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Plenarprotokoll 16/46 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 46. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006 Inhalt: Begrüßung des indischen Verteidigungsminis- ters Pranab Mukherjee . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung des Bundes- haushaltsplans für das Haushaltsjahr 2007 (Haushaltsgesetz 2007) (Drucksache 16/2300) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Finanzplan des Bundes 2006 bis 2010 (Drucksache 16/2301) . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelplan 04 Bundeskanzleramt Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Peter Struck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . . . Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) . . . . . . . . Bernd Neumann, Staatsminister BK . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . Monika Griefahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Olaf Scholz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Einzelplan 05 Auswärtiges Amt Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . Dr. Werner Hoyer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . Monika Knoche (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD) . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . Ingo Schmitt (Berlin) (CDU/CSU) . . . . . . . . Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Eichel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingo Schmitt (Berlin) (CDU/CSU) . . . . . . . . Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Löning (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 4554 C 4477 B 4477 B 4477 B 4479 A 4485 C 4490 B 4494 B 4499 A 4502 C 4507 B 4510 A 4512 A 4514 B 4515 C 4517 B 4518 D 4520 A 4520 D 4522 A 4523 D 4526 A 4527 D 4531 A 4532 B 4534 A 4534 D 4535 D 4537 A 4538 C 4539 C 4540 D 4541 B 4541 C 4543 B 4544 B

Deutscher Bundestagdip21.bundestag.de/dip21/btp/16/16046.pdfDeutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006 4479 (A) (C) (B) (D) Rainer

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Plenarprotokoll 16/46

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

46. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006

I n h a l t :

Begrüßung des indischen Verteidigungsminis-ters Pranab Mukherjee . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung):

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes über die Feststellung des Bundes-haushaltsplans für das Haushaltsjahr2007 (Haushaltsgesetz 2007)(Drucksache 16/2300) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Unterrichtung durch die Bundesregierung:Finanzplan des Bundes 2006 bis 2010(Drucksache 16/2301) . . . . . . . . . . . . . . . .

Einzelplan 04

Bundeskanzleramt

Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . .

Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Dr. Peter Struck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . .

Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . . .

Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) . . . . . . . .

Bernd Neumann, Staatsminister BK . . . . . . .

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . .

Monika Griefahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4477 B

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4479 A

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4514 B

4515 C

4517 B

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Olaf Scholz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .

Einzelplan 05

Auswärtiges Amt

Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . .

Dr. Werner Hoyer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . .

Monika Knoche (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD) . . . . . .

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . .

Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP) . . . . . . . . . . . .

Ingo Schmitt (Berlin) (CDU/CSU) . . . . . . . .

Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans Eichel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ingo Schmitt (Berlin) (CDU/CSU) . . . . . . . .

Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Markus Löning (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

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4520 D

4522 A

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4526 A

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4537 A

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4539 C

4540 D

4541 B

4541 C

4543 B

4544 B

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II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006

Dr. Norman Paech (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Hörster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Lothar Mark (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Herbert Frankenhauser (CDU/CSU) . . . . . . .

Einzelplan 14

Bundesministerium der Verteidigung

Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister BMVg

Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans Raidel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .

Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Susanne Jaffke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Andreas Weigel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4548 A

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4551 A

4552 B

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4559 D

4562 C

4564 B

4565 D

4567 B

4569 C

4570 B

4571 C

Bernd Siebert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Jörn Thießen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Einzelplan 23

Bundesministerium für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin BMZ . . . . . . . . . . . . . . .

Hellmut Königshaus (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Hellmut Königshaus (FDP) . . . . . . . . . . . .

Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

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4574 B

4575 B

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4578 D

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4582 C

4582 D

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4584 B

4585 C

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46. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Sitzung ist eröffnet.

Ich begrüße Sie alle herzlich, liebe Kolleginnen undKollegen, und wünsche uns gute, intensive, gelegentlichauch fröhliche Beratungen. Ich erinnere daran, dass wirgestern für die heutige Aussprache insgesamt neunein-halb Stunden beschlossen haben.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: So wenig?)

– Der Wunsch des Kollegen Kampeter, die Beratungszeitauszudehnen, ist vermutlich nicht mehrheitsfähig.

Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesord-nungspunkt 1 – fort:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2007(Haushaltsgesetz 2007)

– Drucksache 16/2300 –

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierung

Finanzplan des Bundes 2006 bis 2010

– Drucksache 16/2301 –

Wir beginnen die heutigen Haushaltsberatungen mitdem Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes, Ein-zelplan 04. Ich erteile das Wort zunächst dem KollegenBrüderle für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Rainer Brüderle (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-

deskanzlerin, Sie regieren das Land mittlerweile nachdem Pippi-Langstrumpf-Prinzip: „Ich mache mir dieWelt, wie sie mir gefällt!“

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Steuererhöhungen heißen bei Ihnen „Reformen“.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Können Sie das auch singen? PippiLangstrumpf würde das singen!)

Stillstand verkaufen Sie uns als „Bewegung in die rich-tige Richtung“.

Am Anfang haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, in derAußenpolitik eine gute Figur gemacht. Die Außenpoli-tik lenkt vielleicht ein wenig von den Problemen ab, dieunser Land hat. Nur, das funktioniert nicht auf Dauer.Als Bundeskanzlerin, Frau Merkel, sollten Sie die Rich-tung vorgeben. Doch Ihre Richtlinienkompetenz ist zueiner Schlangenlinienkompetenz geworden, mit der Siedie Politik betreiben.

(Beifall bei der FDP)

Die Koalition hat nach eigenem Bekunden erhebli-chen Diskussionsbedarf – bei jedem Thema und überMonate hinweg. Doch irgendwann muss selbst diesegroße Koalition des kleinsten gemeinsamen NennersEntscheidungen treffen, damit man weiß, was Sie dennüberhaupt wollen. Nehmen wir einmal die Gesundheits-reform: Nach Monaten konnte sich die Bundesregie-rung zu „Eckpunkten“ durchringen; doch schon dieseließen erheblich zu wünschen übrig. Statt mehr Freiheitund Wahlfreiheit gibt es mehr Gängelung und mehr Bü-rokratie. Jetzt geht der Streit weiter über Details diesesKassensozialismus, der da offenbar betrieben wird.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Mit der Rückendeckung der Kanzlerin arbeitet das Ge-sundheitsministerium an einer Art VEB Gesundheit.

Nur über eines war sich die Koalition erstaunlichschnell klar und einig: Es wird teurer, die Krankenkas-senbeiträge steigen. Beim Schröpfen der Bürger herrschtbei Rot und Schwarz schnell Einigkeit. Was sonst nochherausgekommen ist, sind bürokratische Monster, zumBeispiel der Gesundheitsfonds und der Morbiditätszu-schlag. Die Morbidität der Bundesregierung schreitetunaufhaltsam voran. Es schreit an jeder Ecke und an je-dem Ende nach Knatsch und es kracht in manchen Berei-chen. Die Auflösungserscheinungen sind schon mit Hän-den greifbar. Möglicherweise gibt es die Regierung gar

Redetext

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4478 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006

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Rainer Brüderle

nicht mehr, wenn der neue Risikostrukturausgleichzwischen den Krankenkassen in Kraft tritt.

In der Politik der Bundeskanzlerin sind weder Linienoch Kompetenz zu erkennen. Die Kanzlerin tritt jetztals Duo mit dem Vizekanzler auf. Frau Merkel und HerrMüntefering sind am Ende der Sommerpause gemein-sam und in trauter Eintracht vor der Presse erschienen.Es war eine Art Hochamt des neuen politischen Traum-paares der Republik.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Kein Neid! –Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Hochamt zusammen mit Pippi Lang-strumpf!)

Frau Merkel, dabei haben Sie gesagt, die Richtung in Ih-rer Regierungsarbeit stimme. Eine Richtung ist aber weitund breit nicht erkennbar. Wo wollen Sie denn wirklichhin?

(Beifall bei der FDP)

Wer sich bei Rekordschulden, bei explodierendenSozialbeiträgen und bei drastischen Steuererhöhungenauf dem richtigen Weg sieht, der lebt in einer anderenWelt.

Die erste Kabinettsitzung nach der Sommerpausekam mir wie ein Treffen von Traumtänzern vor.

(Zuruf von der SPD: Waren Sie dabei?)

Vizekanzler Müntefering findet es unfair, an dem gemes-sen zu werden, was in den Wahlkämpfen gesagt wurde.Die Bundeskanzlerin sitzt neben ihm und nickt zustim-mend. Das steht in der adenauerschen Tradition: Was in-teressiert mich mein Geschwätz von gestern! Das ent-spricht aber nicht einem fairen Umgang mit denBürgern. Deshalb dürfen wir uns über die Politikver-drossenheit nicht wundern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Woran, wenn nicht an ihren Wahlkampfaussagen, solldie Regierung denn bitte schön gemessen werden? Dafürist sie ja gewählt worden. Der wenig ambitionierteKoalitionsvertrag ist eben nicht die Messlatte, HerrMüntefering. Die Messlatte für die Bürger ist vielmehr,ob die Regierung eine gute Politik macht. Das ist offen-sichtlich nicht der Fall. Das ist keine gute Politik.

(Beifall bei der FDP)

Es ist unfair, den Bürgern das Geld aus der Tasche zuziehen. Der private Konsum ist nach wie vor derHemmschuh für die Konjunkturentwicklung. Wenn mansich einmal die Strukturen unserer Volkswirtschaft an-sieht, dann erkennt man, dass er über 60 Prozent derNachfrage in diesem Land ausmacht. Sie nehmen denBürgern das Geld weg. Selbst Herr Struck hat einge-räumt, dass man auf die Mehrwertsteuererhöhung hätteverzichten können. Er sagte:

Es wären knallharte Einsparungen in jedem Ressortnötig gewesen, aber es wäre gegangen.

Recht hat Herr Struck! Nur getan haben Sie es nicht.Dazu fehlte Ihnen der Mut.

(Beifall bei der FDP)

Nicht nur die Sozialdemokraten üben sich im Geld-ausgeben, auch einige Ministerpräsidenten der Unionmachen sich auf die Suche nach neuen Ausgabenpro-grammen, um zu sehen, wie man die Überschüsse derBundesagentur für Arbeit verteilen kann. Machen Siesich doch endlich ans Sparen! Was tut jeder Bürger,wenn er mehr ausgibt, als er einnimmt? Er streckt sichnach der Decke. Das Auto wird ein Jahr länger gefahrenund die Anschaffungen werden ein Jahr hinausgescho-ben.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt wollenauch Sie von der FDP uns noch den Urlaubvermiesen!)

Nur der Staat tut das Gegenteil dessen, weil er sichzwangsweise refinanzieren kann. Er langt bei den Bür-gern zu und spart nicht. Sie müssen Vorbild sein. DieTreppe kehrt man von oben nach unten und nicht umge-kehrt. Das gilt auch für die Politik.

(Beifall bei der FDP)

Den Konzernen wollen Sie dadurch etwas Gutes tun,dass die Körperschaftsteuer kräftig reduziert wird. Einesolche Unternehmensteuerreform nützt den Personen-gesellschaften und den Einzelunternehmen nichts. Fürdie Mittelständler und die Arbeitnehmer wäre eine Ein-kommensteuerreform viel wichtiger.

Ich frage mich: Wie wollen die Sozialdemokratendies ihren Wählern erklären? Bei höheren Steuern, höhe-ren Energiepreisen, höheren Sozialversicherungsbeiträ-gen und höheren Krankenversicherungsbeiträgen zu er-warten, dass eigenverantwortlich mehr Vorsorge für dasAlter getroffen wird, ist wirklich irreal. Die Bürger auf-zufordern, auf den Urlaub zu verzichten, um so Vorsorgetreffen zu können, aber selber beim Haushalt nicht zusparen, ist schon zynisch. So wird man die Problemenicht lösen können, sondern dazu gehört mehr Mut.

(Beifall bei der FDP)

Offensichtlich spielt die Ökonomie in der Regierungkeine Rolle. Auf die Idee einer Besteuerung der Kostenvon Unternehmen – eine unsinnige Debatte – muss manerst einmal kommen. Der Einfall, Kosten zu besteuern,muss schleunigst vom Tisch. Das ist absoluter Schwach-sinn.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Die SPD entdeckt die Leistungsträger und die CDUist jetzt die Partei der Lebenslüge. Zum 30. Geburtstagder Mitbestimmung haben Sie sich, Frau Bundeskanzle-rin, von Reformüberlegungen verabschiedet. Aber dieparitätische Mitbestimmung noch heute als große Er-rungenschaft und Standortvorteil zu feiern, ist eine Le-benslüge und eine völlig falsche Einschätzung, FrauMerkel.

(Beifall bei der FDP)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006 4479

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Rainer Brüderle

Die Bundesregierung verkündet Fahrpläne zu allenmöglichen Bereichen, wie etwa Gesundheit, Unterneh-mensteuerreform und Arbeitsmarkt. Aber das Ziel dür-fen keine Fahrpläne sein, sondern das Ziel muss einekonsistente Politik für die Menschen in Deutschlandsein. Sie sprachen auf Ihrer Pressekonferenz vom Ge-meinwohl; das ist richtig. Aber das Gemeinwohl ist nichtdas Wohl dieser Bundesregierung, sondern das Wohl derBürger, der Steuerzahler;

(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])

sie müssen im Zentrum der Politik stehen.

Die Steuererhöhung hilft vielleicht dem Finanzminis-ter, aber sie hilft nicht dem Bürger im Land. Deshalb istIhre Politik grottenfalsch und führt in die falsche Rich-tung.

(Beifall bei der FDP)

Es muss eine Kurskorrektur geben. Sie sind falsch pro-grammiert. Ändern Sie Ihre Politik für die Bürger imLand!

(Beifall bei der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Bundeskanzlerin Dr. Angela

Merkel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt

immer wieder Tage, die unsere Welt verändern. Siezeichnen sich dadurch aus, dass sich jeder Einzelne vonuns genau daran erinnern kann, was er an einem solchenTag gemacht hat. Der 9. November 1989 war ein solcherTag: Die Mauer fiel und der Kalte Krieg war zu Ende.

Der 11. September 2001, dessen Jahrestag sich in dernächsten Woche zum fünften Mal jähren wird, war eben-falls ein solcher Tag. Dieser Tag hat die Welt erschüttertund er hat sie auch verändert. Manche haben gesagt:Nach dem 11. September ist nichts mehr so, wie es ein-mal war. – Ich halte das für falsch. Richtig ist, dass wirmit dem 11. September eine völlig neue Art der Bedro-hung kennen gelernt haben – eine asymmetrische Bedro-hung, wie wir das nennen –, eine Bedrohung, bei der wirden Gegner nicht richtig fassen können, weil er bereit ist,sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Auch ist er alsStaat nicht genau erkennbar, obwohl Staaten solche ter-roristischen Attacken unterstützen.

Daraus hat sich ein neues Verständnis von Sicher-heitspolitik ergeben, bei dem mehr als jemals zuvor in-nere und äußere Sicherheit nicht mehr voneinander zutrennen sind. Das hat uns vor die Aufgabe gestellt, neueAntworten zu finden. Die Bundesregierung hat solcheAntworten gefunden. Wir alle in diesem Land sind unsinzwischen einig – das hat der großartige Aufklärungser-folg bezüglich der Kofferbomben gezeigt –, dass Video-überwachung, zwar nicht flächendeckend, aber dort, woviele Menschen zusammenkommen, notwendig ist. Ichbin froh, dass dieser Streit ausgestanden ist und dass wir

wissen: Videoüberwachung braucht man, um Terroristenidentifizieren zu können. Eine solche Maßnahme ist not-wendig.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ich möchte allen danken, zuvörderst dem Bundes-innenminister und auch der Bundesjustizministerin, diedaran mitgearbeitet haben, dass wir uns jetzt auf eineAntiterrordatei einigen konnten. Das ist ein riesiger Er-folg, ein Erfolg der großen Koalition und ein Erfolg derZusammenarbeit mit den Ländern. Es ist eine Antwortauf das, was die Bürgerinnen und Bürger von uns erwar-ten.

Es ist eben so, dass uns im 21. Jahrhundert Kleinstaa-terei alleine nicht mehr voranbringt.

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sie haben doch die Föderalismus-reform gemacht!)

– Das haben wir doch bei der Föderalismusreform ge-meinsam besprochen. – Es ist ein riesiger Erfolg, dassdie Antiterrordatei jetzt auf den Weg gebracht werdenkann. Das erwarten die Menschen von uns.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ich glaube, der Staat darf niemals den Eindruck erwe-cken, er könne 100 Prozent Sicherheit garantieren. Aberder Staat darf sich auch niemals dem Vorwurf aussetzen,er hätte nicht alles versucht, um die Sicherheit der Bür-gerinnen und Bürger zu garantieren. Es geht nicht umFreiheit statt Sicherheit, es geht nicht um Freiheit oderSicherheit, sondern es geht im 21. Jahrhundert um Frei-heit und Sicherheit in unserem Land. Dafür müssen wiruns einsetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wenn ich sage, wir brauchen neue Antworten, weilwir vor neuen Bedrohungen stehen, warum halte ichdann den Satz „Nach dem 11. September ist nichts istmehr so, wie es einmal war“ für falsch? Ich halte ihndeshalb für falsch, weil sich das Motiv, der Grund unse-res außen- und sicherheitspolitischen Handelns nichtverändert hat, weder nach dem 9. November gegenübervor dem 9. November noch nach dem 11. September ge-genüber vor dem 11. September. Denn seit Gründung derBundesrepublik Deutschland ist klar: Wir haben eineVerantwortung vor der Geschichte – vor der deut-schen Geschichte und der europäischen Geschichte –, ei-ner Geschichte jahrhundertelanger Kämpfe, einer Ge-schichte von Erbstreitigkeiten, Kriegen, politischemVersagen und Nationalismus. Dass die deutsche und dieeuropäische Geschichte seit 1945 anders gestaltet wer-den, das gehört zu den großen Leistungen der Vorgängerder jetzt politisch Aktiven.

Der Impuls zur Gründung europäischer Institutionen,von unseren Vorfahren richtig in Gang gesetzt, war, dassman plötzlich zu der Erkenntnis kam – ich kann auch

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4480 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006

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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

sagen: endlich zu der Erkenntnis kam –, dass man nichtam allerbesten dasteht, wenn man nur an sich denkt, son-dern dass man selber besser dastehen kann, wenn manauch an die Interessen anderer denkt. Man hat endlichbegonnen, über den eigenen Tellerrand hinauszu-schauen. Man hat das, was man früher als Zumutungempfand – sich mit dem Denken anderer auseinander zusetzen, zum Beispiel unserer Nachbarn –, als eigene Be-reicherung empfunden. Man hat erkannt: Was dem ande-ren dient, ist auch richtig und gut für mich. Das war daseigentlich Neue. Das sind die zwei Seiten der Medailleunserer Außen- und Sicherheitspolitik. Das hat die Euro-päische Union möglich gemacht. Diesem Motiv und die-sem Grund fühlen wir uns weiterhin genauso verpflich-tet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Deshalb haben sich die Ereignisse, die Herausforde-rungen geändert. Der Kalte Krieg ist vorbei. Wir stehenheute vor völlig neuen Aufgaben. Aber diese Aufgabensind genauso konkret, genauso fassbar und erfordern ge-nau die gleiche Motivation, wie dies auch vor uns derFall war.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt mal konkret!)

– Es wird ganz konkret, Herr Kuhn.

(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb haben wir uns entschieden: im Kosovo ge-nauso wie in Bosnien-Herzegowina. Es gab in diesemHause lange Debatten darüber, dass wir nicht tatenloszusehen können, sondern bei der Lösung dieser Kon-flikte mitmachen müssen, und zwar weil es besser ist fürdie Menschen vor Ort genauso wie für uns, die wir mitFlüchtlingen und vergewaltigten Frauen konfrontiertwurden und die wir gefragt wurden: Wie vereinbart ihrmit euren Werten, dass ihr tatenlos zuseht?

So haben wir uns nach dem 11. September – auch insehr schwierigen Debatten – entschieden, in Afghanis-tan mit dabei zu sein, Verantwortung zu übernehmen,damit sich ein Volk besser entwickeln kann und gleich-zeitig unsere Sicherheit besser garantiert ist.

Wir werden in diesem Herbst über Afghanistan zusprechen haben. Wir wissen zwar, dass nicht alles soläuft, wie wir uns das wünschen. Aber die Alternative,ein Vakuum zu hinterlassen und Terroristen wieder freieAusbildungsmöglichkeiten zu geben, ist für mich keineAlternative, weil es weder für die Menschen vor Ortrichtig ist noch unseren Sicherheitsinteressen dienenwird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir haben gemeinsam um eine Antwort auf die Fragegerungen, ob wir uns in Afrika engagieren sollen. Wirhaben uns mehrheitlich im Bundestag – genauso wie dieBundesregierung – dafür entschieden, Verantwortung imKongo zu übernehmen, und zwar über die politisch-hu-manitäre Verantwortung im Rahmen der Entwicklungs-hilfe hinaus mit einer militärischen Komponente. Auchdas halte ich für richtig, weil Afrika der Nachbarkonti-

nent Europas ist. Wer nach Spanien und insbesonderenach Teneriffa schaut, der weiß, dass dorthin jeden TagHunderte Flüchtlinge kommen. Wir müssen im Interesseder Afrikaner, aber auch im Interesse derjenigen, die inEuropa davon betroffen sind, einen Beitrag zur Lösungdes Problems leisten und Entwicklungsmöglichkeiten,Teilhabe, Frieden, Freiheit und Wohlstand ermöglichen.

Es gibt Fragen, auf die wir noch keine abschließendeAntwort haben. Damit müssen wir uns befassen. DieBundesregierung hat gemeinsam mit anderen europäi-schen Staaten, den Vereinigten Staaten von Amerika,Russland und China dem Iran ein Angebot gemacht.Wir erhofften uns von diesem Angebot, aus dem Kreis-lauf von nuklearen Aktivitäten und zunehmenden Ver-härtungen herauszukommen. Die Antworten des Iransind aber nicht zufriedenstellend. Wir werden zwar dieTür zu Verhandlungen nicht zumachen. Aber wir werdenals internationale Staatengemeinschaft nicht tatenlos zu-sehen können, wie der Iran Regeln der InternationalenAtomenergiebehörde verletzt. Es geht hierbei nicht da-rum, dem Iran nicht das zuzugestehen, was ihm zuge-standen werden muss. Vielmehr geht es darum, dass derIran immer wieder Regeln verletzt hat. An dieser Stelleist für uns, die Bundesregierung, ganz wichtig, die Ge-schlossenheit der internationalen Staatengemeinschaftzu erhalten. Die militärische Option ist keine Option imIran. Deshalb geht es um Entschlossenheit und Ge-schlossenheit. Aber ich sage auch: Nichtstun kann nichtdie Antwort auf die Ablehnung des Iran sein. Das stelltuns vor große Herausforderungen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir haben erlebt, auf welche Art und Weise die Fra-gen den Iran betreffend mit der Situation im NahenOsten zusammenhängen. Wir haben im Sommer diesesJahres eine Situation erlebt, in der plötzlich schreckliche,gewalttätige Auseinandersetzungen auftraten und in derdie internationale Staatengemeinschaft vor der Fragestand, wie man eine Waffenruhe erreichen und Stabilitätin dieser Region herstellen kann. Daraus ist die Resolu-tion 1701 des UN-Sicherheitsrates entstanden. Die Bun-desregierung ist – genauso wie wir alle – vor die Fragegestellt, was wir tun wollen und können, um bei der Um-setzung dieser Resolution mitzuhelfen. Wir haben sehrschnell gesagt: Insbesondere aus historischen Gründensteht für uns die Frage nach der Stationierung deutscherKampftruppen an der libanesisch-israelischen Grenzenicht zur Debatte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Es muss verhindert werden, dass deutsche Soldatenauf Israelis schießen, und sei es nur ungewollt. Wenn esaber zur Staatsräson Deutschlands gehört, das Existenz-recht Israels zu gewährleisten, dann können wir nichteinfach sagen: Wenn in dieser Region das ExistenzrechtIsraels gefährdet ist – und das ist es –, dann halten wiruns einfach heraus. Wenn wir uns an dem notwendigenhumanitären und politischen Prozess beteiligen wollen,dann wird es sehr schwer sein, zu sagen: Die militärischeKomponente sollen bitte schön andere übernehmen.

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Deshalb haben wir ein Angebot unterbreitet. Bei die-sem Angebot kommt es für uns darauf an, dass wir einrobustes Mandat haben, mit dem wir das Ziel, den Waf-fenschmuggel zu beenden, erreichen können. Es kommtdes Weiteren für uns darauf an – über diesen Punkt ver-handeln wir nun bzw. verhandelt der Libanon mit derUN –, dass dieses Mandat gewollt ist. Das ist wieder Teildes politischen Prozesses.

Es ist besser, zwei Tage zu warten und das Mandat imEinvernehmen mit allen Akteuren und sorgfältig vorzu-bereiten, als auf Schnelligkeit zu setzen. Wir werden un-sere Soldaten nicht unnötigen Risiken aussetzen. Dasmacht keine Bundesregierung; das wird auch diese Bun-desregierung nicht tun. Wir werden aber alles daranset-zen, dass das Mandat in der Region gewollt ist. Dazuwerden die entsprechenden Schritte im Augenblick ein-geleitet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Es wird in der Öffentlichkeit diskutiert, in welcherReihenfolge die Maßnahmen zu treffen sind: Sollen erstdas Embargo zur See und die Blockade des FlughafensBeirut aufgehoben und dann die UNIFIL-Truppen statio-niert werden? Wir brauchen noch etwas Zeit. Wir solltenuns die Zeit nehmen. Die Gründlichkeit der Entschei-dung geht vor Schnelligkeit. Ich bitte auch um Verständ-nis für die Urteilsfindung der Akteure in der Region. Wirkönnen uns manchmal nur schwer in die Lage im Liba-non und in Israel versetzen. So wie wir von anderenRespekt erwarten, wenn sie über uns urteilen, sollten wiranderen Respekt zukommen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich für dieGespräche mit den Vertretern der einzelnen Fraktionenbedanken. Wir informieren Sie und sind miteinander imGespräch. Wir werden selbstverständlich intensiv disku-tieren, wenn es um die parlamentarische Zustimmunggeht.

Es wird im Augenblick in Bezug auf den Nahen Os-ten zu wenig über den politischen Prozess und zu vielüber die militärischen Aktionen gesprochen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Deshalb ist die Parallelität der Aktionen von äußersterWichtigkeit. Der Bundesaußenminister und ich und vieleandere wie zum Beispiel die Bundesentwicklungshilfe-ministerin, wir alle werden Initiativen ergreifen und sindzum Teil in Vorgesprächen, um den politischen Prozesswieder in Gang zu bringen. Wir dürfen nicht weg-schauen. Im Zusammenhang mit den Resolutionen 1559und 1680, als es darum ging, ob die libanesische Armeedie Gewalt über ihr gesamtes Territorium bekommt, ha-ben wir uns nicht genug darum gekümmert. Wenn ich„wir“ sage, dann meine ich die gesamte internationaleStaatengemeinschaft. Das Ergebnis haben wir gesehen.Deshalb darf man keinesfalls denken, mit der Stationie-rung von UNIFIL-Truppen sei das Problem gelöst. Wirmüssen das Existenzrecht Israels sichern und wir müsseneine Zweistaatenlösung erreichen, die einen palästinen-

sischen Staat einschließt. Wir müssen auch für ein gutesVerhältnis zwischen Israel und Libanon sorgen.

Ich unterstütze ausdrücklich die Bemühungen desBundesaußenministers, auch mit Syrien Kontakte zupflegen, wenn auch nicht um jeden Preis. Er hat neulicheine vollkommen richtige Entscheidung getroffen. Es istaber wichtig, alle Akteure in der Region zu berücksichti-gen, damit wir sehen, was wir dazu beitragen können,um einen Friedensprozess in Gang zu bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Auch wenn es noch so schwierig erscheint: Es gibtkeine Alternative. Deshalb muss es versucht werden: mitLeidenschaft und aus Überzeugung.

Nun fragen viele: Ist das nicht ein Fass ohne Boden?Wo sollen wir uns noch überall engagieren? Was sind dieKriterien, nach denen wir das tun? – Dazu will ich eineBemerkung machen: Wir können so lange, wie wir wol-len, nach Kriterien suchen, die Welt wird sich nicht da-nach richten, welche Art von Konflikten auftritt. Vor derSommerpause hat keiner von uns gewusst, dass wir unsheute mit UNIFIL und mit der Resolution 1701 aus-einander setzen. Trotzdem wäre es unverantwortlich, zusagen, wir beschäftigen uns nicht damit, weil wir dasnicht auf dem Plan hatten. Wir müssen uns der Realitätstellen und gleichzeitig nach unseren Möglichkeitenschauen.

Wir haben uns für ein Engagement im Kongo ent-schieden und wir leisten beispielsweise in Darfur Logis-tikhilfe. Ich sehe aber im Augenblick keine Möglichkeit,dass wir neben unserem Engagement im Kongo ein zu-sätzliches Engagement in Darfur übernehmen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Wir müssen schauen, was die Welt tut. Daraus ergibtsich die Notwendigkeit der europäischen Kooperation.Es zeigt sich: Wenn wir unseren Interessen dienen wol-len, dann können wir alleine sie nicht bedienen; dasschaffen wir nicht. Deshalb ist es gut und richtig, in Si-cherheitspartnerschaften, in Gemeinschaften, in derEuropäischen Union und in der NATO, gemeinsam Akti-vitäten zu ergreifen, Verantwortung zu übernehmen undsich Verantwortung zu teilen. Anders werden wir unsereInteressen nicht mehr durchsetzen können. Auch das isteine Lehre aus den Bedrohungen und Gefahren der heu-tigen Welt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Daraus ergibt sich dann die Notwendigkeit einerhandlungsfähigen, einer starken Europäischen Union.Deutschland wird im ersten Halbjahr 2007 die Präsident-schaft haben. Wir werden darüber diskutieren. Abereines kann man schon voraussagen: Die außen- undsicherheitspolitischen Notwendigkeiten eines gemein-schaftlich agierenden Europas haben in den letzten Jah-ren zugenommen und nicht abgenommen. Wenn maneine Begründung für Europa jenseits des Binnenmarktesbraucht, dann ist es das gemeinsame europäische

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Interesse an Frieden und Freiheit, an Stabilität undWohlstand auf der Welt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Dieses Europa kann und wird nur stark sein, wenn esnicht nur sicherheitspolitisch, sondern auch wirtschaft-lich stark ist. Deshalb ist es gut, dass der haushaltspoliti-sche Befund zu dieser Debatte uns ermöglicht, zu sagen:Deutschland macht seine Hausaufgaben. Wir könnenzum ersten Mal seit Jahren wieder die Maastrichtkrite-rien erfüllen. Der Bundesfinanzminister hat gestern da-rüber Bericht erstattet. Wir haben gute Wachstumsraten.Ich möchte die prognostizierten Kurven von hoch gelob-ten Wirtschaftsinstituten jetzt nicht aufzeigen. Man weißnie, ob in acht Wochen alles nicht wieder ganz anders ist.Wir sollten darauf nicht zu viel vertrauen. Aber es ist so,dass wir sagen können: Es geht im Augenblick in dierichtige Richtung. Es gibt keinen Abbau der sozialversi-cherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse mehr, esgibt weniger Insolvenzen und zum ersten Mal seit 1988gibt es einen Überschuss bei der Bundesagentur für Ar-beit.

(Jürgen Koppelin [FDP]: Weil Sie abkassiert haben!)

Das zeigt nicht mehr und nicht weniger, als dass esaufwärts geht. Aber das zeigt natürlich auch, dass wiruns mit 4,3 Millionen Arbeitslosen, mit vielen jungenMenschen, die keinen Ausbildungsplatz haben, nicht zu-frieden geben können. Wir dürfen auf gar keinen Fall dieHände in den Schoß legen; vielmehr müssen wir dierichtigen Lehren auch aus den Fehlern vieler – ich be-tone: vieler – vergangener Jahre ziehen.

Diese Lehre heißt für mich: Wir haben in den vielenletzten Jahren die Dimension der Zukunft zu sehr in denHintergrund gedrängt. Wir haben uns immer wieder da-mit abgefunden oder wir haben es zumindest nicht the-matisiert, dass wir von der Substanz leben. Deshalb istdiese Bundesregierung ganz bewusst angetreten, um dasLeben von der Substanz schrittweise zu beenden. Das istgenau das, was man mit dem sperrigen Begriff derNachhaltigkeit beschreibt. Deshalb sage ich es etwasanders, nicht ganz so sperrig: Es ist ganz einfach so, dasswir unsere Zukunft nicht verbrauchen dürfen. Das ist dieLeitlinie, das ist der Maßstab, an dem wir unsere ge-samte Politik ausrichten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir dürfen unsere Zukunft nicht verbrauchen. Das leitetuns bei all unseren Entscheidungen. Deshalb sanierenwir den Haushalt.

Ich möchte den Bundesfinanzminister ausdrücklichunterstützen. Kaum dass eine Steuermehreinnahmeverkündet wird – unbeschadet der Frage, ob sie im Haus-haltsansatz nicht schon längst eingepreist ist –, gibt eseine breite Debatte darüber, was man damit machenkönnte. Lassen Sie uns erst einmal Geld haben! Wenndas der Fall ist, können wir über Schuldenabbau reden.Die Neuverschuldung in diesem Jahr ist sehr hoch. Las-

sen Sie uns dann diskutieren, ob wir noch Spielräumehaben! Ich sehe das im Augenblick nicht. Wir wollen sa-nieren. Wir wollen dafür sorgen, dass wir die Zukunftnicht verbrauchen. Dem müssen wir uns verpflichtetfühlen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir könnten über Zuschüsse der Bundesagentur fürArbeit nur reden, wenn sie auf Nachhaltigkeit ausge-richtet wären.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!)

Dazu brauchen wir erst einmal eine Endabrechnung.Man muss sich anschauen, was im nächsten Jahr anfällt.Auch an diesem Punkt bin ich der Meinung: Man sollnicht über neue Programme diskutieren, sondern ersteinmal verfolgen, was im Hinblick auf Nachhaltigkeitpassiert.

(Beifall des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD])

Weil wir die Zukunft nicht verbrauchen wollen, refor-mieren wir. Wir reformieren im Sinne der Gesundheits-reform. Jeder, der sich einmal mit Gesundheitspolitikbeschäftigt hat – hauptsächlich macht es die Bundesge-sundheitsministerin; aber viele andere tun es auch – –

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSUund der SPD – Dr. Guido Westerwelle [FDP]:Das ist das Problem!)

– Sie versuchen hier, das der Lächerlichkeit preiszuge-ben. Aber die Frage, ob die überwiegende Mehrzahl derMenschen in Deutschland den Eindruck hat, dass sie andem medizinischen Fortschritt teilhaben kann, wird zuder entscheidenden Frage werden. Es geht darum, ob diesoziale Marktwirtschaft und das Gerechtigkeitsempfin-den in einer hoch entwickelten Gesellschaft überhauptnoch einen Platz haben. Deshalb ist das aller Mühe wert.Ich sage das aus voller Überzeugung, weil das dieschwierigste Aufgabe ist. In vielen anderen europäi-schen Ländern können Sie sehen, dass es auch dort eineschwierige Aufgabe ist.

Weil das so ist, sollten wir diese Diskussion mit gro-ßer Ernsthaftigkeit führen, aber ohne die Interessen dereinzelnen Besitzstandsgruppen im Auge zu haben; esgilt, im Interesse der Versicherten zu handeln.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bravo! Dann fangen Sie dochmal an damit!)

Wir sind nämlich dem Gemeinwohl verpflichtet

(Jürgen Koppelin [FDP]: Wie bei der Mehr-wertsteuer! – Zuruf von der LINKEN: Das ha-ben wir erlebt!)

und nicht den Krankenkassen oder den Ärzten allein.Wir sind natürlich jedem einzelnen Akteur mit seinen In-teressen, aber zum Schluss eben dem Gemeinwohl ver-pflichtet. Genau daran wird sich die Bundesregierungorientieren.

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(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dann müssen Sie ja Ihre Vorlage um-schreiben! – Weitere Zurufe)

Jeder von Ihnen, meine Damen und Herren, darf sicheinmal fragen, ob die Selbstverwaltung der Krankenkas-sen immer so prima funktioniert hat und wie viel Besitz-standswahrung in dem ganzen System ist. Es geht da-rum, den Menschen das zu geben, was sie brauchen.Daran werden wir uns ausrichten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Deshalb werden wir die Eckpunkte umsetzen. Darüberwird es natürlich Diskussionen geben. Wenn Neuland be-treten wird, gibt es immer Diskussionen. Aber eine sol-che Reform ist notwendig – genauso wie im nächstenJahr eine Reform der Pflegeversicherung, genauso wieeine Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bundund Ländern mit einer Föderalismusreform II, nachdemdie Föderalismusreform I jetzt in Kraft getreten ist.

Wir führen Strukturreformen wiederum deshalbdurch, weil wir die Zukunft nicht verbrauchen, sonderngestalten wollen.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wann denn?)

Dazu gehört die Unternehmensteuerreform. Auch dasist ein Vorhaben für den Herbst. Es geht uns nicht darum,langfristig Unternehmen per se zu entlasten. Es geht unsdarum, Unternehmen in Deutschland zu halten. Deshalbwird es am Anfang ein Entlastungsvolumen geben. AberZiel ist, die Unternehmen in Deutschland auf Dauer wie-der zu Steuerzahlern zu machen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Das muss auch so sein. Es hat keinen Sinn, zuzusehen,wie Unternehmen in einer globalen Welt woanders hin-gehen, weil sie dort besser dastehen. Wir müssen einwettbewerbsfähiger Standort sein – mit dem Ziel, dassauch der Staat von den Gewinnen der Unternehmen pro-fitiert. Dabei darf nicht die Substanz der Unternehmen,sondern muss der Gewinn der Unternehmen besteuertwerden. Es darf nicht so sein, dass der woanders ver-rechnet wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir werden Bürokratie abbauen. Es gibt bereits einMittelstandsentlastungsgesetz. Es wird an einem zweitengearbeitet. Wir werden im Bereich der Hartz-IV-Refor-men zu überlegen haben, wie wir angesichts von4,3 Millionen Arbeitslosen Anreize so setzen, dass unserGrundziel wieder erreicht wird: Wir wollen die Men-schen in Arbeit bringen. Wir wissen, das gelingt nur,wenn wir sicherstellen, dass jemand dann, wenn er arbei-tet, mehr hat, als wenn er nicht arbeitet.

An diesem Grundsatz werden sich alle Entscheidun-gen orientieren müssen. Wir wollen, dass sich Arbeitlohnt, dass die, die in dieser Gesellschaft etwas leistenwollen, sehen: Die Leistungsanstrengung trägt auch ihreFrüchte. Daran müssen sich alle Diskussionen – das gehtvon Kombilohn über Hartz IV und Organisation von

Hartz IV bis hin zu Niedriglohn und Mindestlohn – ori-entieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

So werden wir weitere Beschäftigungspotenziale frei-legen können. Der Bundesarbeitsminister hat hierfür dienotwendigen Arbeitsgruppen eingesetzt und die Arbeitbegonnen. Wir werden natürlich alle Sachverständigen-gutachten und Weiteres mit Interesse zur Kenntnis neh-men und einbeziehen. Aber ganz zum Schluss wird diePolitik ihre Entscheidung fällen müssen. Den Grundsatzund die Linie habe ich genannt.

Um die Zukunft nicht zu verbrauchen, investierenwir. Wir investieren zum Beispiel mit der Hightechstra-tegie. In dem Rahmen stehen in dieser Legislaturperiode6 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung. Die Mittelwerden aber nicht einfach an die verschiedenen Akteureverteilt, sondern mit einem Ziel vergeben: In Deutsch-land müssen aus Ideen wieder verstärkt Produkte wer-den.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es hat keinen Sinn, wenn wir ein schönes Patent habenund anschließend das Geld mit dem Produkt irgendwo inder Welt verdient wird. Unser Anspruch lautet: von derIdee bis zum Produkt. Dafür sind die Weichen gestellt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir werden deshalb vor allem die Forschungsaktivi-täten mittelständischer Unternehmen stärken; denn derMittelstand in Deutschland forscht zu wenig, insbeson-dere der in den neuen Bundesländern. Die entsprechen-den Maßnahmen sind in dieser Hightechstrategie enthal-ten.

