Lehmann, Kritizismus, S. 28—29.17 H. Heimsoeth, Metaphysik der Neuzeit, Mündien-Berlin 1929, S. 86.18 Windelband-Heimsoeth, Lehrbuch der Ges&idrte der Philosophie, Tübingen 193513,

S. 573.19 Studien II, S. 84.20 Studien II, S. 85.

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physik' im Sinne Kants, wonach sie ihrerseits als »Wissenschaft' wird auftretenkönnen" ».

2. Natürlich ist es richtig, wenn es anläßlich einer bibliographischen (1966schon 133 Titel umfassenden) Überschau über das Werk Heimsoeths heißt, es seidies „das Werk eines Historikers der Philosophie", das eigentlich nicht deshalbso einheitlich sei, weil es sich in erstaunlicher Weise auf die Neuzeit beschränke,sondern weil es von „seiner systematisch interessierten Fragestellung" her „denCharakter eines in sich gerundeten Ganzen wie seinen sachlichen Rang" ge-winnt22. Die „einheitsstiftende Mitte", von der der Kommentator FriedhelmNicolin spricht23, hat Heimsoeth in dem von ihm zusammen mit Robert Heissherausgegebenen Sammelband für Nicolai Hartmann, Adolf Trendelenburg zi-tierend, anläßlich seines Beitrages Zur Geschichte der Kategorienlehre selbstgenannt: es sei eben das Ziel, „für die Philosophie von der Geschichte zu ler-nen" 24. Und wenn Heimsoeth in seiner Darstellung der Gegenwartsphilosophiehervorhebt, daß die seit dem 19. Jahrhundert ständig wachsende Erforschung derPhilosophiegeschichte von der rückblickenden Reproduktion klassischer Systemeenergisch abgerückt sei und auch nicht die bloß-philologische Detailerforschungder Texte und Meinungen zum Ziele habe25, sondern „daß Philosophiehistorieheute durchgängig in unlösbarer Verflechtung mit dem vorstoßenden Problem-bewußtsem selbst steht" und „dieses wiederum ständig das früher und einst Ver-suchte in seiner Wahrheit oder auch Verfehlung neu sich auszulegen strebt" 26, sokommt in dieser Charakteristik (wie Nicolin zeigt) zum Ausdruck, daß Heim-soeth auch das eigene Vorgehen so aufgefaßt wissen will. Die großen Denker, zudenen Heimsoeth immer wieder zurückkehrt — Paracelsus, Bruno, Descartes,Leibniz, Kant, Fichte, Hegel, Nietzsche — haben eben nicht nur historischenRang, sondern systematische Relevanz,

Wenn das Kantjahr 1924 in der Geschichte der Kantforschung und Kant-deutung als ein „Epochenjahr" bezeichnet worden ist27, so gilt das nicht nur des-wegen, weil nun in eminenter Weise, von verschiedenen Seiten her, die metaphysi-schen Motive in der Ausbildung des kritischen Idealismus herausgearbeitet wer-den, sondern weil einerseits der Zugang zu einer eigenen Kantischen „praktisch-dogmatischen Metaphysik" gewonnen28 und andererseits der Ausgang in eine

21 Studien II, S. 85.22 F. Nicolin, Bibliographie Heinz Heimsoeth, in: Kritik und Metaphysik, Studien für

Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag, hrsg. von Fr. Kaulbadi und J. Ritter,Berlin 1966, S. 383—395, hier S. 383.

23 Nicolin, Bibliographie Heinz Heimsoctht S. 383.24 H. Heimsoeth/R. Heiss (Hrsg.), Nicolai Hartmann. Der Denker und sein Werk,

Göttingen 1952, S. 144—172, hier S. 144.25 Windelband-Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, S. 583.2e S. 583.27 Hans Wagner, Zur Kantinterpretation der Gegenwart: Rudolf Zocher und Heinz

Heimsoeth, in: Kant-Studien Bd. 53 (1961/2), S. 235—254, bes. S. 246.28 Hans Wagner, S. 246.

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allgemeine systematische Metaphysik eröffnet wird. Die „Revision" des reinerkenntnistheoretischen und wissenschaftskritischen Philosophierens (Vleeschau-wer) und der Vollzug einer „Wende" zur Metaphysik (Nicolin) wird überein-stimmend als wesentlich von Heimsoeth inauguriert gewürdigt — so seit ErichPrzywara (1929) von Gottfried Martin (1951), Ingeborg Heidemann (1956/7),Hinrich Knittermeyer (1957/8), Hans Wagner (1961/2), Herman de Vleeschau-wer (1963), Manfred Brelage (1965), Friedhelm Nicolin (1966), Friedrich Kaul-bach (1968) u. a.2Ö.

Natürlich brachte das Jahr 1924 auch nicht nur die Arbeiten von Max Wundt,Nicolai Hartmann und Heinz Heimsoeth, sondern dazu jene von JohannesVolkelt, Otto Selz, Gottfried Bohnenblust u. a.30. Aber das Wichtige wird jetztdoch die methodische Anwendung des kritischen Denkens auf den Kritizismus alsSystem, womit Kant seinerseits verstanden werden soll als derjenige, „der sichnicht in der Ablehnung der dogmatischen Metaphysik erschöpft, sondern ineiner eigenen ontologischen Grundlegung über bloße Vernunft- und Erkenntnis-kritik hinaus ein neues Person- und Weltverständnis entwickelt"31. Faktisch istdiese historische und metaphysische Interpretation Kants in einem Maße wirksamgeworden, daß Gerhard Lehmann 1956/7 daran erinnern mußte, es dürfe dochwohl der kritische Kant auch wiederum nicht ganz hinter dem metaphysischenverschwinden32. Ingeborg Heidemann hatte zur gleichen Zeit die drei ineinanderverflochtenen Momente für den neuen Zugang zu Kant genannt, nämlich die im20. Jahrhundert mögliche Auswertung der vorkritischen und nachkritischen Schrif-ten Kants, die aktuelle Veränderung des Problembewußtseins und die nun kriti-sche Einstellung gegenüber nur wissenschaftstheoretischen oder positivistischenFragestellungen, sowie das persönlich-systematische Interesse Heimsoeths selbst an

29 Eridi Przywara, Ringen der Gegenwart, 2 Bände, Augsburg 1929 (S. 231, 251).Gottfried Martin, Immanuel Kant, Berlin 1969 4 (S. 200), Ingeborg Heidemann, Person undWelt. Zur Kantinterpretation von Heinz Heimsoeth, in: Kant-Studien Bd. 48 (1956/7),S. 344. Hinridi Knittermeyer, Zu Heinz Heimsoeths Kantdeutung, in Kant-Studien Bd. 49(1957/8), S. 293—311, Hans Wagner, Zur Kantinterpretation der Gegenwart, in: Kant-Studien Bd. 53 (1961/2), S. 235—254, bes. S. 246—254. Herman J. de Vleesdiauwer,Etudes kantiennes contemporaines, in: Kant-Studien Bd. 54 (1963), S. 63—119, bes..S 73 ff. Manfred Brelage, Studien zur Transzendentalphilosophie, Berlin 1965, S. 232.Friedhelm Nicolin, Bibliographie Heinz Heimsoeth, in: Kritik und Metaphysik, Berlin1966, S. 383. Friedrich Kaulbach, Kants Theorie der Dialektik. Zu Heinz Heimsoeth,Transzendentale Dialektik, in: Kant-Studien Bd. 59 (1968), S. 240—250, bes. S. 240.

30 Vgl. Max Wundt, Kant als Metaphysiker (1924). Nicolai Hartmann, Diesseits vonIdealismus und Realismus (1924). Heinz Heimsoeth, Metaphysische Motive in der Aus-bildung des kritischen Idealismus (Kant-Studien Bd. 29, 1924) und Persönlichkeitsbewußt-sein und Ding an sich in der Kantischen Philosophie (Festschrift Königsberg 1924).Johannes Volkelt, Kant als Philosoph des Unbedingten (1924). Otto Selz, Kants Stellungin der Geistesgeschichte (1924). Gottfried Bohnenblust, Kant und die Kunst (1924), dazuErich Adickes, Kant und das Ding an sich (1924).