Wir werden ein nationales Energiekonzept entwi-ckeln. Das wird eine anstrengende Aufgabe sein. In ein-zelnen Fragen gibt es durchaus unterschiedliche Mei-nungen innerhalb der Koalition; aber die große Koalitionwürde versagen, wenn sie sich dem zentralen ThemaEnergie nicht widmen würde. Wir werden das auch inder EU-Präsidentschaft in ganz besonderer Weise mitBlick auf die europäische Dimension miteinander disku-tieren.

Wir haben uns dem Thema Integration gestellt, weilwir wissen, dass Deutschland nur eine Zukunft hat, wenndie, die dauerhaft bei uns leben, auch dauerhaft die glei-chen Chancen haben. Wenn Menschen die deutscheSprache nicht beherrschen oder Schüler nicht am Sport-unterricht in der Schule teilnehmen, wenn wir keine Ge-meinsamkeiten im Zusammenleben entwickeln, sondernParallelgesellschaft zulassen, dann werden wir das Zielder Chancengleichheit nicht erreichen. Deshalb ist dasThema Integration eines der zentralen Themen. Ich binfroh, dass wir hier über alte Gräben hinweggekommensind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mitder Gestaltung der Zukunft ist auch das Elterngeld einwichtiges Projekt. Es wird am 1. Januar 2007 in Krafttreten. Dieses Elterngeld ist die Konsequenz aus der

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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

Notwendigkeit einer besseren Vereinbarkeit von Berufund Familie. Die Unterstützung der Entscheidung fürKinder durch die Gesellschaft soll stärker in den Mittel-punkt gestellt werden.

Ich sage, weil darüber eine breite Debatte stattfindet,ausdrücklich: Wir schreiben den Menschen nicht vor,wie sie leben sollen. Für uns ist jeder Lebensentwurfrichtig und wichtig. Die Menschen sollen das alleine ent-scheiden. Aber wenn wir der Wahlfreiheit nahe kommenwollen, dann müssen wir für diejenigen, die Beruf undFamilie vereinbaren wollen, auch die entsprechendenBedingungen schaffen. Darum geht es; es geht nicht umdas Richten über Lebensentwürfe, sondern um das Er-möglichen von gewünschten Lebensentwürfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])

Wir haben uns damit auseinander zu setzen, wie wirin einer globalen Welt, die immer mehr zusammen-wächst, in der einzelne Regionen gar nicht mehr unter-schieden werden können, Menschen Vertrauen in einenvernünftigen Verbraucherschutz geben können. Ichspreche das angesichts der Fleischskandale an. MeineDamen und Herren, der Bundestag – insbesondere dieBundesregierung, die in die Verantwortung genommenwerden wird, und in ganz besonderer Weise der Bundes-landwirtschaftsminister,

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)

der für Verbraucherschutz zuständig ist – wird sich dazuäußern müssen, wie wir in einer vernetzten Gesellschaft,einem vernetzten Land vorgehen wollen. Wir brauchen,auch wenn die Länder zuständig sind, allgemeine, glei-che Standards für die gesamte Bundesrepublik Deutsch-land; an dieser Stelle kann man heute nicht mehr lokalagieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Das heißt nicht, dass die Bundesregierung die Kon-trollen übernimmt. Aber es hieße schon, dass sich dieLänder bereit erklären müssten, auf einer gemeinsamenInformationsplattform die vorhandenen Informationenauszutauschen. Es kann nicht sein, dass jeder sein Wis-sen für sich behält und sich anschließend wundert, wennflächendeckend Verfehlungen auftreten. Ich plädiereausdrücklich für eine solche Informationsplattform undunterstütze den Bundeslandwirtschaftsminister in dieserForderung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Meine Damen und Herren, ich fordere die Länderauch von dieser Stelle aus auf, das Verbraucherinfor-mationsgesetz jetzt endlich zu verabschieden.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Vier Jahre haben Sie gebraucht!)

Es hat keinen Sinn, länger darauf zu warten. Wir habendieses Gesetz im Kabinett verabschiedet und jetzt soll esim Bundesrat verabschiedet werden. Ich glaube, die ak-

tuellen Diskussionen sind ein guter Grund, das zu for-dern. Wenn in dieser Hinsicht Einvernehmen zwischenuns besteht und wir mit den Ländern reden, dann kanndas Gesetz auch im Bundesrat verabschiedet werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wir werden uns in diesem Herbst im Rahmen desAusbildungspaktes noch einmal sehr intensiv damitauseinander setzen müssen, wie wir den jungen Men-schen in diesem Lande eine Chance auf einen Ausbil-dungsplatz geben. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich haltenichts von dauernd neuen Ausbildungsprogrammen. Erstmüssen wir – da hat die Bundesregierung vielesgemacht – die Rahmenbedingungen für den Mittelstandso gestalten, dass dort die notwendigen Entscheidungenfür Lehrlinge und Auszubildende gefällt werden können.Wenn sich die Bedingungen dadurch verbessern, dassdas Wachstum verstetigt wird, dass Bürokratie abgebautwird, dass durch die Hightechstrategie Forschung undEntwicklung in den Betrieben ermöglicht werden, dannwerden die Betriebe auch wieder stärker an ihre Zukunftglauben und Auszubildenden wieder eine Chance geben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich glaube, die Bundesbildungsministerin, der Wirt-schaftsminister und der Bundesarbeitsminister werdennoch einmal – auch mit den Ländern – darüber redenmüssen, ob die vielen kleinen Zwischenprogramme ziel-führend sind oder ob sie nicht letztlich zu praxisfernsind. Deshalb treten wir dafür ein, dass wir durchaus mitden Ländern reden, aber nicht sofort wieder neue Pro-gramme auflegen, sondern versuchen, die Mittel, die wirhaben, effektiv im Sinne der jungen Leute einzusetzen;denn wir wollen jedem jungen Menschen eine Chancegeben, auf dem Ausbildungsmarkt einen Platz zu be-kommen. Das ist entscheidend für seine persönliche Zu-kunft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Meine Damen und Herren, diese Bundesregierung hateine Vielzahl von Entscheidungen gefällt. Die Folgenvieler dieser Entscheidungen sind für die Menschennicht einfach.

(Jürgen Koppelin [FDP]: Das kann man wohl sagen!)

Wir haben erlebt, dass Sparen – der Bundesfinanzminis-ter hat darauf hingewiesen, dass 60 Prozent unsererHaushaltsveränderungen auf Sparen zurückzuführensind – nicht einfach für die Menschen ist, sondern zumTeil sehr schmerzhaft. Dies können wir den Menschennur zumuten, weil wir uns davon leiten lassen, dass wirglauben, alle sind zum Schluss davon überzeugt: Wirdürfen unsere Zukunft nicht verbrauchen. Wir werdendiesen Konsolidierungskurs fortsetzen. Wir werden da-bei Erfolge haben.

Ich muss feststellen: Von der Opposition ist wenig bisgar nichts zu hören.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

Realitätsverweigerung, Einfallslosigkeit, ein großesStück Selbstgerechtigkeit und ein Hang, dieses Land ne-gativ zu reden: Das halte ich nicht für verantwortbar.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Gerade Sie wagen es! Sie haben esdoch jahrelang schlecht geredet! Sie sind dochdie Hohepriesterin des Schlechtredens! –Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist ja wohl derGipfel!)

– Frau Künast, wenn Sie, was unsere Oppositionstätig-keit betrifft, der Meinung sind, die Sie gerade geäußerthaben – ich teile diese Meinung ausdrücklich nicht; dennwir haben im Bundesrat bei der Agenda 2010 viele, vieleEntscheidungen mitgetragen und ihnen eine Handschriftgegeben, die wirklich in die richtige Richtung gewiesenhat –,

(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie maldem Verbraucherinformationsgesetz zuge-stimmt hätten, bräuchte Ihr Minister heutenicht auf Eiern zu laufen!)

dann gibt es nun gar keinen Grund, in die gleichen Feh-ler zu verfallen, meine Dame. Das ist nämlich der Punkt:Zeigen Sie doch, dass Sie besser sind, als Sie denken,dass wir es waren. Diesem Anspruch werden Sie dochnicht gerecht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir als Regierung sagen nicht, dass wir unsere Zieleschon erreicht haben; das wäre vollkommen falsch. Aberich bin der festen Überzeugung: Wir haben die Grund-lage für eine dauerhafte Entwicklung nach oben gelegt.Nach außen hat die Koalition das Ansehen Deutschlandsin der Welt gemehrt. Deutschland ist wieder in der Mitteund Deutschland hat Gestaltungsspielräume, bei dengroßen Konflikten dieser Welt wieder mithelfen zu kön-nen.

Nach Innen haben wir die Wende zum Besseren ein-geleitet.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Wir nehmen uns bei allen Entscheidungen – auch daswill ich sagen – die Zeit, die wir brauchen.

(Jürgen Koppelin [FDP]: Drei Stunden!)Wir lassen uns nicht treiben, sondern wir durchdenkendie Konzepte vernünftig. Wir handeln mit Entschlossen-heit für das, was wir für richtig und wichtig halten, fürdas, was den Menschen dient, für das, was endlich damitSchluss macht, dass wir die Zukunft verbrauchen.

Wir haben das Ziel, dass Deutschland in den nächstenzehn Jahren wieder unter die ersten drei kommt beiWachstum, bei Beschäftigung und bei Innovation. Dassteckt in den Menschen dieses Landes. Das sind wir die-sem Land schuldig. Auf diesem Weg werden wir unsnicht beirren lassen.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine für

die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Oskar Lafontaine (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Zwei Fragen beschäftigen derzeit die deutsche Öf-fentlichkeit: zum einen die Frage, ob die Außenpolitikder Bundesregierung geeignet ist, die Sicherheit inDeutschland zu erhöhen, und zum anderen die Frage, obdie Wirtschaftspolitik der Bundesregierung geeignet ist,Wachstum und Beschäftigung zu unterstützen und zufördern. Zu beiden Fragen möchte ich für die FraktionDie Linke Stellung nehmen.

Die Bundeskanzlerin hat versucht, die Außenpolitikihrer Regierung zu rechtfertigen, und ist, was nicht über-rascht, zu dem Ergebnis gekommen, dass die Außenpoli-tik sehr wohl geeignet ist, die Sicherheit in diesemLande zu verbessern. Das Urteil der Öffentlichkeit fälltaber ganz anders und sehr differenziert aus. Auch ausden eigenen Reihen, meine sehr verehrten Damen undHerren von der Regierungsbank, werden in der Öffent-lichkeit Aussagen getroffen, die Sie, Frau Bundeskanzle-rin, zumindest hätten ansprechen müssen, wenn Ihr har-sches Urteil über die Opposition irgendeine Grundlagehätte haben sollen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will mit einer Aussage beginnen. Wenn der Innen-minister Bayerns feststellt, dass unsere Beteiligung amLibanonkrieg die Terroranschlagsgefahr in Deutschlanderhöht, dann ist es nicht zulässig, dass Sie einen solchgravierenden Vorwurf einfach übergehen und so tun, alssei alles in bester Ordnung und als müsse überhauptnicht über die Außenpolitik diskutiert werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Hätte er nämlich mit dieser Feststellung Recht, wäre diesein vernichtendes Urteil über Ihre Außenpolitik.

Sie werden nicht überrascht sein, dass in den letztenJahren auch aus den Sicherheitsdiensten immer wiederangemahnt worden ist, dass unser militärisches Engage-ment am Hindukusch und sonst wo nicht dazu geeignetist, die Terroranschlagsgefahr in Deutschland zu min-dern, sondern dass es vielmehr so ist, dass durch diesesmilitärische Engagement die Gefahr, dass terroristischeAnschläge auch hier in Deutschland unternommen wer-den, immer weiter steigt.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir kommen also zu einem ganz anderen Ergebnis.Wir glauben, dass die Außenpolitik Deutschlands sichschon seit vielen Jahren auf einen Irrweg begeben hat.Schwerpunktmäßig auf militärische Einsätze zu setzenund die klassischen Traditionen der deutschen Außen-politik, mit denen sie jahrzehntelang Erfolg hatte, zu ver-nachlässigen, ist ein Irrweg, der nicht zu mehr Sicherheitin Deutschland führt, sondern die Unsicherheit der

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4486 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006

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Bevölkerung eher erhöht. Damit handeln Sie eklatant ge-gen Ihren Auftrag.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich hatte schon mehrfach die Frage aufgeworfen, obes nicht notwendig sei, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie,wenn Sie den Terrorismus bekämpfen wollen, einmalsagen, was Sie unter Terrorismus verstehen. Sie sinddazu nicht in der Lage; ich wiederhole diese Feststellunghier im Deutschen Bundestag. Eine Kanzlerin, die nichtin der Lage ist, zu definieren, was sie unter Terrorismusversteht, ist ihren Aufgaben nicht gewachsen, weil sienicht fähig ist, eine Politik zu formulieren, mit der derTerrorismus bekämpft werden kann.

(Beifall bei der LINKEN)

Dass dies schwierig ist, hat zuletzt die ehemalige Prä-sidentin des Bundesverfassungsgerichtes dargelegt, alssie auf das Gesetz zur Antiterrordatei zu sprechen ge-kommen ist. Ich zitiere:

Der Gesetzentwurf offenbart, wie schwer es ist,jene Personen hinreichend klar zu bestimmen, diesich in einem terroristischen Kontext bewegen:wenn zum Beispiel darin von Personen die Rede ist,„die rechtswidrig Gewalt als Mittel zur Durchset-zung international ausgerichteter politischer oderreligiöser Belange anwenden oder solche Gewalt-anwendung unterstützen, befürworten oder durchihre Tätigkeiten vorsätzlich hervorrufen“.

So lautet also im Gesetzentwurf die Definition des Ter-rorismus.

Die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsge-richtes sagt hierzu weiter:

Gewiss, es geht hier nicht um Sprachästhetik. Aberwas kann man nicht alles unter „international aus-gerichteten politischen oder religiösen Belangen“begreifen? Lässt sich darunter nicht auch ein Kriegsubsumieren, der die Absetzung eines Diktatorszum Ziel hat?

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich wiederhole: Es ist wirklich nicht möglich, eine insich konsistente Außenpolitik zu formulieren, wenn mannicht in der Lage ist – Frau Bundeskanzlerin, Sie sind esnicht –, zu definieren, was Terrorismus eigentlich ist. Ichwiederhole: Terrorismus ist für viele, die sich auf inter-nationaler Ebene an der Diskussion beteiligen, das Tötenvon Menschen zum Erreichen politischer Ziele. Etwa solautet auch die Definition in dem angesprochenen Ge-setzentwurf.

Vor diesem Hintergrund sind nicht nur das Attentatauf das World Trade Center und Selbstmordattentate, andie Sie erinnert haben, Terrorismus, sondern auch dieKriegsführung im Nahen Osten, die Tausende unschuldi-ger Menschen ums Leben bringt.

(Beifall bei der LINKEN)

Für die Linke erkläre ich hier: Man kann Terrorismusnicht durch Terrorismus bekämpfen. Das tun zu wollen,ist ein gravierender Irrtum der amerikanischen Politik

(Beifall bei der LINKEN)

und es ist an der Zeit, dass Sie sich bereit finden, zu er-klären, wie Sie Terrorismus definieren und wie Sie die-sen Terrorismus bekämpfen wollen.

Der Terrorismus kann nicht bekämpft werden, wennman das Völkerrecht ignoriert. Sie tun das in ununter-brochener Folge. Dass Sie das tun, ist keine Erfindungder Linken. Es wäre gut gewesen, wenn Sie sich hier ein-mal zum Völkerrecht geäußert hätten. Eine deutsche Au-ßenpolitik, die das Völkerrecht ignoriert, kann nichterfolgreich sein. Dies galt nicht nur für den Jugoslawien-krieg, wo das unstreitig ist; das gilt nicht nur für den Af-ghanistankrieg, wo das mehr und mehr unstreitig ist; dasgilt vielmehr auch für den Irakkrieg, der mit Lügen unddem Bruch des Völkerrechts begonnen wurde und der soimmer weiter geführt wird. Ich erinnere daran, dass dasBundesverwaltungsgericht festgestellt hat, dass wirdurch die Bereitstellung von Flughäfen, das Einräumenvon Überflugrechten, durch Waffenlieferungen usw. mit-telbar am Bruch des Völkerrechts beteiligt sind. Das istkeine Grundlage für eine erfolgreiche Außenpolitik undman kann darüber nicht hinweglächeln und hinweg-reden.

(Beifall bei der LINKEN)

Neben der Tatsache, dass Sie nicht in der Lage sind,zu sagen, was Terrorismus ist, und neben der Tatsache,dass Sie eine Politik fortsetzen wollen, die das Völker-recht bricht, ist festzustellen, dass Sie bei Ihrem Handelnim Vorderen Orient nicht konsistent sind. Wir hörenmit großem Interesse, dass wir ein robustes Mandatbrauchen – so haben Sie das hier wieder formuliert – unddass dieses robuste Mandat angewendet werden soll, umWaffenlieferungen in den Libanon zu unterbinden. Bisdahin könnte man dieser Argumentation ja noch etwasabgewinnen. Wenn aber gleichzeitig die BundesrepublikDeutschland Israel Waffen liefert – und zwar U-Boote,bei denen nicht ausgeschlossen werden kann, dass sienuklear bewaffnet werden können –, dann ist das so wi-dersprüchlich, dass eine solche Außenpolitik schlichtund ergreifend niemals Erfolg haben kann.

(Beifall bei der LINKEN)

Grundlage für die Veränderung der letzten Jahre ist,dass sich die deutsche Außenpolitik mehr und mehr aufdas Militärische verlegt hat. Dies ist mit der Aussage be-gründet worden: Wir können uns in der Welt nicht he-raushalten; wir haben eine größere Verantwortung unddiese größere Verantwortung müssen wir wahrnehmen. –Diese Redensarten, die zu dieser Fehlentwicklung ge-führt haben, beinhalten eine Verkennung der Erfolge derdeutschen Außenpolitik nach dem Kriege. Ich möchtehier sagen, dass für mich die Westintegration Adenauerssehr wohl ein wichtiger Beitrag zu einer Weltaußenpoli-tik war, der weit über die deutschen Belange an derNahtstelle des Kalten Krieges hinausreichte. Ich möchteferner natürlich sagen, dass die Ostpolitik Willy Brandts,die nicht darauf angewiesen war, Soldaten in alle Weltzu schicken, sehr wohl ein ganz wesentlicher BeitragDeutschlands zum Frieden in der Welt war. Auch diesePolitik war nicht auf deutsche Belange begrenzt. Ich

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möchte weiterhin erwähnen, dass die Politik HelmutSchmidts, Weltwirtschaftsgipfel zu initiieren, um aufdiese Art und Weise zum Frieden in der Welt beizutra-gen, sehr wohl ein politischer Ansatz war, der durchausin den Geschichtsbüchern erwähnt werden wird.Schließlich möchte ich sagen, dass Helmut Kohls euro-päische Integration ebenfalls ein politischer Ansatz war,der eine Bedeutung weit über die deutschen Belangehinaus hatte.

Diese erfolgreichen Epochen der deutschen Außen-politik heben sich wohltuend von einer Ära ab, in derimmer mehr auf das Militär gesetzt worden ist und sol-che konzeptionellen Ansätze, wie ich sie eben erwähnthabe, nicht verfolgt wurden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe etwas zum Völkerrecht gesagt. Dazu nochzwei weitere Bemerkungen.

Es ist für uns wohltuend, wenn ein Mitglied der Bun-desregierung, Frau Wieczorek-Zeul, etwas zum Einsatzvon Streubomben im Libanon sagt. Es verstößt gegendas Völkerrecht, wenn Streubomben über Wohngebietenabgeworfen werden, und es ist gut, dass wenigstens einMitglied der Bundesregierung an diesen Bruch des Völ-kerrechtes erinnert.

(Beifall bei der LINKEN)

Es wäre ebenfalls gut, wenn die Politik, die Sie ge-genüber dem Iran verfolgen, einmal auf eine einigerma-ßen rational nachvollziehbare Grundlage gestellt würde.Wir haben es hier schon mehrfach erwähnt: Man kannkeine Politik der Nichtverbreitung von Nuklearwaffennach dem Motto betreiben: Wir brechen den Atomwaf-fensperrvertrag; er interessiert uns im Grunde genom-men nicht. Aber Teile des Atomwaffensperrvertrageswenden wir an, um gegenüber dem Iran Politik zu betrei-ben. – Was meine ich damit? Der Atomwaffensperr-vertrag hat nur eine Ratio; sie lautet: Wir wollen keineNuklearwaffen in der Welt haben.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Das heißt, dass die Staaten, die keine haben, keine bauensollen, aber das heißt auch – das wird weitgehend ver-gessen –, dass die Staaten, die Nuklearwaffen haben,verpflichtet sind, abzurüsten. Das haben sie unterschrie-ben.

(Beifall bei der LINKEN)

Und wenn sie nicht abrüsten, dann brechen sie diesenVertrag in Permanenz. Dieser Punkt ist eine Grundlagedes Vertrages und muss berücksichtigt werden, andern-falls hätte dieser Vertrag überhaupt keinen Sinn. Mankann doch nicht sagen: Wir, die guten Nationen in derWelt, verfügen über Nuklearwaffen, aber die bösen Na-tionen dürfen keine haben.

Auch in diesem Punkt ist die Anlehnung an die ameri-kanische Politik völlig widersprüchlich und überhauptnicht akzeptabel. Wenn Amerika beispielsweise sagt, esmöchte dazu beitragen, dass der Iran keine Atomwaffenproduziert, dann ist doch zunächst einmal die Frage auf-zuwerfen, warum die amerikanische Politik weiterhin

neue Nuklearwaffen entwickeln lässt, die sogar schoneinsatzfähig sein sollen. Es stellen sich beispielsweiseauch die Fragen, warum die Aufrüstung Indiens mitNuklearwaffen von Amerika unterstützt wird, warumman Pakistan erlaubt, Nuklearwaffen zu besitzen, undwarum selbstverständlich auch Russland Nuklearwaffenfür sich beansprucht. Wie kann man da sagen: „EinemStaat verwehren wir den Besitz von Nuklearwaffen“? Sowird man eine nuklearwaffenfreie Welt niemals errei-chen können und so wird man nicht zum Frieden beitra-gen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es tut mir Leid: Die gesamte Außenpolitik dieserKoalition hat keine rationale Grundlage. Im Vergleichzur Außenpolitik früherer Jahre kann man von einerFehlentwicklung sprechen; denn in den letzten Jahren– auch schon zu Zeiten der rot-grünen Koalition – wurdeimmer mehr auf militärische Interventionen gesetzt,weil man glaubte, man könne damit etwas Gutes bewir-ken.

Wie gefährlich militärische Interventionen sind, ha-ben nicht zuletzt die drei Ehrenvorsitzenden der FDPkürzlich in einem Schreiben an Sie, Frau Bundeskanzle-rin, zum Ausdruck gebracht. Darunter sind zwei ehema-lige Außenminister, Herr Genscher und Herr Scheel, diean der deutschen Außenpolitik beteiligt waren, die ichvorhin erwähnt habe. Es ist ein Irrtum, deutsche Solda-ten in alle Welt zu schicken. Deutschland wird nicht amHindukusch verteidigt. Es ist ebenfalls ein gravierenderIrrtum, Kampftruppen in den Libanon zu schicken. Dorthaben wir nun wirklich nichts zu suchen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Tatsache, dass die Soldaten nur auf See tätig werden,ist kein Argument. Sie werden in Auseinandersetzungenverwickelt werden.

Diejenigen haben gute Argumente, die darauf hinwei-sen, dass die Libanonkrise im Zusammenhang mit Pla-nungen zu sehen ist, ebenfalls den Iran anzugreifen. Esist zwar gut, wenn Sie festgestellt haben, dass die Bun-desregierung keine militärischen Optionen gegen denIran unterstützt. Aber man kann in einen Krieg auch hi-neinschlittern. In den letzten Monaten konnte man be-obachten, dass von den Mitgliedern der Regierung unterEinschluss der Bundeskanzlerin, die das Gespräch offen-sichtlich sehr liebt, immer wieder über Truppenentsen-dung schwadroniert wurde, sodass am Ende überhauptkeine Klarheit darüber herrschte, in welcher Stärke undin welchem Auftrag – wenn überhaupt – Truppen in die-ses Gebiet entsandt werden sollen. Das ist so unprofes-sionell, dass es einfach nicht mehr nachvollziehbar ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich fasse zusammen. Es mag ja sein, dass Ihrer Au-ßenpolitik gute Absichten zugrunde liegen. Wer würdedas bestreiten und wer würde sich anmaßen, zu sagen, esgebe keine guten Absichten, die zu diesen Entscheidun-gen führen? Aber wenn man nicht in der Lage ist, Terro-rismus zu definieren, wenn man nicht in der Lage ist, zusagen, ob das Völkerrecht in Zukunft respektiert werden

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soll, wenn man den Atomwaffensperrvertrag einseitiginterpretiert und wenn man die guten Traditionen derdeutschen Außenpolitik zugunsten einer Außenpolitikverlässt, die immer mehr auf militärische Lösungensetzt, dann ist man auf dem falschen Weg und wird nichtzur Sicherheit Deutschlands beitragen. Insofern hat dieschlichte Einsicht des Herrn Beckstein viel für sich: Wersich überall einlässt – und zwar so einlässt wie Sie hin-sichtlich des Libanon –, der erhöht die Gefahr für Terror-anschläge in Deutschland und verletzt den Eid, den Siehier geleistet haben, nämlich Schaden vom deutschenVolk abzuwenden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte mich nun der zweiten Fragestellung zu-wenden, ob Ihre Wirtschaftspolitik geeignet ist, den be-ginnenden Aufschwung zu unterstützen. Natürlich wer-den die Regierenden für sich immer in Anspruchnehmen – das kennen wir ja und das ist wohl unvermeid-lich –, der Aufschwung sei ihr Werk. Amüsiert habenwir den Streit verfolgt, ob der Aufschwung ein Auf-schwung Schröders oder ein Aufschwung Merkels ist.Es wäre allerdings gut, einmal in die deutsche Presse zuschauen. Auch heute kann man darüber Kommentare le-sen, in denen eine andere Meinung vertreten wird und indenen darauf hingewiesen wird, dass die Wirtschafts-politik der jetzigen Regierung überhaupt nicht geeignetist, den Aufschwung zu unterstützen. Das ist die Wahr-heit.

Ein einfacher Blick auf die Zahlen zeigt, dass IhreWirtschaftspolitik nichts mit dem Aufschwung zu tunhat. Im zweiten Quartal gibt es gegenüber dem erstenQuartal 2006 folgende Bilanz: Die Bauinvestitionen– überwiegend Wirtschaftsbauinvestitionen – wachsenum 4,6 Prozent. Die Ausrüstungsinvestitionen mit einemWachstum von 2,5 Prozent machen den Löwenanteil desAufschwungs aus. Die Exporte wachsen nur nochschwach. Unter Berücksichtigung des Vorquartals sindes 0,7 Prozent. Die Importe sind um 0,5 Prozent gestie-gen. Aber dann kommt das Entscheidende: Die Staats-ausgaben sinken um 0,2 Prozent und der private Konsumum 0,4 Prozent. Die beiden Schwachpunkte des Wirt-schaftsaufschwungs sind also die Staatsausgaben undder private Konsum. Wer in einer solchen Situation dieMehrwertsteuer erhöht und soziale Leistungen kürzt,zeigt, dass er das Einmaleins der Wirtschaftspolitik nichtverstanden hat.

(Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben es nicht kapiert!)

Es ist doch nun wirklich nicht zu viel verlangt, sich dieStatistiken anzusehen. Dann stellt man nämlich fest, wowir Schwächen haben. Und wir müssen genau dort etwastun. Es ist aber völlig unverständlich, dass diese Regie-rung sich alle Mühe gibt, diese Schwächen weiter zuverschärfen.

In größeren Industriestaaten ist – in kleineren kanndas anders sein – in den letzten Jahren kein Aufschwungbeobachtet worden, der nicht wesentlich vom privatenKonsum gestützt wurde. Sie hingegen geben sich großeMühe, den privaten Konsum abzuwürgen. Das ist der

Strukturfehler Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik. Baldwerden Sie sich streiten können, wem der Abschwungzu verdanken ist: der Vorgängerregierung oder der jetzi-gen Regierung. Für die Betroffenen ist das aber irrele-vant. Angesichts der hohen Zahl an Arbeitslosen und dervielen jungen Menschen, die keine Lehrstelle finden,handeln Sie schlicht und einfach falsch.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Behauptung, die Arbeitsmarkreform sei dieGrundlage des Aufschwungs, wird durch die Statistikenwiderlegt. Es gibt keinen Aufschwung, der nicht mit ei-ner besseren Situation auf den Gütermärkten unterlegtist. Der jetzige Aufschwung basiert auf einer besserenSituation auf den Gütermärkten. Das „Fummeln“ amKündigungsschutz, am Arbeitslosengeld II oder an denTarifverträgen führt überhaupt nicht zum Aufschwung.Es ist nun einmal so – das zeigen die aktuellen Zahlen –,dass der Aufschwung von den Gütermärkten und nichtvom Arbeitsmarkt induziert wird. Deshalb muss man al-les tun, damit der Aufschwung auf den Gütermärktenerhalten bleibt. Das geht nur durch die Stärkung des pri-vaten Verbrauchs. Die Bundesregierung hat das offen-sichtlich nicht verstanden.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt – –

(Gespräch zwischen der BundeskanzlerinDr. Angela Merkel und der BundesministerinHeidemarie Wieczorek-Zeul auf der Regie-rungsbank)

– Vielleicht sind Sie ja gerade dabei, die Ministerin zuunterstützen; dann will ich gerne innehalten. Das wäresicherlich etwas Gutes.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben gesagt, dass in Deutschland derjenige, derarbeitet, mehr Geld zur Verfügung haben müsse als der-jenige, der nicht arbeitet. Sie handeln aber eklatant ge-gen diesen Grundsatz. Ihre Regierung sagt, sie wolle kei-nen gesetzlichen Mindestlohn. Das zeigt, dass Sie nichtbegriffen haben, was Sie hier vortragen.

(Beifall bei der LINKEN)

In der Praxis liegt der Mindestlohn – zumindest in Ost-deutschland – bei 3 Euro. Sie sagen, dass derjenige, derarbeitet, so viel verdienen müsse, dass ihm mehr Geldzur Verfügung steht als demjenigen, der soziale Leistun-gen bezieht. Sie haben nicht verstanden, was das bedeu-tet. Wenn Sie das wollen, müssen Sie zumindest– ebenso wie andere europäische Staaten – einen ange-messenen Mindestlohn einführen, damit sichergestelltist, dass die fleißige Arbeit nicht schlechter entlohntwird als der Bezug von sozialen Leistungen. Das ist eineDimension des Mindestlohns, der Sie sich nähern soll-ten.

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben zwar sehr schöneWorte gefunden, Sie wurden aber nicht konkret. Ich habeden Eindruck, dass Sie nicht verstanden haben, was Siehier eigentlich vorgetragen haben.

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(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben es nicht kapiert!)

Sie haben gesagt: Wir müssen die Zukunft sichern.Was tun Sie aber für die Sicherung der Zukunft? Werklatscht denn nicht Beifall, wenn jemand hier sagt: „Wirmüssen die Zukunft gewinnen“? Es gibt zwei Zahlen,die Sie widerlegen: Die öffentliche InvestitionsquoteDeutschlands ist – das gilt auch für diesen Haushalt,Herr Bundesfinanzminister – nur halb so hoch wie dieder europäischen Nachbarstaaten. Das ist schon seit vie-len Jahren so. Wie soll dieser moderne Industriestaatdenn die Zukunft gewinnen, wenn Sie nur halb so vielinvestieren wie die Konkurrenz? Wir brauchen mehr öf-fentliche Investitionen. Dieses Versäumnis ist ein gravie-render Fehler Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik.

(Beifall bei der LINKEN)

Was nützt all das schöne Gerede über das Gewinnender Zukunft, wenn wir bei den Bildungs- und For-schungsausgaben nach wie vor – das zeigt die OECD-Statistik – weit zurückliegen? Sie offenbaren einen Wi-derspruch: Sie haben hier zwar hehre Absichten verkün-det, aber keinen Ansatz vorgetragen, wie dieses Land,das eine französische Dichterin früher einmal „das Landder Dichter und Denker“ nannte, auf dem Gebiet der zu-kunftsentscheidenden Investitionen gewinnen kann.

Früher hatten wir einmal hervorragende Forscher undein Bildungssystem, das beispielhaft in der Welt war.Diese Situation können wir aber nicht wieder erreichen,wenn die öffentlichen Haushalte, insbesondere die derLänder, weiterhin unterfinanziert sind und wir keinenWeg aufzeigen, wie die Höhe der Bildungsausgaben andas internationale Niveau angeglichen werden kann.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte einige kurze Ausführungen dazu machen,wie man den privaten Konsum unterstützen kann. DieSituation der Haushalte, die durch die seit vielen Jahrenstagnierende Lohnentwicklung ohnehin schlecht ist,wurde durch die Entwicklung der Energiepreise weiterverschärft. Durch die Deregulierung der Energiemärktehaben Sie wesentlich dazu beigetragen.

Mittlerweile müssen Haushalte bis zu mehrere Mo-natsmieten aufbringen, um die höheren Energiepreisebezahlen zu können. Deswegen wäre es eine erstrangigeLeistung, zu erreichen, dass die Energiepreise inDeutschland nicht weiter so steigen können und dass aufMonopolmärkten nicht weiter so abgezockt werdenkann, wie es derzeit geschieht.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben zwar gehört, Sie hätten irgendein Konzeptim Kopf, mit dem Sie in diesem Bereich etwas verän-dern wollen. Aber wie sieht es denn aus, Frau Bundes-kanzlerin? Haben Sie irgendeinen Ansatz, wie Sie diesteigenden Energiepreise in den Griff bekommen wol-len? Mittlerweile haben einige Länderregierungen denVorwurf der Linken aufgegriffen, die schon mehrfachvorgetragen hat, dass es ein Fehler war, die staatlicheEnergiepreiskontrolle auslaufen zu lassen. Jawohl, beimonopolartigen Märkten hat das Gerede über Marktwirt-

schaft wenig Sinn. Dort muss es eine staatliche Energie-preiskontrolle geben. Ich begrüße es, dass drei CDU-ge-führte Länder das jetzt erkannt haben, entsprechendeInitiativen machen wollen und unseren Ansatz insoweitaufgreifen.

(Beifall bei der LINKEN)

Dasselbe gilt – damit bin ich wieder beim geschätztenBundesfinanzminister – hinsichtlich der Entwicklungder Mietpreise. Sie beglücken die deutsche Öffentlich-keit immer wieder mit der Absicht, die REITs auch inDeutschland zuzulassen, also private Immobilienfonds,die hohe Renditen erwirtschaften. Verehrter Herr Bun-desfinanzminister, glauben Sie mir, die hohe Renditenkommen nicht vom lieben Gott. Sie kommen woandersher,

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

und zwar von den Mieterinnen und Mietern. Anders istdas nicht zu machen. Irgendjemand muss für diese ho-hen Renditen zahlen. Das heißt, Ihre Kritiker in der eige-nen Fraktion und die ehemalige Ministerin Anke Fuchshaben völlig Recht, wenn sie sagen, dass die Einführungsolcher Fonds nur dazu geeignet ist, die Mietpreise an-steigen zu lassen, was insbesondere für sozial schwä-chere Schichten unakzeptabel ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn man also diese Kombination sieht – auf der ei-nen Seite stagnierende Löhne, auf der anderen Seite stei-gende Energiepreise und steigende Mietpreise; alles ver-ursacht durch das Handeln dieser Regierung –, dannstellt sich tatsächlich die Frage, welche Vernunft der Ar-beit dieser Regierung zugrunde liegt.

Ein Letztes. Wenn ich jetzt wieder lese, dass zum1. September gemeldet worden ist, dass die Zahl der jun-gen Menschen, die noch keine Lehrstelle haben, weiterim Anstieg ist, dann komme ich zu dem Schluss, dassdas ein eklatantes Versagen Ihrer Regierung ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Es hat doch keinen Sinn, über Zukunft zu reden, wennwir dieses Problem nicht in den Griff bekommen.

Nun mögen die Ansätze für Lösungen, die hier vorge-tragen werden, natürlich da oder dort auf Einwendungenstoßen. Die Lösung, eine Ausbildungsplatzabgabe ein-zuführen – sie wurde jahrzehntelang in der SPD mit gro-ßen Mehrheiten befürwortet –, funktioniert ja beispiels-weise in der Bauwirtschaft und auch in den nordischenStaaten. Warum sind wir nicht in der Lage, auch inDeutschland eine solche Lösung zu finden? Ich plädiereim Namen meiner Fraktion nachhaltig für eine solcheLösung.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich begrüße es ausdrücklich, dass ein Ministerpräsidentder CDU, Herr Koch aus Hessen, sagt: Wenn die Situa-tion so eng ist, wie sie derzeit ist, dann braucht es ein öf-fentliches Programm zur Bereitstellung von Ausbil-dungsplätzen. Auch dieser Ansatz wird von unsererFraktion nachhaltig unterstützt.

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4490 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006

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Oskar Lafontaine

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich fasse zusammen. Die zwei Fragen, die ich aufge-worfen hatte, lauteten: Trägt die Außen- und Sicherheits-politik der Bundesregierung dazu bei, die Sicherheit inunserem Lande zu erhöhen? Trägt die Wirtschaftspolitikdazu bei, das Wachstum zu fördern und die Arbeitslosig-keit abzubauen? Ich komme zu dem Ergebnis, dass beideFragen verneint werden müssen.

(Widerspruch des Abg. Axel E. Fischer [Karls-ruhe-Land] [CDU/CSU])

– Ich an Ihrer Stelle wäre hier sehr vorsichtig.

Die Außenpolitik erhöht in nicht verantwortbarerWeise die Gefahr terroristischer Anschläge in Deutsch-land.

(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: So ein Blödsinn!)

Und die Wirtschafts- und Finanzpolitik verschärft dieUngleichheiten und ist nicht dazu geeignet, einen dauer-haften Aufschwung zu initiieren, den wir brauchen, umdie Arbeitslosigkeit nachhaltig abzubauen.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN – AxelE. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]:Meine Güte!)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Vorsitzende der SPD-Frak-

tion, Dr. Peter Struck.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Peter Struck (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Herr Lafontaine, Sie haben eineRede gehalten, die ich für beschämend halte für dasHohe Haus.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Was die Außenpolitik angeht, will ich Ihnen klar sagen:Wer solche außenpolitischen Positionen vertritt wie die,die Sie gerade vorgetragen haben, darf niemals Verant-wortung in der Bundesrepublik Deutschland erlangen.Niemals!

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Das Entscheidende, Herr Lafontaine, ist doch nichtdie Frage, ob die Außen- und Sicherheitspolitik der Bun-desregierung der Bundesrepublik Deutschland nutzt.Das Entscheidende ist die Frage, ob die Außen- und Si-cherheitspolitik der Bundesregierung der Welt nutzt. Dastut sie zweifellos. Gehen Sie doch einmal nach Afgha-nistan! Sie halten hier Reden über Afghanistan, warenaber noch nie dort. Fragen Sie einmal die Mädchen inAfghanistan, die endlich zur Schule gehen und studierendürfen, wem sie das zu verdanken haben! Das haben sie

uns, der internationalen Staatengemeinschaft, zu verdan-ken, aber nicht solchen Sprüchemachern wie Ihnen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der FDP)

Herr Lafontaine, wir kennen uns schon lange. Wirwaren sogar einmal über unsere politische Zusammenar-beit hinaus befreundet; das ist bekannt. Aber ich halte esfür unglaublich, was für eine politische Entwicklung Siegenommen haben. Dafür habe ich überhaupt kein Ver-ständnis.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Oskar Lafontaine [DIELINKE]: Dieses Kompliment kann ich zurück-geben!)

Meine Damen und Herren, die Attentate von London,Madrid und Ankara und natürlich auch der 11. Septem-ber 2001 sind zu Synonymen für die Verletzbarkeit derwestlichen Demokratien durch Angriffe von Terroris-ten geworden. Kein Land der Welt ist, was diesen ver-blendeten Terror verstockter Ideologen betrifft, eine In-sel der Seligen. Das wird man auch nicht, indem mansich aus der Weltverantwortung völlig heraushält. Das zudenken, ist ein grundsätzlicher Irrtum. Glauben Siedenn, es bestünde in Deutschland keine Gefahr durchTerrorismus, wenn es auf der Welt keine Bundeswehrgäbe? Glauben Sie das ernsthaft? Das kann doch nichtwahr sein! Das ist absoluter Unsinn, Herr Lafontaine,und völlig bescheuert.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Schon damals, im Jahre 2001, haben Bund und Län-der mit der Optimierung der Sicherheitsmaßnahmenbegonnen. Diese Maßnahmen sind von den Innenminis-tern immer wieder angepasst worden, zuletzt in dieserWoche, und zwar durch Einführung der Antiterrordatei,als Reaktion auf die Kofferbombenattentate und anderepotenzielle Gefährdungen.