51 I. Heidemann, Person und Welt, S. 344.32 G. Lehmann, Kritizismus, S. 29.

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der Thematik der Metaphysik33. Der letzte Gesichtspunkt ist als Angelpunktwichtig.

Paul Menzer hat in seinem Bericht über Die Kant-Ausgabe der Berliner Aka-demie der Wissenschaften^ auf einen im Jahre 1889 von Wilhelm Diltheyveröffentlichten Vortrag hingewiesen35 und gezeigt, wie sehr Dilthey aus dergeistesgesdiichtlichen Situation des ausgehenden 19. Jahrhunderts heraus „diemangelnde Beachtung des Nachlasses großer Dichter und Denker" beklagte undwie wichtig es ihm schien, „die persönlichen Äußerungen der großen Philosophenfür ein tieferes Verständnis ihrer Lehre zu verwerten" 36. Die von Dilthey ver-anlaßte und 1894 zustandegekommene Arbeit an der Kant-Akademieausgabe hatdann ja auch neben der Vorlage der Werke und der Vorlesungsnachschriften dieHerausgabe des Briefwechsels und des handschriftlichen Nachlasses zum Ziel37.

Heinz Heimsoeth hat sich im gleichen Jahr und bei gleichem Anlaß wie Menzer(1957/8) 2ur Akademieausgabe von Kants Gesammelten Scbrtftm über „Ab-schluß und Aufgaben" 38 dieser großen editorischen Arbeit geäußert, und er hatmit Bezug auf den Initiator Dilthey gerade auch „in der Kantsache sein univer-sales Interesse am geistigen Entstehungs- und Entfaltungsvorgang der leitendenAntriebe" hervorgehoben39. Das, was Dilthey im Vorwort zur Kant-Ausgabe190240 feststellt, kann aber als Motiv für Heimsoeths eigene philosophiege-schichtliche Forschung gelten: „Die Entwicklungsgeschichte der großen Denkererleuchtet ihre Systeme und sie ist die unentbehrliche Grundlage für das Ver-ständnis der Geschichte des menschlichen Geistes"41. Nach Heimsoeth stellt sichdas entwicklungsgeschichtliche Problem überall, aber besonders „kann die Ge-schichte des philosophischen Denkens nur durch diese Methode den Zusammenhangerfassen, in welchem ihre einzelnen Gestalten unter sich und mit den letzten Tie-fen ihres Wesens verknüpft sind"42. Wo ein umfangreicher, eindeutiger hand-schriftlicher Nachlaß nicht zur Verfügung steht, muß der Weg der Entdeckungder „geheimen Philosophie" beschatten werden, auf die Dilthey abzielt, und diedie „eigentliche" Philosophie des jeweils zu interpretierenden Autors heißenkann.

33 I. Heidemann, Person und Welt, S. 345.34 Paul Menzer, Die Kant-Ausgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften, in:

Kant-Studien Bd. 49 (1957/8), S. 337—350.35 P. Menzer, Kant-Ausgabe, S. 337, dort der Hinweis auf W. Dilthey, Archive der

Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie, Ges.Schriften Bd. IV, S. 555—575.

3« P. Menzer, Kant-Ausgabe, S. 337.37 Vgl. G. Lehmann, Zur Geschichte der Kant-Ausgabe, Sonderdruck der Deutschen

Akademie der Wissenschaften (1946—1956), S. 422—434.85 Heinz Heimsoeth, Zur Akademieausgabe von Kants Gesammelten Sdmftcn. Ab-

sdnuß und Aufgaben, in: Kant-Studien Bd. 49 (1957/8), S. 351—363.39 H. Heimsoeth, Zur Akademieausgabe, S. 352.40 Vorwort zur Kant-Ausgabe, Bd. I (1902), S. VIII.41 H. Heimsoeth, Zur Akademieausgabe, S. 352—3.42 H. Heimsoeth, Zur Akademieausgabe, S. 353.

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Wenn nun das entwicklungsgeschichtlicrie Interesse der Kantforscher und Kant-hcrausgeber des 19. Jahrhunderts nach Heimsoeth vorwiegend auf die Vor-stadien der kritischen Position Kants gerichtet war, so deckt Heimsoeth selbstseinerseits in seinen philosophiehistorischen wie systematisch orientierten Arbeitenauf, daß die von der Dilthey-Zeit als selbstverständlich unterstellte und „als einfür allemal geschehene und entscheidende Abkehr von der gesamten Metaphysikund ontologischen Oberlieferung" aufgefaßte Position Kants, die dogmatisierend„als Grundlegung reiner Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre angesehenwurde", ihrerseits doch wieder aus verdeckten tieferen historischen Zusammen-hängen begriffen und dadurch auch in ihrem systematischen Gehalt angemessenergewürdigt werden müßte. Damit wäre es der methodisch geübte Geist der Kritikselbst, der sich hier gegen eine verfrühte anti-metaphysische PositionalisierungKants wendet und der dann die bei Dilthey besdiworene „Euthanasie der Meta-physik" bzw. den „erkenntnistheoretischen Standpunkt der Menschheit" ver-meidet 43.

3. Wie Friedrich Paulsen (1898), Hans Pichler (1910) und Nicolai Hartmann(1921) noch zur Zeit der vollen Wirksamkeit des Neukantianismus auf die meta-physischen Implikationen des Kritizismus hingewiesen haben, ist bekannt44; daßHeimsoeth (anders als die Kantphilologie Vaihingers) mit seinen zahlreichenhistorischen Beiträgen durch ganze Serien hochgelehrter Miniaturen den problem-und systemgeschichtlichen Hintergrund des kritischen Idealismus in minutiösenDetailarbeiten überhaupt erst sichtbar und lebendig gemacht habe, ist die These,die etwa Vleeschauwer45 und Nicolin 46 vertreten.

Von solchen Spezialuntersudiungen her ergibt sich für ihn allein die Möglich-keit, einen größeren Überblick zu versuchen, z. B. wenn er — wie RichardMüller-Freienfels bei Gelegenheit des Oxforder Philosophenkongresses 1930 be-merkt — im Ausgang von einer Analyse des Streits um das Daseinsrecht derMetaphysik und der Geschichte ihres Begriffs z. B. den Begriff der Metaphysik inseiner vielfältigen Bedeutung in Vergangenheit und Gegenwart überhaupt er-örtert47. In den problem- und systemgeschichtlichen Analysen unscheinbarsterZusammenhänge rekonstruiert Heimsoeth (so meint Herman de Vleeschauwer) dieMetaphysik, das heißt «Heimsoeth n'a point redige une oeuvre d'ensemble etd'un seul tenant sur Kant. II d£posa plutot ses revisions dans des etudes separiesde dimensions moyennes, parues en divers endroits»48. Diese Spezialstudien

43 H. Heimsoeth, Zar Akademieausgabe, S. 353.44 Friedrich Paulsen, Immanuel Kant, sein Leben und seine Lehre, Stuttgart 1898.

Hans Pidiler, Christian Wolffs Ontotogie, Leipzig 1910. Nicolai Hartmann, Grundzügeeiner Metaphysik der Erkenntnis, Berlin 1921.

45 H. de Vleeschauwer, Etudes kantiennes contemporaines, S. 75.46 F. Nicolin, Bibliographie Heinz Heimsoeth, S. 383.47 Richard Müller-Freienfels, Der siebente internationale Kongreß für Philosophie in

Oxford 1930, in: Kant-Studien Bd. 35 (1930), S. 572—574.48 H. de Vleeschauwer, Etudes kantiennes contemporaines, S. 63—119, hier bes. S. 73 ff.

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wahren, obwohl sie oftmals das letzte Wort in einer Sache darstellen, stets denCharakter der Vorläufigkeit, und sie handeln dann, worauf Nicolin hingewiesenhat49, von „Ursprüngen", „Grundlagen", „Hintergründen", „Voraussetzungen",„Antrieben", „Motiven" usw., also von methodisch hin und her gewendeten Be-dingungen der Möglichkeit.

Heimsoeth fragt z. B. nach Leibnizens Methode der formalen Begründung(1913), nach seiner Weltanschauung als Ursprung seiner Gedankenwelt (1917),nach dem Beginn der Neuzeit in der Geschichte der Philosophie (1921), nachmetaphysischen Motiven in der Ausbildung des kritischen Idealismus (1924), nachgewissen Beziehungen zwischen den „Regeln" und den „Meditationen" desDescartes (1913), nach Wolffs Ontologie und der Prinzipienforsdmng (1956),aber auch nach den großen Themen der abendländischen Metaphysik (1922); erverfolgt den Kampf um den Raum in der Metaphysik der Neuzeit (1925/6), dieErrungenschaften des deutschen Idealismus (1931), die Philosophie in unserer Zeit— einst, gestern und heute (1938), er verfolgt den Weg des frühen Nietzsche(1940), Kants Philosophie des Organischen in den letzten Systementwürfen(1940/1), Kants Entwicklung überhaupt (1940/1) und Kant heute (1948), auchNietzsches Weg zur Philosophie (1943) sowie die metaphysischen Voraussetzun-gen und Antriebe in Nietzsches Immoralismus (1955); er liefert in Metaphysikund Kritik bei Chr. A. Crusius einen Beitrag zur ontologischen Vorgeschichteder Kritik der reinen Vernunft im 18. Jahrhundert (1926) und in seiner Studieüber zeitliche Weltunendlichkeit und das Problem des Anfangs die Vorgeschichtevon Kants erster Antinomie (1960); er analysiert Grund und Herkunft der Moral(1958), die metaphysischen Gehalte in Kants vierter Antinomie (1965), denDurcbbrudj des neuzeitlichen Bewußtseinsidealismus bei Gelegenheit einer Er-innerung an Arthur Colliers Clavis universalis (1960) und die Aufsdrtießungder gesellsdiaftlich-gesdiichtlidien Welt bei Fichte (1962); er steuert Untersuchun-gen bei zur Ontologie der Realitätsschichten in der französischen Philosophie(1939), zur Geschichte der Kategorienlehre (1952), zur Herkunft und Geschichtevon Kants Kategorientafel (1963), zum Begriff des Romantischen in HegelsÄsthetik (1966); er gibt Berichte über die historisch-kritische Nietzsche-Gesamt-ausgabe (1937), über Fichtes nachgelassene Schriften bei Gelegenheit von FichtcsSystementwicklung in seinen Jenenser Vorlesungen (1939/40), über die Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften (1957/8) und über die Hegel-Ausgabe der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1959/60); er leiht den Hegel-Studien (1961) und Hegels Gesammelten Werken ein Vorwort (1967), ergänztWindelbands Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (1935), und kommentiertKants transzendentale Dialektik (1966 ff.); schließlich gruppiert er seine Kantgewidmeten Studien nach den Oberbegriffen „Metaphysische Ursprünge und onto-logische Grundlagen" bzw. „Methodenbegriffe der Erfahrungswissenschaften undGegensätzlichkeiten spekulativer Weltkonzeption" (1956, 1970).

4t> F. Nicolin, Bibliographie Heinz Heimsoeth, S. 383.

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Bei den vornehmlich im 18, Jahrhundert zentrierten Beiträgen ist es dabei dasstets durchgehaltene Ziel, durch die Einbeziehung der vorkritischen Schriften indie kritische Erörterung die Problematik der vermeintlich gesicherten „kritischen"Thesen aufzudecken50. Damit tritt die Frage nach dem „kritischen" und dem„metaphysischen", nach dem „systematischen" und dem „aporetischen" Kant auf,aber so, daß die Linien sich verschränken.

4. Erich Przywara hat schon* 1929 darauf hingewiesen, daß durch die Arbeitenvon Erich Adickes, Nicolai Hartmann und Heinz Heimsoeth in der Kantfor-schung „die Kontinuität vom aporetischen Thomas zum aporetischen Kant"herauszutreten beginnt51, und Gerhard Lehmann hat ein Menschenalter späterdie Unterscheidung von Kant als System- bzw. als Problemdenker sowie zwischensystematischem und aporetischem Kant wiederholt52. Freilich sind die Absichtenbeider gänzlich verschieden. Przywara verweist auf Heimsoeths Untersuchungenaus dem Jahre 192453, um dessen Abkehr vom „Kritizismus" und Wende zurMetaphysik an Natorps Spätphilosophie anzuschließen, der „den entscheidendenSchritt zu einem absoluten Dasein" vollzogen habe54; für Lehmann reicht es nichtaus, „dem aporetischen Kant einen Vorzug vor dem systematischen zu geben"55,weil zu jeder aporetischen wie systematischen Interpretation grundsätzlich einBestand eigener Systemthesen gehöre5 , die wiederum vorgängig zu prüfen sind.

Przywara versucht, einen „überstandpunktlichen" („aporetischen") Kant voneinem „standpunktlichen" (anti-metaphysischen) Kant zu trennen57, und er be-zieht die Darlegungen Heimsoeths (seit 1924) auf die „überstandpunktliche"Position, denn sie bedeute gegenüber „der Anmaßung des zeitgeschichtlichen Ra-tionalismus eine Einschränkung des allmächtigen Vernünfteins, das an die Stelledes Glaubens getreten war" 58. Der „standpunktliche" Kant ist dann der, der inseiner Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft die letzten Reste derOffenbarung getilgt haben soll, wobei sich das Wort, er habe das Wissen auf-heben müssen, um dem Glauben Platz zu machen, bloß auf einen Postulatglaubender praktischen Vernunft beziehen lasse. Die Termini „standpunktlich" und„überstandpunktlidi" werden hier als „kritizistisdi" und „methodisch-kritisch"verstanden, wobei der „überstandpunktliche" Verfahrensweg als möglicher Weg

50 H. Knittermeyer, Zu H. Heimsoeths Kantdeutung, S. 295.51 E. Przywara, Ringen der Gegenwart, S. 251.52 G. Lehmann, Voraussetzungen und Grenzen systematischer Kantinterpretation, in:

Kant-Studien Bd. 49 (1957/8), S. 364—388, bes. S. 364.53 H. Heimsoeth, Metaphysische Motive in der Ausbildung des kritisden Idealismus,

Kant-Studien Bd. 29 (1924), und Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an siel) in derKantischen Philosophie, Festschrift Königsberg 1924.

54 E. Przywara, Ringen der Gegenwart, S. 252.55 G. Lehmann, Voraussetzungen und Grenzen systematischer Kantinterpretation,

Kant-Studien Bd. 49 (1957/8), S. 364.56 G. Lehmann, Kantinterpretation, S. 386.57 E. Przywara, Ringen der Gegenwart, S. 780—1.58 E. Przywara, Ringen der Gegenwart, S. 780.

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zur recht verstandenen, „eigentlichen" Metaphysik genommen wird. In diesemSinne hat Przywara bereits in den zwanziger Jahren auch zwischen „überstand-punktlich" und „standpunktlich" anläßlich der Kontroverse „Kant und derKatholizismus"59 unterschieden, und er hat Heimsoeth dabei ausdrücklich füreinen in diesem Sinne aufgefaßten „überstandpunktlidien" (also nicht doktrinärkritizistisdien, dafür metaphysik-offenen) Kant in Anspruch genommen °°.