Selbst wenn man alles tut, um ein möglichst hohesMaß an Sicherheit herzustellen, muss eines gesagt wer-den – darüber sollten wir uns alle im Klaren sein –: Einehundertprozentige Sicherheit wird es in einer freiheitli-chen Demokratie nie geben. Keine Antiterrordatei derWelt, keine Videokamera und keine Sammlung von Fin-gerabdrücken können hundertprozentigen Schutz ge-währleisten. Das dürfen wir den Bürgerinnen und Bür-gern auch nicht vorgaukeln.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Richtig!)

Hundertprozentige Sicherheit vor zum Selbstmordentschlossenen Attentätern wäre nicht einmal zu ge-währleisten, wenn man die Prinzipien einer liberalen De-mokratie zugunsten derer eines Überwachungsstaatesaufgeben würde. Wir dürfen die freiheitlichen Prinzipienunserer westlichen europäischen Demokratien im Kampfgegen diesen Terrorismus nicht opfern. Genau das istnämlich das Kalkül der Terroristen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

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Dr. Peter Struck

Wir müssen uns gegen das Klima von Angst und Hasswehren, das sie schüren wollen.

Die Weltgemeinschaft hat den Kampf gegen den Ter-ror im Herbst des Jahres 2001 aufgenommen. Für uns,das Parlament, war es ein weit reichender und schwieri-ger Schritt, die Bundeswehr nach Afghanistan zu schi-cken. Ich erinnere mich – auch damals war ich Vorsit-zender der SPD-Fraktion –, wie schwer wir uns in dieserDebatte getan haben, alle anderen Fraktionen selbstver-ständlich auch.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Alle!)

– Ja, alle.

Fünf Jahre später hat sich diese Entscheidung alsrichtig erwiesen. Sie war notwendig, um die Kräfte zustärken, die nicht länger mit ansehen wollten, dass Af-ghanistan weiterhin Brutstätte des internationalen Terro-rismus bleibt. Diese Entscheidung war auch notwendig,um den Aufbau zivilgesellschaftlicher und demokrati-scher Strukturen in diesem Land zu sichern.

Der Einsatz unserer Soldaten in Afghanistan ist ge-fährlich. Die Taliban sind auch nach fünf Jahren nochlängst nicht zerschlagen und al-Quaida ist nach wie vorim Nachbarland Pakistan präsent. Eine Beendigung derMission ist nicht abzusehen. Deswegen wird der Bun-destag dieses Mandat in den nächsten Wochen um einweiteres Jahr verlängern; dafür plädiere ich. Allerdingsbin ich dafür, meine Damen und Herren, das Mandat un-verändert zu verlängern. Eine Ausweitung des deutschenEinsatzgebietes auf den Süden des Landes lehne ich ab.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die Bundeswehr, die im Rahmen von ISAF dasgrößte Kontingent stellt, hat die Verantwortung für dengesamten Norden übernommen. Für den Westen, denSüden und den Osten sind jeweils andere NATO-Partnerverantwortlich. Das war die Vereinbarung. Dabei solltees auch bleiben.

Ich halte es übrigens für unerträglich, dass die PDSbehauptet – auch Herr Lafontaine hat das eben wiedergetan –, durch unseren Einsatz in Afghanistan würdenwir den Terror nach Deutschland holen.

(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Das hat sogarHerr Beckstein gesagt! – Weiterer Zuruf vonder LINKEN: So ist das aber!)

Die Damen und Herren Populisten sollten sich einmalanschauen, welch verantwortungsvolle Arbeit unsereSoldatinnen und Soldaten dort leisten.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Sie sollten auch wissen: Das Recht auf Freiheit in unse-rer Demokratie verteidigt man nicht dadurch, dass manungezügelte Angriffe auf die Grundfesten der Demokra-tie zulässt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Ich habe übrigens genauso wenig Verständnis für dieHaltung der FDP in der außenpolitischen Frage. Ichdenke dabei an die Zeiten, in denen die FDP außenpoli-tisch große Verantwortung wahrgenommen hat, undhalte es für einen schlechten Weg, den die FDP mit demNein zu den Auslandseinsätzen gegangen ist. Über denLibanon werden wir noch reden. Ich glaube, dass sie sichnicht auf dem richtigen Weg befindet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – DirkNiebel [FDP]: Die meisten haben wir dochmitgemacht!)

Die Ablehnung der FDP beim Auslandseinsatz imKongo, bei der Verlängerung des Mandats in Afghanis-tan und möglicherweise jetzt bei dem Mandat im Liba-non ist falsch.

(Zurufe von der FDP: Nein!)

Eine Ablehnung würde uns im Kampf gegen den in-ternationalen Terrorismus in der internationalen Ge-meinschaft isolieren. Sagten wir Nein, wäre Deutschlandisoliert und spielte keine verantwortungsvolle Rolle inEuropa. Die Wahrnehmung einer verantwortungsvollenRolle wird von Deutschland allerdings erwartet.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Wir sind außenpolitisch ein starkes Land in Europa.

Wir werden in den nächsten Tagen und möglicher-weise auch Wochen – niemand weiß es genau; die FrauBundeskanzlerin hat soeben dargelegt, worüber imLibanon entschieden werden muss – um Hilfe gebetenwerden. Die Vereinten Nationen bitten uns um Hilfe. Eswar immer die Position der SPD, dass unter Obhut derVereinten Nationen solche Mandate wahrgenommenwerden. Darüber hinaus bitten uns der Libanon und Is-rael um Hilfe. Es wird in der Tat – das ist wahr – ein ro-bustes Mandat, vermutlich wird es das robusteste wer-den, das es für unsere Soldatinnen und Soldaten gibt.

Es soll ein Frieden stiftendes Mandat sein, das nachden Kämpfen der vergangenen Wochen eine belastbareWaffenruhe garantieren soll. Wir bieten Hilfe für dieseMission an, weil wir wissen, dass es von einem labilenWaffenstillstand bis zu einer wirklichen Befriedung einsehr weiter Weg ist, der ohne die Unterstützung derWeltgemeinschaft nicht gelingen wird.

Meine Partei und Fraktion haben ausführlich über un-sere Hilfe debattiert. Dabei ist die humanitäre Hilfe inder Region vorrangig. Libanon wird wieder zu einemPartnerland unserer Entwicklungshilfe werden. Eskommt auf den Wiederaufbau von Wohnungen und dieEindämmung der Ölpest vor der libanesischen Küste an.Wir sind uns darüber im Klaren, dass ein militärischerBeitrag nur dann dauerhaft helfen kann, wenn ernsthaftnach politischen Lösungen in Nahost gesucht wird. Ent-scheidend wird die Lösung des israelisch-palästinensi-schen Konfliktes sein. Ohne sie wird es keine Beruhi-gung im Nahen Osten geben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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Dr. Peter Struck

Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat sich inden letzten Wochen unermüdlich für Gespräche mit allenSeiten eingesetzt. Wir danken ihm ausdrücklich für seineArbeit und unterstützen ihn nachhaltig.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Der Außenminister trägt mit seiner intensiven Diploma-tie maßgeblich dazu bei, dass Deutschland als wichtigerund vertrauensvoller Partner von allen Konfliktparteienim Nahen Osten wahrgenommen wird.

Einige Kollegen aus meiner Fraktion haben in denletzten Wochen Israel und Palästina, Libyen und Syrienbesucht. Sie sind mit der Erkenntnis zurückgekommen,dass der Einsatz der Deutschen von allen Partnern ge-wollt wird. Sie sind aber auch mit der Erkenntnis zu-rückgekommen, dass die Nachbarn Israels Erwartungenhaben, die für das Gelingen des Friedensprozesses unab-dingbar sind.

Entwicklungsministerin Heidi Wieczorek-Zeul hateine UN-Untersuchung des Einsatzes israelischerStreumunition gefordert und ist dafür vom Zentralratder Juden kritisiert worden. Im Namen meiner Fraktionweise ich diese Kritik zurück.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Eine Untersuchung kann für alle Seiten in der Krisenre-gion von Nutzen sein. Israels Ministerpräsident EhudOlmert hat die große Freundschaft zwischen unserenbeiden Ländern hervorgehoben und gesagt, es gebe zur-zeit keine Nation, die sich freundschaftlicher gegenüberIsrael verhalte. Das ist so und soll auch so bleiben, aber:Freunde müssen auch wahrheitsgemäß miteinander um-gehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]:Gerade Freunde!)

Die Lage im Nahen und Mittleren Osten ist beunruhi-gend. Sie bereitet den Menschen hier Sorgen, weil wirvon ihren Auswirkungen unmittelbar betroffen sind. DieKrisenregion ist drei Flugstunden von uns entfernt. DerIrak kommt nicht zur Ruhe. Von Frieden ist dieses Landweit entfernt, es ist zu einer Zufluchtsstätte für Terroris-ten des al-Qaida-Netzwerks geworden. Fast täglich gibtes dort Tod und neue Attentate. Meine Damen und Her-ren, ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Die Ent-scheidung der damaligen rot-grünen Bundesregierung,diesen Krieg nicht zu befürworten, war und bleibt rich-tig, zu jeder Zeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind in der Iranfrage – Sie haben das angespro-chen, Frau Kanzlerin – strickt für Diplomatie und Ge-spräch und schließen eine militärische Option aus; dastimme ich Ihnen ausdrücklich zu.

Ich halte nichts davon, wenn immer öfter Begriffe wie„gut“ und „böse“ Eingang in die internationale Debattefinden. Eine solche Sicht ist fatal. Wenn ich im Gegen-über nur das Böse erkennen will, kann ich nicht ernsthaft

Lösungen prüfen, kann ich keinen Ausgleich suchen.Lassen Sie es mich mit einem historischen Vergleichdeutlich machen: Willy Brandt hat seine Entspannungs-politik nur entwickeln können, weil er die Kategorienvon Gut und Böse der 50er- und 60er-Jahre beiseite ge-legt und den zähen Dialog mit den Kommunisten ge-sucht hat. Es war ein mühsamer, umstrittener, aber er-folgreicher Weg.

(Dirk Niebel [FDP]: Mit Scheel!)

– Mit Walter Scheel, selbstverständlich. – Seine Ent-spannungspolitik war gut für unser Land, für unsereNachbarn und für Europa insgesamt. Nicht zuletzt WillyBrandts Verzicht/Walter Scheels Verzicht auf die damalszwischen den Blöcken weit festgeschriebenen Katego-rien von Gut und Böse verdanken wir, dass heute Feindevon gestern Partner und Freunde geworden sind.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Für den Nahen und Mittleren Osten heißt das nicht,dass wir die Augen und Ohren vor unakzeptablen Hand-lungen und Äußerungen verschließen. Wenn beispiels-weise das Existenzrecht Israels geleugnet wird, wenn derAntisemitismus darüber den deutschen Sumpf erreicht,sagen wir klipp und klar: Nein!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)

Unsere israelischen Freunde können sich auf uns verlas-sen; das will ich an dieser Stelle deutlich sagen, im Na-men meiner Fraktion und auch der Koalition.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lassen Sie mich nur einige kurze Bemerkungen zumArbeitsmarkt und zur Gesundheitspolitik machen, weilRedner meiner Fraktion auf diese Themen ausführlichereingehen werden.

Zum Arbeitsmarkt. Der Knoten ist geplatzt, eindeu-tig. Deutschland ist im Aufschwung, die wirtschaftlicheDynamik gewinnt weiter an Fahrt. Nachdem die Wirt-schaft gut in das laufende Jahr gestartet war, hat sich dieErholung im zweiten Quartal eindeutig fortgesetzt. DerKonjunkturfunke ist endlich vom Export auf die Binnen-konjunktur übergesprungen, vor allem in der Bauwirt-schaft; das haben Sie, Herr Lafontaine, zu Recht vorge-tragen, korrekt diesmal – ausnahmsweise. VerstärkteInvestitionen tragen zum Aufschwung bei.

Die Zahl der Arbeitslosen ist im August um14 000 auf 4,3 Millionen gesunken. Seit Februar 2006ist die Zahl der Arbeitslosen von 5,0 auf 4,37 Millionengesunken. Im Vergleich zum Vorjahresmonat ist die Zahlder Arbeitslosen um mehr als 400 000 gesunken. DieZahl der Erwerbstätigen ist gestiegen: Im Vergleich zumVorjahreswert ergab sich im Juli eine Steigerung von306 000 Erwerbstätigen. Das ist ermutigend, meine Da-men und Herren, auch deshalb, weil sich die Entspan-nung auf dem Arbeitsmarkt aus dem Zusammenspielvon konjunktureller Entwicklung und dem Greifen ar-

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006 4493

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Dr. Peter Struck

beitsmarktpolitischer Instrumente der Bundesregierungergibt.

Ganz sicher ist, dass das in Genshagen beschlossene25-Milliarden-Euro-Wachstumsprogramm seine Wir-kung jetzt entfaltet, langsam, aber sicher. Vor allem dasdarin enthaltene CO2-Gebäudesanierungsprogramm istschon jetzt ein Erfolg auf ganzer Linie. Es wird bis 2009ein Investitionsvolumen von 28 Milliarden Euro entwi-ckeln. Bereits im letzten Monat, also im August, warendie Mittel für dieses Jahr – für das ganze Jahr – bei derKreditanstalt für Wiederaufbau ausgeschöpft. Seit Früh-jahr hat die Kreditanstalt für Wiederaufbau im Bereichder energetischen Gebäudesanierung ein Darlehensvolu-men von 7 Milliarden Euro bewilligt. Das Programm hateinen erheblichen Anteil an dem spürbaren Aufschwungder Bauwirtschaft. Um diesen Erfolg nicht abzubremsen,werden wir für dieses Jahr 350 Millionen Euro zusätz-lich zur Verfügung stellen. Das belegt, dass das Gebäu-desanierungsprogramm ein großer Renner ist, ein großerErfolg.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dass sich der Arbeitsmarkt entspannt, liegt aber auchdaran, dass die Vermittlung und die Betreuung des ein-zelnen Arbeitslosen maßgeblich intensiviert wordensind. In ihrer Breite greifen jetzt die Arbeitsmarkt-reformen, die von der Regierung unter GerhardSchröder eingeleitet worden sind. Insofern profitiert diegroße Koalition von diesen mutigen Reformschritten ih-rer Vorgängerregierung, an der wir auch beteiligt waren,wie man weiß.

(Beifall bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle[FDP]: Los, CDU/CSU, Beifall! Das ist euerPartner!)

– Dass der Beifall des Koalitionspartners dafür etwasverhalten ist, kann ich verstehen. Trotzdem ist es wahr.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: So wenig Un-terstützung! Das ist skandalös!)

Ich bin mir sicher, dass wir diesen Weg mit Arbeits-minister Franz Müntefering erfolgreich weitergehenwerden. Im Herbst wird er mit seinen Vorschlägen Ord-nung in den Niedriglohnsektor bringen und damit auchdem Arbeitsmarkt weitere Impulse geben. Wir solltendiesen Bereich in Ruhe und gemeinsam angehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Es ist jetzt wichtiger, die Chancen wahrzunehmen, alsjetzt schon die Risiken zu beschreiben und das Vorhabennicht weiter zu verfolgen.

Ebenso wie die Kanzlerin möchte ich für meine Frak-tion ein Wort zu den Überschüssen der Bundesagentursagen. Wir haben in der Koalition vereinbart, den Ar-beitslosenversicherungsbeitrag zum 1. Januar 2007 umzwei Punkte auf 4,5 Prozentpunkte zu senken. Ich unter-stütze Franz Müntefering bei seiner Forderung, es dabeizu belassen, und warne davor, zum jetzigen Zeitpunkteine weitere Absenkungsdebatte zu führen.

(Beifall bei der SPD)

Jeder weiß doch, dass sich der erwartete Überschuss derBundesagentur zu einem Drittel aus einem Einmaleffektergibt, dass dieser Effekt in den nächsten Jahren nichtwieder auftreten wird und dass wir für die Absenkungdes Arbeitslosenversicherungsbeitrags allein von derAgentur rund 7 Milliarden Euro erwarten. Das heißt, wirkönnen nicht über weiteres Geld verfügen, weil es nichtvorhanden ist.

Lassen Sie uns die Entwicklung in Ruhe abwarten.Legen wir das Thema auf Wiedervorlage für das nächsteFrühjahr, bis wir einen Überblick darüber haben, wiesich die Finanzen der Bundesagentur gestalten. Auchhier sollten wir es halten, wie es in der Koalition eigent-lich immer gelten sollte: Solidität vor Schnelligkeit.

Zu zwei Punkten möchte ich noch etwas sagen, näm-lich zur Gesundheitsreform und zur Unternehmensteuer-reform. Es war ein schwieriges Unterfangen, die Eck-punkte für die Gesundheitsreform zu vereinbaren. DieExpertinnen und Experten und auch die so genanntenSpitzenkreise haben lange darüber beraten. Es ist jetzteine Vereinbarung über die Eckpunkte der Gesundheits-reform beschlossen worden. Die SPD-Bundestagsfrak-tion wird diese Eckpunkte einhalten. Ich erwarte das vonder anderen Koalitionsfraktion natürlich auch. Es machtjetzt also keinen Sinn, die vereinbarten Eckpunkte aneinzelnen Stellen jeweils von der einen oder anderenSeite infrage zu stellen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Es ist auch klar, dass diese Eckpunkte auf heftigenWiderstand fast aller stoßen. Das war uns aber bereitsvorher klar, als wir die Debatte begonnen haben. Wer un-ser Gesundheitssystem in Deutschland erhalten will – esist das beste Gesundheitssystem der Welt, weil durchdieses System dafür gesorgt wird, dass jeder, ob Armoder Reich, ob Alt oder Jung, die gesundheitliche Ver-sorgung erhält, die er benötigt –, der muss das Systemreformieren. Es kann nicht sein, dass die Krankenversi-cherungsbeiträge immer weiter steigen und dass für vieleDinge immer mehr Geld ausgegeben wird, von dem wiraus strukturellen Gründen eine ganze Menge sparenkönnten.

Weil wir hier im Bundestag zum ersten Mal über dieEckpunkte reden, will ich für meine Fraktion sagen: Ichhätte mir bei manchen Punkten natürlich mehr Entge-genkommen vom Koalitionspartner gewünscht, zumBeispiel bei der Einbeziehung der privaten Krankenver-sicherung, den Strukturänderungen und vielen anderenDingen. Ich weiß, dass es vergebliche Liebesmüh ist, dasanzusprechen, ich denke aber nicht, dass wir in Deutsch-land 250 oder 260 Krankenkassen brauchen. Das mussnicht sein.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU])

Es war aber nicht zu erreichen, dass an diesen Punk-ten etwas geändert wird. Ich stehe zu den Eckpunkten.Es geht jetzt um die Formulierung des Gesetzentwurfes.

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Dr. Peter Struck

Ich gehe davon aus, dass wir damit Ende September/An-fang Oktober beginnen werden. Wir alle gemeinsammüssen damit rechnen – das ist so; den Experten mussich das nicht erklären –, dass es nach wie vor Widerstanddagegen geben wird.

Aber Politik kann nicht darin bestehen, dass man einergroßen Zeitung mit großen Buchstaben folgt oder die In-teressen irgendeiner Lobbyistengruppe bedient, sonderndass man das macht, was man für richtig hält. Das wer-den wir bei der Gesundheitsreform tun.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Die Kollegin Elke Ferner, die für uns verhandelt, wirddazu noch nähere Ausführungen machen.

Ein letztes Wort zur Unternehmensteuerreform. Esist wahr, dass unsere nominalen Sätze zu hoch sind. DieKanzlerin und auch der Finanzminister haben Recht,wenn sie sagen, dass sie im europäischen Vergleich ein-deutig einen Wettbewerbsnachteil darstellen. DiesenWettbewerbsnachteil werden wir zu beseitigen versu-chen. Aber für mich ist auch klar, dass wir als Staat mit-telfristig nicht auf Milliarden von Steuereinnahmen ver-zichten können. Wir haben angesichts der Aufgaben, dieanstehen, nichts zu verschenken.

(Beifall bei der SPD)

Das heißt, eine Lösung muss mittelfristig aufkom-mensneutral sein. Mittelfristig aufkommensneutral heißtnach meiner Auffassung auch – ich richte mich „towhom it may concern“, nicht an meine Fraktion, abervielleicht an eine andere –, dass wir die Verbreiterungder Bemessungsgrundlage im Zusammenhang mit derUnternehmensteuer durchsetzen müssen.

(Beifall bei der SPD)

Darüber haben wir geredet. Das werden schwierigeVerhandlungen werden. Aber wozu ist dann Politik da?Wenn alles so einfach wäre, dann könnten es auch an-dere machen. Aber wir machen es besser. Wir machenunsere Arbeit weiter. Deutschland kann sich auf die SPDverlassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Und auf die Union! – Hartmut Koschyk[CDU/CSU]: Auf uns auch! – Dr. GuidoWesterwelle [FDP]: „Deutschland kann sichauf die SPD verlassen“ und Kauder klatscht!)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen

spricht nun deren Vorsitzender Fritz Kuhn.

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

möchte mit der Außenpolitik beginnen und für meineFraktion klar sagen, dass wir in der Frage von Auslands-einsätzen der Bundeswehr weder in einer Position despauschalen Jas noch in einer Position des pauschalenNeins sind und jemals sein werden. Es kommt auf diegenaue Prüfung der einzelnen Umstände an. Deswegen

habe ich, Herr Westerwelle, Ihren Weg und auch den vonHerrn Lafontaine in den letzten Wochen nie nachvollzie-hen können.

Herr Lafontaine, eines ist erstaunlich: Die deutscheSicherheit wird doch nicht mehr wie in den 60er- und70er-Jahren an der deutschen Grenze verteidigt. Ob imNahen Osten eines Tages Frieden sein kann oder ob dortKrieg herrscht oder ob in einem „Failing State“ wieKongo die Menschenrechte verletzt werden und der Ter-ror gedeiht, ist eine Frage auch unserer Sicherheit. Ichfinde, hier vertreten Sie einen sehr rückwärts gewandten,der heute globalisierten Realität nicht gerecht werdendenBegriff von Sicherheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD)

Wir werden deswegen, Frau Merkel, genau hin-schauen, was Sie aus der Anfrage der Libanesen in NewYork und der Bitte um Hilfe in Ihrem Kabinettsbeschlussmachen. Die Aufteilung in eine Zone, in der auf See nurdie Libanesen kontrollieren, und eine andere Zone, inder auch die Deutschen tätig werden sollen, macht esnicht einfacher, zuzustimmen. Da kommt es wirklichaufs Detail an; das will ich klar sagen. Aber alle, dieNein sagen, müssen wissen, dass wir allmählich in eineSituation geraten, bei der der deutsche Einsatz direkt mitder Frage verbunden ist, ob und wie schnell die Israelisdie Seeblockade aufheben werden, was für den Wieder-aufbau und die humanitäre Hilfe, die im Libanon sodringend notwendig sind, außerordentlich relevant ist.Diese Abwägung müssen wir alle zusammen vornehmenund wir werden uns nach bestem Wissen und Gewissenentscheiden.

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben richtigerweise ge-sagt: Diskutiert nicht nur über Militäreinsätze, sondernfragt nach dem politischen Rahmen, den ein Militärein-satz notwendiger- und sinnvollerweise haben muss. –Darin wollen wir Sie ausdrücklich unterstützen. Aberwir wollen in Zukunft konkretere Angaben, als dies inder Vergangenheit und auch heute in Ihrer Rede der Fallgewesen ist.

Ich glaube, dass Sie noch immer Schwierigkeiten ha-ben, die ganze Situation im Nahen Osten von der Ver-gangenheit her zu analysieren; denn Sie waren davonüberzeugt, dass die Haltung der rot-grünen Regierungunter Schröder und Fischer, den Irakkrieg abzulehnen,völlig falsch war. An diesen Punkt müssen Sie zurückge-hen, wenn Sie die heutige Situation beschreiben: Es gibtnicht mehr Sicherheit in der Region, sondern die Situa-tion ist, wie von uns vorausgesagt, extrem instabil. Esherrscht Bürgerkrieg. Es ist sehr schwierig, in dieser Re-gion zu einer friedlichen Lösung zu kommen.

Jetzt kommt der für mich wichtige Punkt: Ich ver-lange von der deutschen Bundesregierung – und zwarnicht nur vom Außenminister, sondern auch von derBundeskanzlerin – ein klares Konzept für die friedlicheEntwicklung im Nahen Osten und vor allem für denmöglichen deutschen und europäischen Beitrag dazu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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Fritz Kuhn

Ich habe nichts dagegen, wenn Sie gute Beziehungenzum amerikanischen Präsidenten haben. Aber Sie müs-sen – darauf kommt es an – diese jetzt auch in die rich-tige Richtung umsetzen. Das heißt beim Iran, dass mannur dann mit Sanktionen drohen kann, wenn man auchbereit ist, die Sanktionen zu verhängen, und wenn mandie gestellten Ultimaten richtig begründet und es zeitlichrichtig befristet hat. Das heißt, dass Sie das Wahrneh-mungsmuster, das bei Bush und noch stärker bei seinemVerteidigungsminister vorherrscht – nämlich dass jedesProblem auf der Welt irgendwie mit der Jagd gegen al-Qaida-Terroristen in Verbindung steht –, brechen müs-sen. Sie werden der Realität in Palästina bzw. zwischenPalästinensern und Israelis nicht gerecht, wenn Sie sienur in Bezug auf den internationalen Terrorismus sehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie werden auch dem Hisbollah-Konflikt im Liba-non nicht gerecht, wenn Sie ihn nur im Zusammenhangmit dem Kampf gegen al-Qaida sehen. Eine politischeLösung heißt, dass Sie die Konflikte zwischen Syrienund Israel wie auch zwischen Syrien und dem LibanonSchritt für Schritt konstruktiv angehen müssen. Sie müs-sen darauf achten, dass es wirklich zur Zweistaatlichkeitkommt. Dabei kommt es sehr auf die Amerikaner an.Unsere Empfehlung ist, dass Sie diese Beziehungennicht nur in Ihrem Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpom-mern für Sommeraktivitäten nutzen, sondern wirklichdarauf drängen, dass mehr getan und verstärkt Druck zu-gunsten von politischen Lösungen ausgeübt wird.

Dass die Rolle der EU gestärkt wird, ist die entschei-dende Aufgabe, die Ihnen beim Vorsitz der EU-Ratsprä-sidentschaft im nächsten Jahr zukommt. Dabei erwartenwir Konzeptionen statt wie bisher nur allgemeine Ab-sichtserklärungen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte noch etwas zur aktuellen Situation anmer-ken. Das Auftreten und Agieren des Verteidigungs-ministers hat uns sehr gestört. In einer Situation – daswar schon im Zusammenhang mit dem Kongo der Fall –,in der Ruhe, Klarheit, Besonnenheit und Reflexion stattGeschwätzigkeit gefragt waren, ist der Verteidigungsmi-nister wie die größte Plaudertasche der Republik aufge-treten. Das hat immer wieder zu neuen Verunsicherun-gen geführt und auch unseren Soldaten geschadet, diesich eine klare Orientierung wünschen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der frühe Jung erinnert mich an den spätenScharping. Sie sollten aufpassen, dass es in der kriti-schen Situation, die wir heute haben, nicht so weitergehtwie in den vergangenen Wochen.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Nicht dass er am Ende auch noch badengeht!)

Ich möchte jetzt zur innenpolitischen Situation kom-men, Frau Merkel. Übrigens ist Ihre Redestruktur nichtnachhaltig.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Rede auchnicht!)

Ich will das einmal darstellen. In der Regierungserklä-rung war das große, strukturprägende Motto „Mehr Frei-heit wagen“. Heute ist davon nicht mehr die Rede.

Es ist noch nicht lange her, als Sie öffentlich vom„Sanierungsfall Deutschland“ gesprochen haben. Jetztwerfen Sie der Opposition vor, wir würden allesschlechtreden. Das ist ein starkes Stück. Nach dem, wasSie von der Union in den letzten sieben Jahren überDeutschland gesagt haben, sollten Sie besser nicht vonSchlechtreden sprechen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will Ihnen erläutern, wie wir die Situation sehen.Die Konjunktur hat sich stark gebessert, aber– Lafontaine hat damit Recht – noch nicht wirklich inBezug auf den Binnenmarkt. Wir haben große Sorge,dass mit der Mehrwertsteuererhöhung im nächsten Ja-nuar diese Verbesserungen wieder geschliffen und ge-fährdet werden.

In der gegenwärtigen Situation, die positiv ist und inder sichtbar wird, dass die Agenda 2010 inzwischen ander einen oder anderen Stelle greift, gibt es eine Anfor-derung an die Regierung, nämlich klug und vernünftigweiter zu reformieren und den Menschen im Land zu er-klären, was sie als Nächstes machen will. Unser Vorwurfan Sie ist, dass Sie genau das nicht tun.

Lassen Sie mich dafür Beispiele anführen. Das sindzunächst einmal die Eckpunkte – das Wort Eckpunktewird sicherlich auch noch mit einer neuen Bedeutung inden deutschen Sprachschatz eingehen –: Nach wochen-langen gemeinsamen Diskussionen beschließen Sie nacheiner Nachtsitzung Eckpunkte, die Sie müde und lä-chelnd vor den Kameras verkünden. Die Eckpunkte sindaber solcher Art, dass sich schon ein Tag später niemandmehr in Ihrer großen Koalition daran hält oder sie für ir-gendwie relevant hält.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Das war bei der Gesundheitsreform der Fall und ist auchbei der Unternehmensteuerreform nicht anders. FrauMerkel, das, was Sie und die große Koalition machen, istnicht kluges Reformieren, sondern organisierte Verunsi-cherung. Ich will es mit einem Bild sagen. Sie lassennicht wie Klinsmann erfrischenden Angriffsfußball spie-len, sondern spielen Querpässe und Rückpässe oderhauen den Ball ins Aus. Gelegentlich gibt es auch einEigentor wie beim Gesundheitsfonds, an den niemandmehr in der Regierung glaubt. Ich kenne niemanden, dersagt: Der Gesundheitsfonds ist toll. Ich habe noch keinenKollegen getroffen, der dies zu Protokoll gegeben hat.Alle sagen vielmehr draußen in der Kantine: Das ist dergrößte Mist, den es jemals gegeben hat. Aber das müssenwir vielleicht machen, weil sonst alles noch viel schwie-riger wird. – So können Sie den Aufschwung nicht vo-ranbringen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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4496 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006

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Fritz Kuhn

Ich möchte konstruktive Vorschläge machen, was zutun ist; denn Herumjammern ist nicht Sache der Grü-nen. Als Erstes sollten Sie darüber nachdenken, ob Siebei der Stabilisierung der Konjunktur den richtigen Weggehen oder vielleicht etwas anders machen müssen.Aufgrund der politischen Zwänge können Sie die ange-kündigte 3-prozentige Anhebung der Mehrwertsteuernicht mehr zurücknehmen. Übrigens sollten Sie Stur-heit nicht mit Entschlossenheit verwechseln, HerrSteinbrück. Die Steuereinnahmen des Staates haben sichschließlich massiv verbessert. Aber warum, FrauMerkel, strecken Sie die geplante 3-prozentige Anhe-bung nicht auf drei Jahre?

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Weil das allesBlödsinn ist! Das sollten Sie eigentlich wis-sen!)

Das Konjunkturrisiko würde dadurch deutlich gesenkt.Warum verwenden Sie die Einnahmen aus der Mehr-wertsteuererhöhung nicht konsequent zur Senkung derLohnnebenkosten? Sie wollen stattdessen die Senkungder Lohnnebenkosten mit dem Aufkommen aus nur ei-nem Mehrwertsteuerpunkt finanzieren. Das Aufkommenaus zwei Mehrwertsteuerpunkten wollen Sie zum Stop-fen von Haushaltslöchern verwenden. Diese Frage istnicht sauber beantwortet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie mit Vertretern von Firmen und insbeson-dere mit Vertretern von kleinen Handwerksbetriebensprechen, dann sehen Sie doch, was los ist. Die Auf-tragsbücher sind jetzt voll. Aber alle Auftraggeber beste-hen darauf, dass die Renovierungen noch 2006 abgewi-ckelt werden und dass auch die Rechnungen im gleichenJahr gestellt werden. Für 2007 haben die Firmen bislangkeinen einzigen Auftrag. Ein Wirtschaftsminister, derseinen Namen verdient, muss darauf reagieren und etwasfür die konjunkturelle Entwicklung in der Bundesrepu-blik Deutschland tun. Aber Wegtauchen, wie es beiHerrn Glos die Regel ist, hilft uns nicht mehr weiter.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Merkel, eine Senkung der Lohnnebenkostenwerden Sie nicht erreichen. Hier gehe ich jede Wette ein,egal was Sie einzusetzen bereit sind; denn der Renten-versicherungsbeitrag wird voraussichtlich um 0,4 Pro-zentpunkte steigen. Der Beitragssatz in der Krankenver-sicherung wird sich wahrscheinlich um mehr als1 Prozentpunkt erhöhen. Auch in der Pflegeversicherungbesteht das Risiko von Beitragssatzanhebungen. Siekönnen sich das Ziel abschminken, die Lohnnebenkos-ten auf unter 40 Prozent zu senken. Dafür ist Ihre Politikzu inkonsequent. Ich fordere noch einmal, das Aufkom-men aus der 3-prozentigen Mehrwertsteuererhöhungkonsequent zur Senkung der Lohnnebenkosten einzuset-zen, vielleicht nach dem von uns vorgeschlagenen Pro-gressivmodell, das eine stärkere Senkung der Lohnne-benkosten bei den unteren Einkommensgrößen vorsieht.Das brächte viel mehr Arbeit aus der Schwarzarbeit inden legalen Erwerbsarbeitssektor. Das ist die Hauptauf-gabenstellung, vor der Sie stehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was der Finanzminister Steinbrück vorgelegt hat, ist– darüber haben Sie in Ihrer Rede elegant hinweggese-hen – kein Konsolidierungshaushalt. Wer 20 Milliar-den Steuereinnahmen zusätzlich hat, die Nettokreditauf-nahme aber nur um 16 Milliarden Euro senkt, der kannuns nicht weismachen, dass er gerade konsolidiert. Dastun Sie in der Tat nicht.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist dochBlödsinn! Sie beherrschen noch nicht einmaldie Grundrechenarten!)

Schauen Sie sich einmal die Finanzplanung an! Darausgeht hervor, dass Sie in den Folgejahren die jährlicheNettokreditaufnahme um 500 Millionen Euro senkenwollen. Weil heute „Nachhaltigkeit“ Ihr Lieblingswortist: Mit der von Ihnen betriebenen nachhaltigen Politikwerden wir im Jahre 2051 einen ausgeglichenen Haus-halt haben. Großartig! Das soll nach Auffassung der gro-ßen Koalition nachhaltige Politik sein. Ausgerechnet2051, wenn wir schon lange die größten demografischenProbleme haben werden, wollen Sie einen ausgegliche-nen Haushalt vorlegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen stattdessen mehr einsparen. Wir unter-stützen ausdrücklich den Vorschlag, dass zusätzlicheSteuereinnahmen zur Einsparung verwendet werden.Wir müssen das Thema Subventionsabbau wieder in derBreite angehen. Wir müssen zudem eine antizyklischeHaushaltspolitik systematisch betreiben. Das heißt, dasswir in Zeiten, in denen die Konjunktur gut läuft, mehrsparen als in Zeiten, in denen sie schlecht läuft; denn inden schlechten Zeiten müssen wir mehr investieren. Sa-gen Sie klipp und klar – bislang ging es hin und her –,dass die Unternehmensteuerreform aufkommensneu-tral sein muss. Wenn Sie es bei der Frage der Finanzneu-tralität, also der Gleichbehandlung von Fremdfinanzie-rung und Eigenkapitalfinanzierung, ablehnen, die Zinseneinzubeziehen, über die die großen Gewinne ins Auslandtransferiert werden, dann müssen Sie sagen, was Siestattdessen machen wollen. Gegenwärtig sind wir in fol-gendem Spiel: Einer schlägt etwas vor, die anderen leh-nen es ab. Dann passiert gar nichts und das Problem istnicht gelöst. Ich sage noch einmal: Es werden Milliar-dengewinne im Ausland erzielt, die hier nicht versteuertwerden. Dieses Verfahren muss geändert werden. Das istorganisierter Betrug am deutschen Steuerzahler, der mitdem Bündnis 90/Die Grünen nicht zu machen ist. Daraufhaben Sie, Frau Merkel, heute keine Antwort gegeben.Ich finde aber, Sie sollten das tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will einen dritten Vorschlag machen, und zwarzum Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit wird bei denenabgebaut, die nur kurz arbeitslos sind. Das ist gut, aberden Langzeitarbeitslosen ist noch nicht wirklich gehol-fen. Da nützt auch das ganze Gerede von den Leistungs-bereiten nicht. Die Menschen wollen arbeiten, aber siekönnen es aufgrund der langen Arbeitslosigkeit bislangnicht tun. Wir sagen, dass wir für diese Menschen ge-zielte neue Programme und gezielter eingesetzte Förder-mittel als in der Vergangenheit brauchen. Herr

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Fritz Kuhn

Müntefering will Arbeitslose ab 50 Jahren besser för-dern. Ich sage, das muss für alle gelten. Das 50-Plus-Programm hat einen Grundfehler: Es wird so getan, alssei die Wirtschaft nicht mehr dafür verantwortlich, Men-schen ab 50 einzustellen, und als müsse daher der Staateinspringen. Das ist eine völlig falsche Grundkonstruk-tion. Wir vom Deutschen Bundestag müssen verlangen,dass Beschäftigte aller Altersgruppen das Anrecht ha-ben, auf dem normalen Erwerbsarbeitsmarkt eingestelltzu werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage Ihnen, Frau Merkel: Das Fördern kommt zukurz. Der Fördertitel bei der Bundesagentur für Arbeitist die Sparkasse und er wird nicht extensiv dazu ver-wendet, Menschen, die lange arbeitslos waren, eine neueChance zu geben. Deswegen will ich mehr fördern. Nurdann ist das Fordern legitim. Das Paket der Hartz-Gesetze umfasste ja die Kombination von beidem.Übrigens ist der Vorschlag von Herrn Koch, jetzt, da50 000 Jugendliche noch keine Lehrstelle haben, ausden Überschüssen in Sonderprogrammen für diese etwaszu tun, nicht so schlecht. Wir halten den für richtig. Siehaben ihn weggebissen, weil er parteischematisch nichtin das passt, was Ihnen gerade konveniert, aber es istdoch richtig, den Jugendlichen jetzt eine Chance zu ge-ben. Sie haben in Ihrer Rede keine Antwort auf die50 000 Jugendlichen ohne Lehrstelle geliefert. Es gibtaber eine Antwort auf die Frage, was zu tun ist. Sie kön-nen den Streit einstellen. Es würde 600 Millionen Eurokosten. Sie brauchen nicht vier Monate lang zu diskutie-ren. Wir hätten vielmehr damit die Möglichkeit geschaf-fen, dass jeder Jugendliche eine Chance auf eine Lehr-stelle oder eine weitere Qualifikation hat. Das wäre einegute, konkrete Antwort einer Bundeskanzlerin gewesenund nicht nur eine allgemeine.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will etwas zur Gesundheitspolitik sagen. FrauMerkel, ich kann Ihnen den Vorwurf nicht ersparen – dahilft auch das Getuschel mit der Justizministerin nichts –,dass Sie hier reinen Murks auf den Tisch gelegt haben.Kein vernünftiger Mensch käme auf die Idee, einenGesundheitsfonds mit kleiner Kopfpauschale einzurich-ten, wenn er nicht das technokratische Problem hätte, ersolle eine Bürgerversicherung und eine Kopfpauschaleirgendwie zu einem schwankenden arithmetischen Kom-promiss führen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Er hat es noch nicht begriffen!)

– Sie haben es begriffen. Lassen Sie es doch patentieren,wenn Sie es begriffen haben!

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr guter Vorschlag!)

Es ist doch Unsinn, was Sie dazwischenrufen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie bauen ein bürokratisches Monster auf, Sie lösen keinProblem, die Beiträge steigen, Sie schaffen nicht mehrWettbewerb im Gesundheitssystem, Sie tun nichts für

Prävention und dann sagen Sie, wir hätten es nicht be-griffen. Zeigen Sie mir den, der in Ihrer Koalition fürden Gesundheitsfonds ist! Zeigen Sie mir die Schnitt-menge, die besteht!