Bei der in den gleichen zwanziger Jahren neu entfachten Diskussion um dasProblem von Ding-an-sidi und Bewußtsein61 bzw. von Allgemeingesetzmäßig-keit und Individualfreiheite2 wird Heimsoeth von Przywara gegen den Kritizis-mus als Lehre und für die historisch und aporetisdi nahegelegte Ermöglichungvon Metaphysik durch das Kantische Denken seinerseits als ausschlaggebenderFaktor in Rechnung gestellt6S, und ähnlich ist es bei der Frage nach Gott als Ur-grund einer letztlich unergründlichen, individuell-vielfältigen Realwelt oder alsZusammenhalt der allgemeingültigen intelligiblen Idealwelt des Reichs der Zwek-ke64. Aus dem unverkennbaren Drängen nach Metaphysik sind (bei Przywara)dann vier Deutungen herausgeholt worden, die zugleich Anweisungen für dasweitere jeweilige Verfahren enthalten. Eine erste entspricht der NeudeutungKants als Metaphysikers der intelligiblen Freiheitswelt durch Heimsoeth, wobei inletzter Konsequenz Fichte als der Sinn des echten Kantianismus und als Sinn derphilosophischen Entwicklung erscheinen muß 65 — eine zweite Deutung verlegtden Bedeutungsakzent vom systematischen Kant des transzendentalen Ich aufden aporetisdien Kant eines faktischen Realismus, wie es bei Nicolai Hartmannmanifest wird — eine dritte Deutung geht von den Antinomien Kants aus zumPolaritätsdenken über, und die „Wende zur Metaphysik" ist hier, etwa mit PaulTillich, eine Wende zu Schelling67 — eine vierte Deutung endlich will bei Ge-legenheit der Kantdiskussion den Zusammenbruch des platonisch-kantischen Den-kens überhaupt diagnostizieren und eine metaphysik-günstigere Erneuerung desaristotelisch-thomistischen Philosophierens kommen sehen, die, nach Peter Wust,

59 Vgl. A. Dyroff, Kant und der Katholizismus in: Germania Nr. 416 (1924); ders.Kam und die Scholastik, in: Philos. Jahrbuch 37 (1924), S. 97 ff.; dagegen F. X. KieflsKritik in: Korrespondenz- und Offertenblatt für die gesamte katholische GeistlichkeitDeutsdilands, 34 (1924), S. 25.

w E. Przywara, Ringen der Gegenwart, S. 781 ff.el Erich Adickes, Kant und das Ding an sich, Berlin 1924; Johannes Volkelt, Kant als

Philosoph des Unbedingten, Erlangen 1924.e2 Vgl. Przywaras Hinweis (S. 798) auf O. Selz, Kants Stellung in der Geistesgeschichte,

Mannheim 1924, und auf Gottfried Bohnenblust, Kant und die Kunst, Luzern 1914.63 E. Przywara, Ringen der Gegenwart, S. 798.64 E. Przywara, Ringen der Gegenwart, S. 799.65 E. Przywara, Ringen der Gegenwart, S. 931, vgl. dazu H. Heimsoeth, Fiate,

Mündien 1923, S. 7—9. *w Vgl. N. Hartmann, Diesseits von Idealismus und Realismus, in: Kant-Studien Bd. 29

(1924), S. 160 ff.e7 Vgl. Paul Tillidi, Mystik und Schuldbewußtsein in Scbellings philosophisdier Ent-

wicklung, Gütersloh 1912; dazu Kairos (1926).

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der Säkularisierung des europäischen Geistes Einhalt gebietet68. In jedem Fallwird hier deutlich, wie stark die positionale („systematische") Festlegung undVorentscheidung auch bei solcher Einteilung wieder wirksam ist. Der Rückgangauf den historischen, den aporetischen, den methodisch-kritischen Kant soll derFestigung einer historisch gerade zu rechtfertigenden Metaphysik, der Auflösungdes un-metaphysischen, „erkenntnistheoretisch fixierten" Kritizismus, der Beseiti-gung des reinen Methodologismüs dienen. Das Problem, das in dieser „Wende zurMetaphysik" steckt, ist durch Gerhard Lehmann beim Namen genannt wor-den °9.

Wenn er dabei eine „prinzipiell-systematische" Kantinterpretation verlangt70,so befindet er sich im Einklang mit den prinzipiellen Forderungen Kants selbst.Mit Recht weist er darauf hin, daß jenes Verfahren, etwa aus der KantischenPhilosophie einzelne „Teile" (besondere „Probleme") herauszulösen und isoliertzu behandeln, also solche auszusuchen, „die der eigenen Systematik entsprechen",doch wohl „naiv-eklektisch" genannt werden müßte und „mit Interpretationkaum etwas zu tun" habe71. Wenn er trotzdem die Unterscheidung zwischen„systematischem" und „aporetischem" Kant bejaht72, so muß das einen tieferenGrund haben. Wenn man nämlich meint, es habe die systematische Kantinter-pretation dort ihre Grenze, wo Kant Probleme ohne Rückgriff auf sein System,wo er sie sozusagen „als solche" behandelt, dann ist dagegen einzuwenden, daßes wohl kein „reines Problemdenken ohne systematischen Leitfaden" gibt und daßsich Kantisches methodisch-kritisches Denken .gewiß auch gerade an der Auf-deckung dieser Systemhintergründe bewähren müßte73. Vor allem jedochkann es so sein, daß man auch eine bei Kant festzustellende Aporetik „aufeine nicht auf der Hand liegende, nicht formulierte', sondern erst zu erarbei-tende tiefere Systematik beziehen muß"74. Hier verschränken sich historisch-metaphysische und kritisch-systematische Forschung. Zu jeder systematischen In-terpretation gehört — auch wenn sie auf Aporien führt — ein Grundbestand„eigener" Systemthesen, das ist auch bei der Kantinterpretation der Fall. Vorallem gehört zur systematischen Interpretation jedoch im allgemeinen, und so auchim Falle Kants, „die Hypothesis einer leitenden Systemidee" 75. Ist die etwa, wiedas bei einem ausgearbeiteten philosophischen „System" durchaus möglich ist,durch die vom Autor selbst gewählte „künstliche" Systematik verdeckt, so er-wächst der systematischen Interpretation die spezielle Aufgabe einer historisch

68 Vgl. Peter Wust, Die Säkularisierung des europäischen Geistes, in: Hochland 23(1925/6), S. 1—19, 195—213, sowie die ganze sogenannte Exils-Debatte bei Karl Hoeber,Die Rückkehr aus dem Exil, Düsseldorf 1926.

69 G. Lehmann, Kritizismus, Kant-Studien Bd. 48, S. 25—29.70 G. Lehmann, Kantinterpretation, Kant-Studien Bd. 49, S. 387.71 G. Lehmann, S. 387.72 G. Lehmann, S. 364.73 G. Lehmann, S. 365.74 G. Lehmann, S. 368.75 G. Lehmann, S. 386.

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detaillierten Interpretation, und die Kritik muß auf den „Kritizismus" ebensoangewandt werden wie sonst in anderen Fällen auch, und die methodische Be-folgung des kritischen Gedankens legt in der Rückbeziehung etwa auftretenderAporien das geheime, „eigentliche" System frei, das besser zu verstehen, als derAutor in der Lage war, die Aufgabe bleibt. Das heißt jedoch, daß die expliziteSystematik vielleicht täuscht, und daß sich erst in iterierender Anwendung desmethodisch-kritischen Rückfrageverfahrens jene Verstehensrelation einstellt, „inwelcher Kant gleichsam zur Sprache gebracht, zu bestimmten Antworten genötigtwird" ™.

5. Heimsoeth stellt für den Gesamtzeitraum der von ihm behandelten Meta-physik (die „Metaphysik der Neuzeit" 77) fest, daß er in systematischer Hinsichtvon unermeßlicher Bedeutung gewesen sei, und nichts wäre verkehrter als dies,anzunehmen, daß „mit dem Reifen des wissenschaftlich kritischen Bewußtseinsund mit der großen Entfaltung der einzelnen Natur- und Geisteswissenschaften indiesem Zeitraum eine zunehmende Auflösung der metaphysischen Denkweise ver-bunden wäre" 78. Jede faktisch auftretende Metaphysikfeindlichkeit, wie etwa diespezialistische und positivistische im 18. bzw. im 19. Jahrhundert, ist lebens-geschichtlich durchaus verständlich und nichts Ungewohntes, nur bedeutet sienicht die Unwirksamkeit der Metaphysik. Denn selbst in diesen Zeitaltern, wiesonst auch, schälen sich die großen Leitgedanken der Philosophie „auf denWegen der metaphysischen Systembildung heraus" 79, für die einerseits Descartes,Malebranche, Spinoza, Leibniz, Hobbes und Berkeley und andererseits Kant,Fichte, Sdielling, Hegel, Schopenhauer als Beispiele genommen werden. Wesentlichfür Heimsoeths Auffassung vom Zusammenwirken historischer und systematischerInterpretation ist dies, daß manches von dem Tiefsten, das in einer jeweils späte-ren Zeit in das Licht einer „neuen Systematik" tritt, auf Konzeptionen frühererDenker in der Neuzeit zurückgeht, die untergründig tradiert sind — „auf Denker,deren Bedeutung für die Erarbeitung des metaphysischen Gedankengutes dadurchnicht geschmälert wird, daß sie in weniger glanzvoller Umgebung und auf weni-ger einheitlichem Boden ihre Werke schufen" 80.

Im einzelnen heißt dies zunächst, daß es für das inhaltliche Verständnis und fürdas Wissen um die Fortwirkung der sogenannten neuzeitlichen Metaphysik vonentscheidender Wichtigkeit bleibt, „sich klar zu machen, wie tief ihre Systemenicht nur tatsächlich, sondern ausdrücklich und bewußt im Zusammenhang lebenmit den religiösen Grundlagen und Überzeugungen ihrer Umwelt, des christlichen

76 G. Lehmann, S. 386.77 Vgl. H. Heimsoeth, Metaphysik der Neuzeit, München-Berlin 1929 (= Handbud) der

Philosophie, hrsg. v. A. Baeumler und M. Sdiröter, Bd. I: Die Gmnddisziplinen), 1967*mit neuem Vorwort, Register und Hinweis, daß die das 19./20. Jahrhundert betreffendeDarstellung der ersten Auflage (1929) jetzt überholt ist.

78 H. Heimsoeth, Metaphysik der Neuzeit, S. 3.70 H. Heimsoeth, Metaphysik der Neuzeit, S. 3.80 H. Heimsoeth, Metaphysik der Neuzeit, S. 4,

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Abendlandes"81. Auch wenn es richtig ist, daß in Abhebung vom mittelalterlichenVerfahren und in Freiheit vom kirchlich-theologischen System sowie losgelöst vonautoritativen Traditionen die autonome wissenschaftliche Vernunft im freien kon-struktiven Geist der einzelnen Persönlichkeiten „ihr" System hervorbringen will,so ist es dennoch nicht weniger korrekt, festzuhalten, daß auch sie immer histo-risch bedingt bleibt und daß sie darüber hinaus stets neue historische Bedingungenüberhaupt aufbringt, die in der Aufarbeitung des historischen Materials nun erstvon systematischer Bedeutung werden. Als wichtigste Momente, durch die dieneuzeitliche Metaphysik insgesamt abgehoben wird von den Systemen der Zeitendavor, nennt Heimsoeth die folgenden: einmal natürlidi die Herauslösung derMetaphysik aus der Tradition und der ausgleichenden Architektonik der philo-sophischen und theologischen „Summen"; zweitens die neue Zentrierung desInteresses in Natur, Gesellschaft, Geschichte und die Überweisung der theozentri-schen Spekulation an die Theologie; und endlich drittens die Anerkennung einesspezifisch modernen Wissenschafts- und Wissensbegriffes der „neuen Wissen-schaften, die fortschreitend sich ablösen von Metaphysik und Philosophie über-haupt und nun mit ihrer unmittelbaren Erfahrungs- und Anschauungskraft sowiedurch die selbständige Herausbildung ihrer eigenen Methodik den offensichtlichenBeweis geben für die Durchklärbarkeit der Dinge auch in aller Besonderheit undscheinbaren Zufälligkeit ihrer Existenz"82.

So kann denn die historische Interpretation fortlaufend die geheimen Hinter-gründe geschichtlicher Erscheinungen aufdecken und in ihrem Stellenwert zurGeltung bringen, sie kann aber auch — gerade wenn sie nicht statisch verfährt,sondern einen Entwicklungsprozeß auch des interpretierenden Geistes anerkennt —mit fortschreitendem historischem Bewußtsein systematisch vorankommen. Undeben dies ist offenbar Heimsoeths (nicht in allen Schriften in gleicher Weise zurGeltung kommende) Meinung.

Daß sein Beitrag zur historischen und systematischen Interpretation überhauptin diesem Sinne gesehen worden ist, dafür gibt es Beweise. Wenn Hans Wagnerbei Gelegenheit der Diskussion verschiedener Kantinterpretationen der Gegen-wart83 mit Bezug auf die Herausarbeitung einer'Grundlehre Kants (etwa durchRudolf Zocher) bemerkt, es wandele, vertiefe, erweitere sich der transzendentaleGedanke bei Kant von Kritik zu Kritik und ineins damit modifiziere sich ent-sprechend beim Ausbau des kritischen Systemes diese Kantische Grundlehre 84, sobedeutet das mit Bezug auf die metaphysische, realphilosophische und ontologi-sche Kantforschung (also für die Kantdeutung Heimsoeths seit 1924), daß sich derIdealismus des Erkenntnisbegriffes und die Aufgabe der neuen systematischen Be-

81 H. Heimsoeth, Metaphysik der Neuzeit, S. 4—5.82 H. Heimsoeth, Metaphysik der Neuzeit, S. 6—8.83 H. Wagner, Zur Kantinterpretation der Gegenwart, S. 235 (Rudolf Zodiers „Grund-

lehre" betreffend), S. 246—254 (Heinz Heimsoeths „kritische Ontologie, Realphilosophieund Metaphysik" analysierend). . .

84 H. Wagner, S. 235 f. .

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wegung (mit ihrem Interesse eben für Realphilosophie, Metaphysik und Onto-logie) nicht ausschließen85. Denn „wirkliche Philosophiehistorie und wirklichephilosophische Systematik stehen in einem lebendigen, nie ganz aufgeklärtenKommerzium" 86, und es muß natürlich nicht zum hundertsten Male wiederholtwerden, daß Kants Werk nicht die Zerstörung von Ontologie und Metaphysik,sondern mit ihrer (historisch begründeten) Beschränkung zugleich ihre eigentlichewissenschaftliche Fundierung zum Ziele gehabt habe87; es muß aber vielmehr insBewußtsein gehoben werden, daß es in metaphysicis ohne den Idealismus des Er-kenntnisbegriffs keine „Ontologie" und keine „Realphilosophie", nämlich keinbegründetes und verläßliches Wissen geben könnte, so wie andererseits der Er-kenntnisidealismus ohne Zugang zur Metaphysik und Ontologie eine „Real-philosophie" nicht zu leisten und die Phänomene insgesamt nicht zu retten ver-möchte. Das heißt, daß das durch Kant geschärfte methodische Bewußtsein dahingelangen muß, daß es die „kritizistische" Position selbst nicht nur auf ihre histo-risch-metaphysischen Voraussetzungen abzufragen hat, sondern daß es im Vollzugeder historisch-systematischen Interpretation selbst die metaphysischen Implika-tionen entdeckt, die durch die Interpretation über den gewählten Ansatz hinaus-führen. Wenn diese Verschränkung des Historischen und des Systematischen, desKritischen und des Metaphysischen für Heimsoeths Auffassung zutrifft, so ist sienicht ohne einen Rückgriff auf seine Geschichtsauffassung zu begründen.