Ich kann nur sagen: Unser heutiges Gesundheitssys-tem ist schlecht, weil es den Wettbewerb nicht fördertund weil es nicht effektiv ist. Es hat ein Qualitätspro-blem. Die letzten Milliarden, die wir hineinstecken, füh-ren nicht zu einer Steigerung der gesundheitlichen Wohl-fahrt.

(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Unter-stützen Sie uns doch bei der Lösung! – IlseAigner [CDU/CSU]: Was wollen Sie eigent-lich?)

Was Sie machen, ist nichts anderes als eine Verschlimm-besserung. Sie machen es noch schlechter. Deswegensage ich Ihnen klipp und klar: Lassen Sie den Gesund-heitsfonds! Das ist Murks. Verfolgen Sie das Projektnicht weiter! Kümmern Sie sich um die Wettbewerbs-seite und um die Prävention! Machen Sie das Gesund-heitssystem qualitativ besser! Sie müssen eigentlich ab-wickeln. Alle merken, dass die große Koalition diesesThema nicht verlupft. Sie machen Murks. Ich finde, dassnicht nur wir in diesem Hause, sondern in erster Liniedie Bevölkerung dieses nicht verdient haben. Also stel-len Sie das ein!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: „Murks“ wareine gute Zusammenfassung Ihrer Rede!)

Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. FrauMerkel, eigentlich fehlt Ihrer Politik ein vernünftigesZiel. Eine große Frage – Sie waren einmal Umwelt-ministerin – interessiert Sie gar nicht. Die ganze Weltdiskutiert über die Klimaschäden, über die globale Er-wärmung und über die Notwendigkeit, viel mehr zu tun,als in Kioto festgelegt wurde, Stichwort „Erreichung derKioto-plus-Ziele“. In Ihren Grundsatzreden, auch auf Ih-rem Strategiekongress spielte dieses Thema überhauptkeine Rolle.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was hat denn der Trittin eigentlich dazu beigetragen?)

Ich sage Ihnen: Die deutsche Politik, die Technologiepo-litik, die Wirtschaftspolitik, die Ordnungspolitik, solltesich diesem zentralen Thema widmen; sie sollte es zu ei-ner Art Leitplanke machen. Ich fordere Sie eindringlichdazu auf.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu all dem gehört auch, dass wir mehr für den Wett-bewerb tun. Dieser Regierung ist der ordnungspolitischeKompass in der Marktwirtschaft vollständig verloren ge-gangen. Es tut mir wirklich Leid, dass ich Ihnen das sa-gen muss; das kann ich Ihnen nicht ersparen. Ihre Vor-schläge, im Bereich des Stromnetzes mehr Wettbewerbherbeizuführen, wurden bislang nicht gehört. Bei der Te-lekommunikation – Stichwort „Hochgeschwindigkeits-netz“ – haben Sie versagt, weil Sie im Bundesrat wiedereine dreijährige Sonderregelung für die Telekom in

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Fritz Kuhn

Anspruch genommen haben. Was Sie vorhatten, hatnicht funktioniert.

(Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Es stimmt nicht!)

– Da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Werfen Siemal Ihren Referenten raus, der Ihnen so etwasaufschreibt!)

Jetzt komme ich zu einem aktuellen Thema, nämlichzum Thema Bahn. Wir stehen vor einer entscheidendenFrage, nämlich dem Börsengang. Frau Merkel, Sie ha-ben sich bisher nicht – auch in dieser Diskussion nicht –dazu geäußert, was Sie wirklich wollen. Ich sage Ihnen:Mehr Verkehr auf der Schiene ist nur möglich, wenn esinsgesamt mehr Wettbewerb im Bahnsektor gibt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Deswegen ist ein integriertes Modell vollkommen falschund vollkommen verkehrt.

Übrigens, die sich abzeichnende Lösung „kleinesEigentumsmodell“ – der Bund überträgt der Bahn30 Jahre lang vertraglich volle Nutzungsrechte bei derBewirtschaftung des Netzes – ist natürlich nichts ande-res. Da soll sich die SPD nichts vormachen. Wenn mandie Bahn für 30 Jahre beauftragt, dieses Netz zu betrei-ben, dann wird sich beim Wettbewerb nichts ändern. Ichfordere Sie auf, hier zu einem echten Trennungsmodellzu kommen. Kollege Struck, ich verstehe übrigens über-haupt nicht, warum Sie sich von der Bahngewerkschaftund deren politischer Streikdrohung so beeindruckenlassen, dass Sie von dem, was Ihre Verkehrspolitiker for-muliert haben, abrücken.

Frau Merkel, im Klartext: Eine gute marktwirtschaft-liche Ordnungspolitik sorgt auf allen Ebenen, also auchbei den Apotheken, für mehr Wettbewerb und sie ver-steckt sich nicht hinter den Lobbys, die für die Aufrecht-erhaltung des Bestehenden kämpfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was den Immobilienstreit bei der Bahn angeht, willich hier eine klare Ansage an den Verkehrsminister ma-chen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der fürchtet sich schon!)

Sie haben in der Haushaltsausschusssondersitzung nichtrichtig aufgeklärt. Immobilien, die eigentlich zum Be-reich Bahnnetz gehören, sind falsch zugeordnet worden.Eine falsche Zuordnung hätte auch für den Bund gravie-rende Auswirkungen. Wenn Sie dies nicht bis nächsteWoche aufklären, dann werden wir in der übernächstenWoche einen Untersuchungsausschuss beantragen; denndas Parlament darf sich durch Ihr organisiertes Verne-beln bei solchen Punkten nicht länger an der Nase he-rumführen lassen. Ich sage klipp und klar: Wenn sich dasnicht ändert, dann wird es einen Untersuchungsaus-schuss geben. Es liegt an Ihnen, ob sich zeigt, dass er nö-tig ist oder nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Frau Merkel, das, was Sie zum Verbraucherschutzgesagt haben, war nicht komplex genug. Wir finden diePolitik, die die Bayern da gemacht haben, schlicht zumKotzen; das darf man bei diesem Thema wohl so sagen.

Jetzt kommt plötzlich der Herr Seehofer und sagt:Das Verbraucherinformationsgesetz muss jetzt her; dasist wunderbar und löst alle Probleme. Die Union und dieFDP haben einen entsprechenden grünen Gesetzentwurf– er ging übrigens weiter als der, den Seehofer mittler-weile vorgelegt hat – im Bundesrat vier Jahre lang blo-ckiert und kaputtgemacht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Hätten sie dies nicht getan, wären wir jetzt schon weiterund das, was in Bayern insgesamt geschehen ist, wärenicht möglich gewesen.

Ich kann zu Seehofer nur sagen: Herr Seehofer, manhat Ihnen angemerkt, dass Sie der Verbraucherschutz garnicht interessiert. Ich finde, dass wir keinen Verbrau-cherschutzminister brauchen, der Gesundheitsministersein will; vielmehr muss er das, was seiner Aufgaben-stellung entspricht, wirklich mit Herz und Verstand tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die Kinderpolitik, Frau Merkel, gilt: Die Betreu-ung muss verbessert werden. Das Elterngeld ist das eine;aber die Situation der Betreuung von Kindern unter dreihat sich dadurch nicht verbessert. Ich sage Ihnen:Schauen Sie sich unser Konzept der Kinderkarte und desRechtsanspruchs auf einen Kindertagesstättenplatz fürKinder unter drei an! Nur wenn es eine bessere Betreu-ung für diese Kinder gibt, werden wir es schaffen, aufdiesem Gebiet nicht mehr Entwicklungsland zu sein,sondern voranzuschreiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unser letzter Vorschlag betrifft die Einwanderungs-politik. Wer sich die internationale Forschung darüberanschaut, wo auf der Welt wirtschaftlich erfolgreicheStandorte sind, wird feststellen: Überall da auf der Welt,wo Immigration von qualifizierten Menschen, aber auchvon solchen Menschen, die in Not sind, gewollt ist, woalso bewusst gewünscht wird, dass fremde Menschenkommen und etwas Neues aufbauen, sind erfolgreicheStandorte. Ihr Einwanderungsgesetz müssen Sie in wich-tigen Punkten dringend ändern, nämlich dort, wo Sieblockiert haben. Ich nenne die Punkteregelung und dieFrage, wie viel Geld diejenigen mitbringen müssen, diehier einen Betrieb eröffnen wollen. Da haben Sie einModernisierungsdefizit. Wenn Sie das Gesetz nicht an-passen, dann werden Sie Deutschland eben nicht imSinne unseres Mottos „Klug reformieren“ nach vornbringen, sondern der Entwicklung insgesamt schaden.

Damit komme ich zum Schluss. Liebe Frau Bundes-kanzlerin, Sie waren erschreckend unkonkret. Sie habenhier sehr viel allgemeines Zeug erklärt,

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Fritz Kuhn

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der FDP – VolkerKauder [CDU/CSU]: Na, na!)

aber nicht dargestellt, wie Sie Deutschland klug refor-mieren wollen. Das verlangen wir von Ihnen; denn wirmüssen weiterkommen. Der zarte Aufschwung, den wirheute haben, reicht da nicht.

Ich danke Ihnen.

(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Vorsitzende der CDU/CSU-

Fraktion, Volker Kauder.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Am 21. Juni, als wir den Haushalt 2006 beraten haben,habe ich hier gesagt: Wir legen mit dem Haushalt 2006ein Konzept vor, wie wir unser Land voranbringen wol-len. Bei den Beratungen zum Haushaltsplan 2007 gehenwir diesen Weg konsequent weiter.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

In den Beratungen zum Haushaltsplan 2006 im Junidieses Jahres und auch jetzt hat die Opposition herumge-meckert und herumgemäkelt, es sei alles nicht in Ord-nung und man könne bei dem, was in diesem Lande ge-schehe, gar nicht erkennen, wohin es gehe.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Petra Pau)

Ich habe noch sehr gut in den Ohren, was Sie, HerrBrüderle, hier vorgetragen haben. Was Sie heute, etwazehn Wochen später, gesagt haben, hat sich von dem,was Sie im Juni dargelegt haben, eigentlich überhauptnicht unterschieden.

(Rainer Brüderle [FDP]: Es ist auch nichtsbesser geworden! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Er hat wahrscheinlich die gleiche Redegehalten! Falsches Manuskript!)

Aber jetzt liegen die Fakten auf dem Tisch. Die hättenSie sich einmal anschauen sollen, bevor Sie an diesesPult im Deutschen Bundestag getreten sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Peter Struck [SPD])

Es gibt 426 000 Arbeitslose weniger als noch vor ei-nem Jahr. Zum ersten Mal seit vielen Jahren korrigierendie Sachverständigen die Wachstumsprognose, die sieim Januar und Februar gegeben haben, im Herbst nichtnach unten, sondern nach oben. Wann hat es das schoneinmal gegeben?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir legen einen Haushalt 2007 vor, der die Stabili-tätskriterien von Maastricht nicht nur einhält, sondernunterschreitet. Das hat uns niemand von Ihnen zu Be-

ginn des Jahres zugetraut. Es ist aber die Wahrheit, liebeKolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – FritzKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Steuer-erhöhungen!)

Zum ersten Mal seit vielen Jahren erleben wir in die-sem Sommer, dass darüber gestritten wird, was wir mitÜberschüssen und zusätzlichen Steuereinnahmen ma-chen sollen.

Alles das, was wir jetzt an positiver Entwicklung erle-ben, hat etwas mit dieser großen Koalition zu tun, hat et-was mit der Kanzlerschaft von Angela Merkel zu tunund hat etwas damit zu tun, dass die Union in diesemLand wieder regiert.

(Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Koppelin [FDP], zur SPD gewandt: Beifall!)

Lieber Kollege Struck, ich habe am Schluss IhrerRede aus Überzeugung geklatscht, als Sie nämlich ge-sagt haben, Deutschland könne zuversichtlich sein, dennauf die SPD-Fraktion sei Verlass. Dem stimme ich zu.Solange Sie mit uns in einem Regierungsboot sitzen,stimmt diese Aussage.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der FDP: Oh!)

Aber als Sie mit den Grünen regiert haben, sahen dieDinge bei weitem anders aus.

Herr Kuhn, zu Ihnen muss ich Folgendes sagen:Wenn Sie während Ihrer Regierungsbeteiligung solcheWirtschaftsdaten erreicht hätten, wie wir sie in diesemSommer haben, dann hätten Sie sich mehrere Tage langbesoffen oder, wie ich Sie kenne, sich besoffen geredet,Herr Kuhn.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Wir bleiben aber ganz nüchtern, weil wir genau wissen,dass wir den Weg, den wir uns vorgenommen haben,noch eine ganze Zeit lang gehen müssen.

Man muss der Frau Bundeskanzlerin und der ganzenBundesregierung dafür danken, dass wir einen Teil derZiele, die wir uns in der Koalitionsvereinbarung gesetzthaben, erreicht haben. Neun Monate sind noch nicht ein-mal ein Viertel der Zeit, die wir uns dafür gesetzt haben.Ich bin überzeugt, dass der Weg richtig ist. Wenn wir soweitermachen, gestaltet sich die Zukunft für Deutsch-land besser als in den vergangenen Jahren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wir stellen in diesen Tagen aber schmerzlich fest,dass die Zukunft unseres Landes nicht mehr ausschließ-lich davon abhängt, was wir hier in Deutschland tun,sondern ganz stark auch von den Krisenherden in derWelt beeinflusst wird. Wenige Tage vor dem traurigenJahrestag des 11. September müssen wir uns wieder da-ran erinnern, was Ausgangspunkt für das Engagementder Bundeswehr in verschiedenen Teilen der Welt war.Wir müssen uns daran erinnern, dass es in Afghanistan

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Volker Kauder

kräftige Entwicklungen gegeben hat, die den internatio-nalen Terrorismus gespeist haben.

Natürlich, Herr Kuhn, übersehen wir nicht, dass es inder Welt auch andere Entwicklungen gibt. Darüber kön-nen wir gerne noch miteinander reden. Aber alles hatnun einmal seine Zeit. Im Augenblick werden wir in ers-ter Linie vom internationalen Terrorismus bedroht.Darauf müssen wir eine Antwort geben und wir habeneine Antwort gegeben. Was über viele Jahre hinwegnicht gelungen ist, ist jetzt Wolfgang Schäuble gelungenund dafür sind wir ihm dankbar. Er hat hinsichtlich derBekämpfung des Terrorismus eine gemeinsame Linievon Bundesregierung und allen 16 Bundesländern er-reicht. Das ist eine großartige Leistung. HerzlichenDank, Herr Innenminister!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Das ist natürlich auch ein Ergebnis der Föderalis-musreform. Vorhin wurde darüber etwas gelächelt.Aber im Rahmen der Föderalismusreform haben wir– das hat vielleicht mancher überhaupt nicht so richtigwahrgenommen; da muss er einmal nachlesen; ein Blickins Gesetzbuch erleichtert die Rechtsfindung und dieTatsachenfindung, Herr Kuhn – nicht nur Kompetenzenan die Länder gegeben, sondern auch für den Bund eineneue Kompetenz der Terrorismusbekämpfung geschaf-fen. Deswegen ist diese Föderalismusreform in beiderleiHinsicht – Stärkung der Länder und Stärkung des Bun-des dort, wo es notwendig ist – eine richtige Entschei-dung gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Diese Föderalismusreform ist übrigens einer der ganzgroßen Erfolge in der kurzen bisherigen Regierungszeitder großen Koalition.

Aber wenn wir uns ernsthaft an der Terrorismusbe-kämpfung beteiligen wollen, dann ist auch völlig klar,dass wir in diesem Herbst, wenn es um die Verlängerungdes Mandates in Afghanistan geht, ganz genau prüfenmüssen: Was haben wir in diesem Land erreicht? Washaben wir in Bezug auf die Sicherheitslage erreicht? Dahat Peter Struck doch völlig Recht: Natürlich sind wirnicht mit allen Entwicklungen in Afghanistan zufrieden.Aber was in diesem Land erreicht wurde, ist großartig,vor allem für die Menschen, die dort leben. Da kann ichnur sagen, Herr Lafontaine: Wer mit einem moralischenAnspruch antritt, aber glaubt, die Menschenrechte in derWelt seien teilbar, der hat keinen moralischen Anspruch.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Deutschland hat ein Interesse daran, dass aus Afgha-nistan nicht wieder terroristische Entwicklungen kom-men. Deswegen werden wir, wenn die Verlängerung desMandates ansteht, ganz genau prüfen, was wir tun.

Aber von einem bin ich schon jetzt überzeugt, ohnemeine Fraktion hier vorab binden zu wollen: Wir werdendie Menschen in Afghanistan nicht sich selbst und Af-ghanistan nicht den Taliban überlassen dürfen, meinesehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowieder Abg. Anna Lührmann [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN])

Jetzt kommt der Einsatz im Nahen Osten, im Liba-non, auf uns zu und es wird die Frage gestellt: Wo willsich Deutschland noch überall beteiligen? Darauf mussich die Antwort geben: Wir suchen uns das ja nicht aus.Politik beginnt mit der Betrachtung der Realität. DieRealität ist manchmal grausamer, als sich das der eineoder andere vorstellen kann. Wir haben erlebt, was imNahen Osten passiert ist. Jetzt kommt es darauf an, dasswir dort den Beitrag leisten, den wir leisten können.

Frau Bundeskanzlerin, ich bin Ihnen außerordentlichdankbar für die Umsicht und Sensibilität, mit der Siedieses Thema angegangen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ich beziehe in diesen Dank den Bundesaußenministermit ein. Aber auch unser Verteidigungsminister macht ineiner schwierigen Situation eine ausgezeichnete Arbeit.

(Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Koppelin [FDP]: Die SPD klatscht ja gar nicht!)

– Meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, seienSie ganz ruhig; ich komme gleich auf Sie zu sprechen.

Ich zitiere noch einmal einen meiner Lieblingslehr-sätze: Politik beginnt mit der Betrachtung der Realität.Die Realität ist doch, dass wir, was die Situation im Na-hen Osten betrifft, vor außerordentlich schwierigen Ent-scheidungsvorgängen stehen. Diese Entscheidungsvor-gänge spiegeln das Problem wider, das wir schon immerim Nahen Osten hatten: An einem Tag bekommt man dieeine Antwort und am nächsten Tag eine andere Antwort.Die Regierung im Libanon hat es in der jetzigen Strukturauch nicht leicht. Deswegen muss der Bundesverteidi-gungsminister, muss die Bundesregierung ganz präsentsein. Sie muss wissen: Heute kann es so kommen, mor-gen anders.

Bis jetzt sind wir noch gar nicht mit einer Entschei-dung konfrontiert worden. Ich bin gestern Abend gefragtworden – die Medien fragen ja so viel und wollen immereine Antwort, und zwar möglichst über Dinge, die nochgar nicht anstehen –: Was glauben Sie denn, welchenAntrag die Bundesregierung vorlegen wird, und wird dieBundesregierung ein robustes Mandat verlangen? Dakann ich nur sagen: So wie ich diese Bundesregierungim Umgang mit diesem Thema erlebt habe, bin ich derfelsenfesten Überzeugung, dass sie uns einen Antragvorlegen wird, der genau das ermöglicht, was in der kon-kreten Situation gefordert wird. Über diesen Antrag wer-den wir dann beraten.

Heute, Frau Bundeskanzlerin, kann ich Ihnen einesschon sagen: Wir werden die Details natürlich ganz ge-nau prüfen, aber das Angebot, das Sie und die Bundes-regierung gemacht haben, kann unsere grundsätzlicheZustimmung finden. Wir wollen unseren Beitrag zur Lö-sung der Probleme im Nahen Osten leisten.

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(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, jederist natürlich für sein Verhalten selbst verantwortlich.

(Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist wahr!)

Ich habe eine Fraktion der Grünen in der rot-grünenKoalition erlebt, die, was außenpolitische Verantwortunganbelangt, in einem Maße gelernt hat, wie ich es nichtfür möglich gehalten hätte, Herr Kuhn – von der De-monstration auf der Straße gegen „Kriegseinsätze“ bishin zur ersten Entsendung der Bundeswehr in ein Kri-sengebiet. Bei der FDP erlebe ich im Augenblick etwasanderes. Sie macht zwar den Eindruck, verantwortungs-bewusst zu handeln; ich habe aber die Sorge, dass dasGegenteil passiert. Das kann für die FDP und für die Kli-entel, die Sie vertreten, nicht gut sein, Herr Westerwelle.

(Dirk Niebel [FDP]: Machen Sie sich mal keine Sorgen um unsere Wähler!)

Aber eines sage ich auch – in aller Ruhe, aber auch in al-lem Ernst –: Man kann nicht ständig – was richtig ist –das Existenzrecht Israels im Munde führen, dann aber,wenn es ernst wird, zur Seite treten. Das kann nichtfunktionieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Wir werden einen solchen Einsatz sehr gewissenhaftprüfen. Wir wissen natürlich sehr genau – auch PeterStruck hat dies formuliert –, dass wir die Soldatinnenund Soldaten mit jedem Auftrag, den wir der Bundes-wehr übertragen, in eine Situation bringen, in der ihr Le-ben gefährdet sein kann. Deswegen prüfen wir ganz ge-nau, was wir tun. Es wird aber kein Weg daranvorbeiführen, dass wir als großes Land in der MitteEuropas unseren Beitrag zur Sicherheit leisten müssen.

Wolfgang Schäuble hat einmal formuliert, innereund äußere Sicherheit seien nicht mehr voneinander zutrennen. Da die Bundesregierung den Auftrag hat – dasist die vornehmste Pflicht eines Staates –, für die Sicher-heit der Menschen in diesem Land zu sorgen, und da dieErkenntnis wächst, dass innere und äußere Sicherheitnicht mehr voneinander zu trennen sind, müssen wirschon im nationalen Interesse der Menschen in unseremLand, die innere Sicherheit zu erhalten, etwas für die äu-ßere Sicherheit tun. Deswegen sind unsere Beiträge, sowie wir sie leisten, im deutschen Interesse.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wir werden mit dem Haushalt 2007 den Weg, diesesLand voranzubringen, konsequent weitergehen. Wir ha-ben gesehen, dass wir mit einem Teil der Maßnahmen,die wir umgesetzt haben, Erfolg haben. Peter Struck hatdas CO2-Gebäudesanierungssprogramm angespro-chen. In den neun Monaten, in denen dieses Programmnun aufgrund unseres gemeinsamen Beschlusses umge-setzt wird, ist mit einem Mitteleinsatz der KfW von rund250 bis 300 Millionen Euro ein Auftragsvolumen von

etwa 8 Milliarden Euro in diesem Land auf den Weg ge-bracht worden. Ein Auftragsvolumen von 1 MilliardeEuro sichert bzw. schafft 100 000 Arbeitsplätze, vor al-lem im gebeutelten Handwerk. Dort sind diese 8 Milliar-den angekommen. Herr Lafontaine, einen größerenQuatsch als Ihre Behauptung, der Staat investiere nicht– eigentlich sollte man sich mit den Unwahrheiten, dieSie hier verbreitet haben, gar nicht auseinander setzen –,habe ich noch nicht gehört.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Herr Kauder,Sie sollten mal zuhören, wenn man spricht!)

Wir werden die positive konjunkturelle Entwicklungin unserem Land durch entsprechende Maßnahmen kon-sequent weiter unterstützen, zum Beispiel durch dieUnternehmensteuerreform. Wir wollen, dass die Un-ternehmen mit Steuersätzen antreten können, die zwarnicht mit denjenigen in Rumänien und Bulgarien, abermit denjenigen in der Schweiz und Österreich wettbe-werbsfähig sind, damit sie hier Arbeitsplätze schaffen.

Wir wollen vor allem den Mittelstand unterstützen.Deswegen muss eine Erbschaftsteuerreform durchge-führt werden, die den Mittelstand stärkt und durch diedie jeweilige Erbschaft bei Fortführung eines Unterneh-mens von der Erbschaftsteuer befreit wird. Dies sichertArbeitsplätze und ist deswegen im Interesse der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer und der mittelständi-schen Unternehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wir wollen eine Unternehmensteuerreform, die einenneuen Anreiz schafft, in diesem Land zu investieren. Da-bei ist für uns völlig klar: Wir wollen nicht – darübermüssen wir noch reden –, dass in die ertragsabhängigeKörperschaftsteuer substanzbesteuernde Elemente auf-genommen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Denn dies ist ein völlig falscher Weg.

Dass wir natürlich dafür sorgen müssen – PeterStruck, Sie haben das angesprochen –, dass wir denKommunen ausreichend Finanzmittel zur Verfügungstellen, ist völlig klar. Das werden wir tun.

Ich habe mit großem Interesse vernommen, was derneue Parteivorsitzende Kurt Beck zur Situation der Poli-tik in Deutschland gesagt hat: Leistung solle sich wiederlohnen und es solle für Hartz-IV-Empfänger eine Leis-tungsverpflichtung geben. Solche Sätze haben wir in un-serem Programm schon vor langer Zeit formuliert. DieÄußerung von Kurt Beck macht mich im Übrigen zuver-sichtlich, dass wir in dieser großen Koalition noch mehrerreichen und tun können als bisher.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist richtig, denjenigen, die Leistung erbringen, etwaszu geben. Wenn feststeht, dass bei der Bundesagenturfür Arbeit Spielraum besteht, da ein Teil der Beiträgenicht für die Bezahlung von Leistungen benötigt wird,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das steht Ende Oktober fest!)

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4502 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006

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Volker Kauder

dann sollte dieser Teil der Beiträge meiner Meinungnach – vergleichbar der Situation, dass die Beiträge,wenn die Anforderungen nicht reichen, erhöht werden –den Beitragszahlern zurückgegeben werden.

(Beifall bei der CDU/CSU – Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP])

Das sollten wir uns aber erst einmal anschauen. ImGrunde genommen sind wir uns darin einig. Auch KurtBeck hat formuliert, dass wir das tun können. Es kommtjetzt auf die Entwicklung bei der Bundesagentur an. Siemuss nachhaltig sein; das ist völlig richtig.

Zur Gesundheitsreform kann ich nur sagen: Wir sindjetzt dabei, die Eckpunkte umzusetzen. Das werden wirgewissenhaft machen. Wenn ich daran denke, dass Sie inder rot-grünen Koalition noch nicht einmal Eckpunktehatten, sondern dass Sie aus einem Palaver heraus Ge-setze gemacht haben, Herr Kuhn, dann kann ich nur sa-gen: furchtbar, furchtbar. Deswegen lassen Sie uns in al-ler Ruhe unsere Eckpunkte umsetzen. Wir werden denGesetzentwurf einbringen und dann werden Sie sehen,dass das, was Sie jetzt sagen, Unsinn ist. Es wird mehrWettbewerb geben. Das, was wir mit Fonds und Prämiemachen, dient doch dem Wettbewerb. Es soll der Wett-bewerb angekurbelt werden. Sie haben uns mit IhrenKonzepten, die Sie in Ihrer Regierungszeit umgesetzthaben, diese Situation hinterlassen. Da war von Wettbe-werb überhaupt keine Rede. Sie hätten ja in den siebenJahren etwas in puncto Wettbewerb machen können.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. NorbertRöttgen [CDU/CSU]: Die hatten keine Kon-zepte! – Widerspruch des Abg. Fritz Kuhn[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich sehe diese große Koalition auf einem guten Weg.Die große Koalition hat bereits jetzt mehr erreicht, alsihr viele zugetraut haben. Sie ist im Übrigen viel besser,als mancher in der Öffentlichkeit und in den Medienüber sie redet.

Wir sehen sehr wohl, welche Aufgaben noch vor unsliegen; wir sehen sehr wohl, dass da noch das eine oderandere gemacht werden muss. Wir haben aber noch nichteinmal die erste Halbzeit dieser Legislaturperiode hinteruns. Was wir in den ersten neun Monaten vorgelegt ha-ben, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und vonUnion,

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Spottet jeder Beschreibung!)

rechtfertigt noch einmal, dass wir im Herbst vergange-nen Jahres diese Regierungskoalition eingegangen sind.Sie bringt Deutschland voran.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei-fall bei der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN]: Das war ja Gesundbeten!)

Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Vorsitzende der FDP-Fraktion,

Guido Westerwelle.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Guido Westerwelle (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie mir einen Au-genblick lang Ihre Aufmerksamkeit schenken könnten?Es redet jetzt Ihr Wunschpartner.

(Heiterkeit bei der FDP und der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Frau Bundeskanzlerin, ich stelle mir vor, wir hättendie Bundestagswahl zu dem ursprünglich geplanten Zeit-punkt durchgeführt, also in drei Wochen. Wir hätten hiereine Debatte. Sie würden zu diesem Zeitpunkt an diesemPlatz sprechen, unmittelbar vorher hätte der Bundes-kanzler gesprochen; heute hat ja zu diesem ZeitpunktHerr Kauder gesprochen. Bundeskanzler GerhardSchröder hätte der Opposition vorgeworfen – er hat dasoft genug getan –: Sie reden das Land schlecht. Das ha-ben ja auch Sie am Schluss Ihrer Rede an die Adresseder Opposition formuliert. Deswegen meine ich: Es ist jaein richtiges Déjà-vu, wie sich die Dinge wiederholen.Ich habe noch das Fernsehduell im Kopf. Fast auf denTag genau vor einem Jahr standen Sie gegeneinander imFernsehduell. Schröder: Sie reden das Land schlecht; dasist falsch und gefährlich. Merkel: Das ist der blankeHohn.

Offensichtlich hat sich die Betrachtungsweise geän-dert. Sie sind keine absolutistische Herrscherin. Wennwir Sie kritisieren, reden wir das Land nicht schlecht.Wir lieben unser Land, aber wir finden Ihre Regierungschlecht. Das haben wir mit der Mehrheit der Deutschengemeinsam.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Es ist erstaunlich, mit welchen Reflexen Sie hierkommen. Sie reden mittlerweile wie Herr Schröder. DasProblem ist nur: Sie handeln auch so. Und das ist viel ge-fährlicher.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])

Ich habe gerade davon gesprochen, wie das vor einemJahr gewesen ist. Wir waren fast auf den Tag vor einemJahr – ein paar hundert Meter von hier – zu dritt und ha-ben darüber gesprochen, dass Deutschland einen Politik-wechsel braucht. Wir wollten einen Politikwechsel. Sosind wir damals angetreten; wir haben für einen Politik-wechsel geworben. Einen Regierungswechsel hat es ge-geben. Auf den Politikwechsel wartet dieses Land im-mer noch, und zwar vergeblich.

(Beifall bei der FDP – Beifall bei Abgeordne-ten der LINKEN)

Das Problem ist, dass Sie weitermachen wie unterRot-Grün.

(Jürgen Koppelin [FDP]: Schlimmer! – RenateKünast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Schön wäre es! Das stimmt doch gar nicht,Herr Kollege!)

– Ehre, wem Ehre gebührt. Das Antidiskriminierungsge-setz ist doch von euch gemacht worden. Jetzt wird es

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Dr. Guido Westerwelle

eins zu eins umgesetzt. Seid doch stolz auf das, was ihrgeleistet habt. Freut euch darüber, dass euer Geist immernoch über dieser Regierung schwebt.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP – Beifallbei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ihrduzt euch ja schon!)

Sie wechseln jetzt wiederholt die Überschrift IhrerAgenda. Das hätte Schröder – er wechselte die Über-schriften jedes Jahr – nicht besser gekonnt. Vor einemJahr sprachen Sie nach der Bundestagswahl in Ihrer ers-ten Regierungserklärung von „mehr Freiheit wagen“. Et-was später hieß es dann: „Deutschland ist ein Sanie-rungsfall.“ Heute liefern Sie die dritte Überschrift: „Wirdürfen unsere Zukunft nicht verbrauchen.“

Reden wir doch einmal über die Fakten, die im Haus-halt, den Sie heute in dieser Haushaltsdebatte eigentlichhätten verantworten müssen, enthalten sind. Frau Bun-deskanzlerin, die Steinkohlesubventionen – das zu Ih-rer Überschrift „Wir dürfen unsere Zukunft nicht ver-brauchen.“ – steigen nach dem Haushaltsansatz IhrerRegierung vom Jahr 2006 auf das Jahr 2007 um400 Millionen Euro. Sie verlängern die Vergangenheitmit Subventionen und sprechen trotzdem davon, dasswir die Zukunft nicht verbrauchen dürfen. Die Zukunftwird dann verbraucht, wenn bei der Bildung gespart undwenn das Geld in den Schächten versenkt wird.

(Beifall bei der FDP)

Reden wir nun über die mittelfristige Finanz-planung – darüber sollten wir eigentlich debattieren;viele von Ihnen und nicht nur die Vertreter der Opposi-tionsparteien, die natürlich nichts anderes im Kopf ha-ben, als das Land schlecht zu reden,

(Olaf Scholz [SPD]: Genau!)

sehen es genauso –: In der mittelfristigen Finanzplanungvon 2007 bis 2010 – es handelt sich nur um eine Pla-nung; die Sondereinnahmen sind darin noch nicht ent-halten – wird von Steuermehreinnahmen in Höhe von16,6 Milliarden Euro ausgegangen. Im selben Zeitraumsieht die mittelfristige Finanzplanung einen Abbau derNeuverschuldung um 1,6 Milliarden Euro vor. Das Ver-hältnis ist also wie folgt: Sie nehmen in den nächstenJahren zehnmal mehr an Steuern ein, als Sie für dieRückführung der Neuverschuldung einsetzen möchten.Da kann von einem echten Schuldenabbau überhauptnicht die Rede sein. Wer Schulden macht, verbraucht dieZukunft. Sie verbrauchen die Zukunft in unserem Land.

(Beifall bei der FDP)

Das sind die Fakten, an denen Sie nicht vorbeikom-men können. Wenn Sie es uns nicht glauben, hören Siedoch auf die Vertreter der entsprechenden Institutionenin Deutschland. Es ist doch keine oppositionelle Kritik,wenn Vertreter sämtlicher Wirtschaftsinstitute, auch dieSachverständigen der Bundesregierung und der Präsi-dent der Deutschen Bundesbank davor warnen, dass diejetzige Chance auf einen Aufschwung – jeder freut sichdarüber, dass sie da ist – durch die größte Steuererhö-hung in der Geschichte der Republik zerstört wird. Sie

wollen durch die Mehrwertsteuererhöhung etwa19,5 Milliarden Euro mehr einnehmen. In diesem Jahrbetragen allein die außerplanmäßigen Mehreinnahmenaufgrund der guten Konjunktur mehr als 20 MilliardenEuro.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aber nicht beim Bund, Herr Westerwelle!)

Die Mehrwertsteuererhöhung ist nicht nur ökonomischfalsch, sondern sie ist auch unsozial. Sie ist außerdem fürdie Staatsfinanzen gar nicht nötig.

Wenn Sie es mir nicht glauben, dann lesen Sie einmalin Ihren eigenen Wahlkampfreden nach, meine Damenund Herren von der SPD.

(Beifall bei der FDP – Steffen Kampeter[CDU/CSU]: Das ist dummes Zeug! Sie unter-scheiden nicht zwischen Bundesetat und Län-deretats!)

Aber das wollen Sie ja nicht; denn Sie wollen nichtmit dem konfrontiert werden, was Sie im Wahlkampf zurBundestagswahl gesagt haben. Sie tun so, als ob sie imvorletzten Jahrhundert stattgefunden hätte. HerrMüntefering, der Vizekanzler dieser Regierung, vertrittallen Ernstes die Auffassung: „Wir werden als Koalitionan dem gemessen, was in Wahlkämpfen gesagt wordenist. Das ist unfair.“ Kann sich noch irgendjemand inDeutschland über Politikverdrossenheit wundern, wennder Vizekanzler dieser Republik der Meinung ist, dassdas, was in Wahlkämpfen gesagt wird, durchaus gelogensein kann und dass man die Bürgerinnen und Bürger be-trügen kann? Es ist egal, was wir da gesagt haben! Wennihr uns jetzt daran messt, dann ist das unfair! – Unfair istnicht, wenn die Bürger Sie an dem messen, was Sie imWahlkampf gesagt haben; unfair ist, wenn Sie das Ge-genteil von dem tun, was Sie im Wahlkampf gesagt ha-ben.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sagen dochnichts anderes als das, was viele, zum Beispiel der Bun-desbankpräsident – das wird heute von den Agenturengemeldet –, sagen: Die Chance auf einen Aufschwung,die wir jetzt in der Tat haben, sollten wir nicht durch dieErhöhung der Mehrwertsteuer, weiterer Steuern und Ab-gaben zum 1. Januar des nächsten Jahres zerstören. Wirmüssten doch alle ein Interesse daran haben, dass sichaus der Chance auf den Aufschwung – mehr ist es nochnicht – im nächsten Jahr ein wirklich nachhaltiger Auf-schwung entwickelt, der zu einer wirklichen Erleich-terung auf dem Arbeitsmarkt führt, damit sich dieSituation der Menschen, die einen Arbeitsplatz suchenoder um ihren Arbeitsplatz fürchten, verbessert.

Das, was wir vorschlagen – das wissen Sie –, machenuns andere Länder vor. Muss ich Ihnen denn vorlesen,was Herr Clement in der letzten Woche gesagt hat? HerrClement saß bis vor einem Jahr als Wirtschaftsministerauf der Regierungsbank. Sie haben ihm übrigens jedesMal zugejubelt, wenn er hier gesprochen hat. HerrClement sagt, dass Sie sich in die Zeit vor der Agenda2010 zurückentwickeln. Der alte Wirtschaftsminister

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Dr. Guido Westerwelle

sagt Ihnen: Sie predigen zwar „Mehr Freiheit wagen!“;das Problem Ihrer Regierung ist aber, dass Sie das ge-naue Gegenteil tun.

(Zuruf von der SPD: Hat er das wirklich gesagt?)

Der alte Wirtschaftsminister Clement schreibt das auchden Sozialdemokraten ins Stammbuch.

Deswegen sage ich: Das ist kein Teufelszeug! AndereNachbarländer – auf die wird ausdrücklich hingewiesen –machen es uns vor, wie durch niedrigere Steuern,durch ein einfacheres und gerechteres SteuersystemArbeitsplätze geschaffen werden können. Die Rahmen-bedingungen für Investitionen müssen verbessert unddie Kaufkraft gesteigert werden. Das ist der zwingendeZusammenhang. Das ist das Problem, das wir inDeutschland gemeinsam angehen sollten.

Hier im Hause haben wir einen bemerkenswertenStreit erlebt. Ich meine damit nicht die kleinen Petitessenam Rande. Es ist ein Aufschwung da, so heißt es zumin-dest. Ich bin der Meinung, das ist bisher nur die Chanceauf einen Aufschwung. Ich hoffe, dass sich daraus einAufschwung entwickelt. Sofort geht es los: Herr Kaudersagt: Das ist der „Merkel-Aufschwung“. Herr Strucksagt: Das ist der „Schröder-Aufschwung“.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist Deutsch-lands Aufschwung!)

Sie haben noch gar nicht verstanden, dass der Auf-schwung in Wirklichkeit von den Menschen gemachtwird. Ihre Regierung hat am allerwenigsten damit zu tun.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wenn es ein Aufschwung ist, dann ist es mit Sicherheitkein „Merkel-Aufschwung“ und auch kein „Schröder-Aufschwung“. Wenn, dann wurde die Situation durchdie Fußballweltmeisterschaft aufgehellt. Das ist dieWahrheit. Bei der echten Kaufkraft, bei der Binnenkon-junktur, bei dem, was unser Land nach vorne bringenkönnte, passiert leider immer noch gar nichts. Es wirdnoch schlimmer, wenn Sie die Binnenkonjunktur jetztnoch weiter schwächen und bei den Leuten abkassieren.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmtdoch gar nicht, Herr Westerwelle! Lesen Siedie aktuellen Berichte! Kramen Sie nicht in Ih-ren alten Zettelkästen!)

– Herr Kollege Kampeter, bitte! Noch so ein Zuruf, unddas Wort „Flaschengeist“ bekommt eine ganz neue Be-deutung.

(Zustimmung bei Abgeordneten der LIN-KEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Arrogan-ter Kerl! – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]:Zwischenrufe gehören dazu!)