6. Als Heimsoeth die erwähnte Bearbeitung des Abschnitts über „Die Philo-sophie im 20. Jahrhundert" in Windelbands Lehrbuch der Geschidite der Philo-sophie (1935) übernahm, hat er seine problemgeschichtliche Darstellung als „Ge-schichte der Prinzipien" entworfen 88, um eben „ein Bild von denjenigen Strömun-gen, Leistungen und Problemstellungen (zu) geben, die in der Gegenwart nachvorwärts führen" 8Ö. Wenn er dabei die Probleme des Erkennens, die Regionen derWirklichkeit und die Beziehungen von Mensch und Geschichte behandeln will90,so ebenfalls, um gerade hier deutlich zu machen, daß auch die eng umschränktenProblembereiche der verschiedensten Art speziell „aus der Dynamik der Sachenselbst" über sich hinaus treiben öl. Heimsoeth stellt ausdrücklich fest, daß der Ab-stand zu den Klassikern der großen Vergangenheit wächst und daß der Blick freiwird „für die durchaus veränderte Wirklichkeit und Aufgabenwelt der Gegen-wart" 92. Daraus ergibt sich für ihn implizit, daß es nicht nur ein neues Bewußt-sein des neu zu erwerbenden Erbes zu· haben gilt93, sondern daß offenbar auch im

85 H. Wagner, S. 246—7.66 H. Wagner, S. 246.*7 H. Wagner, S. 246.88 Vgl. H. Heimsoeth, Metaphysik der Neuzeit, S. V.fci> Vgl H. Heimsoeth, Metaphysik der Neuzeit, S. V.ßo Vgl. H. Heimsoeth, Metaphysik der Neuzeit, S. XXXIV, XXXVI und XXXVII.M H. Heimsoeth, in: Lehrbua der Gerichte der Philosophie, S. 571.82 H. Heimsoeth, S. 571.*3 H. Heimsoeth, S. 571.

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ganzen Entwicklungsgang eine eigene „geheime Metaphysik" stecke, wobei sich diePhilosophie durchaus „mehr am Anfang als am Ende" stehend fühle. Das kritischeThema wird als „Zeitkritik" ausschlaggebendö4, und wie für die Erarbeitung der„eigentlichen" Metaphysik Kants und für die Aufdeckung der „tatsächlich"weiterwirkenden Metaphysiken im 18. Jahrhundert stellt sich jetzt die Aufgabe,„die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters philosophisch ans Licht zu brin-gen"«.

Auch die methodischste Interpretation mit rein historischer Absicht „ist" damitimmer schon ein Stück Metaphysik, und sie deckt nicht nur metaphysische (ver-deckte) Traditionen auf. Deutlich wird das für Heimsoeth z. B. gelegentlich derErörterung der „Frage nach Grund und Herkunft der Moral"96. Wenn Kant, wieHeimsoeth präzise dartut, ebenso wie die ganze Naturrechtsethik der Jahrhundertezuvor an einen Gesamtkodex von Forderungen geglaubt „und seinen Tatbestandals selbstverständlichen, in der unzeitlich-ungeschichtlichen Vernunft gegründeten... vorausgesetzt" hat97, so wird das Problem nun deutlich. Denn daß die Moralund nicht nur die Moralität „wie alles in der Menschenwelt und wie das Mensch-sein selber, ein immer geschichtlich-werdendes ist", eben dies ist für Heimsoeth„eine Grundeinsicht unserer Zeit, die eigene Berücksichtigung in der Frage nachGrund und Herkunft des Sittlichen erfordert" 98. Daß die so behauptete Histori-sierung des Bewußtseins auch systematische Bedeutung, nämlich allgemeine Rele-vanz für Systemkonstruktion und Systemrekonstruktion, haben muß, ist klar.Denn was Heimsoeth anläßlich dieses Spezialproblems der Moral erklärt, wirdsich wohl verallgemeinern lassen müssen. Im Spezialfall sagt er, es seien „diesittlichen Gebote nicht etwas, das sozusagen als eine fremde Gewalt, von oben her,als eine unbekannt-gebietende Stimme ins Menschendasein einbricht, sondern alsschöpferisches Sichausweiten des Lebens in seinen aktiv-vorwärtsdrängendenMenschengruppen" verstanden werden muß. Allgemein gesprochen heißt dasaber, daß das Primäre stets ein Positives wäre: „eben das spontane Aufkommenlebendigen Verständnisses für hohe Lebensmöglichkeiten" ".

94 H. Heimsoeth, S. 610.95 H. Heimsoeth, S. 610.96 H. Heimsoeth, in: Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker (hrsg. von

G. Funke), Bonn 1958, S. 207—217.97 Vgl. H. Heimsoeth, in: Konkrete Vernunft, S. 211. Zur Naturreditsproblematik siehe

die Arbeit von J. P. Steffes, Das Naturrecht im Rahmen einer religionsphilosophisdienWeltbetrachtung, in: Philosophia pcrennis. Abhandlungen zur systematischen Philosophie,Festschrift für Joseph Geyser (hrsg. von F. J. von Rintelen), 2 Bände, Regensburg 1930,bes. Bd. II, S. 1017—1039, dort (II, S. 1031) auch die Hinweise auf Rudolf Euden,Die Lebensanschauungen der großen Denker (1890, 192218) S. 299, auf Karl Joel, Wand-lungen der Weltanschauung, Bd. I (1928), S. 629 f. und auf Heinz Heimsoeth, Die sechsgroßen Themen der abendländischen Metaphysik und der Ausgang des Mittelalters (1922),S. 41 ff.

98 H. Heimsoeth, Die Frage nach Grund und Herkunft der Moral, S. 211.99 H. Heimsoeth, Herkunft der Moral, S. 217.

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Wie Heimsoeth im angezogenen Beispiel feststellt, daß Moral gar nichts Selbst-verständliches sei, sondern ein Reich möglicher Lebensformung darstellt, das sichder Mensch erst bilden und bewahren muß und im Laufe der Geschichte verbind-lich macht, so ist zweifellos auch jede Art von Verständnis, jede Art von „stand-punktlicher" und „überstandpunktlicher", von „systematischer" und „aporeti-scher", von „methodischer" und „historischer", von „kritischer" und „metaphysi-scher" Interpretation aus schöpferischen Impulsen zu verstehen, mit denen sichder Mensch „selbst Ziele steckt und Gesetze gibt, die dann, von ihrem Eigenseinund -wert her, ihn auch binden und sein Leben wirklich formen" 10°.

Genau besehen, würde dies heißen, Heimsoeths „historische" und „metaphysi-sche" Interpretation ist ihrerseits der Erweis von Geschichtlichkeit und von Meta-physik, sie hebt diese Momente nicht bloß am gegebenen Stoff (also etwa anirgendeiner „Vorgeschichte" irgendeiner Philosophie) hervor. Und wenn solcheInterpretation, auf Kant angewandt, deutlich macht, daß Kant in diesem SinneMetaphysiker gewesen sei, dann ist der um die Kantische Systematik methodischbemühte Historiker Heimsoeth seinerseits ebenfalls Metaphysiker, und zwar imgleichen Sinne. Friedrich Kaulbach hat gelegentlich einer Diskussion des Heim-soethsdien Kommentars zur transzendentalen Dialektik Kants101 darauf hinge-wiesen, wie richtig es sei, von einer Unablösbarkeit des systematischen Denkensvon der historischen Reflexion über die vorliegenden Probleme und Begriffe zusprechen. Kann solche Unablösbarkeit jedoch mit Recht behauptet werden, so giltsie allgemein, und gilt sie allgemein, so ist sie auch mit Bezug auf Heimsoeth selbstanzusetzen. So verstanden, kann (mit Kaulbach) Heimsoeths Unternehmen „auchfür metaphysische Unternehmungen der Gegenwart maßgebend sein, philosophi-sche Erfahrungen aus dem Vorgehen Kants zu gewinnen, dessen Rolle darin be-stand, Vollzieher der ersten großen neuzeitlichen Krise dieser Wissenschaft undzugleich ihr Begründer auf neuen Grundlagen zu sein" 102.

7. Sicherlich ist das System der Kantischen Kritik die Offenlegung eines Pro-zesses bzw. einer Methode, falscher Vernunftsystematik überhaupt zu begeg-nen 103. Gerhard Lehmann hat mit Grund darauf aufmerksam gemacht, daß esvon Kant selbst in dieser Hinsicht als Negativsystem bezeichnet wird. Auch wennbei Kant Widersprüche, Aporien usw. auftreten, sind sie ihrerseits auf einen„Maßstab" angewiesen, an dem sie als das gemessen werden können, als was sienun erscheinen. Die prinzipiell-systematische Interpretation, die Lehmann dannfordert (und die für alle möglichen Destruktionen bezüglich bestehender Kant-Bilder Voraussetzung ist), trägt ihre Hypothek daran, daß sie ihrerseits ja selbstnicht wieder einfach bloß „Interpretation", sondern systematisch belastet ist.Wenn allerdings Interpretation in jedem Fall „Auseinandersetzung" heißt, dann

100 H. Heimsoeth, Herkunft der Moral S. 217.101 F. Kaulbadi, Kants Theorie der Dialektik. Zu Heinz Heimsoeth: Transzendentale

Dialektik, in: Kant-Studien Bd. 59 (1968), S. 240—250, bes. S. 240—1.102 R Kaulbach, Kants Theorie der Dialektik, S. 240.103 G. Lehmann, Kantinterpretation, Kant-Studien Bd. 49, S. 388.

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kommt mit der interpretativen Auseinandersetzung gerade der „kritische" Ein-schlag wieder ins Spiel, der methodisch das Kantische Vorgehen auszeichnet. Esliegt somit ein Doppeltes vor: einmal lassen sich „Widersprüche" (die man fest-stellt) dadurch verstehen, daß man sie auf eine nicht auf der Hand liegende,nicht formulierte, nicht schon erarbeitete tiefere Systematik bezieht104, die ebenin der historischen Forschung ans Licht gezogen werden muß, und zweitens kannauch eine unsystematisch scheinende Philosophie systematisch sein, wenn man nurden wirklich „einheitlichen Gedanken" gefunden hat, der — etwa bei Kant —ermöglicht, daß seine „eigene Darstellung, wie sie Punkt für Punkt verläuft, sichdurch denselben als ein zusammenhängendes Ganzes begreifen läßt"105. Diehistorisch-systematische Bemühung muß also auf dies „einigende Element" ab-zielen.

An diesem Punkt aber kann Heimsoeths Auffassung von der Geschichte und vonder Entwicklung des geschichtlichen Bewußtseins wichtig werden, das — wennüberhaupt — erst zur Entdeckung solchen gemeinsamen Bandes führt. In seinemBeitrag Geschichtsphilosophie zu Nicolai Hartmanns Sammelband SystematischePhilosophie106 läßt er durchblicken, es seien die wirkenden Kräfte und Mächteder Geschichte weder durchaus vernünftig noch vernunftlos oder gar sinnfeindlich,sie seien nur von sehr komplizierter Schichtung und Zuordnung 107. Und zur Ge-schichte gehören „Kultur" und „Geist", zum „Geist" gehört die Philosophie: siehat also diese komplizierte Struktur zu erfassen und damit sich selbst. Daßdie Philosophie aber auf die Geschichte und die Geschichtlichkeit aufmerksamwird, stellt genau damit ein eminent historisches Ereignis dar. Es trifft eben hieet nunc die gegenwärtige Philosophie auf das Weltfeld der Geschichte, als aufeinen unermeßlichen, des philosophischen großen Stiles würdigen undwahrhaft bedürftigen Bereich des Seins und des Daseins in der Zeit, der fürgeschlossene grundsätzliche Besinnung gleichsam eben erst entdeckt ist, nach zwei-einhalb Jahrtausenden philosophischer Spekulation und Forschung" 108.

Wenn es nun mit der Entdeckung der Geschichte so steht, dann ist es wohl mitallen „standpunktlichen" Positionen offenbar ähnlich bestellt — sie sind, wie die„überstandpunktlichen" doch Ereignis gewordene „Standpunkte", und ebensosind die „aporetischen" Interpretationen aporetische nur auf dem Hintergrund„systematischer" (vorentschiedener) faktischer „Interpretation", und das „histori-sche" Verfahren ist, wenn es prinzipiell wird und die Geschichtlichkeit des Be-wußtseins einbezieht, tatsächlich „methodisch", und der „kritische" Gesichtspunktist möglicherweise „eigentlich" nicht „kritizistisch", sondern läßt Metaphysik zu-

104 G. Lehmann, Kantinterpretation, S. 364.105 G. Lehmann, Kantinterpretation, S. 387, der A. Hägerström, Kants Ethik (Upsala

1902), S. V zitiert.106 Systematische Philosophie (hrsg. von N. Hartmann), Stuttgart-Berlin 1942, darin

Heinz Heimsoeth, Geschichtsphilosophie, S. 647.107 H. Heimsoeth, Geschichtsphilosophie, S. 647.108 H. Heimsoeth, Geschichtsphilosophie, S. 566.

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gleich niait nur zu, setzt sie vielmehr implizit stets voraus. Der „Geist", derhistorisch zur Erscheinung gelangt, ist nach Heimsoeths Geschichtspbilosophieeben „nicht bloß Denken und Phantasie, sondern ebensosehr, ja, vor allemWille" 109. Das „Leben der Geschichte" aber, in das der erkennende, interpretie-rende, konstituierende Geist hineingehört, ist für Heimsoeth durchaus „nichtbloß hochkompliziertes Werden der Systeme, Erwachsen und in unzähligen Pro-zessen sich vollziehendes Erhalten gleichsam organischer Gesamtgebilde, sondern,auch in dem allem schon, nie abreißendes Folgen menschlicher Handlungen;

. Geschichte, Welt des Menschen, ist Sphäre der Tat, der Spontaneität, der Frei-heit" 110.

; Damit kommt das zur Geltung, was Gerhard Lehmann als Motiv bei Heim-I soeth vermutet, daß er nämlich seinem Kronzeugen Kant einen „Platz zwischen; Leibniz und Fichte" sichern möchte 1U. Auch wenn bei Heimsoeth im Ganzen ein

; ! wiederholter Rückgang auf die großen Themen der abendländischen, besonders[ der deutschen Metaphysik festzustellen ist, so bleibt doch von hohem Interesse,i wie die allgemeine und.die besondere Einordnung der historisch-problerngeschicht-'j liehen Phänomene in die Willensmetaphysik erfolgt: das Unbewußte könne nur

der Wille, nicht die Vernunft erfassen, und nur dadurch könne er es erfassen, daßer in sich selbst trägt, was die erkennende Vernunft sich gegenüber vergebensersehnt als Dinge an sich 112. Auf das spezielle Problem der Kant-Interpretationdes letzten halben Jahrhunderts übertragen, heißt das, daß gerade dann, wennetwa der „kritische" Kant hinter dem „metaphysischen" zu verschwinden droht,die ihrerseits metaphysisch bestimmte systematische Frage nach dem Systembodenzu stellen ist, von dem aus allein ein solches Zurücktreten seinerseits erklärlichwerden kann. Wenn irgendwo, so muß hier aus Heimsoeths Darlegungen zurGescbicbtsphilosophie allgemein und zur Philosophie der Gegenwart insbesondereAufschluß zu gewinnen sein.

8. Sicherlich ist es richtig festzuhalten, daß Kants Erwägungen unmittelbarauf die Tatsache der Freiheit hinzielen und daß die Kantische Philosophie indieser Hinsicht ihre größte Kraft entfaltet habe113, als ebenso richtig wird esdann (von Gottfried Martin) hingestellt, daß erst eine ontologische Reflexion„den eigentlichen Aufriß auch der Kantischen Freiheitslehre sichtbar machenkann", deren Notwendigkeit Heimsoeth als erster sah 114. Aber die Metaphysikder Freiheit zeigt sich offenbar im entscheidenden Handeln ebenso wie in derSpontaneität interpretativer Erkenntnis. Nach Heimsoeths Geschichtsphilosophie

109 H. Heimsoeth, Geschicbtspbilosophie, S. 577.110 H. Heimsoeth, Gescbichtsphilosophie, S. 596.111 G. Lehmann, Kritizismus, Kant-Studien Bd. 48, S, 28.112 G. Lehmann, S. 28—9 sowie H. Heimsoeth, Die sedn großen Themen der abend-

ländischen Metaphysik und der Ausgang des Mittelalters (1922, 3. Aufl. Darmstadt o. J.),S. 241 ff.