Wir wollen noch einmal auf den Punkt aufmerksammachen, der in diesem Zusammenhang von Bedeutungist. Wir haben keine Verbesserung der Binnenkonjunk-tur. Die Binnenkonjunktur wird im Gegenteil zur Jahres-wende noch weiter beschädigt. Das muss man auf den

Punkt bringen und übersetzen: Eine vierköpfige Familiemit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen in Höhevon 40 000 Euro wird im nächsten Jahr allein durch dieSteuererhöhungen dieser Regierung im Schnitt umetwa 2 000 Euro mehr belastet. Dieses Geld können dieLeute nicht mehr ausgeben, weder für den privatenKonsum noch für die Altersvorsorge. Darauf antwor-tete der Finanzminister in diesem Sommer: Wenn dieLeute mehr fürs Alter vorsorgen müssen, können sie haltnicht mehr in Urlaub fahren. – Es ist übrigens besondersunappetitlich, wenn Politiker, die keinen einzigen Euroin ihre eigene Altersversorgung einzahlen müssen, so et-was sagen. So viel zum Thema „Eigenverantwortung“.Das sei an dieser Stelle einmal gesagt. Das muss in denOhren der Bevölkerung wie Hohn klingen.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Als Finanzminister sollten Sie, wenn Sie sich dieseGedanken schon machen, eine ganz andere Konsequenzziehen. Die Konsequenz müsste lauten: Wenn man denBürgern mehr Eigenverantwortung für das eigene Alterabverlangen muss, dann muss der Staat auch für steuer-liche Entlastungen sorgen,

(Elke Ferner [SPD]: Wo denn? Sagen Sie einmal, wo!)

indem er sich bei den Ausgaben zurücknimmt, sonst ha-ben die allermeisten Familien nämlich gar keine Chance,eigenverantwortlich fürs Alter vorzusorgen.

(Beifall bei der FDP)

Das ist der zwingende Zusammenhang.

Sie haben heute keinen Ton zu den Fragen, die eigent-lich von Ihnen hätten angesprochen werden müssen, ge-sagt. Hinsichtlich der Unternehmensteuerreform bleibtalles sehr nebulös. Was wird denn jetzt aus der Unter-nehmensteuerreform? Kommt sie? Ich wäre sehr dafür.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das hat sie ange-sprochen! Sie haben nicht zugehört!)

Aber was wird dann mit dem Vorschlag aus dem Finanz-ministerium gemacht, der besagt, dass man für die Zin-sen demnächst quasi Steuern zahlen muss, weil man sieals Betriebsausgabe nicht mehr berücksichtigen kann?

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)

Wird das die Gegenfinanzierung oder nicht?

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein!)

– Sie sagen Nein. Halten wir das einmal fürs Protokollfest.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das hat er vorhin schon gesagt!)

Dann können Sie meine zweite Frage, Herr KollegeKauder, auch sofort beantworten.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Fragen Sie mich! Sie bekommen immer eine gute Antwort!)

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Dr. Guido Westerwelle

– Ich stelle Ihnen, wenn Sie möchten, gerne lauter Fra-gen. Das gehört sich für eine bescheidene Opposition so.

Die Frage bezieht sich auf die Erbschaftsteuer: Waspassiert denn hinsichtlich der Erbschaftsteuer? Wir sinduns doch alle darüber einig, dass die Übergänge von Be-trieben auf die nächste Generation erleichtert werdenmüssen; das ist sinnvoll. Aber was ist dann aus dem Vor-schlag, der aus dem Finanzministerium und aus der SPDohnehin gekommen ist, geworden, der lautet, man könnedie Stundung der Erbschaftsteuer – jedes Jahr 10 Prozentweniger, wenn der Betrieb fortgeführt wird – durchausmachen, allerdings nur dann, wenn dieser Betrieb eineArbeitsplatzgarantie für die nächsten zehn Jahre gibt?Ich kenne keinen Mittelständler in Deutschland, der inder Lage wäre, schon jetzt eine Garantie dafür zu geben,dass er dieselbe Anzahl an Arbeitsplätzen in zehn Jahrenhat.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist auch ein alter Zettelkasten!)

So macht man den Mittelstand pleite, statt ihn nach vornzu bringen.

(Beifall bei der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Westerwelle, das ist vom Tisch! –Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Die Rede istein halbes Jahr alt!)

Sie hätten dazu eine Menge zu sagen.

Sie haben von der Gesundheitspolitik gesprochen.Auch das ist ein Punkt, den man nur kurz streifen muss.Sie reden hier übrigens gegen die Meinung von80 Prozent der Bevölkerung und auch gegen die Kritik,die in Ihren eigenen Kreisen ausgesprochen wird. Sie lo-ben die Gesundheitsministerin. Das müssen Sie als Bun-deskanzlerin wahrscheinlich tun. Ich glaube nicht, dassSie dafür schon eine Mehrheit auf Ihrem eigenen Partei-tag hätten.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP – VolkerKauder [CDU/CSU]: Das lassen Sie mal un-sere Sorge sein!)

Aber das ist Ihre Angelegenheit; das werden Sie mit sichselber ausmachen müssen.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!)

Beim Gesundheitsfonds geht es um etwas ganz an-deres. Nur dieser Bereich soll einmal erhellt werden. DerGesundheitsfonds soll künftig zum Teil dafür zuständigsein, Beiträge einzusammeln, und ist damit eine zweiteBürokratie für Beitragszahlungen. Das heißt, die Kas-sen müssen eine Bürokratie unterhalten, um Beiträgeeinzunehmen, und der Gesundheitsfonds muss das künf-tig auch tun. Es wäre das erste Mal in der Geschichte derMenschheit, dass zwei Bürokratien preiswerter sind alseine. Das kann nicht funktionieren.

(Beifall bei der FDP)

Sie haben das Thema innere Sicherheit zu Rechtprominent angesprochen. Alles, was Sie über die Ent-wicklung der Welt in diesem Bereich und vor allen Din-

gen auch über die Bedrohungsszenarien gesagt haben, istdoch Konsens. Das alles sehen wir genauso.

Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass esnicht so ist, als käme die Videoüberwachung an neural-gischen Punkten oder die Antiterrordatei jetzt plötzlichgegen Widerstände in diesem Haus zustande. Wir wolleneinmal auf Folgendes aufmerksam machen: Die Anti-terrordatei kommt deshalb zustande, weil die unionsge-führten Länder auf ihre Maximalposition der Volltextda-tei verzichtet haben, übrigens deshalb, weil ihnen diePraktiker gesagt haben, dass man mit Datenmüll die in-nere Sicherheit am Schluss überhaupt nicht mehr über-wachen kann.

(Beifall bei der FDP)

Sie haben das doch vor allen Dingen in Bayern ausge-bremst.

Wir wollen nun noch einmal über das Thema Außen-politik sprechen und darüber diskutieren, was Sie dazugesagt haben. Sie, Frau Bundeskanzlerin, und auch HerrKollege Kauder haben sich hinsichtlich der Außenpolitikgroße Sorgen um die Zuverlässigkeit und Berechenbar-keit der Freien Demokraten gemacht.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Mit Recht!)

Wissen Sie, mir persönlich können Sie gern alles unter-stellen. Aber wenn Sie Persönlichkeiten wie Hans-Dietrich Genscher, Walter Scheel und Otto GrafLambsdorff die außenpolitische Erfahrung und den inne-ren Kompass absprechen, wird es meiner Meinung nachnur noch albern.

(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ich möchte gern noch einmal die Gründe für unsereHaltung nennen. Wir haben in diesem Hohen Hause dieallermeisten Auslandseinsätze der Bundeswehr unter-stützt. Ich will Ihnen aber sagen: Angesichts der Tatsa-che, die gestern veröffentlicht wurde, dass 92 Prozentder Weltproduktion von Opium derzeit aus Afghanistankommen, erlauben Sie mir bitte die Frage, ob wir nichteinmal in diesem Hohen Hause darüber reden müssten,was dort wirklich stattfindet und passiert. Diese Fragenwerden wohl noch gestellt werden dürfen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wie es im Augenblick aussieht, schützen wir diese Pro-duktion.

Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist derKongoeinsatz, den wir bei der Abstimmung in der Tatabgelehnt haben. Den Afghanistaneinsatz hingegen ha-ben wir unterstützt. Übrigens sind alle Bedenken, die dieFraktion der Freien Demokratischen Partei gegen denKongoeinsatz vorgetragen hat, in den letzten Wochenbestätigt worden. Sie waren der Überzeugung, die bloßeAnwesenheit von europäischen Soldaten, darunter auchdeutschen, reiche aus, um demokratische Wahlen in ei-nem stabilen Umfeld stattfinden lassen zu können. Wirhaben Ihnen damals gesagt, was passieren wird, wenn es

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Dr. Guido Westerwelle

wirklich zu Gefährdungen oder sogar Kampfeinsätzenkommen sollte.

Genau das ist nach den ersten Wahlen bzw. vor derStichwahl geschehen. Unsere Befürchtungen sind einge-treten, und das – nebenbei bemerkt –, während der deut-sche Botschafter bei einem Außentermin war, von demer nur unter dem Schutz von Truppen in seine Residenzzurückgebracht werden konnte, und während der zustän-dige Kommandeur im Auslandsurlaub in Schweden war.Das ist ein Stück aus dem Tollhaus. Viel schlimmer aberist, dass der Verteidigungsminister der Republik nichtsdavon wusste. Sie sind in Ihrem Amt noch nicht ange-kommen, Herr Verteidigungsminister. Das ist das Pro-blem.

(Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann würde es janoch schlimmer, wenn er da je ankommenwürde!)

Nun will ich auf die Diskussion über den NahenOsten zu sprechen kommen. Frau Bundeskanzlerin,Herr Kauder, Sie sprachen heute Vormittag von derStaatsräson. Es war richtig, dass Sie die Staatsräson an-gesprochen haben. Die Staatsräson ist für das gesamteHohe Haus unverändert. Sie beinhaltet sowohl das Exis-tenzrecht Israels und das Recht der Bürger Israels, insicheren Grenzen zu leben, als auch das Selbstbestim-mungsrecht der Palästinenser. Niemand in diesemHause wird auch nur ansatzweise Zweifel daran haben,dass Selbstmordattentate und Raketenangriffe auf Israelein Verbrechen sind und dass die Völkergemeinschaftsich hierzu klar und eindeutig äußern und handeln muss.

Nur: Bis zum Sommer dieses Jahres gehörte zurStaatsräson der Bundesrepublik auch – das gilt für alleBundestage, alle Regierungen und alle Parteien, die bis-her in diesem Hause vertreten waren –, dass es keinenEinsatz bewaffneter deutscher Soldaten im Nahen Ostengeben sollte.

(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Richtig!)

Eines möchte ich festhalten: Nicht die Freien Demokra-ten stellen etwas infrage, sondern Sie. Sie ändern einenKurs, der in diesem Lande jahrzehntelang unumstrittenwar.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN)

Ich käme nie auf die Idee, Ihnen unlautere Motive zuunterstellen oder die Entscheidung von Kollegen, diediesem Einsatz zustimmen, im Menschlichen oder imPolitischen zu attackieren. Ich habe davor Respekt, wennSie zu einem anderen Ergebnis kommen als ich. Aberich erwarte denselben Respekt gegenüber denjenigen,die sagen, es sollte bei der Staatsräson bleiben, die bisherin Deutschland gegolten hat: keine bewaffneten deut-schen Soldaten im Nahen Osten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender LINKEN – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Eine völlig falsche Behauptung, HerrKollege!)

Daher, Herr Kollege Kauder, verbitte ich mir Hinweiseauf irgendeine Art von Wankelmütigkeit oder Unzuver-lässigkeit in der Außenpolitik der FDP.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – SteffenKampeter [CDU/CSU]: Betrachten Sie ersteinmal die Realität!)

Eines möchte ich im Hinblick auf die Bedenken, diewir geäußert haben, feststellen: Ich persönlich habe ganzgrundsätzliche historische Bedenken gegen einen Ein-satz deutscher Soldaten im Nahen Osten. Viele meinerKolleginnen und Kollegen, die weniger aus historischerPerspektive argumentieren, kritisieren vor allen Dingendie Undeutlichkeit des Mandates. Das Mandat der Ver-einten Nationen ist nicht eindeutig.

Ich stelle nur folgende Fragen: Wer soll eigentlich dieHisbollah entwaffnen?

(Dirk Niebel [FDP]: Eine gute Frage!)

Wie soll die Entwaffnung durchgeführt werden? Was ge-schieht, wenn die Bundeswehr auf See zum Einsatzkommt und auf diesem Wege vielleicht das eine oder an-dere verhindern kann, wenn sich aber die Situation aufdem Lande nicht ändert? Ist nicht die Gefahr viel zugroß, dass wir selbst im Nahen Osten zu einer ArtKriegspartei werden könnten? Ist damit nicht auch dieGefahr viel zu groß, dass es tatsächlich zu militärischenAuseinandersetzungen zwischen deutschen und israeli-schen Soldaten kommen könnte? Wäre das nicht einefurchtbare Vorstellung?

Es handelt sich auch dann um einen Kampfeinsatz,wenn er auf dem Wasser stattfindet. Deswegen benutztder Verteidigungsminister den Begriff „Kampfeinsatz“.Ob es zu einem Kampfeinsatz auf dem Boden oder zu ei-nem Kampfeinsatz auf der See kommt, das ist wahrlichnicht der entscheidende politische Unterschied, übrigensauch nicht für die Soldaten persönlich, die im Nahen Os-ten eingesetzt werden.

Frau Bundeskanzlerin, angesichts dessen, was wirwissen, werden wir diesem Einsatz nicht zustimmen,und zwar aus voller außenpolitischer Überzeugung undVerantwortung. Wir sind der Auffassung, dass es, wasden Einsatz deutscher Soldaten betrifft, bei der Staats-räson bleiben sollte, die in Deutschland bisher gegoltenhat.

Sie haben bestimmt zur Kenntnis genommen, wiesich die Kolleginnen und Kollegen aus den anderenFraktionen verhalten haben oder, besser gesagt, sichnicht verhalten haben, als es um den Verteidigungs-minister ging. Von dieser Kritik, die nicht nur von derOpposition geäußert wird, kann man auch Sie nicht aus-nehmen.

Meine Damen und Herren, die Diskussion über be-waffnete deutsche Soldaten im Nahen Osten ist nichtvom Ausland an uns herangetragen worden, die habenwir selber angefangen.

(Zuruf von der LINKEN: Sehr richtig!)

Es muss einfach zur Kenntnis genommen werden, dassder Verteidigungsminister schon im Juli über den Einsatz

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Dr. Guido Westerwelle

bewaffneter deutscher Soldaten spekuliert hat. Er hat da-bei offensichtlich nicht bedacht, dass seine Reden jetztanders als in seinem vorherigen Amt im HessischenLandtag internationale Konsequenzen haben. Sie, FrauBundeskanzlerin, hätten diese Debatte im Sommer nichtlaufen lassen dürfen, Sie hätten sie sofort beenden müs-sen.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Das sage ich nicht – das wissen Sie auch – aus irgend-welchen pazifistischen Grundüberlegungen. Ich bin einAnhänger der wehrhaften Demokratie. Dennoch bleibtfestzuhalten: Das ist nicht gut gelaufen.

Jetzt hören wir immer mehr dazu, welche Briefe dielibanesische Regierung jetzt schreiben will. Das, was indiesem Zusammenhang bekannt ist, bestärkt uns nochmehr in unserer Skepsis. Wie soll der Einsatz vonstattengehen? Wie soll die Einhaltung einer Siebenmeilen-schutzzone wirklich funktionieren? Wie sollen eigent-lich heikle Situationen verhindert werden? In der Sie-benmeilenschutzzone soll die libanesische Seite zurEntwaffnung der Hisbollah eingesetzt werden und Waf-fenschmuggeleien unterbinden. Wie sollen wir uns aberverhalten, wenn das nicht geschieht und dann beispiels-weise die israelische Seite eingreift? Wollen wir es denIsraelis wirklich übel nehmen, dass sie verhindern wol-len, dass Waffen an die Hisbollah geschmuggelt werden?Wie wollen wir uns in solchen Situationen verhalten?

Ich sage Ihnen: Wir müssen nicht bei jedem Einsatzder Vereinten Nationen dabei sein.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Am besten weglaufen!)

Bei diesem Einsatz der Vereinten Nationen sollten wirnicht dabei sein. Es ist kein guter Vorgang, dass Sie be-haupten, Sie werden gerufen, obwohl Sie jetzt drei Malin der Woche im Libanon anrufen müssen, um nachzu-fragen, wann denn endlich der Ruf an Deutschlandkommt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Elke Ferner

das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Elke Ferner (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchtezunächst auf ein paar Äußerungen von HerrnWesterwelle eingehen,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Bitte nicht!)

weil ich denke, dass man sie so nicht stehen lassen kann.

Richtig ist: Die Rahmenbedingungen sind besser ge-worden, wir haben im August dieses Jahres über400 000 Arbeitslose weniger als im August des vergan-genen Jahres verzeichnet. Es gibt wieder mehr sozialver-sicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse undauch die Steuereinnahmen der öffentlichen Hände stei-gen. Wer aber so tut, als könne man jetzt sofort Steuer-senkungsprogramme auflegen und die Verluste durchAusgabenkürzungen kompensieren, greift nicht nur zukurz, sondern belügt auch die Menschen.

(Jürgen Koppelin [FDP]: Da habt ihr ja Übung drin!)

Das, was Sie heute gesagt haben, ist der blanke Populis-mus, Herr Westerwelle.

(Beifall bei der SPD – Jürgen Koppelin [FDP]: Mehrwertsteuer!)

– Zur Mehrwertsteuer komme ich auch noch, HerrKoppelin.

Sie, Herr Westerwelle, haben gerade von Déjà-vu ge-sprochen. Wenn Sie in der Opposition sind, fordern SieSteuersenkungen und Ausgabenkürzungen, sagen abernicht, wo genau gekürzt werden soll, ob es die Rentensein sollen oder ob andere Leistungen gekürzt werdensollen. Sie führen immer wieder die Steinkohlebeihilfenan, obwohl Sie genau wissen, dass es rechtsverbindlicheZuwendungsbescheide gibt und man nicht einfach kür-zen kann. Das, was Sie betreiben, ist blanker Populis-mus.

Wenn Sie aber in der Regierung sind, HerrWesterwelle, dann tragen Sie Steuererhöhungen mit.Herr Steinbrück hat gestern vorgerechnet, dass es20 Steuererhöhungen in Ihrer Regierungszeit gegebenhat. Ich habe noch einmal nachgeschlagen: Fünf vonacht Mehrwertsteuererhöhungen sind mithilfe der FDPim Deutschen Bundestag beschlossen worden.

(Jürgen Koppelin [FDP]: Und der Sozialdemo-kraten!)

– Herr Koppelin, wir haben uns nie verweigert, wenn esdarum ging, sicherzustellen, dass dem Staat Einnahmenzufließen.

(Jürgen Koppelin [FDP]: Ah ja!)

Nur durch Einnahmen kann die öffentliche Daseinsvor-sorge auf Dauer gesichert werden. Was Sie wollen, istim Prinzip, dass es keine oder deutlich weniger öffentli-che Daseinsvorsorge gibt. Das geht in den Bildungsbe-reich hinein, das geht in den Bereich der Infrastruktur,das geht in den Bereich der Forschung und, wenn esnach Ihnen geht, auch in den Bereich der sozialen Siche-rungssysteme. Deshalb ist es gut, dass Sie nicht regieren.

(Beifall bei der SPD – Jürgen Koppelin [FDP]: Wie war das mit der Mehrwertsteuer?)

– Herr Koppelin, hat irgendjemand in diesem Haus ausirgendeinem Land, in dem die FDP mitregiert, den Vor-schlag gehört, dass man dort auf den Anteil aus derMehrwertsteuererhöhung verzichten wolle?

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4508 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006

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Elke Ferner

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Damit die Roten das kriegen in Berlin?)

Ich habe nichts dergleichen gehört. Wenn die drei Län-der, in denen Sie noch mitregieren, auf ihren Anteil ver-zichteten, könnten wir vielleicht auf einen Teil derMehrwertsteuererhöhung verzichten – tun Sie es doch!

(Jürgen Koppelin [FDP]: Was hat denn PeterStruck gesagt? „Man kann auf die Mehrwert-steuererhöhung verzichten“!)

– Herr Koppelin, ich gehe davon aus, dass Sie in dieserHaushaltsdebatte noch Gelegenheit bekommen, dasWort zu ergreifen; Sie brauchen sich im Protokoll nichtmit Zwischenrufen zu verewigen.

Wir haben mit dem Investitionsprogramm denGrundstein dafür gelegt, dass das, was an Wachstums-daten jetzt vorhanden ist, noch besser wird. Wir habenbewusst darauf verzichtet, in diesem Jahr drastische Ein-sparungen vorzunehmen, um mit dem Investitionspro-gramm – die Union hat das etwas anders gesehen; aberich bin froh, dass wir uns an dieser Stelle durchsetzenkonnten –

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ein Mal!)

die Beschäftigung voranzubringen und zu sichern. Ge-rade das CO2-Gebäudesanierungsprogramm macht dassehr deutlich. Es ist nicht nur ein Beitrag zum Klima-schutz, es sichert – das darf man an dieser Stelle nichtvergessen – auch Beschäftigung: beim lokalen und re-gionalen Handwerk, weil es sich hier um private Investi-tionen handelt. Das, was wir an staatlichem Geld einset-zen, bewirkt ein Vielfaches an privaten Investitionen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Ich glaube, man darf nicht so pessimistisch sein, wasdas Jahr 2007 anbelangt. Es ist nicht ohne Gefahr, daswissen wir auch, aber wir hoffen, dass der Aufschwungträgt und vor allen Dingen dass die Investitionen nichtnur beim Bund auf sehr hohem Niveau, sondern auchvon den Ländern und Kommunen auf höherem Niveaugetätigt werden; denn die Investitionseinbrüche, die wirhaben, liegen nicht am Bund – der Bund hat wirklich einsehr hohes Investitionsniveau –, sondern es sind die Län-der und Kommunen, wo die Investitionen nicht in demUmfang gemacht werden, wie es eigentlich notwendigist.

Wir haben nicht nur im Bundeshaushalt das Problem,dass die Einnahmen nicht so sind, wie wir sie eigentlichbrauchen. Wir haben in den vergangenen zwei Wahl-perioden einiges an Vorschlägen zum Abbau von Steuer-subventionen gemacht. Diese Vorschläge sind im Bun-desrat leider immer hängen geblieben. Wäre das nicht sogewesen, würden wir heute besser dastehen. Wir habenein Einnahmeproblem auch bei den sozialen Sicherungs-systemen, insbesondere bei der gesetzlichen Kranken-versicherung. Ich habe mir die Zahlen einmal heraussu-chen lassen bzw. das Gesundheitsministerium hatte sie derKoalitionsarbeitsgruppe zur Verfügung gestellt: Wenndie Pflichtbeitragseinnahmen der gesetzlichen Kranken-versicherung sich von 1980 bis 2000 parallel zum Brut-

toinlandsprodukt entwickelt hätten, hätte im Jahr 2000ein durchschnittlicher Beitragssatz von 11,6 Prozent aus-gereicht, um die Ausgaben zu decken. Das ist das eigent-liche, strukturelle Problem der gesetzlichen Krankenver-sicherung.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Deswegen: Bürgerprämie!)

Wir haben in den Verhandlungen über die Gesund-heitsreform versucht, da ein Stück weit Abhilfe zuschaffen. Es ist leider nicht so gekommen, wie wir unsdas als SPD gewünscht hatten. Wir hatten vorgeschla-gen, mit bis zu 24 Milliarden Euro eine zusätzliche, steu-erfinanzierte Säule des Gesundheitssystems aufzubauen –nicht um dieses Geld sofort wieder auszugeben, sondernum ein Potenzial für Beitragssatzsenkungen zu bekom-men. Das ist mit der Union leider nicht möglich gewe-sen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gott sei Dank!)

Auch wenn das in dieser Wahlperiode wohl nicht umge-setzt werden kann, bleibt es für uns nach wie vor auf derpolitischen Tagesordnung.

Wir haben zum Zweiten versucht, zu erreichen, dassdie Solidarität im Gesundheitssystem nicht nur zwischengesetzlich Versicherten organisiert wird, sondern dassdie doch sehr unterschiedlichen Einkünfte der privatVersicherten mit in den Einkommensausgleich einbezo-gen werden und dass die unterschiedlichen Krankheits-risiken – die in der PKV Versicherten haben bekanntlichviel günstigere Krankheitsrisiken – zwischen diesen bei-den Systemen ausgeglichen werden. Auch das ist leidernicht möglich gewesen; aber auch das bleibt nach wievor politisches Ziel der SPD.

Wir haben uns natürlich auch mit der Ausgabenseitebeschäftigt. Im Moment diskutiert ja die ganze Welt überden Fonds, den Beitragseinzug und alles Mögliche be-züglich der Finanzen. Niemand würdigt aber das, wasdie Koalition vereinbart hat, um Strukturreformendurchzuführen. Wir sind hier deutlich weiter gekommen,als wir selbst und viele andere das zu Beginn gedacht ha-ben. Herr Kuhn, es stimmt nicht, dass kein Wettbewerbstattfindet. Mit der Gesundheitsreform werden wir esden Kassen ermöglichen, mehr Wettbewerb zu organi-sieren. Nach unserer Auffassung hätte dies noch mehrsein können. Im Vergleich zum Gesundheitsmodernisie-rungsgesetz sind wir aber ein gutes Stück weiter gekom-men. Ich will Ihnen dazu ein Beispiel nennen:

Die Kassen werden künftig die Möglichkeit haben,einzelne Arzneimittel und auch Wirkstoffe auszuschrei-ben und dafür günstigere Preise bei den Pharmaherstel-lern zu erzielen. Diese werden Eingang in die besonde-ren Versorgungsformen haben. Das bedeutet ein Stückmehr Wettbewerb, der zur Kostensenkung beiträgt,ohne dass es zu Einschränkungen bei den Patientinnenund Patienten kommt; denn wir haben mit dieser Reformsichergestellt, dass es nicht zu Erhöhungen der Zuzah-lungen und zu Leistungsausgrenzungen kommen wird.Alle werden auch künftig am medizinischen Fort-schritt teilhaben und die medizinische Versorgung be-

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Elke Ferner

kommen können, die notwendig ist, egal, bei welcherKrankenkassen sie versichert sind und wie hoch ihr Ein-kommen ist. Das ist das oberste Ziel dieser Reform ge-wesen.

(Beifall bei der SPD)

Im Gegenzug haben wir den Leistungskatalog sogarnoch erweitert. Wir haben die Palliativversorgung, diegeriatrische Reha, die Eltern-Kind-Kuren und die Imp-fungen, die die Ständige Impfkommission empfiehlt, inden Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversiche-rung hineingenommen. Das ist das Gegenteil von dem,was bei vielen anderen Gesundheitsreformen gemachtworden ist: Leistungen, die notwendig sind und auchGeld kosten, sind aufgenommen worden.

Trotz all dieser Maßnahmen haben wir es geschafft– auch durch die Organisation des Wettbewerbs –, einEinsparpotenzial von 1,9 Milliarden Euro zu mobilisie-ren. Das hätte an einigen Stellen mehr sein können. Aneinigen Stellen wird es wahrscheinlich auch mehr sein,weil wir vorsichtig gewesen sind, nur das beziffert ha-ben, was man seriöserweise beziffern konnte, und keineLuftbuchungen durchgeführt haben.

Dennoch kommen wir im nächsten Jahr nicht um eineBeitragssatzanhebung herum. Das liegt einfach daran,dass es uns nicht gelungen ist, die Einnahmebasis zu ver-breitern. Man muss aber auch bedenken, was passierenwürde, wenn wir jetzt nichts täten. Wenn wir jetzt nichtstäten, dann würden die Beitragssätze höher steigen. Nie-mand hat versprochen, dass die Beitragssätze durch dieVerwirklichung der Eckpunkte nicht steigen werden.Kurt Beck und Frau Merkel haben nach der Runde, inder die Einigung erzielt worden ist, ja deutlich gesagt,dass es Beitragssatzanhebungen geben muss; denn einesist klar: Die Einnahmen müssen die Ausgaben beimFondsstart decken und die Kassen müssen entschuldetsein. Das haben wir in der Koalition vereinbart. Die De-tails werden derzeit von einer kleinen Arbeitsgruppe derKoalition besprochen.

Für uns ist dabei wichtig, dass der Fonds erst dannstarten kann, wenn der Risikostrukturausgleich bezüg-lich der Krankheitsrisiken, wie in den Eckpunkten ver-einbart, so organisiert ist, dass er deutlich zielgenauer alsdas ist, was wir heute haben.

(Beifall bei der SPD)

Das ist nämlich auch eines der Probleme, die wir haben:Seit die Versicherten von Kasse zu Kasse wechseln kön-nen, gibt es natürlich sehr unterschiedliche Situationen.Die einzelnen Kassen zahlen sehr unterschiedliche Prä-mien an die Kassenärztlichen Vereinigungen, unabhän-gig davon, wie groß oder wie klein sie sind. Früher gingdas alles nach Größe. Daneben sind die Krankheitsrisi-ken sehr unterschiedlich verteilt. Es ist eben nicht egal,ob man junge oder alte Frauen oder Männer versichert,ob sie gesund oder krank sind und ob sie Leistungen vonder Krankenkasse brauchen oder nicht. Deshalb beste-hen wir darauf, dass der so genannte morbiditäts-orientierte Risikostrukturausgleich, also der bessere undzielgenaue Ausgleich der Krankheitsrisiken, mit dem

Fondsstart gewährleistet ist. Sonst kann der Fonds ausunserer Sicht nicht starten.

(Beifall bei der SPD)

Ein zweiter Punkt – darüber wird im Moment sehrheftig diskutiert – ist die Frage des Beitragseinzuges.Eigentlich hatte ich an dieser Stelle in meinem Manu-skript vermerkt, dass ich den Fonds nicht mehr erklärenmuss, weil sich alle damit beschäftigt haben. Aber offen-bar gibt es auch hier im Haus einige, die Äpfel mit Bir-nen vergleichen. Der Beitragseinzug hat mit dem Fondszunächst einmal überhaupt nichts zu tun. Der Fonds istBestandteil der neuen Finanzarchitektur für die gesetzli-chen Krankenversicherungen. In Teilen gibt es diesenFonds schon heute, nämlich in Form des Risikostruktur-ausgleichs, der über das Bundesversicherungsamt abge-wickelt wird.

Bezüglich des Beitragseinzugs haben wir vereinbart,dass dieser weiterhin dezentral erfolgen soll, damit dieArbeitgeber vor Ort einen Ansprechpartner haben. Essoll keine zentrale Mammutbehörde aufgebaut werden.Die Frage ist natürlich: Wie soll die Zielstruktur für denBeitragseinzug aussehen? Das wird derzeit zwischendem Gesundheitsministerium und dem Arbeits- und So-zialministerium besprochen; denn es geht hier nicht nurum den Einzug der Krankenversicherungsbeiträge, son-dern um den Einzug aller Sozialversicherungsbeiträge.

Dafür bestehen mehrere Möglichkeiten. Eine Mög-lichkeit ist, die Kompetenz für den Einzug dort zu las-sen, wo sie jetzt ist, und dann von dort aus die Gelder fürden Fonds einzuziehen. Auch über diese Möglichkeitwird im Moment diskutiert. Eines aber ist klar: Das mussdezentral organisiert werden. Zu jeder Zeit, also auch zujeder Sekunde, muss sichergestellt sein, dass der Bei-tragseinzug funktioniert und das Geld pünktlich auf denKonten der Sozialversicherungsträger landet.

Ebenso muss sichergestellt werden, dass der vorhan-dene Sachverstand der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterin den Beitragseinzugsstellen weiterhin genutzt wird.Das bezieht sich nicht nur auf den Beitragseinzug, son-dern auf alle Aspekte, die mit den Arbeitgebern zu tunhaben. Insofern werden wir sehr genau darauf achten,wie das ausgestaltet wird, damit es hier nicht zu Brüchenkommt, die niemand verantworten kann und die auchniemand will.

(Beifall bei der SPD – Fritz Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Beifall bei derUnion!)

Natürlich gibt es auch Kritik. Wir haben Problememit dem Zusatzbeitrag. Es wäre falsch, das hier zu ver-schweigen. Aber eines ist klar: Wir haben dafür gesorgt,dass der Zusatzbeitrag niemanden überfordert; er darf– analog zu der Chronikerregelung – nicht mehr als1 Prozent des Einkommens betragen. Auch haben wirdafür gesorgt, dass der Fonds ausreichend gefüllt seinwird, um den medizinischen Fortschritt weiterhin finan-zieren zu können. Ebenso ist sichergestellt, dass dann,wenn die Beitragseinnahmen und die vorgesehenenSteuermittel nicht ausreichen, die Beiträge der Ar-beitnehmer und der Arbeitgeber in gleichem Maße

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4510 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006

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angehoben werden. Es gibt keine Festschreibung derBeiträge auf Dauer. Für die Menschen ist wichtig, zuwissen: Sie werden auch in Zukunft mit den wachsendenKosten als Folge der demografischen Entwicklung unddes medizinischen Fortschritts nicht alleine gelassen.

(Beifall bei der SPD)

Wir werden über die Gesundheitsreform in diesemJahr mit Sicherheit noch öfter debattieren: bei der Ein-bringung des Haushalts, in den Ausschussberatungen,bei der Anhörung und in der Schlussberatung. Ich binmir aber sicher, dass wir das Ziel erreichen können, dieReform zum 1. Januar 2007 in Kraft treten zu lassen.Wer bessere Vorschläge hat, möge sie auf den Tisch le-gen. Ich habe bisher noch keinen Vorschlag gehört, dereine vernünftige Regelung für bezahlbare Krankenversi-cherungsbeiträge enthält und gleichzeitig den medizini-schen Fortschritt für alle – nicht nur für diejenigen, dieüber ein gut gefülltes Portemonnaie verfügen – bezahl-bar macht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Max

Straubinger das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Max Straubinger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Lassen Sie mich mit einer Vorbemerkung beginnen. DerKollege Westerwelle hat zum Schluss seiner Rede, dieich aufmerksam verfolgt habe, den Eindruck zu vermit-teln versucht, dass sich die Bundesregierung und dieFraktionen, die die Bundesregierung in ihrem Bemühenunterstützen, Friedenseinsätze aufgrund ihrer interna-tionalen Verantwortung zu begleiten, aufdrängen wür-den. Ich möchte dies ausdrücklich zurückweisen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Bundesregierung und die sie in dieser Frage unter-stützenden Fraktionen im Haus handeln in Verantwor-tung der außenpolitischen Gegebenheiten, auch derentstandenen außenpolitischen Fragen und Herausforde-rungen, und vor allen Dingen in Verantwortung für Frie-den und Freiheit in gefährdeten Regionen dieser Welt.Das ist meines Erachtens eine großartige Leistung derBundeskanzlerin und des Außenministers, die sie in denvergangenen Wochen und Monaten zustande gebrachthaben. Dies sollte nicht in ein schiefes Licht gerücktwerden, Herr Kollege Westerwelle.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ich gebe unserem Fraktionsvorsitzenden VolkerKauder Recht: Man kann nicht große Reden darüber hal-ten, dass das Existenzrecht Israels zu unterstützen ist,aber dann, wenn es möglicherweise gefährdet ist, keinenBeitrag leisten. Ich glaube, wir sind in der Verantwor-tung, die nötigen Beiträge zu leisten. Darüber, wie dieseim Einzelnen aussehen sollen, kann man diskutieren. Ich

bin davon überzeugt, dass die Bundesregierung bishereine großartige Leistung vollbracht hat und auch für diezukünftigen Entscheidungen dem Parlament die richti-gen Vorschläge unterbreiten wird, die wir dann sicher-lich unterstützen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ich glaube, die bisherige Haushaltsdebatte zeigt sehrdeutlich, dass die Menschen der Bundesregierung undden sie tragenden Fraktionen, der CDU/CSU und derSPD, Vertrauen entgegenbringen können. Die Wirtschaftwächst, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Zahl der sozialver-sicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse nimmtzu und die Haushaltssanierung schreitet voran. Wer hättesich das vor einem Jahr vorstellen können? Ich glaube,das konnten viele Bürgerinnen und Bürger in Deutsch-land nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das aber sind die wichtigen Botschaften und Signale, diedie Politik der großen Koalition nach zehnmonatiger Re-gierungstätigkeit den Bürgerinnen und Bürgern in unse-rem Land zu vermitteln vermag. Für die Menschen inunserem Land wird sichtbar, dass wir den Koalitionsver-trag – und damit auch den Koalitionsauftrag – in die Tatumsetzen. Das Investieren, Sparen und Reformierenwird angegangen und punktgenau und zielorientiert um-gesetzt.

Auch der Haushalt 2007, der jetzt eingebracht wordenist, ist Ausdruck der Umsetzung des Koalitionsvertragesund er hat bereits großartige Erfolge vorzuweisen. Dassdie Maastrichtkriterien bereits in diesem Jahr einge-halten werden – das wurde bereits erwähnt, aber mankann es nicht oft genug darlegen –, ist ebenfalls Aus-druck der Regierungspolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dass sie auch 2007 eingehalten werden, weil die Grund-lage dafür heuer gelegt worden ist, ist wiederum eingroßartiges positives Signal.

Auch dass nach mehreren Jahren, in denen der Haus-halt nicht verfassungskonform war, jetzt ein verfas-sungskonformer Haushalt eingebracht worden ist unddie Nettoneuverschuldung geringer ist als die Investitio-nen, ist der neuen Bundesregierung, die seit Oktober imAmt ist, zu verdanken.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dass die Mehreinnahmen nicht nur über Steuern, son-dern vor allen Dingen auch durch erhebliche Einsparun-gen erzielt werden, ist auch Ausdruck des Haushaltes,den wir heute beraten.

Für mich ist aber auch entscheidend, dass in diesemHaushalt zum Ausdruck gebracht wird, dass die sozialeSicherheit der Menschen in unserem Land nicht ausdem Blickfeld geraten ist. Im Gegenteil: Die soziale Si-cherheit der Menschen wird weiter gestärkt. Auch das istAusdruck der Koalition von CDU/CSU und SPD.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

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Max Straubinger

Das alles sind Kennzeichen einer soliden Finanzpoli-tik, der die Regierung Vorrang eingeräumt hat. Vielleichtkann Bayern, das erstmals einen ausgeglichenen Haus-halt verabschieden konnte,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

als Vorbild für unsere Politik dienen, um das auch aufBundesebene zu erreichen.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Wenn wir Bayern nicht hätten!)

– In Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin, wo Siemitregieren, zeitigen sich ja die Ergebnisse. Wir wissenauch, was die CDU in Sachsen-Anhalt aufzuräumen hat.Das ist doch das Entscheidende.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Elemente des Dreiklangs „Investieren, Sparen,Reformieren“ bedingen einander. Ohne Investitionengibt es kein Wachstum. Ohne Sparen gibt es keinenSpielraum für zukünftige Investitionen in unserem Land.Ohne die Reform der sozialen Sicherungssysteme gibt eskeine Senkung der Lohnnebenkosten. Das zeigt sehrdeutlich: Wachstum ist – früher gab es Parteistrategen,die von Nullwachstum oder einem qualifizierten Wachs-tum gesprochen haben; das meine ich aber nicht – dieGrundlage für mehr Arbeitsplätze in unserem Land. Dasnun vorhandene positive Wirtschaftswachstum von1,8 Prozent – vielleicht gilt das sogar für das ganze Jahr;im Süden Deutschlands ist es noch intensiver undbesser – ist also eine gute Voraussetzung für das Entste-hen von Arbeitsplätzen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden diese Entwicklung mit dem Bundeshaus-halt unterstützen. Wir fördern beispielsweise mit dem25-Milliarden-Euro-Programm Innovationen. Die For-schungsförderung hat ein Volumen von 6 MilliardenEuro bis zum Jahr 2009. Das dient der Innovationsförde-rung sowie der Stärkung des WissenschaftsstandortesDeutschland und der Zukunftsfähigkeit unseres Landes.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Entscheidend ist ebenfalls, dass der Mittelstand wei-terhin in die Lage versetzt wird, große Investitionen zutätigen und dementsprechend die Zukunftsfähigkeit un-seres Landes zu stärken. Die große Koalition hat bereitsentscheidende Wegmarken gesetzt. Die verbesserten Ab-schreibungsbedingungen für bewegliche Wirtschafts-güter sind ein entscheidender Faktor. Ich bin darüberhinaus der Meinung, dass die teilweise steuerliche Ab-setzbarkeit von Handwerkerrechnungen nichts anderesals ein Impulsprogramm ist und dafür sorgt, dass wir unsnun Gott sei Dank an einer besseren Auftragslage bei un-seren Handwerksbetrieben erfreuen dürfen.

(Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU])

Ich bin zudem überzeugt, dass der Abbau von bürokrati-schen Hemmnissen ein Erfolg sein wird. Ich danke aus-drücklich unserem Bundeswirtschaftsminister MichaelGlos für seinen Einsatz zugunsten der mittelständischenWirtschaft und unseres Wirtschaftsstandorts insgesamt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Herr Fraktionsvorsitzende und Parteivorsitzendeder FDP hat vorhin das Allgemeine Gleichbehand-lungsgesetz kritisiert. Wir geben unumwunden zu, dasswir mit diesem Gesetz nicht ganz glücklich sind. Aberich möchte herausstellen, dass wir im Vergleich zum ur-sprünglichen Entwurf für entscheidende Änderungen ge-sorgt haben, damit der bürokratische Aufwand bei denBetrieben massiv minimiert wird bzw. erst gar keinerentsteht.

Der Kollege Westerwelle hat des Weiteren kritisiert,dass die Kohlesubventionen nicht in ausreichendemMaße abgebaut werden. Das mag sein. Aber in den Bun-desländern, in denen die FDP in der Regierung ist, zumBeispiel in Nordrhein-Westfalen, tritt man zwar für denAbbau der Kohlesubventionen ein, um aber zugleichdarauf hinzuweisen, dass ein Ausgleich aus dem Bun-deshaushalt zu erfolgen hat. Wenn das eine ehrliche Poli-tik im Sinne der Bürgerinnen und Bürger und wenn dasSubventionsabbau sein soll, dann habe ich möglicher-weise den Begriff „Subventionsabbau“ nicht verstanden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Auf vielfältige Weise wurde heute schon die Entwick-lung auf dem Arbeitsmarkt dargelegt. Wir freuen uns na-türlich über den Abbau der Arbeitslosigkeit und die Stei-gerung der Zahl der sozialversicherungspflichtigenBeschäftigungsverhältnisse um 130 000. Davon sind40 000 in Bayern entstanden. Das zeigt sehr deutlich,woher die wirtschaftlichen Impulse kommen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Vergiss den Norden nicht! Auch wir sind anständig!)

Ich freue mich insbesondere über den Abbau derJugendarbeitslosigkeit. Die Zahl der arbeitslosen Ju-gendlichen ist um fast 100 000 zurückgegangen. Daszeigt sehr deutlich, dass die Bundesregierung Jugendli-chen großartige Zukunftschancen eröffnet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wir haben vielfach über die Korrektur der Hartz-Gesetze gestritten. Ich glaube, dass die Hartz-Gesetzemehr Dynamik in die Vermittlung der Arbeitslosen ge-bracht haben und dass der Umbau der Bundesagentur fürArbeit, der bisher durchaus positive Effekte mit sich ge-bracht hat, weiter voranschreiten muss. Es wurden invielen Bereichen Korrekturen vorgenommen. Ich erin-nere an die Ich-AG und andere Dinge. Eines ist für michentscheidend: Wir sind ein sozialer Staat und wir tretenfür die ein, die der sozialen Unterstützung bedürfen. Esgilt aber auch, dem Missbrauch von sozialen Leistungenmassiv entgegenzutreten.

Am 30. August gab es in der Sendung „ZDF-Repor-ter“ einen Bericht über zwei Sozialdetektive, –

Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Straubinger, die Geschichte können Sie jetzt

nicht mehr zu Ende erzählen. Ihr Fraktionsvorsitzenderhat Ihnen schon Zeit überlassen.

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Max Straubinger (CDU/CSU): – die 150 Missbrauchsfälle mit einem Volumen von

über 500 000 Euro in kürzester Zeit aufgedeckt haben.Das zeigt sehr deutlich, dass die Verwaltungen noch ef-fektiver arbeiten müssen. In diesem Sinne lasst uns dieArbeit angehen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die Geschichte wollte die Präsidentinnicht hören!)

Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Schwall-Düren für die

SPD-Fraktion.

Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Seit mehr als 50 Jahren ist Deutschland in die Euro-päischen Gemeinschaften eingebunden. Das prägte diePolitik der Bundesregierungen und das prägt die Politikauch dieser Regierung. Bundeskanzlerin Merkel hat dasheute Morgen eindrucksvoll dargelegt.

Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union be-deutet Chancen, aber auch Herausforderungen. DieChancen haben sich schon zu Beginn der Mitgliedschaftergeben. Es ist uns allen bekannt, dass wir Frieden undSicherheit, kulturelle Vielfalt und Reichtum dieser Mit-gliedschaft zu verdanken haben, aber auch einen un-glaublich gesteigerten Wohlstand. Ich darf nur die eineZahl nennen, dass wir allein in den Jahren 1992 bis 2002900 Milliarden Euro zusätzlichen Wohlstand in Deutsch-land erreicht haben. Das bedeutet 6 000 Euro pro Haus-halt. Das ist sehr viel und das sollte von uns immer wie-der betont werden. Das war der Bevölkerung in früherenJahren bewusster. Aber in den letzten Jahren ist dieWahrnehmung der Chancen der Europäischen Union zu-nehmend schwächer geworden, und zwar einmal, weildie Errungenschaften selbstverständlicher sind, und zumanderen, weil es in Mode gekommen ist, Kritik an derEU zu üben.

Brüssel wird schnell als Geldvernichtungsmaschineabqualifiziert, es wird Brüssel vorgeworfen, sich in na-tionale Angelegenheiten einzumischen oder ein Büro-kratiemonster zu sein. Auch wir Politikerinnen und Poli-tiker des Deutschen Bundestages sind nicht ganzunschuldig. Wenn Entscheidungen in Brüssel getroffenwerden, an denen wir über den Rat mitgewirkt haben,dann schieben wir manchmal gern die Schuld auf Brüs-sel und behaupten, an der Entscheidung nichts ändern zukönnen, weil das die Entscheidung von Brüssel sei. Daist es kein Wunder, dass die Bürgerinnen und Bürgerverunsichert sind.

Hinzu kommt, dass in den letzten Jahren immer stär-ker die soziale Dimension infrage gestellt wird. Die Bür-ger mussten den Eindruck gewinnen, dass die Kommis-sion bei der Umsetzung des gemeinsamen Marktesimmer stärker von so genannten neoliberalen Vorstellun-gen geleitet wurde. Ein uns allen bekanntes Beispiel ist

die Dienstleistungsrichtlinie, die den positiven Effektbringen soll, dass der Dienstleistungsmarkt in der Euro-päischen Union mehr Dynamik bekommt und damit Ar-beitsplätze geschaffen werden, die aber gleichzeitig dieGefahr mit sich bringen könnte, dass Sozial- und Quali-tätsdumping betrieben wird. Aber glücklicherweise ha-ben wir Einfluss auf diese Dinge. Gemeinsam, mit demEuropäischen Parlament und der deutschen Regierung,ist es hier gelungen, im Rat ein gutes Stück voranzukom-men.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Jetzt steht im Parlament die zweite Lesung an. Wir sindauf einem guten Weg, damit sich in Europa das Prinzip„gleicher Lohn und gleiche Standards für gleiche Arbeitam gleichen Ort“ wirklich durchsetzt. Wenn das nicht er-reicht wird, dann sind die Bürger enttäuscht und verunsi-chert und dann haben wir in unseren jeweiligen Natio-nalstaaten die Konsequenzen zu tragen.

Wir dürfen uns allerdings nicht der Illusion hingeben,dass diese Problematik allein mit einer verändertenDienstleistungsrichtlinie gelöst wird. Wir müssen auchunsere Hausaufgaben machen. Damit spreche ich dasThema „Entsenderecht und Mindestlohn“ an. Wir sindgerade dabei, die Entsenderichtlinie für das Gebäude-reinigerhandwerk in nationales Recht umzusetzen. Ichbin aber sicher: Das kann nicht das Ende sein. Wir müs-sen hier weiterkommen

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

und in diesem Herbst die Frage der Mindestlöhne nichtnur sehr ernsthaft diskutieren, sondern auch entschei-dend beantworten.

(Beifall der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE])

18 Mitgliedstaaten in der Europäischen Union habenMindestlöhne. Ich will darauf aufmerksam machen, dassein Land, das wir hier immer wieder wegen seiner wirt-schaftlichen Dynamik positiv hervorheben, nämlichGroßbritannien, in diesem Zusammenhang sehr gute Er-fahrungen gemacht hat.

(Otto Fricke [FDP]: Wollen Sie denn auch das britische Kündigungsrecht?)

Leistungsträger, über die im Augenblick wieder sehrviel gesprochen wird – auch in meiner Partei –, sindauch diejenigen, die als Geringqualifizierte täglich ihrerArbeit nachgehen. Auch diese Menschen müssen fürihre Arbeit einen anständigen, existenzsichernden Lohnbekommen. Deswegen kann ich auch dem Vorschlag desSachverständigenrates, das Arbeitslosengeld II zu kür-zen, um so für eine geringe Anzahl von Personen Ar-beitsplätze zu schaffen, überhaupt nicht zustimmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Chancen, die die EU in der Vergangenheit mitsich gebracht hat, müssen natürlich auch in der Zukunftgenutzt werden. Die EU ist für uns Impulsgeber und siegibt uns eine Leitorientierung. Ich möchte hier noch ein-mal das Beispiel des Stabilitäts- und Wachstums-

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Dr. Angelica Schwall-Düren

paktes anführen. Dieser Pakt wurde vor allen Dingendurch deutsche Politiker gestaltet. Zwischenzeitlich warer für uns zu einer Last geworden. Letztendlich aber hater dazu beigetragen, dass der Druck, unseren Haushaltzu konsolidieren, aufrechterhalten wurde. Mit großerWahrscheinlichkeit in diesem Jahr, aber auf alle Fälle imkommenden Jahr wird es gelingen, das 3-Prozent-Defi-zit-Kriterium zu erfüllen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Damit sichern wir die Chancen der zukünftigen Genera-tionen. Gleichzeitig haben wir durch die Reform des Sta-bilitätspaktes ermöglicht, dass in diesem Land wiederInvestitionen getätigt werden können und wir das vonder Koalition beschlossene 25-Milliarden-Euro-Pro-gramm umsetzen.

Wir haben in diesem Herbst vor dem Hintergrund derLissabonstrategie noch das nationale Reformprogrammzu verabschieden. Die Bundesregierung wird einen ent-sprechenden Bericht in Brüssel vorlegen. Wir habennämlich erkannt – Frau Bundeskanzlerin hat das heuteMorgen schon ausgeführt –, dass die Globalisierung keinErfolg wird, wenn man nur die nationalen Interessenvertritt und wenn man sich bei Löhnen, Steuern undStandards gegenseitig unterbietet. Im Gegenteil. Was wirtun müssen, ist: Standards sichern, Qualität produzieren,Innovationen umsetzen. Das wird mit der Lissabonstra-tegie und in dem Rahmen mit dem nationalen Reform-programm angepackt. Dabei ist natürlich auch die wei-tere Modernisierung unserer Sozialsysteme zu nennen.Das haben wir im Bereich der Alterssicherung und desArbeitsmarktes schon angepackt und das müssen wir imBereich der Gesundheitspolitik weiter vorantreiben.

Ganz entscheidend ist neben dieser Reform aber dieInvestition in die Köpfe. Die Lissabonstrategie hat unsaufgegeben, 3 Prozent unserer Mittel in Bildung undForschung zu investieren. Genau das tun wir. TrotzHaushaltskonsolidierung wird diese Regierung bis zumJahr 2010 dafür sorgen, dass die 3 Prozent in dem Be-reich erreicht werden.

Ich möchte an dieser Stelle aber darauf hinweisen,dass wir bei der Weiterbildung noch mehr tun müssen,das stärker in den Blick nehmen müssen und diese He-rausforderung ebenfalls annehmen müssen. Dazu brau-chen wir aber auch die Unternehmen und dazu brauchenwir die Gewerkschaften, die ich ausdrücklich auffordere,sich dieser Aufgabe zu stellen.

(Beifall bei der SPD)

In der ersten Hälfte des Jahres 2007 steht die deutscheRatspräsidentschaft an. Wir wollen uns wie 1999 auchbei dieser Ratspräsidentschaft wieder als gute Europäerzeigen. Das ist eine große Herausforderung. Wie Sie allewissen, ist der Verfassungsprozess ins Stocken geraten.Das ist ein Prozess, den wir aber unbedingt voranbringenmüssen, nicht um eines abstrakten Textes willen, son-dern weil wir diese Verfassung brauchen, damit in derEuropäischen Union mehr Bürgernähe, mehr Transpa-renz und mehr Effektivität erreicht werden können.

Um hierbei voranzukommen, ist sehr viel Verhand-lungsgeschick notwendig. Aber ich bin ganz zuversicht-lich, dass wir es in der deutschen Ratspräsidentschaftschaffen werden, einen Weg, wenn auch noch keine end-gültige Lösung aufzuzeigen. Dieses Verhandlungsge-schick haben die Vertreter unserer Regierung schon ein-drucksvoll bewiesen. Frau Merkel hat es seinerzeitgeschafft, das ins Stocken geratene Verfahren zur finan-ziellen Vorausschau zu einem guten Abschluss zu brin-gen. Unser Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatinzwischen ein unerhört hohes Ansehen als guter Ver-handlungspartner erreicht, was man auch an der positi-ven Rolle, die er im Nahostkonflikt spielt, ablesen kann.Er wird von allen Seiten respektiert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deutschland wird eine hohe Kompetenz zugeschrie-ben, etwas zur Friedenssicherung zu erreichen. Aberlassen Sie mich an dieser Stelle auch sagen: Diese hoheKompetenz im Bereich der diplomatischen Verhandlun-gen ist nur dann weiter akzeptiert, wenn es auch dieBereitschaft Deutschlands gibt, sich aktiv, auch durchZurverfügungstellung von Bundeswehrkräften, an derFriedenssicherung zu beteiligen. Der Kollege PeterStruck hat sehr deutlich gesagt, dass wir das natürlichnur unter ganz klaren Bedingungen tun werden.

Hierbei ist das Zusammenspiel mit den europäischenPartnern ebenfalls sehr wichtig. Auch die UN-Friedens-resolution 1701 trägt sehr deutlich die europäischeHandschrift. Das ist ein großer Erfolg, den wir mit unse-ren europäischen Freunden erreicht haben.

Lassen Sie mich noch einmal auf die Verfassung zu-rückkommen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir ha-ben hier nicht nur eine schwierige Situation mit denbeiden Ländern, in denen die Verfassung durch ein Refe-rendum abgelehnt wurde – Frankreich und die Nieder-lande –, sondern wir haben auch Probleme mit anderenPartnern – da kann man Großbritannien nennen, aberauch Polen –, mit denen es im Augenblick sehr schwerist, zu gemeinsamer Politik zu kommen. Bei allem Ver-ständnis für die polnischen Freunde, die besonders kri-tisch auf die deutsche Politik schauen, ist dort auch einegewisse Unfähigkeit bezüglich einer Kommunikations-und Kooperationsbereitschaft mit der deutschen Politikzu erkennen. Nichtsdestotrotz müssen wir immer wiederein Dialogangebot machen; denn die Bevölkerung undauch die wirtschaftlichen Akteure sehen die Beziehun-gen in keiner Weise kritisch. Im Gegenteil, das AnsehenDeutschlands ist in Polen in den letzten Jahren immerweiter gestiegen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben dem Verfas-sungsthema wird die deutsche EU-Ratspräsidentschaftauch von wichtigen wirtschaftspolitischen und außen-politischen Themen geprägt sein. Es wird um Fragen derneuen Nachbarschaftspolitik gehen und darum, dass wirmit Russland unsere Kooperation optimal fortsetzen.

Am 25. März 2007 blicken wir auf die europäischeErfolgsgeschichte zurück, die mit der Unterzeichnung

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Dr. Angelica Schwall-Düren

der Römischen Verträge vor 50 Jahren ihren Anfangnahm. Frieden, Stabilität und Wohlstand wurden hart er-arbeitet und erstritten. Der Jahrestag bietet die Möglich-keit einer europäischen Standort- und Zielbestimmung.Angesichts des historisch Erreichten sind wir in derPflicht, uns im weltpolitischen Maßstab neu zu verorten,alte Denkmuster vielleicht zu erneuern und den Blick aufdie politische Verantwortung Europas nach innen undaußen zu schärfen. Die von Außenminister Steinmeier„Generation Europa“ genannten jüngeren Menschen er-warten zu Recht Klarheit über den zukünftigen politi-schen Rahmen des europäischen Gesellschaftsmodells.

Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Schwall-Düren, ich mache Sie nur darauf

aufmerksam, dass Sie jetzt auf Kosten Ihrer Kollegensprechen.

Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Ich komme zum Schluss. – Diese Klarheit können wir

nur gemeinsam mit unseren Partnern erreichen. Deswe-gen gilt auch heute noch das Wort von Willy Brandt amEnde seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969:

Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn … werdenim Inneren und nach außen.

Das werden wir mit dieser Regierung auch bleiben.

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Super!)

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Beauftragte für die Angelegenheiten

der Kultur und Medien, Herr Staatsminister BerndNeumann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Bernd Neumann, Staatsminister bei der Bundes-kanzlerin:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieBundesregierung wird der besonderen Stellung der Kul-tur in unserer Gesellschaft und ihrer Verantwortung fürdie europäische Kulturnation auch mit dem diesjährigenKulturetat gerecht. Für uns gilt: Kulturförderung istkeine Subvention, sondern Investition in die Zukunft. Sohaben wir es in den Koalitionsvertrag geschrieben undso handeln wir.

Die Bundesregierung hat den Kulturhaushalt für dasJahr 2007 im Vergleich zu den im Vorjahr zur Verfügungstehenden Mitteln erneut erhöht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Sie hat damit deutlich gemacht, wie ernst sie die Förde-rung von Kunst und Kultur in Deutschland auch ange-sichts der schwierigen Haushaltslage nimmt. Dies kann

im Übrigen vielen Bundesländern und Kommunen, dieihre Haushalte kürzen, als Beispiel dienen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Meine Damen und Herren, ich sehe es als meine be-sondere Aufgabe an, trotz der Notwendigkeit drastischerSparmaßnahmen im Gesamthaushalt positive Rahmen-bedingungen für Kultur und Medien zu sichern und siedort, wo sie ungenügend sind, zu verbessern. Hierkonnte die Bundesregierung in den vergangenen Mona-ten Beträchtliches erreichen. Ich erinnere an die Beibe-haltung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Kul-turgüter, an das Folgerecht für den Kunsthandel, an dieUmsetzung der UNESCO-Konvention zum Schutz vonKulturgut, an die Beseitigung der unseligen Bagatell-klausel im Urheberrecht, daran, dass wir die DeutscheNationalbibliothek zukunftsfähig gemacht haben, an denNeubau des Literaturmuseums der Moderne in Marbachund nicht zuletzt an den Haushalt 2006, in dem wir fürden Kulturbereich im Verhältnis zu 2005 ebenfalls eineSteigerung zu verzeichnen hatten.

Mit diesem Haushaltsentwurf 2007 und dem Finanz-plan 2010 setzt die Bundesregierung insgesamt – HerrSteinbrück hat das gestern ausgeführt – ihren Haushalts-konsolidierungskurs fort. Gleichwohl konnte ich denUmfang des Kulturhaushalts steigern.

In einigen Bereichen konnten wichtige Erfolge erzieltwerden. Nicht immer lassen sie sich so konkret beziffernwie bei der Förderung des deutschen Films, die dasKabinett vor der Sommerpause beschlossen hat. Wie imKoalitionsvertrag festgelegt, werden unter dem Titel„Anreiz zur Stärkung der Filmproduktionen in Deutsch-land“ ab 2007 für die Dauer der Legislaturperiodejährlich 60 Millionen Euro für ein neues Konzept zurFilmfinanzierung zur Verfügung gestellt. Das ist ein fan-tastischer Erfolg für den Erhalt der Filmkultur und fürdie Filmwirtschaft in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Hier bedanke ich mich ausdrücklich bei FinanzministerPeer Steinbrück, der mich nicht gehindert hat, dies zu er-reichen, sondern der mich dabei unterstützt hat. Das istungewöhnlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:Das Lob hört er nicht mehr! Er ist schon ge-gangen! Aber man kann ihn nie genug loben!)

Damit erfüllt die Bundesregierung den im Koalitionsver-trag formulierten Auftrag, international wettbewerbsfä-hige, mit anderen EU-Ländern vergleichbare Bedingun-gen für unsere Filmwirtschaft zu schaffen. UnsereMaßnahme ist ein Bekenntnis zum deutschen Film. Er-folg und Qualität deutscher Filme in der letzten Zeitrechtfertigen, so denke ich, dieses Bekenntnis.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Ein weiteres Bekenntnis der Bundesregierung gilt derDeutschen Welle. Für sie ist die Zeit der unverhältnis-mäßigen Sparauflagen vorbei. Der Auslandssender ist

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Staatsminister Bernd Neumann

für die Bundesregierung nach wie vor Deutschlandswichtigster Kulturbotschafter in der Welt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Der Sender kann sich jetzt, wie der Haushalt 2007 be-weist, auf eine aufgabengerechte Finanzierung durch dieBundesregierung verlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hateine weitere wichtige Haushaltsentscheidung für dieKultur getroffen, die ab 2008 und in den Folgejahrenwirksam werden kann: Der Bund wird sich mit bis zu50 Millionen Euro an der Sanierung der StaatsoperUnter den Linden in Berlin beteiligen. Diejenigen, dieden Zustand des historisch wertvollen Gebäudes kennen,wissen, dass hier dringend gehandelt werden muss. Ber-lin sieht sich allein nicht in der Lage, diese Aufgabe zubewältigen.

(Beifall bei der CDU/CSU – WolfgangBörnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das ist be-dauerlich! – Weiterer Zuruf des Abg. OttoFricke [FDP])

Der Bund kommt damit seiner Mitverantwortung für diekulturelle Ausstrahlung seiner Hauptstadt wie auch derVerpflichtung für die Kulturnation Deutschland vorbild-lich nach.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Meine Damen und Herren, ich habe nur drei Beispielewegen ihrer besonderen finanziellen Dimension heraus-gehoben. Unser Haushalt hat im Regierungsentwurf2007 einen Gesamtumfang von rund 1,1 MilliardenEuro. Wir haben zwar als Beitrag zur Haushaltskonsoli-dierung eine globale Minderausgabe von rund 17 Millio-nen Euro zu erbringen, aber der Gesamtrahmen desHaushalts stellt sicher, dass wir auch in Zukunft unser fi-nanzielles Engagement bei Einrichtungen und Projektenvon gesamtstaatlicher Bedeutung fortsetzen können. Dasgilt für die kulturellen Leuchttürme in den neuen Bun-desländern ebenso wie für die bedeutenden Museen, dieGedenkstätten und die vielen innovativen Projekte in Li-teratur, Musik, darstellender und bildender Kunst.

Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir abschlie-ßend ein Wort zu einem Vorgang, der mich auch persön-lich sehr beschäftigt. Ich bedauere außerordentlich diedurch eine deplacierte Rede meines Abteilungsleiters beider Eröffnungsveranstaltung des Kunstfestes Weimarausgelösten Irritationen und die Betroffenheit, insbeson-dere bei den Opfern des KZ Buchenwald. Es war unver-zichtbar, bei einem solchen Anlass in jedem Falle derOpfer von Buchenwald würdig zu gedenken. Dies istHerrn Professor Schäfer klar; sein Versäumnis war eingroßer Fehler. Wer Herrn Professor Schäfer und seineArbeit als Historiker und langjähriger erfolgreicher Di-rektor des Hauses der Geschichte kennt, kann allerdingskeinen Zweifel an seiner politischen und moralischen In-tegrität haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus dieserRede eine inhaltliche Veränderung der Gedenkstätten-politik des Bundes im Hinblick auf die Bewertung undAufarbeitung der NS-Diktatur abzuleiten, ist völlig ab-wegig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Hier steht die Bundesregierung in der Kontinuität ihrerVorgängerregierung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Die NS-Diktatur und der durch sie verursachte Holo-caust sind in ihrer menschenverachtenden, grausamenDimension einzigartig und durch nichts zu relativieren.Die Erinnerung hieran wach zu halten, bleibt eine he-rausragende Aufgabe unserer Gedenkstättenpolitik. Hiergehe ich von Ihrer aller Unterstützung aus.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin

Jochimsen das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst herzlichen Dank, Herr Staatsminister, dass Siedie Gelegenheit hier genutzt haben, auf die Vorfälle undVorgänge anlässlich des Kunstfestes in Weimar einzu-gehen. Allerdings muss ich sagen: In der Weise, wie Siedas getan haben, ist genauso wenig Klärung herbeige-führt worden wie durch Ihr Bedauern, das Sie nach denÄußerungen und der Entschuldigung von Herrn Profes-sor Schäfer zum Ausdruck gebracht haben. Wiedermussten wir hören, dass vor allen Dingen bedauert wird,dass Überlebende des Holocaust durch Äußerungen, wiesie Herr Professor Schäfer gemacht hat, verletzt wurden.Sie haben kein Wort zum Grundsatzthema „GedächtnisBuchenwald“ gesagt,

(Widerspruch bei der CDU/CSU – WolfgangBörnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Doch, hat ergesagt! Er hat zur Erinnerungskultur Stellunggenommen! Ganz deutlich!)

gegen das Herr Professor Schäfer in Weimar angeredethat. Für das Verfehlen, nicht darauf eingegangen zu sein,hat er sich bisher nicht entschuldigt.

(Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Börnsen[Bönstrup] [CDU/CSU]: Lesen Sie die Rededes Staatsministers noch einmal nach! Das istunzutreffend!)

Ich möchte an dieser Stelle deutlich klarstellen: Auchwenn auf dieser skandalösen Veranstaltung in Weimarkein einziger Überlebender anwesend gewesen wäre,

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Dr. Lukrezia Jochimsen

wäre die Rede von Professor Schäfer genauso provozie-rend und nicht hinnehmbar gewesen, wie sie es war.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

In einigen Jahren werden wir die Situation haben, dassleider niemand mehr da ist, der zu den Überlebendenzählt. Deswegen ist es so wichtig, uns mit dem Thema„Gedächtnis Buchenwald“ auseinander zu setzen unduns auch dann zu entschuldigen, wenn wir gegen dasGedenken an Buchenwald verstoßen, und nicht nurdann, wenn wir Menschen, die betroffen sind, verletzen.Darum geht es.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Entschuldigung von Herrn Professor Schäfer, dieWorte des Staatsministers bisher und eben zu diesemThema waren dem nicht angemessen.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:Sie waren ausgewogen und gut! – SteffenKampeter [CDU/CSU]: Die Worte des Staats-ministers waren untadelig!)

Jetzt möchte ich mich mit dem Kulturetat und denKulturinvestitionen auseinander setzen. Kultur sei eineInvestition in die Zukunft. Von diesem Grundsatz derBundeskanzlerin, die leider nicht mehr da ist

(Zurufe von der CDU/CSU: Doch! – Sie sitzt da hinten!)

– ach, da ist sie –, ausgehend, den der Staatsminister ge-rade wiederholt hat, möchte ich die Haushaltsdebattenutzen, um Regierung und Parlament

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Zu danken!)

einen Kulturinvestitionsvorschlag zu machen, der bit-ter notwendig ist.

Gestern hat der Finanzminister von diesem Pult ausverkündet, alle zurückfließenden Milliarden müssten umunserer Kinder und deren Zukunft willen zum Abbau un-serer staatlichen Schuldenlast verwandt werden. Das istein richtiger Satz. Trotzdem kann ich ihn nicht mehr hö-ren, wenn ich bedenke, was den Kindern dadurch in zu-nehmendem Maße in unserem Land vorenthalten wird:

(Beifall bei der LINKEN)

wahrhafte Teilhabe und Teilnahme an der großartigen,vielfältigen Kultur unseres Landes. Die kulturellen Defi-zite der Kinder und Jugendlichen sind beängstigend; alleUntersuchungen bestätigen dies. Dem muss endlich et-was entgegengesetzt werden.

Deshalb mein Vorschlag: Nehmen Sie 1 MilliardeEuro aus den zurückfließenden Geldern

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was sind zurückfließende Gelder?)

und setzen Sie ein Programm „Kultur für Kinder“ auf,

(Beifall bei der LINKEN)

so wie die Vorgängerregierung dies für Ganztagsschulengetan hat.

Geben Sie den Kindern, die zu Hause keine Bücher,keine Möglichkeiten zum Musizieren und Gestalten ha-ben, die Chance, in ihrem unmittelbaren Umfeld Musik-und Malschulen, Theater- und Tanzgruppen zu finden,ebenso wie Bibliotheken mit Lesezirkeln und -wettbe-werben, Film-, Video- und Computerclubs unter kreati-ver Anleitung, Museen als ständige Erfahrungsorte undKunsthandwerksstätten.

(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: In Berlin haben wir das bereits!)

– „In Berlin haben wir das“; der Einwurf kommt sehr zuRecht.

Kultur für Kinder überall und überall in gleichen Ma-ßen – auf dem Land, in den Städten und in den Problem-vierteln: Darum geht es.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist aller-dings nicht Aufgabe des Bundeshaushalts,Frau Kollegin!)

Dort, wo es das gibt – wie in Berlin, Frau Kollegin –,muss es erhalten bleiben; wo es immer weniger wird– wie in Thüringen zum Beispiel –, muss es wiederher-gestellt werden; wo es fehlt – das ist vielerorts in unse-rem Land der Fall –, muss es endlich eingerichtet wer-den.

(Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter[CDU/CSU]: Was hat das mit dem Bundes-haushalt zu tun?)

Das wäre eine Investition in die Zukunft.

Verweisen Sie jetzt bitte nicht auf die Kulturhoheitder Länder.

(Zuruf von der SPD: Doch! – WolfgangBörnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das gehörtdazu!)

Die Landesregierung möchte ich nämlich sehen, die daGeld vom Bund ablehnt.

(Widerspruch bei der CDU/CSU – SteffenKampeter [CDU/CSU]: Nur ein kleiner Ver-fassungsbruch, Frau Jochimsen!)

Die Eltern und die Kinder werden das nicht mitmachen;

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ein süßerkleiner Verfassungsbruch! – Wolfgang Börnsen[Bönstrup] [CDU/CSU]: Populistische Mär-chenstunde!)

die Wählerinnen und Wähler werden das nicht mitma-chen. Sie werden es einfordern.

(Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Börnsen[Bönstrup] [CDU/CSU]: Das geht an derWirklichkeit vorbei!)

Denken Sie auch daran, dass Sie damit Arbeit schaf-fen würden, kostbare, kreative Arbeit. So viele jungequalifizierte Fachleute für Musik, Theater, bildendeKunst, Film, Kunsthandwerk warten auf Aufgaben und

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Dr. Lukrezia Jochimsen

die Chance, mit ihrem Können auch ihren Lebensunter-halt zu finanzieren.

Vizepräsidentin Petra Pau: Frau Kollegin Jochimsen, die Debatte darüber müssen

wir in die Ausschüsse verweisen. Sie müssen zumSchluss kommen.

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Ein Programm für Kinder, Jugendliche und junge

kreative Frauen und Männer wäre ein nationales Signal,das unser Land als wahre moderne Kulturnation aus-zeichnen würde.

Zum Schluss folgender Satz:

Man kann mit Politik keine Kultur machen, abervielleicht mit Kultur Politik.

Erinnert sich noch jemand, wer das gesagt hat? – Es warTheodor Heuss, der erste Bundespräsident. Das wäreauch eine Verpflichtung für uns heute.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN – Otto Fricke [FDP]: Das war das einzig Liberale an der Rede!)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Monika

Griefahn das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Monika Griefahn (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! Der Haushaltstitel für Kultur undMedien ist mit einem Anteil von 0,4 Prozent am Ge-samthaushalt sehr klein.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das schmä-lert aber nicht seine hohe Bedeutung!)

Deswegen müssen wir umso sensibler mit den einzelnenPosten umgehen, gerade wenn uns – das haben Sie, HerrStaatsminister, angekündigt – die globale Minderaus-gabe trifft. Denn die vielen kleinen Projekte wären viel-leicht gar nicht mehr lebensfähig, wenn die Mittelgekürzt würden. Gerade diese vielen kleinen soziokultu-rellen Projekte, die Erziehungsprojekte, die musikali-schen Projekte – Sie haben sie erwähnt, FrauJochimsen – sind nämlich besonders wertvoll.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aber nicht im Bundeshaushalt!)

Das müssen wir uns noch anschauen.

Wir werden uns im Bundestag und auch im Kultur-ausschuss sehr intensiv mit den politischen Schwerpunk-ten beschäftigen. Auch da müssen wir schauen, wie dieKürzungen umgesetzt werden.

Herr Staatsminister Neumann hat aber auch auf posi-tive Aspekte hingewiesen. Ich möchte an dieser Stellemeinen Dank sowohl an den Staatsminister als auch anden Finanzminister dafür richten, dass die zusätzlichen

60 Millionen Euro für die Filmförderung im Haushalteingeplant worden sind. Das ist nicht nur eine Chancefür das Kulturgut „deutscher Film“, sondern auch für dasWirtschaftsgut „deutscher Film“. Damit werden ja auchArbeitsplätze gesichert. Ich finde es prima, dass wir hierdiese Kombination hinbekommen haben.

(Beifall bei der SPD)

Diese Chance bietet sich auch an anderen Bereichen.Ich denke da an die Computerspiele. Vor zwei Wochenist die Computerspielmesse „Games Convention“, dieeinen riesigen Ansturm erlebt hat, zu Ende gegangen. Eskamen nicht nur mehr Menschen, als erwartet wordenist; es kamen im Durchschnitt auch ältere Besucher undmehr Mädchen und Frauen als in den letzten Jahren.

Inzwischen kann keiner die gesellschaftliche und kul-turelle Bedeutung von Computerspielen ignorieren.Auch die wirtschaftliche Bedeutung ist wesentlich. DerUmsatz der Computerspielindustrie beträgt 1,5 Milliar-den Euro – das ist einer der größten Märkte in Europa –und übersteigt sogar den Umsatz der Filmindustrie. Eswerden aber weniger als 10 Prozent der Spiele von deut-schen Herstellern entwickelt, obwohl gerade diese häu-fig qualitativ besonders gut sind. Das muss man aucheinmal hervorheben. Deswegen sollten wir dies unter-stützen. Das heißt, wir müssen von der Killerspielede-batte wegkommen. Es steht außer Frage, dass geltendeKinder- und Jugendschutzregeln eingehalten werdenmüssen. Dafür haben wir uns auch eingesetzt. Ichglaube, dass die USK, die Unterhaltungssoftware Selbst-kontrolle, insgesamt sehr gut funktioniert. Von insge-samt 2 686 geprüften Spielen wurde nur 30 wegen Ju-gendgefährdung keine Altersfreigabe erteilt. Ich finde esauch gut, dass die Bundesregierung klargestellt hat, dassmomentan kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf imStrafgesetzbuch gesehen wird.

(Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frank-furt] [FDP] sowie der Abg. Grietje Bettin[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das gibt uns die Möglichkeit zu schauen, wie wir dieseBranche unterstützen und welche Marktanreize wir ge-ben können. Ich denke zum Beispiel daran, dass einPreis für die besten Computerspiele ausgelobt werdenkann.

Herr Neumann, Sie haben auch die Deutsche Welleangesprochen. Ich freue mich, dass Sie sich dafür einge-setzt haben, dass im Kernhaushalt des Senders keineweiteren Einsparungen erfolgen sollen. Ich glaube aber,dass die Verringerung der Investitionen um 3 MillionenEuro schmerzhaft sein wird. Denn Investitionen in mo-dernste Technik sind in diesem Bereich sehr wichtig.

Wenn wir über politische Schwerpunktsetzungensprechen, muss auch die Frage der Integration, die in denletzten Wochen intensiver diskutiert wurde, behandeltwerden. Da leisten Kultur und Medien einen besonderswichtigen Beitrag. Ich erwähne das Projekt an der Rütli-Schule – dieses Projekt gibt es auch an vielen anderenSchulen, aber es ist durch die Rütli-Schule bekannt ge-worden –, das durch den Einsatz von Musik, Tanz und

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4518 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006

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Monika Griefahn

Theater zu einer wesentlich besseren Stimmung in derSchule beigetragen hat.

(Beifall bei der SPD)

Es gibt auch türkische Rapgruppen, die eine gute Ver-mittlerrolle spielen. Das sind Projekte zur Integration,die wir sehr stark fördern müssen.

Zu einem funktionierenden Zusammenleben gehörtdas wechselseitige Verstehen kultureller Unterschiede.Eine gezielte Förderung von interkultureller Kultur-arbeit und der Kulturarbeit von Migrantinnen undMigranten sowie – das ist das Wichtigste, was aber nochzum Teil fehlt – die Einbindung der Migrantinnen undMigranten in bestehende Strukturen ist eine wichtigebundespolitische Aufgabe. Da müssen wir noch stärkerKultur und Medien mit einbeziehen; wir dürfen nicht nurüber andere Bereiche diskutieren, wie das häufig der Fallist.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte in diesem Zusammenhang auch auf die so-ziokulturellen Zentren hinweisen. Für diesen Bereichgibt es eine Bundesförderung. Wir sollten hier einmalanerkennen, dass mit wenigen Mitteln vor Ort viel ge-leistet wird.

(Beifall bei der SPD)

Zu nennen ist auch die Kulturstiftung des Bundes, dieeine wichtige Bedeutung für die Vermittlung zwischenden Kulturen hat. Aus Mitteln des Fonds Soziokultur,der Stiftung Kunstfonds und des Deutschen Literatur-fonds werden viele Projekte gefördert, die einerseits in-novativ und von gesamtstaatlicher Bedeutung sind, dieandererseits im internationalen Kontext wesentlich zu ei-ner weltoffenen Vermittlung von Kunst und Kultur bei-tragen.

Auch die Finanzierung von Einzelprojekten ist wich-tig – wie die Deutsche Akademie Villa Massimo in Rom,das Deutsche Studienzentrum in Venedig oder die VillaAurora in Los Angeles und in Berlin –, weil diese dia-logfördernd sind: Verschiedene Künstler aus verschiede-nen Ländern kommen zusammen, tauschen sich aus undsind hinterher Multiplikatoren in ihren Ländern. DieseZusammenarbeit zu verstärken und mit den anderendeutschen Institutionen, die wir im Ausland haben, zuvernetzen, ist eine wichtige Aufgabe und wird jetzt an-gegangen. Zwischen Goethe-Institut und der Villa Au-rora wird beispielsweise eine ganz enge Kooperation an-gestrebt.

Die Verständigung über Zukunft – das ist in den letz-ten Wochen deutlich geworden – ist abhängig von demWissen über Vergangenheit. Deswegen ist es sehr wich-tig, dass wir uns immer wieder vergegenwärtigen, wel-che Einrichtungen wir haben, die uns die Vergangenheitdeutlich machen, und welche pädagogische Arbeit dortgeleistet wird. Vor diesem Hintergrund müssen wir Ge-denkstätten, Gedenkorte, Museen, Institutionen und Pro-jekte, die Geschichte veranschaulichen und die Erinne-rung plastisch machen, ausreichend finanziell ausstatten.Ich glaube, wir haben mit unserem Gedenkstätten-konzept dafür eine sehr gute Grundlage geschaffen. Wir

haben wichtige Einrichtungen für das Gedenken an dieNS-Diktatur, die wir ausreichend finanzieren müssen.Ich danke in diesem Zusammenhang StaatsministerNeumann, der auch in diesem Hohen Hause klargestellthat, dass das ein wichtiger Schwerpunkt unserer Arbeitist.

Hinzu kommen neue Projekte. Wir diskutieren überdie Frage, wie man die SED-Diktatur am besten aufar-beiten kann. Diese Frage wird uns im nächsten Jahr si-cherlich sehr intensiv beschäftigen.

(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Ganzwichtig! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]:Sehr gut!)

Der Berliner Senat hat uns ein Konzept zum Geden-ken an die Mauer vorgelegt, das auf eine Initiative vonAbgeordneten aller Fraktionen des Deutschen Bundesta-ges zurückgeht. Es entstand sozusagen im Auftrag desBundestages. Deswegen müssen wir uns daran beteili-gen und gemeinsam dafür sorgen, dass dieses Projektprofessionell umgesetzt wird. Das Gedenken an dieMauer sollte nicht von irgendwelchen Initiativen wildrealisiert werden.

In den nächsten Jahren werden wir viel zu tun haben.Kunst und Kultur sollen im Bundestag einen festen Platzhaben. Sie sind nicht nur „Lebensmittel“; sie haben aucheine wichtige Funktion für das Verstehen und Verständi-gen. Vor allem in viel ärmeren Ländern ist der Wunschsehr groß, andere Kulturen kennen zu lernen und sichüber kulturelle Fragen auszutauschen. Das Goethe-Insti-tut hat diese Erfahrung in Afghanistan gemacht. In vie-len Ländern, in denen die Not sehr groß ist, ist derWunsch, sich über Kultur auszutauschen, sehr stark. Ichdenke, der Bundestag sollte das aktiv unterstützen. Da-rüber sollten wir konstruktiv diskutieren.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen

spricht nun die Kollegin Katrin Göring-Eckardt.