115 G. Martin, Immanuel Kant (Berlin 19694), S. 200.1J< G. Martin, S. 200.

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ist die Welt in Natur und Geschichte keine vorgegebene Harmonie, vielmehrstammt alle Ordnung und jede lebensfähige Form aus einem Impuls und „mußimmer erst versucht, erreicht, gefestigt, dann, so gut es geht, erhalten werden"115.Und das bedeutet, daß auch die gewonnenen, interpretativ erstellten Einsichtenimmer entweder erhalten oder überholt werden, daß sie aber in jedem FallMetaphysik enthalten. Wenn im besonderen Falle der „richtigen" InterpretationKants von Heinrich Barth etwa darauf hingewiesen und verlangt wird, man solledoch einfach vom „klassischen Problembegriff" des Kritizismus ausgehen und dieunübersehbaren Kant-Kontroversen des 20. Jahrhunderts hinter sich lassen116,so ist klar, daß dabei ein „kritisches" Motiv umgangen wird, das auch dann vor-liegt, wenn es unbeachtet bleibt: denn „näherer Überlegung kann allerdings nichtverborgen bleiben, daß eine historische Interpretation philosophischer Lehre ohne \systematische Voraussetzungen nicht möglich ist, daß sie ohne Verständnis desSinnes dieser Lehre keine Interpretation ist" m. Auch der sogenannte „klassischeProblembegriff des Kritizismus" (Barth) stellt eine historisch bedingte, systema-tisch eingeschränkte, metaphysisch fixierte Größe dar.

Zum Schluß ist bei der Hervorkehrung der zahlreichen möglichen metaphysi-schen Motive mindestens zweier Geschichtspunkte zu gedenken. Der eine nimmtauf folgendes Bezug: die historisch-metaphysische Kantinterpretation war in demersten Jahrzehnt ihres Auftretens (Heimsoeth, Max Wundt, Bauch) gewiß vonneu-idealistischen Vorstellungen bestimmt, andererseits zugleich auch von einerunverhohlenen Gegnerschaft gegen die neukantische Erkenntnistheorie getragen(N. Hartmann, Volkelt, Heidegger), und sie hatte dann ausdrücklich vor, Kantals Metaphysiker „zu entlarven"118, der andere Gesichtspunkt beinhaltet dies:wie dasjenige, was den „Erkenntnistheoretikern" unter den Kantinterpreten völ-lig klar und irgendeiner weiteren Begründung nicht mehr bedürftig schien (wieeben Kants Ablehnung, Überwindung oder Zermalmung der traditionellen Meta-physik), so ist umgekehrt für den „Metaphysiker" der Kantforschung die nicht-erkenntnistheoretische (ontologische) Grundlegung des kritischen Idealismus selbst-verständlich, so daß „mit Unrecht ... für derartiges wie ein kritisches Motiv beiKant kein Raum gelassen, die kritische Fragestellung vielmehr von der metaphysi-schen absorbiert" wird m.

Offenbar liegt nun für Heimsoeth und seine spezielle Kant-Interpretation wiefür seine allgemeine Interpretation metaphysischer Motive in der Geschichteüberhaupt der Ermöglichungsgrund für Kritik in dem unvorgreiflichen Vorgangder „als Progreß verstandenen menschlichen Erkenntnis", der gerade im Auf-bringen kritischer Gesichtspunkte „Metaphysik" ist und leistet, dabei freilich zu-

115 H. Heimsoeth, Geschichtsphilosophie, S. 641.116 Heinridi Barth, Philosophie der praktischen Vernunft, Tübingen 1927, S. 21 (G.

Lehmann, Kritizismus, Kant-Studien Bd. 48, S. 25).117 G. Lehmann, Kritizismus, S. 25.118 G. Lehmann, Kritizismus, S. 26.119 G. Lehmann, S. 28—9.

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gleich ebensowohl eine „kritizistische" wie „anti-kritizistische" Interpretationmetaphysischer Motive in historischen und systematischen Zusammenhängen insWerk setzen kann. Metaphysik ist dann nicht nur ein Erkenntnisthema, sondernviel eminenter noch ein Lebensthema120. Auch wenn Heimsoeth in diesem Zu-sammenhang Dilthey und den Grafen Paul Yorck von Wartenburg als die Ent-decker der immer spezifisch metaphysisch artikulierten menschlich-gesellschaftlich-geschichtlichen Welt nennt121, übernimmt er ausdrücklich die Einsicht: genau sowie Natur sind wir Geschichte; und geschichtlich ist nicht nur unser Handeln,sondern unser Bewußtsein in seinen Interpretationsermöglichungen.

·;. Der voluntaristisch-metaphysische Hintergrund der Heimsoethschen Interpreta-tionsposition wird in zwei Passagen deutlich: 1) Solange die Philosophie denMenschen im Wesentlichen als „Vernunft"-Wesen und „Seele" faßte, als leib-behafteten und wie von oben in Natur hineingesenkten Träger eines in allem

! Eigentlichen auf Überzeitliches hin angelegten Wissens, Wollens und Bewußtseins, — so lange konnte die Geschichte noch nicht wirklich als das eigentliche Regnumhominis, als die Hauptwerkstätte menschlichen Lebens und Schaffens, menschli-cher Selbstentfaltung und -gestaltung, menschlicher Existenz grundsätzlich zuGesicht kommen" 122; und solange das der Fall ist, behauptet der naturale undevolutionistische Szientismus das Feld auch im 20. Jahrhundert; denn 2) „derEntwicklungsgedanke, befreit von teleologischen Einschlägen, positiv bestimmt vorallem durch die Prinzipien der Erhaltung und Anpassung, führt zur Erklärungauch der höchsten Lebensformen, z. B. der des menschlichen Geistes; Geist istNatur; Natur, Wirklichkeit, Erfahrungswelt sind eins: das hat uns Heutigen ,dieWissenschaft' gezeigt. Es versteht sich im übrigen von selbst, daß über diesenErfahrungszusammenhang hinaus zu fragen wissenschaftlich sinnlos ist. Philo-sophie als »Metaphysik' hat ausgespielt" 123. Sie hat jedoch nur dann „ausgespielt"und ihr Fragen ist bloß dort „wissenschaftlich sinnlos", wo die dogmatische Posi-tion eingenommen wird, daß die Philosophie überhaupt überflüssig zu machen seiund in „Wissenschaft" aufzulösen wäre; und gerade eine solche Doktrin wird vonHeimsoeth auf Grund seiner historischen und systematischen Untersuchungen be-stritten 124.

120 H. Heimsoeth, Geschichtspbilosopbie, S. 566.121 H. Heimsoeth, Geschiclnsphilosophie, S. 566 ff.122 H. Heimsoeth, Geschicbtspbilosopbie, S. 566.123 H. Heimsoeth, in: Windelband-Heimsoeth, Lebrbudi der Geschichte der Philosophie,

S. 573.124 Nur vom Boden der jeweils in Frage gestellten Metaphysik aus erscheint es so, als

habe sie — wie Heimsoeth 1935 erklärt — überhaupt „ausgespielt"; entsprechend hatEdmund Husserl gleichzeitig (1936/8) bei Gelegenheit seiner Darlegungen über die Krisisder europäischen WissenscJjaft und die transzendentale Pbänomcnologie (in: HusserlianaBd. VI, 1954) von einer Philosophie als Wissenschaft insgesamt behauptet, „der Traum istausgeträumt" (Beilage, S. 508).

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Damit ist eine „standpunktliche", eine „systematische", eine selbst „metaphysi-sche" und eine „historische" Position erreicht, die die „kritische" Fragestellung soin sich aufgenommen hat, daß sie die in der eigenen Interpretation steckendebesondere Bewußtseinsform durch die ihr spezifischen Auseinandersetzungsbedin-gungen charakterisiert sein läßt und als faktische Metaphysik gelten lassen muß,insoferne sie in ihrer Faktizität eben immer schon Kritik ist. Der „Progreß dermenschlichen Erkenntnis" kann nicht antizipiert werden: die Position ist in ihremAuftreten die Kritik. In doppeltem Sinne hat sich Heimsoeth also als Interpretder Metaphysik verdient gemacht — als Historiker der Metaphysik und als Meta-physiker des Geschichtlichen.

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