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Natürlich ist es gut, dass die kulturellen Projekte ineinem ersten Schritt mehr Geld bekommen. Dazu kannman ihnen nur gratulieren. Auch die Erhöhung der Bun-desfördermittel für den deutschen Film um 60 MillionenEuro ist sehr erfreulich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Auf der anderen Seite muss man trotzdem sagen – dassollte nicht verschwiegen werden –, dass dem auch Kür-zungen gegenüberstehen. Ich denke beispielsweise andie Leuchttürme Ost, das Bachhaus in Eisenach oder dieErnst-Barlach-Stiftung, denen am Ende ein Drittel weni-ger Geld zur Verfügung steht.

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Katrin Göring-Eckardt

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ist das eigentlich immer Bundesaufgabe, Frau Kollegin?)

Neben den Aufwüchsen muss meines Erachtens einanderer Aspekt, der im Koalitionsvertrag steht, insBlickfeld geraten, nämlich das, was Sie den Künstlerin-nen und Künstlern bezüglich ihrer Existenzgrundlageversprochen haben. Auf diesem Gebiet hat sich bishernichts getan. Wir stehen kurz davor, wieder von „brotlo-ser Kunst“ reden zu müssen. Es hilft nichts, wenn sichdie Künstler in einzelnen Projekten wieder finden. Esgeht um die Frage der sozialen Absicherung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man weiß, dass Künstlerinnen und Künstler, die vomArbeitslosengeld II leben, nicht auf der Suche nach ir-gendeinem Arbeitsplatz sind, sondern üben, Kunst ma-chen, sich selbst managen und versuchen, Aufträge zubekommen. Sie passen nicht in das Konzept der Bun-desagentur für Arbeit. Wir müssen dringend eine bessereLösung finden. Sie haben das im Koalitionsvertrag ver-sprochen. Das steht aber leider „nur“ im Kulturteil.Wenn man – wie ich es getan habe – beim Arbeitsminis-terium nachfragt, dann bekommt man von verschiedenenSeiten gesagt, man könne hier keinen Handlungsbedarferkennen. Ich finde, darüber sollten Sie sich mit dem Ar-beitsminister unterhalten. Hier muss sich tatsächlich et-was ändern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das Gleiche gilt für die Frage der Standortschließun-gen bei Künstlerdiensten und der Zentralen Bühnen-,Fernseh- und Filmvermittlung. Das fällt in den Zustän-digkeitsbereich der Bundesagentur für Arbeit. Für was,wenn nicht für die Vermittlung von Jobs, ist sie eigent-lich zuständig und mit welchem Recht sagt sie: Dasstreichen wir jetzt!? Herr Neumann, auch dazu hätte ichheute gerne etwas von Ihnen gehört. Denn dies ist einPunkt, an dem Sie das, was Sie im Koalitionsvertrag ver-sprochen haben, endlich in die Tat umsetzen müssen.

Ich will an dieser Stelle auf die Ereignisse beimKunstfest Weimar zu sprechen kommen, die mich inden letzten Wochen sehr beschäftigt haben. Dabei gehtes mir nicht nur um die Rede von Herrn Schäfer, sondernvor allem um das, was danach passiert ist. HerrNeumann, das bezieht sich übrigens auch auf Ihre heuti-gen Einlassungen. Sich hier nur hinzustellen und zu sa-gen, man bedaure die Irritationen, ist mir zu wenig. Ichbedaure die Rede, die dort gehalten wurde.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der LINKEN – Dr. Norbert Röttgen[CDU/CSU]: Sie wollen es nicht hören! Dasist die Wahrheit! – Weiterer Zuruf von derCDU/CSU: Was soll denn dieser Unsinn?)

Ich will genau wissen, welche Schlussfolgerungen Sieeigentlich daraus ziehen. Sich hier nur hinzustellen undzu sagen, dass Sie nichts anders machen, das reicht mirnicht. Frau Jochimsen hat darauf hingewiesen. Die Ent-schuldigungen wurden von Mal zu Mal immer schlim-mer. Dem Ganzen die Spitze aufgesetzt hat, dass Herr

Schäfer dann gesagt hat: Ja, wenn ich gewusst hätte, dassÜberlebende anwesend sind, hätte ich eine andere Redegehalten.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Wir werden bald in einer Zeit leben, in der es keineÜberlebenden mehr gibt und niemanden, der aus seinereigenen Erfahrung heraus über die Zeit des Holocaustberichten kann. Genau deswegen ist es so dringend undwichtig, dass wir uns um eine neue Erinnerungskulturund neue Schritte bemühen. Dazu haben Sie nichts ge-sagt. Das halte ich für einen riesigen Fehler, HerrNeumann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Man muss sich auch ansehen, welche Reaktionen vonanderer Seite diese Rede provoziert hat. Herr Neumann,Herr Schäfer hat in einer Pressemitteilung der NPD Un-terstützung bekommen.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:Was kann er denn dafür? An den Haaren her-beigezogen!)

Die laufen in Mecklenburg-Vorpommern damit herumund wollen deutlich machen, dass sich in der Bundesre-publik zum Glück etwas ändern wird. Ich will, dass wirin diesem Haus alle sehr deutlich sagen: Nein, daran än-dert sich nichts. Nein, wir haben unsere Verantwortungfür die Zukunft in die Hand genommen, aus der machenwir etwas, und gehen weitere Schritte, gerade was dieJugendlichen und die Kinder betrifft.

Die Fragen, die wir stellen müssen, lauten: Wie ma-chen wir das, wenn niemand mehr da ist, der aus eigenerErfahrung berichten kann?

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:Unsere Schulen machen seit 50 Jahren hervor-ragende Aufklärungsarbeit! Sehr verantwor-tungsbewusst!)

Wie machen wir das, wenn wir über angebliches Nicht-wissen und Mitläufertum reden? Wie können wir damitumgehen, sodass Kinder und Jugendliche das heute fürihre eigene Zukunft erfahren?

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:Es ist in allen Fachkanons vorhanden! Als obüberhaupt nichts passiert wäre!)

Herr Neumann, ich möchte, dass wir unsere Ge-schichte mit all ihren Aspekten weiter ernst nehmen.Dazu gehören auch die Vertreibungen. Aber ohne eineErinnerung in die Zukunft, ohne Klarheit, ohne Sensibi-lität und übrigens auch Wissen und Weitergabe von Wis-sen über die nationalsozialistischen Gräueltaten ver-lieren wir Zukunft.

(Zuruf von der CDU/CSU: Es hat keiner das Gegenteil gesagt!)

Vor allem verlieren wir einen ganz wichtigen Teil unse-res eigenen Selbstverständnisses und unserer eigenenIdentität.

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Katrin Göring-Eckardt

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der LINKEN sowie bei Abgeordnetender SPD)

Das bedeutet weit mehr als fröhliche Fähnchen am Autound vor allem ist es weit wichtiger.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der LINKEN und derSPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Olaf Scholz, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Olaf Scholz (SPD): Meine Damen und Herren! Ich möchte zum Schluss

ein paar kurze Bemerkungen machen, damit wir gleichin die nächste Debatte einsteigen können. Ich will Bezugauf die Debatte, die wir bisher geführt haben, nehmen.

Ich glaube, es war ein sehr berechtigter Vorwurf andie FDP, den Herr Kauder hier erhoben hat und der auchin anderen Reden vorkam.

(Otto Fricke [FDP]: Ja! Wir sind die Bösen!)

Es wurde gesagt: Passen Sie auf, dass Sie die durchausgroßen und wichtigen außenpolitischen Traditionen Ih-rer Partei nicht verspielen!

(Beifall bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle[FDP]: Meinen Sie Herrn Genscher, HerrnScheel oder Herrn Lambsdorff?)

– Ich meine Herrn Scheel, Herrn Genscher und HerrnKinkel. Das waren Vertreter der BundesrepublikDeutschland, die als Außenminister eine sehr verdienst-volle Politik gemacht haben, übrigens in mehrerenKoalitionsregierungen, an denen Sie beteiligt waren.

Es ist etwas schwierig. Man kann sich vorstellen, dassin ein paar Jahren Herr Scheel, Herr Genscher und HerrKinkel als Außenpolitiker und Außenminister dieser Re-publik zwar noch in Erinnerung sein werden, dass mansie aber nicht mehr mit der FDP in Verbindung bringenwird.

(Beifall bei der SPD)

Daher glaube ich, dass Sie da ein wenig aufpassen müs-sen. Ich denke nämlich, dass sich in den letzten Monatenbei den verschieden außenpolitischen Debatten, die wirgeführt haben, immer wieder etwas abgespielt hat, dasman, wenn man Zeitung gelesen und hier im Haus disku-tiert hat, wie folgt wahrnehmen konnte: Die Fachpoliti-ker entwickelten eine durchaus konstruktive politischeHaltung und dann kam Herr Westerwelle dazwischen.Damit muss man sich auseinandersetzen. Bei der Ent-scheidungsfindung hinsichtlich des Libanonmandates istÄhnliches zu beobachten. Ich jedenfalls habe schon ab-gewogenere Gedanken gehört als diejenigen, die nun fürdie Freie Demokratische Partei gelten sollen.

(Beifall bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ach, Leute!)

Im Übrigen glaube ich, es ist, wenn man eine Redemit der Erinnerung an gemeinsame Oppositionszeitenbeginnt, ganz gut, sich die Frage zu stellen, ob man nichtvielleicht auch gemeinsam mit dem ehemaligen Opposi-tionspartner etwas lernen kann. Hier wende ich mich anHerrn Brüderle, der einen Spruch aus der gemeinsamenOppositionszeit von FDP und Union wiederholt hat, vondem die Union heute weiß und sogar sagt, dass er nichtstimmte.

(Rainer Brüderle [FDP]: Aha!)

Ich rufe Sie dazu auf, sich dieser Erkenntnis anzuschlie-ßen.

(Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Welcher war das denn?)

Die Behauptung, die nicht stimmt, die aber in gewis-ser Wiederholung immer wieder auftaucht, lautet, dassdie Einzelunternehmen bzw. die Personenunterneh-men die Gebeutelten der Steuerreformen der Vergangen-heit gewesen seien, dass sie nicht entlastet worden seienund dass nun zuallererst für diese Gruppe etwas getanwerden müsse.

Heute wissen wir alle: Durch die Einkommensteuer-senkungen der letzten Jahre und die verbesserte Berück-sichtigung der Gewerbesteuer haben vor allem die Ein-zelunternehmen bzw. die Personenunternehmen und derMittelstand eine ganz deutliche Entlastung erfahren. Aufdieser Erfahrung und Gesetzgebung können wir heuteaufbauen.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass es auch fürSie gut wäre, sich mit der neuen Wirklichkeit auseinan-der zu setzen, die Erfolge der rot-grünen Koalition zurKenntnis zu nehmen und sich damit zu beschäftigen, wiewir die Steuerpolitik weiterentwickeln können, statt überetwas zu reden, was sich so, wie Sie es darstellen, garnicht ereignet hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Brüderle?

Olaf Scholz (SPD): Ja.

(Jörg Tauss [SPD]: Vorsicht, Herr Brüderle!Gefährliches Eis! – Petra Merkel [Berlin][SPD]: Ja, dünnes Eis! Ganz dünn!)

Rainer Brüderle (FDP): Lieber Kollege Scholz, wären Sie bereit, zur Kenntnis

zu nehmen, dass ich von der beabsichtigten Unterneh-mensteuerreform der Koalition und nicht von der Ver-gangenheit sprach?

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Olaf Scholz (SPD): Sie haben die Vergangenheit nie zur Kenntnis genom-

men und eine falsche Bewertung der geplanten Unter-nehmensteuerreform vorgenommen. Denn Sie haben so-wohl unberücksichtigt gelassen, dass wir auch für diePersonenunternehmen noch etwas tun werden – das istübrigens in allen Beschlüssen der Regierung bzw. derKoalition zu diesem Thema nachzulesen –, als auch au-ßer Acht gelassen, dass die Steuersatzsenkungen derVergangenheit insbesondere dem Mittelstand große Ent-lastungen gebracht haben.

Der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer istvon 52 Prozent auf 42 Prozent gesunken,

(Otto Fricke [FDP]: Der ist doch längst schon wieder hochgegangen!)

der Eingangssteuersatz ist ebenfalls gesunken und dieAnrechnung der Gewerbesteuer wurde neu geregelt undverbessert. Darum glaube ich, dass es richtig ist – vor al-lem für eine Partei, die sich dem Mittelstand verpflichtetfühlt –, zu sagen: Der Mittelstand steht zu Recht im Mit-telpunkt der Politik der Regierung. Das gilt für die Poli-tik der vorigen Regierung wie auch für die Politik dieserRegierung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]:Vor allem aber für diese! – Dr. GuidoWesterwelle [FDP]: Meint ihr das Antidiskri-minierungsgesetz oder was?)

Meine Damen und Herren, ich will nicht lange auf dieAusführungen von Herrn Lafontaine eingehen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das wäreauch verschwendete Zeit, Herr Scholz! –Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Nein! Dasist wirklich nicht nötig!)

Aber ich will etwas zu der Idee sagen, dass vonseiten derRegierung etwas unternommen werden müsse, um denKonsum auf irgendeine Weise zu fördern. Das allesklingt nach groß angelegten Konjunkturprogrammen.

Wenn man über solche Fragen diskutiert, macht esschon Sinn, sich zu überlegen, was man eigentlich will.Wir haben im Zusammenhang mit der Gebäudesanie-rung neue Möglichkeiten geschaffen, die sich massivausgewirkt haben, und die steuerliche Absetzbarkeit vonHandwerkerrechnungen eingeführt. Dadurch wollten wirdie Menschen dazu bringen, von der Schwarzarbeit zu-gunsten legaler Arbeit Abstand zu nehmen,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

und darüber hinaus die wirtschaftliche Belebung unter-stützen.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Genau!)

Das waren wirksame Programme, durch die der Mittel-stand, die Wirtschaft, die Konjunktur und der Konsum inDeutschland gefördert wurden.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hier hatScholz Recht! Eindeutig!)

Im Zusammenhang mit der Körperschaft- und Unter-nehmensteuerreform diskutieren wir darüber, wie wirdafür sorgen können, dass die Gemeinden dabei ordent-lich wegkommen.

(Ulrich Maurer [DIE LINKE]: Was heißt denn „ordentlich“?)

Auch das ist für unsere Konjunktur sehr wichtig. Dennin den Gemeinden werden die für unser Land zentralenInvestitionen getätigt.

Die abstrakte Forderung nach einem Konjunkturpro-gramm kann man sich leicht ausreden.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Oh ja!)

Ich empfehle Ihnen, einmal den Hamburger oder denBremer Hafen zu besuchen und sich die Planungen fürden neuen Hafen in Wilhelmshaven anzuschauen. ImWesentlichen sind es nämlich die großen Häfen inDeutschland, die von konsumfördernden Konjunktur-programmen profitieren. Mit der Frage, ob wir Arbeits-plätze in Taiwan, Südkorea oder Vietnam schaffen soll-ten, muss sich Herr Lafontaine schon auseinandersetzen, wenn er solche Forderungen in den Raum stellt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Oh ja! Was füreine kluge Forderung! Eine sozialdemokrati-sche Position!)

Es wurde nicht dadurch klüger, dass die letzte Rednerinder PDS diese eigenwilligen Vorstellungen mit einerMilliarde, die sie sich heute Morgen beim Frühstückausgedacht hat, gestalten will. Sie hat gefordert, dieseeine Milliarde zusätzlich für Kulturleistungen auszuge-ben. Ich glaube, der geringe Ernst einer solchen Debatteist offensichtlich und muss nicht weiter vertieft werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist bereits viel geschafft worden. Ich nenne dasStichwort Föderalismusreform. Für manchen Kritikerunerwartet haben wir ein schwieriges Gesetz zustandegebracht.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da waren wir gut!)

Wir haben aber auch bereits viel im Zusammenhang mitdem Abbau von Steuersubventionen erreicht.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Sie lassen das in Ihren Reden immer außer Acht, weilSie sich ausschließlich auf die Steinkohle beziehen. Ha-ben Sie denn nur Steinkohle vor den Augen? Tatsächlichgibt es über die Kohlesubventionen hinaus seit Jahreneine ganze Reihe von Steuersubventionen, die nicht ab-gebaut wurden, weil es nicht möglich war, Mehrheitendafür zu finden, die sowohl im Bundestag als auch imBundesrat gehalten hätten.

Ich bin daher froh, dass wir es bereits geschafft ha-ben, zahlreiche Steuersubventionen, die fast jede Parteiin diesem Hause hin und wieder einmal abschaffenwollte, abzubauen. Wir haben damit das getan, was die

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Olaf Scholz

Bürgerinnen und Bürger von der großen Koalition er-warten. Sie erwarten von uns, dass wir die Dinge, überdie wir uns einig sind, auch wirklich umsetzen. An die-ser Stelle ist uns das gelungen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Deshalb ist es schlecht, wenn Sie an der Idee vom Be-ginn dieses Jahres, zur Mehrwertsteuer reden zu wol-len, festhalten, obwohl das diesbezügliche Gesetz bereitsbeschlossen worden ist.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Alte Rede!)

Diese Idee ist nicht gut; denn die schwierigen Verände-rungen, die wir gemeinsam vornehmen wollten, habenwir bereits eingeleitet. Man wird Ihnen nicht zuhören,wenn Sie weiterhin Ihre alten Reden halten.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Wir kommen deshalb zum Geschäftsbereich des Aus-wärtigen Amtes, Einzelplan 05.

Das Wort hat der Bundesaußenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abge-ordnete! Auf den fünften Jahrestag der schrecklichen Er-eignisse von New York ist bereits hingewiesen worden.Deshalb möchte ich nicht darauf zurückkommen.Gleichwohl möchte ich daran erinnern, dass sich seitdiesem Tag vieles verändert hat. Auch den letztenZweiflern ist klar geworden, dass spätestens seit dem11. September 2001 Außenpolitik mehr und mehr zurWeltinnenpolitik geworden ist. Klar ist auch: Friedenund Wohlstand in Deutschland hängen immer mehr da-von ab, wie es der übrigen Welt ergeht.

Terroranschläge irgendwo auf der Welt können dieWeltwirtschaft insgesamt in Mitleidenschaft ziehen.Heute reden wir über den Bundeshaushalt. Deshalbmöchte ich darauf hinweisen, dass auch die Zahlen einesBundeshaushaltes durch Ereignisse, wie beispielsweisedie Krise im Nahen Osten, schlagartig Makulatur wer-den können. Mit Blick auf die jüngsten Ereignisse inDeutschland sage ich, dass wir die Gefahren in Regio-nalzügen und S-Bahnen nicht vollständig ausschließenkönnen. Ein weiteres Beispiel sind die Bürgerkriege inAfrika. Sie lösen Flüchtlingsströme aus, die Europa,auch uns, erreichen. Das macht deutlich: Es gibt keineentfernten Weltregionen mehr. Bei uns in Deutschlandleben Menschen aus allen Regionen und Nationen. Da-mit sind wir von Ereignissen in den Heimatländern die-ser Menschen direkt betroffen.

Wir als Exportnation betreiben Handel mit fast je-dem Land der Erde. Deshalb haben wir ein ganz beson-

deres Interesse an stabilen, friedlichen Verhältnissenüberall auf der Welt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Hinzu kommt: Die Deutschen machen Urlaub in fastjedem Winkel der Welt. Darum wird fast jedes Unwetter,zumindest jede größere Katastrophe, auch ein Fall fürdas Auswärtige Amt. Wir versuchen, uns mit unsererAußenpolitik auf diese veränderten Bedingungen einzu-stellen, wir Deutsche mitten in Europa, auf einer Inselvon Frieden, Wohlstand und Stabilität in einer leiderziemlich unfriedlichen, ziemlich oft ungeordneten Weltringsum. Welchen Schluss ziehen wir daraus? Ichglaube, nicht den von Oskar Lafontaine, den der Ohne-mich-Haltung,

(Beifall bei der SPD)

ganz im Gegenteil: Ich glaube, dass für uns aus unserererfreulichen Situation hier in Mitteleuropa Verantwor-tung erwächst. Aus den Erwartungen, die viele Men-schen aus allen Regionen an uns richten, erwächst ausmeiner Sicht aber nicht nur Verantwortung, sondernauch Verpflichtung, nämlich die Verpflichtung, sich nachKräften auch für Stabilität, Frieden und Demokratie indiesen Regionen einzusetzen, da, wo die eigenen Mittelzur Konfliktlösung ganz offenbar nicht ausreichen. Wirwissen seit vielen Jahren: Es gibt leider zu viele solcherRegionen. Ich sage das vorab, weil ich glaube, dass mannur so begründen kann, warum wir uns im Libanon undim Nahen Osten engagieren wollen, natürlich nicht al-lein, sondern Seite an Seite mit unseren europäischenPartnern. Wir sollten bei der Diskussion hier im Deut-schen Bundestag auch nicht vergessen, dass der Waffen-stillstand, der Gott sei Dank – wenn auch fragil – einge-halten wird, ganz wesentlich auch mit europäischer Hilfezustande gekommen ist.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Bei aller Kritik an Europa und an europäischen Ent-scheidungsprozessen will ich hinzufügen: Wer war dennam Ende schneller bei der Zusammenstellung einer Frie-denstruppe? Die Europäer sind doch die Ersten gewesen,die mit dem Angebot von 7 000 Soldaten die Vorausset-zung dafür geschaffen haben, dass aus diesem fragilenZustand eine möglichst dauerhafte Lösung wird; sonstwürde im Nahen Osten noch heute gekämpft.

Ich bin der Meinung, die Bundeswehr sollte gemein-sam mit Soldaten anderer Länder dafür sorgen, dass dieWaffen in dieser Region auch in Zukunft schweigen.Konkreter haben wir wohl noch nie sowohl – aber nichtnur – das Existenzrecht Israels schützen als auch unse-rem Interesse an Stabilität in der gesamten Region desNahen Ostens Nachdruck verleihen können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das sage ich auch, weil ich der Meinung bin, das hatnicht das Geringste mit einer Militarisierung der Außen-politik zu tun. Ich finde, das Gegenteil ist richtig:

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

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Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier

Europäische Soldaten, vielleicht auch deutsche, könntenihren Beitrag dazu leisten, dass der Frieden im NahenOsten wieder eine Chance erhält. Wir könnten die Vo-raussetzungen dafür schaffen, dass die Tür zu einer Fort-setzung des Nahostfriedensprozesses wieder geöffnetwird. Wir sind natürlich klug genug, um zu wissen, dassdas nicht allein mit Soldaten erfolgen kann. Deshalbkommt es darauf an, einen möglichst klugen Mix aus mi-litärischem Beitrag auf der einen Seite – natürlich – und– natürlich auch – humanitärer Hilfe und unseren Ange-boten zum Wiederaufbau im Libanon auf der anderenSeite zu schaffen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ähnlich handeln wir auch in Afghanistan. Damit wiruns nicht missverstehen: Ich bin – das habe ich seit mei-ner Rückkehr aus Afghanistan gesagt – gegen jedesSchönreden der dortigen Situation. Die Situation, erstrecht vor Ort betrachtet, gibt in der Tat immer noch An-lass zu Sorge, in manchen Regionen Afghanistans sogarAnlass zu wachsender Sorge. Ich sage dennoch: Nach23 Jahren Krieg und Bürgerkrieg in diesem Land ist dortetwas in Gang gekommen: eine gewisse Stabilisierungpolitischer Institutionen. Die Flüchtlinge können Gottsei Dank wieder in ihr Land zurückkehren, auch wenn anmanchen Stellen vielleicht mehr zurückkehren, als dasLand vertragen kann: Kabul hat eine Infrastruktur füretwa 1 bis 1,5 Millionen Menschen; jetzt leben circa4 bis 4,5 Millionen Menschen dort. Insofern kann esnicht erstaunen, dass die Versorgungssituation mehr alsnur schwierig ist.

Wir tun mehr, als nur unseren militärischen Beitrag zuleisten. Wir leisten Hilfe zur Wiederherstellung der Was-serversorgung und der Elektrizitätsversorgung. Wie Siewissen, tun wir das gerade nicht nur mit Soldaten, son-dern auch mit Regierungsberatern, Lehrern und Ent-wicklungshelfern. Ich war froh, bei meinem Besuch zusehen, dass eine Schule mit insgesamt 7 000 Schülerin-nen jetzt sogar um einen naturwissenschaftlichen Zweigerweitert wird. Ich finde, diese Ergebnisse dürfen wirnicht durch verantwortungslose Diskussionen in der Öf-fentlichkeit preisgeben.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich weiß sehr wohl, dass einer der umstrittenstenPunkte hier im Bundestag unser Engagement im Kongowar und ist. Wir wollen nicht so tun, als sei das Engage-ment bereits zu Ende und ohne jedes Risiko. Ich findeaber, dass es sich bisher gelohnt hat. Nur durch die An-wesenheit der europäischen Truppenkontingente konntenach dem beginnenden Aufruhr Schlimmeres verhindertwerden. Wären die europäischen Truppen nicht dort ge-wesen, dann hätte die Unruhe nicht im Keim ersticktwerden können.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich füge hinzu: Auch dort sind unser Militär und unsermilitärischer Beitrag nur der kleinere Teil. Auch dort

engagieren wir uns jetzt seit mehr als drei Jahren mit Be-ratung, mit der Hilfe bei der Wasserversorgung und invielen Gesundheitsprojekten. Ich finde, auch das solltenwir nicht kleinreden.

Nachdem ich das vorab gesagt habe, verstehen Sieauch bitte meinen Satz richtig, dass ich es nicht ertragenkann, dass mit dem Argument der Militarisierung derAußenpolitik unsere Bemühungen um verantwortungs-volle Entscheidungen hier in Misskredit gebracht wer-den.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu meinem Bedauern muss ich sagen, dass ich das vonder Linkspartei erwartet hatte. Ich hatte mir vorgenom-men, nichts Weiteres dazu zu sagen. Ich finde nur, dassman das, was Oskar Lafontaine in seiner Rede gesagthat, so nicht stehen lassen kann.

(Jörg Tauss [SPD]: Unerträglich!)

Es ist unerträglich, dass Oskar Lafontaine hier den Ein-druck erweckt, als seien diejenigen, die helfend ins Aus-land gehen, diejenigen, die für Terrorismus verantwort-lich sind. Das kann man nicht sagen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich finde es unredlich, dass gerade diejenigen, die je-den Tag das Völkerrecht und die Vereinten Nationengegen eine schlechte Realität ins Feld führen, den Ver-einten Nationen dann die Hilfe versagen, wenn sie derHilfe bedürfen. Das geht nicht. Das ist inkonsequent.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Dehm?

Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:

Ja.

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Damit Ihr Zitat von Oskar Lafontaine nicht falsch ste-

hen bleibt, frage ich mit Bezug auf den Zwischenruf„Unerhört!“: Wie unerhört ist es denn, wenn der bayeri-sche Innenminister sagt, dass mit dem militärischen En-gagement im Ausland die Wahrscheinlichkeit von An-schlägen im Inland wächst?

Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:

Ich habe den Zusammenhang der Sätze von OskarLafontaine sehr genau gehört und ich hätte mich nichtmit einem Beitrag zu Wort gemeldet, wenn ich nicht derMeinung wäre, dass hier gegenüber der deutschen Be-völkerung der Eindruck erweckt werden sollte, dass derTerrorismus nicht die Ursachen hat, die wir landläufigöffentlich diskutieren, sondern dass diese eher in

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Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier

unseren Entscheidungen liegen. Das muss ich mit allerSchärfe zurückweisen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Dehm, einen allerletzten Satz zu diesem Punkt.Vielleicht gebe ich mir zu viel Mühe; aber lassen Siemich noch sagen, dass ich es am Ende auch zynischfinde, dass Sie sagen, der internationale Beitrag zur Sta-bilisierung könne und dürfe nicht kommen – jedenfallsnicht mithilfe des Einsatzes deutscher Soldaten –, ob-wohl Sie wissen, dass der Waffenstillstand und das Endeder Kampfhandlungen nur durch eine Resolution er-reichbar waren, mit der sich die internationale Staaten-gemeinschaft zur Hilfe verpflichtet hat. Sie wissen sehrgenau: Wenn wir nicht so entschieden hätten, dann wäredas Kämpfen weitergegangen und weitere Menschenwären gestorben. Deshalb kann ich das so nicht ertragen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bei der FDP – das habe ich verstanden – ist das keineprinzipielle Haltung gegen Auslandseinsätze; ichglaube, so habe ich das richtig gezeichnet. Aber auch dahabe ich den Hinweis auf Umfragewerte und öffentlicheAkzeptanz zu kritisieren. Es ist nicht unsere Aufgabe, je-denfalls nicht die Aufgabe einer Regierung, auf Umfra-gewerte zu schauen und danach zu entscheiden, ob wireinen Auslandseinsatz billigen oder nicht.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Erst recht unverständlich finde ich das, was ich in denletzten Tagen in der Presse gelesen habe, nämlich dassuns angeblich das Gesamtkonzept fehlt. Das ist ein billi-ges Argument. Die Wahrheit ist konkret: Den Schutzbrauchen die Menschen jetzt, nicht dann, wenn die FDPzu diesem Thema irgendwann ihre Weltformel gefundenhat.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Verzeihen Sie mir in diesem Punkt die Emotionen.Aber ich finde schon, dass wir hier miteinander Klartextreden müssen. Unsere Außenpolitik ist in sich konsis-tent. Niemals ist ein Kontingent deutscher Soldaten ineine Region mit dem Auftrag geschickt worden, dortLand zu zerstören oder den deutschen Machteinfluss zuvergrößern. Das war nie das Ziel deutscher Einsätze.Diese Regierung und auch die Vorgängerregierungen ha-ben mit ihren Entscheidungen immer versucht, entwederFriedensverträge zu überwachen, für die Menschen Sta-bilität zu schaffen oder Vertreibung und Massenmord zubeenden. Das ist die Verantwortung deutscher Politik.

Das ist vielleicht auch das, was Europa als Botschaftin die Welt aussenden kann: Wir in Europa haben ge-lernt, auch über tiefe Gräben, über Mauern und auchüber Trümmerberge hinweg zusammenzufinden und zu-sammenzuwachsen. Wenn das die europäische und auch

die deutsche Botschaft ist, dann will jedenfalls ich gernedafür arbeiten.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ganz in diesem Sinne verstehe ich unseren Beitrag,den wir in den letzten drei bis dreieinhalb Jahren imKonflikt um das iranische Atomprogramm geleistethaben. Sie wissen: Ich stehe für die Bemühungen undauch für die Fortsetzung der Bemühungen um eine di-plomatische Lösung. Wir sind uns im Kreise der Sechseinig, dass es nicht hingenommen werden kann, dasssich mit dem Iran im Mittleren Osten ein Staat atomarbewaffnet, was zumindest in der ganzen Region ein ato-mares Aufrüsten zur Folge haben könnte. Deshalbfreuen wir uns, dass vom Iran Verhandlungsbereitschaftsignalisiert wird.

Wir brauchen aber belastbare Signale. BelastbareSignale heißt, dass entsprechend der Bitte des Sicher-heitsrates verhandelt wird. Das bedeutet aber auch:Wenn wir am Verhandlungstisch sitzen, können nichttäglich neue Fakten in Gestalt neuer Zentrifugen ge-schaffen werden. Diese Voraussetzungen müssen erfülltwerden. Dazu muss die iranische Regierung ein Wort sa-gen. Ich hoffe, dass dies in diesen Tagen im Gesprächdes iranischen Verhandlungsführers mit Solana ge-schieht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Ich möchte in aller Kürze noch zwei weitere Themenansprechen. Wie Sie wissen, haben wir die Chance unddie Verpflichtung zugleich, im nächsten Jahr sowohl dieEU-Ratspräsidentschaft wie auch die G-8-Präsident-schaft auszuüben. Ich freue mich darüber, dass wir dieseChance haben. Wir sind noch nicht an dem Punkt ange-langt, an dem wir in allen Details über die Agenda dieserbeiden Präsidentschaften reden sollten. Das werden wiran anderer Stelle ausführlich tun.

Es geht um Folgendes: Wir müssen während der EU-Ratspräsidentschaft versuchen, das sicherlich deutlichgesunkene Vertrauen der Menschen in Europa zurückzu-gewinnen. Die Menschen wissen im Augenblick nichtmehr so richtig, ob und zu welchem Vorteil die Europäi-sche Union für sie tätig ist. Viele empfinden Europa alszu bürokratisch. Manche sagen: Europäische Entschei-dungen haben mit meinem Alltag nichts zu tun. – Dasletzte Argument scheint insbesondere mit Blick auf diemangelnde soziale Sensibilität der entscheidende Grunddafür gewesen zu sein, weshalb die Abstimmungen inFrankreich und in den Niederlanden so ausgegangensind, wie sie ausgegangen sind.

Man kann das im Augenblick nicht durch Befehl ver-ändern; das wissen Sie. Deshalb kann ich Ihnen natürlichjetzt nicht sagen, wann die Verfassung, die wir nach mei-ner Überzeugung so dringend wie nie zuvor brauchen, inKraft treten wird.

Aber ich glaube, dass wir von heute an die Zeit nutzenkönnen, um auf der einen Seite die Sorgen und Ängste

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Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier

der Menschen, die sie im Umgang mit Europa haben,ernst zu nehmen und auf der anderen Seite mit ihnen zudiskutieren, um dann im ersten Halbjahr 2007 ein hof-fentlich substanzreiches Gespräch mit den neuen Mit-gliedstaaten, die dann noch nicht den Verfassungsver-trag ratifiziert haben, zu führen, um das, was nachmeiner Auffassung notwendig ist – die politische Sub-stanz des Verfassungsvertrags –, zu erhalten. Aber daswird nicht allein auf deutschen Schultern ruhen können.Das wird nur dann möglich sein, wenn alle in Europamitmachen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Abschließend möchte ich noch einen Punkt anspre-chen. Ich weiß, dass die Generaldebatte in erster Liniedafür vorgesehen ist, einige Grundlinien der jeweiligenPolitikbereiche zu zeichnen. Das habe ich zwar getan,aber etwas abweichend von den Usancen.

Auch wenn ich weiß, dass das eigentliche Gerangelum Haushaltspositionen erst im Haushaltsausschussstattfindet, möchte ich einige Bemerkungen vorwegschi-cken. Auch mit Blick auf das, was ich zu Beginn meinerRede ausgeführt habe, auf die wachsende Zahl der Kri-senherde und das damit einhergehende verstärkte Enga-gement des auswärtigen Dienstes, müssen wir, glaubeich, noch einmal neu darüber nachdenken, ob wir aufsolche Situationen bestmöglich eingestellt sind.

Wenn das, was ich am Anfang festgestellt habe,stimmt – dass Außenpolitik mehr und mehr Weltinnen-politik geworden ist –, dann ist es ebenso logisch, dasswir jenseits von militärischen Beiträgen ein immer brei-teres und umfassenderes Herangehen an solche Situatio-nen brauchen und dass wir uns verständlicherweise nichtauf die jeweiligen Versuche werden beschränken kön-nen, nur aktuelle Krisen zu bewältigen. Deshalb – darinsind wir uns im Kabinett einig – werden wir uns mehrund mehr auch mit präventiver Diplomatie in die Re-gionen begeben müssen, um das Entstehen von Span-nungen möglichst ganz außen vor zu lassen

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

bzw. soweit unter Kontrolle zu halten, dass sich keineKrisensituationen wie jetzt daraus entwickeln können.

Sie wissen, dass über die Konfliktherde, die wir jetztberührt haben, hinaus die Aufgaben des auswärtigenDienstes immens gewachsen sind. Ich freue mich da-rüber, dass die Botschaften bzw. der auswärtige Dienstdraußen in der Welt mehr und mehr als Türöffner für dieInteressen der Wirtschaft genutzt werden. Ich freue michauch darüber, dass der auswärtige Dienst zur Erarbeitungvon Konzepten etwa zur langfristigen Rohstoff- undEnergiesicherung in Europa herangezogen wird. Ichfreue mich auch darüber, dass die Mobilität der Men-schen in Deutschland immer mehr zunimmt. Aber dasberührt uns, den auswärtigen Dienst, in doppelter Hin-sicht. Je mehr Menschen unterwegs sind, umso stärkerwerden auch die Visa- und Konsularstellen genutzt, je-denfalls dann, wenn Notfälle auftreten. Sie haben geradeam Beginn dieses Jahres gesehen, dass die Mobilität ver-bunden mit den vielen Konfliktlagen letztendlich auch

dazu führt, dass der Krisenstab häufiger – aus meinerSicht in diesem Jahr dreimal zu oft – einberufen werdenmuss.

Sie haben vielleicht auch gesehen, dass es in einer ad-hoc-Situation mit einer Kraftanstrengung möglich war,innerhalb von wenigen Tagen 6 000 Deutsche über Bei-rut, Damaskus und Zypern aus dem Libanon – insbe-sondere aus dem südlichen Libanon – herauszuholen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage das deshalb, um es mit einem Dank an dieje-nigen zu verbinden, die dafür Sorge getragen haben. Ichmöchte aber auch deutlich machen, dass sich auf Dauersolche Situationen nicht mit der gegenwärtig vorhande-nen Ausstattung bewältigen lassen. Mit Hinweis darauf,dass wir seit 1990 circa 25 Auslandsvertretungen mehrund 10 Prozent Beschäftigte weniger haben, sollten wir– jedenfalls für die Zukunft; ich weiß, dass das nicht ineinem Haushaltsverfahren erreicht werden kann – in einmehrjähriges offenes und etwas fruchtbareres Gesprächüber die Ausstattung des auswärtigen Dienstes eintre-ten.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie wissen, dass es keine Macke von mir ist, wenn icham Ende meiner Rede auf die auswärtige Kultur- undBildungspolitik hinweise.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dieses Thema ist in den Debatten vielleicht nicht in aus-reichendem Maße vorgekommen. Ich jedenfalls halte dieauswärtige Kultur- und Bildungspolitik für eines derwertvollsten Instrumente, die wir haben.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und derFDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Im Ausland erfolgt der erste Kontakt mit Deutschlandüber die deutsche Kultur, weil die Menschen entwederdie deutsche Sprache erlernen wollen, in eine deutscheSchule gehen oder ein Stipendium vom DAAD oder derAlexander-von-Humboldt-Stiftung haben. 50 Prozentderjenigen, die im Ausland eine deutsche Schule besu-chen, studieren später in Deutschland, gehen anschlie-ßend in ihre Heimatländer zurück und gehören dort nacheinigen Jahren entweder zur wirtschaftlichen oder zurpolitischen Elite. Deshalb sage ich: Lasst uns das nichtkurzfristig betrachten! Hier lohnen sich Investitionen.Anders gesagt: Mittel für Straßen und Schienen sowiefür Forschung und Bildung sind sicherlich Investitionenin die Zukunft Deutschlands. Aber eine gute und gutausgestattete Außenpolitik ist ebenfalls eine Zukunftsin-vestition.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowieder Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN])

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer,

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Werner Hoyer (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Außenpolitik hat einen solchen breiten Raum in derDebatte über den Kanzlerinetat eingenommen, dass mandie vorbereiteten Manuskripte getrost vergessen kannund sich lieber auf ein paar andere wichtige Punkte kon-zentrieren sollte.

(Jörg Tauss [SPD]: Ein paar Korrekturen wä-ren nicht schlecht!)

Der geplante Libanoneinsatz spielt in der heutigenDebatte eine große Rolle. Ich war in der letzten Wochevon der Art und Weise beeindruckt, wie die Positionendazu bei uns intern aufeinander getroffen sind. Es sinddrei Argumentationslinien. Je mehr ich mich umhöre,desto mehr finde ich diese Linien zumindest in den klas-sischen Fraktionen wieder. Die Vertreter der ersten Ar-gumentationslinie sagen, dass mit der deutschen Einheit,dem Erreichen dieses großen Ziels, eine sehr große Ver-antwortung verbunden ist. Angesichts dessen und vordem Hintergrund unserer Geschichte tragen wir Verant-wortung für die Stabilität im Nahen Osten und müssendie Lebensverhältnisse der dort lebenden Menschen ver-bessern und ihnen eine Perspektive geben. Des Weiterenhaben wir eine große Verantwortung im Hinblick auf dasExistenzrecht Israels als jüdischen Staat in sicherenGrenzen sowie das Selbstbestimmungsrecht der Palästi-nenser. Das ist sicherlich richtig.

Die Vertreter der zweiten Argumentationslinie sagen:Gerade wegen unserer geschichtlichen Verstrickungenkommt ein solcher Einsatz gar nicht infrage; denn wennder Konflikt eskaliert und es ernst wird, dann ergreifenwir selbstverständlich Partei und werden uns erst rechtnicht an einer Mission beteiligen, die Neutralität erfor-dert. Ich finde, das ist eine respektable Position. Diesedarf man nicht als Fundamentalverweigerung abtun, erstrecht nicht bei denjenigen, die zuvor bei anderen Aus-landseinsätzen deutlich gemacht haben, dass sie keineHemmungen haben, zuzustimmen, wenn es denn klugerscheint.

Die Vertreter der dritten Argumentationslinie, zu de-nen ich mich bekenne, sagen: Ich schließe spätestensnach der Argumentation, die uns eine aktive Beteiligungauf dem Balkan gebracht hat, eine aktive Mitwirkung ander Problemlösung im Nahen Osten gar nicht aus. Fürmich ist es dann aber eine Frage der politischen Klug-heit, mit welchen Instrumenten deutscher Außenpolitikman sich engagiert.

(Beifall bei der FDP)

Ich komme dabei zu dem Ergebnis, dass Deutschlandgut beraten ist – gerade weil sich die Bundeskanzlerinund der Bundesaußenminister heute dankenswerterweisewieder sehr stark dem politischen Prozess, um den esdort geht, zugewendet haben –, an die militärische Di-

mension als Allerletztes zu denken und im konkretenFall eine militärische Beteiligung sein zu lassen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich gehe jetzt gar nicht auf die Fragen ein, die verteidi-gungspolitischer Natur sind. Das kommt nachher.

Die Auseinandersetzung um Briefe, die gegenwärtigirgendwo in der Welt kursieren, zeigt doch, dass sehrleicht Situationen denkbar sind, in denen zweierlei pas-sieren kann: Entweder steht ein deutscher Soldat tatsäch-lich einmal einem israelischen Soldaten mit der Waffe inder Hand gegenüber bzw. es steht ein deutsches Schiffeinem israelischen U-Boot gegenüber oder wir werdenzur Ersatzzielscheibe für Heißsporne unter arabischenoder islamistischen Gewalttätern, die uns letztlich dochals Partei wahrnehmen. Ersatzzielscheibe zu sein, ist et-was, was ich den Soldaten der Bundeswehr nicht zumu-ten möchte. Lassen Sie uns also differenziert argumen-tieren. Ich stelle fest, dass diese Diskussion in allenParteien stattfindet. Deswegen sollte man nicht die großeKeule schwingen.

(Beifall bei der FDP)

Die FDP hat im Übrigen eine Vergangenheit, was dieAuslandseinsätze der Bundeswehr angeht. Den meistenhaben wir zugestimmt. Wir haben bei einigen mit Neingestimmt, insbesondere beim Kongoeinsatz. Da hat sichübrigens an unseren Bedenken nichts geändert. Es gabauch Einsätze, zum Beispiel die Entsendung der ISAFnach Kabul, denen wir zugestimmt haben, wo wir abergleichzeitig argumentiert haben, warum wir die Auswei-tung des Einsatzes nach Kunduz für sehr bedenklich hal-ten, nämlich weil man nicht die Quadratur des Kreiseszuwege bringen kann. Über Jahre hinweg sind die War-lords und Drogenbarone in eine außerordentlich günstigePosition gebracht worden – es geht hier nicht in ersterLinie um die Drogenanbauer, sondern um die Drogen-händler –,

(Beifall der Abg. Monika Knoche [DIE LINKE])

sodass diese mittlerweile 85 Prozent des Sozialproduktsin Afghanistan erwirtschaften, sie ihr Geld internationalund national anlegen und entsprechend ihre Machtposi-tionen verfestigen. Man findet diese Damen und Herren– ich weiß, wie sehr Sie das in Ihren Gesprächen mit Ih-ren afghanischen Kollegen kritisieren – in den Kabinet-ten und den Verwaltungsstrukturen dieses Landes. Des-wegen muss es legitim sein, die Frage zu stellen, ob daswirklich in die richtige Richtung läuft. Ich betone dabei:Keiner von uns unterschätzt oder verleugnet gar die rie-sige Leistung, die Bundeswehr, Entwicklungshelfer undviele andere in Afghanistan erbracht haben.

(Beifall bei der FDP)

Irgendwann aber kommt einmal der Punkt, an demeine Statusabfrage fällig ist: Wo stehen wir denn? Seienwir ehrlich, meine Damen und Herren: Auf internationa-ler Ebene – übrigens ganz besonders stark in den Verei-nigten Staaten, die uns, zumindest was ihre Think Tanksund ihre Zeitungen angeht, in der kritischen Analyse der

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Dr. Werner Hoyer

Lage manchmal weit voraus sind – gibt es längst eineDiskussion darüber, ob wir uns nicht möglicherweise aufeiner schiefen Ebene befinden und ob wir in der Be-kämpfung des internationalen Terrorismus nicht biswei-len mit den falschen Mitteln arbeiten. Möglicherweiseverprellen wir geradezu diejenigen, die in den verschie-denen Ländern und Organisationen gutwillig sind oderwären und die wir dringend brauchen, um zum Beispieleinen Friedensprozess im Nahen Osten herbeizuführen,wenn wir so vorgehen, wie manche vorgehen. Es stehtmir nicht an, ein Land, das um sein Überleben kämpftund gegenüber dem wir eine ganz besondere Verantwor-tung haben, hier billig zu kritisieren. Aber es macht mirganz einfach Sorge, dass unsere israelischen Freundekaum mehr jemanden in der Region haben, mit dem sieeinen vertrauensvollen Dialog führen könnten. Das warvor kurzem noch anders.

Deswegen begrüße ich es, dass wir den politischenProzess in den Vordergrund rücken. Ich glaube, Deutsch-land wird dort eine sehr wesentliche Rolle spielen. Esgibt unter den größeren europäischen Partnern sehr we-nige, die für sich in Anspruch nehmen können, in Israelüber jeden Zweifel erhaben zu sein und zugleich ein gro-ßes Vertrauenskapital in der arabischen Welt zu besitzen.Das Kapital muss Deutschland nutzen. Ich glaube, diemilitärische Beteiligung kann da eher kontraproduktivsein.

(Beifall bei der FDP)

Wenn ich hier anreiße, ob beispielsweise in Afgha-nistan manches schief läuft, dann meine ich damit nie-mals – das läge meinem Denken völlig fern – unilateraledeutsche Entscheidungen bzw. die Entscheidung, dieBundeswehr zurückzuziehen. Darum kann es nicht ge-hen. Ich sage aber gerade als Internationalist: Es gehtmir bisweilen auf den Keks – ich bin dankbar, dass Sievon Schönreden gesprochen haben –, dass wir uns beiden NATO-Treffen erst einmal versichern, wie toll undwichtig unser gemeinsames Engagement in Afghanistanist. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die NATO zuBeginn der Periode nach dem 11. September 2001, alsder Bündnisfall festgestellt worden ist, unheimlich wich-tig für Afghanistan war, obwohl sie hinterher als Institu-tion nicht mehr genutzt worden ist. Heute scheint Afgha-nistan für die NATO unheimlich wichtig zu sein. DieRaison d’Être der NATO geht aber über das, was wir inAfghanistan tun, weit, weit hinaus. Ich bin daran interes-siert, dass dieses Bündnis aufrechterhalten und ausge-baut wird. Das gilt erst recht, da in den Vereinigten Staa-ten ein Paradigmenwechsel stattzufinden scheint, selbstbei der Bush-Administration, die offenbar wieder mehrauf Institutionen als auf Coalitions of the Willing setzenwill.

Man muss sich angesichts dessen die Frage stellen:Geht in der Abrüstungspolitik nicht etwas granatenmä-ßig schief? Kann es wirklich sein, dass unsere amerika-nischen Freunde die indischen Atomwaffen aus nach-vollziehbaren wirtschaftlichen und globalstrategischenErwägungen geradezu segnen?

(Lothar Mark [SPD]: Ja!)

Wenn das so ist, führt es dazu, dass der Stopp von Proli-feration wirklich ein Ende hat und dass demnächst eineVielzahl von weiteren Atommächten am Horizont er-scheint.

Deutschland hat auch hier eine besondere Rolle zuspielen. Wir haben frühzeitig und endgültig unseren Ver-zicht auf Atomwaffen erklärt und dabei bleibt es. Des-wegen können wir anderen gegenüber argumentieren,dass es eine gute Zukunft ohne Atomwaffen geben kann.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Ich frage: Wo gibt es eine Initiative auf diesem Gebiet,damit die Abrüstungspolitik endlich wieder in Gangkommt?

Ich mahne, bezüglich noch manch anderer Frage eineBestandsaufnahme zu machen. Wir sollten uns kritischfragen: Sind wir auf dem richtigen Wege oder sollten wirKurskorrekturen vornehmen? Die Situation in Polenmacht mir außerordentliche Sorge. Polen ist für uns einganz besonders wichtiger Partner. Die gegenwärtig herr-schende Sprachlosigkeit muss überwunden werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Das ist teilweise eine Generationenfrage, aber teilweisegeht es auch weit darüber hinaus.

Die Bedeutung des Verhältnisses zu Russland wirdvon uns überhaupt nicht unterschätzt. Ich begrüße, dassDeutschland im Hinblick auf die Präsidentschaft dort ei-niges vorbereitet. Aber eine werteorientierte Außenpoli-tik muss ihre strategischen Partnerschaften natürlichauch über einen Gleichklang bei Werten definieren. Ichhoffe, dass es gelingt, auch das deutlich zu machen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege!

Dr. Werner Hoyer (FDP): Demokratieexport durch Wahlen und Marktwirt-

schaftexport durch einen freien Markt ohne eine funktio-nierende Rechtsordnung können auf die Dauer nichtfunktionieren. Deswegen ist es wichtig, dass man sichüber grundlegende Werte verständigt.

Danke schön.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben heute Morgen über die positiven Entwicklun-gen auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft nachneun Monaten großer Koalition gesprochen. Ich möchtemit einer kurzen Zwischenbilanz im Hinblick auf die

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Dr. Andreas Schockenhoff

Außenpolitik beginnen. Schon vor einigen Monaten hatdie „FAZ“ dazu geschrieben – ich zitiere –:

Die Bilanz positiv zu nennen wäre eine Untertrei-bung.

Lassen Sie mich kurz an drei Beispielen zeigen,welch deutliche Veränderung in der Substanz es gegebenhat:

Erstens. Deutschland ist wieder ein geachteter und ge-fragter Partner in der internationalen Politik. Dastiefe Misstrauen im Bündnis und in der EU ist überwun-den. Wir können wieder der politischen und wirtschaftli-chen Bedeutung unseres Landes entsprechend Einflussnehmen und unsere Interessen voll wahren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dafür, dass dies wieder möglich ist, möchte ich der Bun-deskanzlerin, aber auch Ihnen, Herr Außenminister, ganzbesonders danken.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Zweitens. In den transatlantischen Beziehungengibt es ein neues Vertrauensverhältnis. Weil das so ist,können wir im Dialog auch wieder unterschiedliche Auf-fassungen – selbst in sehr sensiblen Fragen – im Geisteder Freundschaft und Partnerschaft austragen, so wie esdie Bundeskanzlerin zum Beispiel im Hinblick auf dieSituation in Guantanamo öffentlich getan hat. Das warunter einem grünen Außenminister trotz aller Menschen-rechtsbekenntnisse eben nicht möglich. So sehr war dasVertrauensverhältnis zerrüttet, dass jede – auch berech-tigte – Kritik gleich als Antiamerikanismus verstandenworden wäre.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Immer auf die Grünen! Was anderes habt ihrnicht drauf!)

Weil dieses Vertrauensverhältnis wieder da ist, ist esder Bundesregierung gelungen, die USA in der Iranfragewieder an den Verhandlungstisch zu bringen. Wie wert-voll es ist, die großen Sechs, anders als im Irakkrieg, zu-sammenzuhalten und eine Spaltung des Sicherheitsratszu vermeiden, zeigt sich gerade in diesen Tagen, in de-nen es darum geht, dem Iran auch weiterhin geschlossengegenüberzutreten.

Drittens. Da wir heute über den Haushalt 2007 spre-chen, möchte ich feststellen: Es ist gut, dass diese Bun-desregierung endlich den dramatischen Personalabbauim Auswärtigen Amt stoppt und umkehrt. 683 Stellensind in den letzten Jahren abgebaut worden mit der Folge– Herr Steinmeier, Sie haben zu Recht darauf hingewie-sen –, dass die Lücke zwischen dynamisch wachsendenAufgaben und personeller Leistungsfähigkeit immergrößer wird. Das ist nicht nur für die Mitarbeiter des Au-ßenministeriums unzumutbar; es schadet auch der Wah-rung und Durchsetzung deutscher Interessen.

Wir wissen, dass wir das angesichts der Haushaltslagenur sehr mühsam korrigieren können. Gleichwohl müs-sen wir uns daranmachen. Ich will Ihre Schlussbemer-

kung, Herr Außenminister, ausdrücklich wiederholen:Die finanzielle Ausstattung unserer Außen- und Sicher-heitspolitik ist eine gute Investition für die Zukunft.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Niels Annen [SPD])

Es gibt in der deutschen Außenpolitik keine Showef-fekte mehr. Das mag manchem Beobachter weniger un-terhaltsam erscheinen, aber dafür ist die deutsche Au-ßenpolitik wieder seriös, berechenbar, effizient unddeshalb auch erfolgreich geworden.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Na, na, na! – Niels Annen [SPD]: Aber Herr Schockenhoff!)

Wenn wir in unserer Bevölkerung eine möglichstgroße Unterstützung für die Entscheidung finden wollen,deutsche Soldaten in den Nahen Osten zu entsenden,dann müssen wir deutlich machen, was dabei deutscheInteressen sind. Was also sind unsere Interessen?

Erstens. Wir haben ein klares Sicherheitsinteresse,dass die Region befriedet und stabilisiert wird. JederKonflikt dort hat unmittelbare Auswirkungen auf uns.Wie nahe die Bedrohung sein kann – auch dazu hat derAußenminister schon Stellung genommen –, haben alsjüngstes Beispiel die Verhaftungen im Zusammenhangmit den geplanten Kofferbombenattentaten gezeigt.

Zweitens. Wir haben ein klares Interesse an derSicherung des Existenzrechts Israels. Ich möchte in Er-innerung rufen, was wir im Bundestag am 12. Mai letz-ten Jahres mit großer Mehrheit beschlossen haben – ichzitiere –:

Der Deutsche Bundestag bekräftigt erneut, dass dasRecht der Bürger Israels, in sicheren Grenzen freivon Angst, Terror und Gewalt leben zu können, füruns einen elementaren Bestandteil der Solidaritätund Freundschaft darstellt.

Es war richtig und gut, finde ich, dass wir das damalsfast einstimmig beschlossen haben. Jetzt geht es darum,zu zeigen, dass dies nicht nur Sonntagsreden sind, son-dern dass wir auch einen konkreten Beitrag leisten. Mitbesonderem Blick auf unsere historische Situation ist dermilitärische Beitrag zur Überwachung der libanesischenKüste angemessen, damit nicht wieder auf dem SeewegWaffen, Raketen oder anderes militärische Gerät an dieHisbollah geliefert wird.

Herr Westerwelle hat die ablehnende Haltung seinerFraktion geradezu als Staatsräson bezeichnet. Liebe Kol-leginnen und Kollegen von der FDP, das Mandat zuISAF haben Sie 2001 und 2002 mit beschlossen. Sie ha-ben es 2003 und 2004 abgelehnt. 2005 haben Sie dannwieder zugestimmt.

(Zuruf des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP])

Die Operation Enduring Freedom, verehrter Herr Kol-lege Hoyer, haben Sie 2001 abgelehnt. 2002 haben Siezugestimmt. 2003 haben Sie erneut abgelehnt und 2004wieder zugestimmt. So viel zur Berechenbarkeit der Li-beralen in der Außen- und Sicherheitspolitik.

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Dr. Andreas Schockenhoff

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das nennt man beim Doppelkopf„genschern“!)

Im Übrigen: Herr Hoyer, Sie haben das wiederholt,was auch der Kollege Westerwelle heute Morgen ge-macht hat. Wenn Sie Ihre ablehnende Haltung damit be-gründen, bei dem vorgesehenen deutschen Beitrag könnees zu einem Feuergefecht zwischen deutschen und israe-lischen Soldaten kommen, dann müssen Sie schon ein-mal ganz konkret erklären, wie Sie das meinen und wieSie sich das vorstellen. Das haben Sie bisher nicht getan.Wenn Sie das nicht können, Herr Kollege Hoyer, dannsind abstrakte Spekulationen über eine militärische Aus-einandersetzung zwischen Deutschland und Israel si-cherlich kein Beitrag, in Israel das Vertrauen zu erzeu-gen, von dem Sie zu Recht gesprochen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Werner Hoyer[FDP]: Geben Sie mir eine Minute von Ihrerhalben Stunde Redezeit! Dann erkläre ich Ih-nen das!)

Drittens liegt es eindeutig nicht in unserem Interesseund auch nicht im Interesse der meisten Staaten der Re-gion, dass der iranische Präsident in der arabischenWelt an Popularität gewinnt, weil er dort als ein Führererscheint, der dem Westen die Stirn bietet. Es ist unserInteresse, dass durch bessere Regierungsführung undstabile Institutionen eine Grundlage geschaffen wird, aufder Pluralismus, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Men-schenrechte und Wohlstand entstehen und wachsen kön-nen. Dies mit einem differenzierten und sensiblen An-satz zu fördern, ist ein mühsamer Prozess, der langenAtem braucht. Aber er ist, wie die Erfahrung gezeigt hat,mit Sicherheit erfolgversprechender als lautstarke Rufenach schnellen Wahlen oder der Versuch, unliebsameRegierungen zu destabilisieren und zu schwächen.

Viertens haben wir ein vitales Interesse daran, staat-liche Strukturen zu stärken. Denn wenn die Menschendie Erfahrung machen, dass der Staat ihnen Sicherheit,Wohlfahrt und Rechtsstaatlichkeit bietet, werden sie sichauch an staatlicher Politik und nicht an konfessionellenOrganisationen wie Hisbollah, Hamas oder Muslimbrü-dern orientieren. Zum anderen ist mit schwachen Staatenkeine verlässliche wirtschaftliche oder politische Part-nerschaft möglich; noch weniger lassen sich mit ihnenregionale Sicherheitsstrukturen aufbauen.

Fünftens haben wir ein Sicherheitsinteresse an einerRegelung des Nahostkonfliktes. Die Wiederbelebungdes Nahostfriedensprozesses steht in unmittelbarerWechselwirkung mit der Befriedung im südlichen Liba-non und damit auch mit der Unterbindung der Waffenlie-ferungen an die Hisbollah.

Sechstens haben wir aufgrund des Engagements vie-ler deutscher Unternehmen ein berechtigtes wirtschaft-liches Interesse an der Befriedung der Region.

Was ist zu tun? Die Resolution 1701 nennt indirektdie Voraussetzungen für einen stabilen Frieden und da-mit die Ziele im Libanon: einen Libanon ohne die waf-fenstrotzende Hisbollah, einen Libanon außerhalb desEinflusses Syriens oder Irans, einen Libanon befreit aus

den Fängen des Islamismus. Das zeigt die ganze Größeder Herausforderung.

Oberstes Ziel über die Befriedung der Situation imsüdlichen Libanon hinaus muss es sein, den Einfluss derHisbollah in der libanesischen Gesellschaft deutlich zubegrenzen. Ein weiterer Anstieg des Ansehens dieservom Iran protegierten und gesteuerten Terrororganisa-tion liegt nicht im Interesse des libanesischen Staatesund erst recht nicht in unserem Interesse.

Deshalb muss alles getan werden, um die staatlicheAutorität der libanesischen Regierung zu stärken. Esgeht dabei zum Ersten darum, über die jetzt angelaufeneschnelle Hilfe zur Überwindung der Kriegszerstörungenhinaus die libanesische Regierung dabei zu unterstützen,eine nachhaltige Verbesserung der Lebensbedingungender Menschen zu schaffen. Das betrifft beispielsweiseden Ausbau und die Modernisierung des Gesundheits-,Schul- und Bildungswesens, der Infrastruktur oder dieBereitstellung von Wohnungen.

Zum Zweiten geht es darum, die staatlichen Struktu-ren deutlich zu stärken, also dabei mitzuhelfen, Polizeiund Militär durch Training und Ausrüstungshilfe mög-lichst schnell durchsetzungsfähig zu machen und dieRechtsstaatlichkeit zu verbessern.

Zum Dritten geht es darum, diejenigen Kräfte im Li-banon zu unterstützen und wieder zu stärken, die sich fürDemokratie und Eigenständigkeit einsetzen, die aberdurch den Krieg in eine schwierige Lage gekommensind.

Dies auch mit der langfristigen Unterstützung durchdie EU zu erreichen, ist kein utopisches Ziel, sonderneine realisierbare Möglichkeit. Wenn es gelingt, die Au-torität des libanesischen Staates deutlich zu stärken,dann besteht auch die Chance, die Hisbollah durch eineIntensivierung des nationalen Dialogs zu einem dauer-haften Gewaltverzicht zu bewegen und sie, zumindestteilweise, in die regulären Streitkräfte zu integrieren.

Meine Damen und Herren, eine nachhaltige Stabili-sierung des Libanon wird nur zu erreichen sein, wenn esparallel dazu zu einer Wiederbelebung des regionalenFriedensprozesses kommt. Wichtige Voraussetzungendafür sind eine umgehende Freilassung des in Gazaentführten israelischen Soldaten und ein Ende des Rake-tenbeschusses von Israel. Unverzichtbar sind das Be-kenntnis aller palästinensischen Gruppierung zum Ge-waltverzicht, die Anerkennung des ExistenzrechtsIsraels und die Unterstützung des Friedensprozesses.

Die jetzt in Stockholm beschlossene Hilfe ist einwichtiges Signal an die palästinensische Bevölkerung:Wir wollen sie nicht nur humanitär und wirtschaftlich,sondern auch beim Aufbau staatlicher Strukturen unter-stützen. Es soll nicht bei dieser Stockholmer Aktion blei-ben. Auch deshalb wäre die Bildung einer Regierung dernationalen Einheit wichtig.

Doch auch Israel muss sein Beitrag leisten, beispiels-weise durch den Abzug seiner Militärkräfte aus dem Ga-zastreifen, durch die Freilassung der im Zuge der Krise

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4530 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006

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Dr. Andreas Schockenhoff

inhaftierten Hamasparlamentarier, sofern gegen diesenichts vorliegt,

(Beifall der Abg. Monika Knoche [DIE LINKE])

und durch die Umsetzung des Abkommens über Bewe-gung und Zugang, um in den palästinensischen Gebietendie Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung undein annähernd normales Leben zu schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der LINKEN)

Nicht nur um den Waffenschmuggel über die syrisch-libanesische Grenze zu unterbinden, ist es notwendig,Syrien in die Stabilisierungsbemühungen mit einzube-ziehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im Gegensatz zum Iran ruft Syrien nicht zur ZerstörungIsraels auf. Wiederholt haben sich die Syrer für eineRückkehr an den Verhandlungstisch ausgesprochen. Esist zu hoffen, dass die Syrer über die Unterbindung ille-galer Waffenlieferungen hinaus einen überzeugendenBeitrag zur Stabilisierung der Region leisten. Wenn diesder Fall ist, sollte das Assoziierungsabkommen mit derEU, das ein wichtiger Anreiz zur ökonomischen Stabili-sierung des Landes ist, in Kraft gesetzt werden.

Zusammengefasst heißt das:

Erstens. Für die Befriedung der Region gibt es die Li-banonresolution 1701 und die Roadmap. Diese müssenin vollem Umfang angewendet werden. Nur dann wirdauch Vertrauen zwischen den Konfliktparteien entstehenkönnen.

Zweitens. Für die Existenz Israels ist es wichtig, bere-chenbare Partner auf der anderen Seite zu haben. Des-halb liegt es im Interesse Israels, dass die RegierungSiniora stabil bleibt.

Drittens. Solange es in der Region keine AkzeptanzIsraels gibt, wird es auch keine Befriedung geben. DasZiel bleibt die Existenz zweier souveräner, lebensfähigerund demokratischer Staaten Israel und Palästina, verbun-den in gemeinsamer Sicherheit und garantiert durch dieinternationale Gemeinschaft.

Hierzu müssen und wollen wir unseren Beitrag leis-ten.

Das alles zeigt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Dienächsten Jahre werden nicht die Zeit großer gestalteri-scher Visionen, sondern eine Periode harter Arbeit sein,die uns klare Zielvorstellungen, viel Geduld, ein sen-sibles Vorgehen und diplomatisches Geschick abverlan-gen wird.

Das gilt auch für die Beziehungen zum Iran.

Es ist besorgniserregend, mit welcher Arroganz derIran sich gegen die internationale Gemeinschaft stelltund deren Besorgnisse ignoriert. Auch wenn der Iranzum wiederholten Male gesagt hat, er wolle die Atom-energie nur zu friedlichen Zwecken nutzen, haben wirüberhaupt kein Vertrauen in solche Aussagen. Denn was

will der Iran mit angereichertem Uran anfangen, außer erplant den Bau der Atombombe? Wer wie der iranischePräsident zur Auslöschung Israels aufruft und seineaggressiven Absichten bereits unter Beweis gestellt hat,indem er die Hisbollah losschickte, um Terror gegenIsrael auszuüben, dem muss man auch unterstellen, dasser sich dafür die notwendigen Mittel, nämlich Atomwaf-fen, beschaffen will. Dazu aber darf es nicht kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Unser Ziel muss bleiben, dass der Iran die Urananreiche-rung nachprüfbar stoppt.

Deshalb ist es wichtig, dass die Sechs geschlossenbleiben, um mit diplomatischem Druck auf den Iran ein-zuwirken. Dafür sehe ich nach wie vor gute Chancen, so-wohl mit Blick auf die USA wie auch mit Blick aufRussland. Auch die Russen wollen keine Mullahs mitAtomwaffen in ihrer Nachbarschaft – das ist das ent-scheidende gemeinsame Interesse –, und auch die Rus-sen wollen sich in ihrer Autorität als ständiges Mitglieddes Sicherheitsrates nicht als Papiertiger düpieren las-sen. Das sollte der Iran nicht übersehen.

Die Tür zu Verhandlungen steht noch offen, selbstwenn im Sicherheitsrat begonnen wird, über Sanktionenzu reden. Aber – auch hier will ich dem Außenministernachdrücklich zustimmen – wir brauchen belastbareSignale des Entgegenkommens.

Meine Damen und Herren, wie mein Vorredner willauch ich zum Abschluss ein Wort zu unserem NachbarnPolen sagen. Es gab in der letzten Zeit an verantwortli-cher Stelle in Polen Äußerungen zu Deutschland, die dertatsächlichen Situation in unserem Land nicht gerechtwerden. Bei aller Sorge über solche Äußerungen war esdennoch klug, darauf nicht öffentlich zu reagieren; dennniemand hier hat ein Interesse an einer Eskalation und aneiner Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses.Es gibt zu viele Herausforderungen, bei denen wir Euro-päer Geschlossenheit und gegenseitiges Vertrauen brau-chen, als dass wir uns einen unnötigen Streit leistenkönnten. Wenn aber dem Bundespräsidenten vorge-schrieben wird, wo er auftreten darf und wo nicht, dannist das für uns inakzeptabel und bedarf der öffentlichenKommentierung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Bundespräsident hat am Tag der Heimat eine sehrausgewogene Rede gehalten. Es wäre zu wünschen ge-wesen, dass der polnische Ministerpräsident dazu Stel-lung bezogen hätte. Denn der Bundespräsident hat dazuaufgerufen, die in Polen bestehenden Sorgen ernst zunehmen, gerade weil wir sie für unbegründet halten.Keine ernst zu nehmende Kraft in Deutschland wolle dieGeschichte umschreiben, wolle Ursache und Wirkungverdrehen. Wörtlich sagte der Bundespräsident, dass es„keinen Zweifel“ daran gebe, „dass das nationalsozialis-tische Unrechtsregime und der von Deutschland begon-nene Zweite Weltkrieg auslösende Ursache von Fluchtund Vertreibung“ gewesen seien.

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Dr. Andreas Schockenhoff

Ich bin mir sicher, dass der polnische Ministerpräsi-dent an diesen Worten nichts auszusetzen hat. Umso un-verständlicher ist es dann aber, dass er wortwörtlich sagt,es bestehe „in Deutschland eine große, vom Staat unter-stützte Struktur, die ständig die Frage der polnischen Ge-biete anspricht, die einst zum Deutschen Reich gehörthaben“. Das ist falsch und kann nur zu einer Eskalationführen, die wir vermeiden sollten.

Ich sage noch einmal: Deutschland und Polen habenso viele gemeinsame Anliegen, die sie in der Europäi-schen Union durchsetzen wollen, nicht zuletzt eine neueEU-Ostpolitik insbesondere gegenüber der Ukraine undWeißrussland. Hierauf sollten wir unsere Arbeit und un-sere Emotionen konzentrieren.

Meine Damen und Herren, die Außen- und Sicher-heitspolitik der Bundesregierung orientiert sich klug andeutschen Interessen. Sie kann sich dabei auf die Unter-stützung der CDU/CSU-Fraktion verlassen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Knoche,

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Monika Knoche (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Herren und Damen! Herr Steinmeier, ich darf mich anSie wenden. Sie haben Recht, wenn Sie heute auf den11. September 2001 verweisen. Aber sind nicht fünfJahre nach dem Terroranschlag nahezu alle Beweise er-bracht, dass der Kampf gegen den Terror nicht mit Kriegzu gewinnen ist?

(Beifall bei der LINKEN)

Das sieht man deutlich in Afghanistan. Über die Situa-tion dort ist zu sagen: Dies ist mit Waffen nicht zu schaf-fen. Schauen Sie sich den Irak an: Die innenpolitischeSituation ist einfach grauselig.

Ich will auf den Libanon zu sprechen kommen. Am12. Juli entführte die Hisbollah zwei israelische Solda-ten. Stunden später antwortete Israel mit Krieg. Israelschlug mit einer militärischen Härte zu, die erschüttert.Israels Ziel: die Hisbollah zu zerschlagen. DiesesKriegsziel wurde verfehlt.

Wir hegen keinerlei Sympathie mit der Hisbollah. DieHeimtücke der Anschläge durch Raketen der Hisbollah,aber auch das Ausmaß der Kriegsführung Israels veran-lassten uns Linke sofort zu einer zentralen Aussage: DieWaffen müssen schweigen; eine Konferenz für Friedenist einzuberufen.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber wollte die Regierung das? Ich denke, eher nein.Weder die Frau Bundeskanzlerin noch Sie, Herr Außen-minister Steinmeier, haben Ihre Ämter dazu genutzt, sich

vorbehaltlos für einen Waffenstillstand einzusetzen. Siehaben es weder in der EU noch auf der Ebene der Ver-einten Nationen getan.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Vielmehr haben Sie sich im Schlepptau der USA und Is-raels so lange nicht hinter die Bemühungen des General-sekretärs Kofi Annan gestellt, bis klar war, dass Israelseine Kriegsziele nicht wie erwartet erreichen konnte.

Das ist nicht die außenpolitische Rolle, die Deutsch-land im Nahen Osten einnehmen muss. Gerade weilDeutschland eine besondere Verantwortung für die Si-cherheit Israels und die Eigenstaatlichkeit der Palästi-nenser hat, darf es sich nicht zu einer einseitigen Partei-nahme hinreißen lassen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage ganz bewusst: Ohne die faschistischen Verbre-chen, ohne den Holocaust gäbe es den Kernkonflikt Is-rael/Palästina nicht. Von Normalität sind wir entfernt.Sie kann uns nicht durch die Regierung Israels zugespro-chen werden. Das liegt allein in unserer Verantwortung.

In der grundlegenden Frage deutschen Selbstver-ständnisses hat die Kanzlerin geschwiegen. Ich habe er-wartet, dass sie die Debatte an sich zieht. Sie ließ denAußenminister und den Verteidigungsminister sprechenund beide erzeugten mehr Unklarheiten als Orientierung,

(Widerspruch bei der SPD)

ja mehr noch: Sie widersprachen sich ständig. Über see-seitige militärische Potenz wurde schwadroniert, als seidie Vor-Ort-Präsenz eine ausgemachte Sache. Das warsehr daneben. Heute ist es so: Libanon legt größten Wertdarauf, dass die 7-Meilen-Distanz eingehalten wird. Esist geradezu lächerlich, wenn sich auch noch Deutsch-land mit seiner maritimen Präsenz in dieser Zone drän-geln würde. Also bitte kommen Sie etwas mehr in derRealität an!

(Beifall bei der LINKEN)

Ein parlamentarischer Ausfall waren auch die Frak-tionen der großen Koalition. Beide haben es verabsäumt,die parlamentarischen Gremien zu befassen. Wir, dieLinke, haben eine Sondersitzung im Auswärtigen Aus-schuss verlangt; damit kam der Prozess in Gang. Jetzterkennen Sie die Qualität unseres Vorschlages für eineKSZ im Nahen Osten. Sie nehmen ihn in Ihre Rhetorikauf und das finden wir gut. Dem müssen Taten folgen.

Der Krieg währte vier Wochen, bis die UN-Resolu-tion zustande gekommen ist. Israel behält die Lufthoheitund die Seeblockade gegen Libanon bei. Allein die Waf-fenlieferungen an die Hisbollah unterbinden zu wollen,nicht aber zum Beispiel die deutschen U-Boot-Lieferun-gen an Israel, das kann nicht angehen; das ist gefährlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Immer mehr prominente Stimmen in Israel sprechenvon einem zweiten Waffengang. Schon allein das müssteDeutschland veranlassen, sich bei der Absicht zurückzu-halten, mit Soldaten in diese Region zu gehen. CDU/CSU, SPD und Grüne befleißigen sich aber, gerade das

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Monika Knoche

parlamentarisch herbeizuführen. Davor warnen wir. Wasist, wenn der Waffenstillstand nicht hält? Was ist, wenndie USA Kriegspläne gegen den Iran hegen? – Beant-worten Sie doch diese Fragen! Sie behandeln sie aber garnicht, auch heute nicht.

Und was ist, wenn der Libanon eigene Vorstellungenzur UN-Militärpräsenz hat? Mit dieser Selbstverständ-lichkeit haben Sie erst gar nicht gerechnet. Aber der Li-banon muss natürlich Sorge dafür tragen, dass er seineSouveränität erhält und seine Integrität wahrt.

(Markus Löning [FDP]: Es wäre schön, wenn er das mal schaffen würde!)

Sonst hat er keine Autorität, um gegen die Hisbollahvorzugehen und sie auf friedliche Weise in die Gesell-schaft zu integrieren.

Wir haben also eine neue Lage. Die Eilfertigen in derRegierung, die sofort nach maritimer Präsenz gerufenund die gesamte Situation völlig unterkomplex behan-delt haben, haben sich meines Erachtens kräftig bla-miert. Lassen Sie also alle Pläne fallen, deutsche Schiffedorthin zu schicken! Machen Sie Berlin zum Austra-gungsort für eine Konferenz für Sicherheit undZusammenarbeit im Nahen Osten. Das ist meinesErachtens die anspruchsvollste Aufgabe, derer sichDeutschland angesichts seiner Geschichte in diesem Kri-sengebiet annehmen kann. Stellen Sie in das Zentrumdieses politisch-diplomatischen Bemühens die Kulturdes Dialogs, die Sicherheitsinteressen Israels und dasRecht der Palästinenser auf einen eigenständigen lebens-fähigen Staat. Denn neben den Folgeproblemen des Li-banonkrieges gleicht das Leben in Gaza dem in derApartheid. Solange hier nicht Recht und Friede einkeh-ren, gewinnt Israel keine Sicherheit.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin, Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber

Frank Steinmeier, ich habe eben genau hingeschaut, alsIhr Koalitionspartner Herr Schockenhoff gesprochen hat.Sie haben dabei ungefähr so ausgesehen wie FrauMerkel heute Morgen, als Fritz Kuhn gesprochen hat:leidend,

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

leidend angesichts von Formulierungen, mit denen ver-sucht werden sollte, Sie in einen Gegensatz zu IhremAmtsvorgänger zu bringen.

(Lothar Mark [SPD]: Halten wir hier ein psy-chologisches Seminar? – Markus Löning[FDP]: Er hat es als Kompliment verstanden!)

Deswegen will ich an dieser Stelle eines ganz deutlichsagen, lieber Herr Schockenhoff: Diejenigen, die die Au-ßenpolitik des damaligen Bundeskanzlers Schröder undvon Joschka Fischer als antiamerikanisch bezeichnet ha-

ben, waren nicht die USA, sondern das waren Sie. Siehaben die Weigerung der damaligen Regierung, denIrakkrieg zu unterstützen, als Antiamerikanismus de-nunziert. Sie sind heute diejenigen, die in der Ecke ste-hen und sagen: Leider hatten diese Antiamerikaner, wiewir sie genannt haben, Recht; denn es war falsch, diesenKrieg gegen den Irak zu beginnen. – Deswegen solltenSie sich gerade mit Äußerungen hinsichtlich Kontinuitätund Diskontinuität in der Außenpolitik zurückhalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der LINKEN sowie bei Abgeordnetender SPD)

Lieber Frank Steinmeier, ich hätte mir gewünscht, dieheutige Debatte hätte den Raum dafür gelassen, die Vi-sion zu entwickeln, die Sie angekündigt haben. Aberauch da stehen Sie im Widerspruch zu HerrnSchockenhoff, der gesagt hat, jetzt sei Durchwursteln,aber keine Visionen angesagt. Sie haben eine Vision füreine neue Ostpolitik angekündigt. Dieses Hohe Haushätte gerne einmal gehört, was sich hinter dem Begriffeiner neuen Politik gegenüber Russland verbirgt, was daanders werden und was beim Alten bleiben soll. EineAntwort darauf sind Sie uns heute, wie gesagt, schuldiggeblieben.

Schuldig geblieben sind Sie uns auch die Vorstellun-gen der Bundesregierung – das ist viel ernster – mitBlick auf die EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahrdes nächsten Jahres. Da gibt es eine ganze Reihe vonFragen, die zu thematisieren wären. Ich erwähne nur einGesetzgebungsvorhaben: Wie wird sich die Bundes-regierung in der Debatte um eine Energiestrategie undeine Energiesicherheitsstrategie dieses Europas posi-tionieren? Oder wollen Sie auch in Europa das auffüh-ren, was wir hier im Lande tagtäglich präsentiert bekom-men, nämlich die Inszenierung von Zerrissenheit, diedadurch gekennzeichnet ist, dass der eine Minister nichtsanderes im Kopf hat als die Verlängerung der Laufzeitenvon Kernkraftwerken, während der andere Minister ver-sucht, eine rationale, ressourceneffiziente und an Erneu-erbarkeit orientierte Energiepolitik zu machen? Sie ha-ben auch dazu geschwiegen.

Sie haben auch zu Ihren Vorstellungen geschwiegen,wie man die institutionelle Blockade überwinden kann.Das ist keine Diskussion über einen abstrakten Begriff,die man im Seminar führen kann. Es ist eine Tatsache,dass es ohne eine Auflösung der institutionellen Blo-ckade der Europäischen Union keine Perspektive, auchkeine Friedensperspektive für den Balkan geben wird,weil schlicht und ergreifend weitere Beitritte ausge-schlossen wären. Auch dazu haben Sie geschwiegen.Das finde ich fatal.

Ich will noch auf einen weiteren Punkt zu sprechenkommen. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, wel-che wichtige Rolle Europa heute zukommt, wenn es umden Umgang mit Krisen und insbesondere mit Krisenvor unserer Haustür geht. Ich nenne beispielsweise denKonflikt zwischen Israel und Libanon. Da stellen wirfest: Die Europäische Union spielt zwar eine positiveRolle, sie ist aber in dieser Situation nicht so handlungs-fähig, wie es notwendig wäre. Wir haben keinen euro-

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Jürgen Trittin

päischen Außenminister; wir haben Javier Solana undFrau Ferrero-Waldner.

Wir haben häufig eine sehr verzögerte Handlungsfä-higkeit. Das sage nicht ich, sondern es war der amtie-rende finnische Ratspräsident, der beklagte, dass es nichtgelungen sei, Ende Juli und in den ersten Augusttageneine gemeinsame Position des Rates für einen sofortigenWaffenstillstand zu verabschieden. Das zeigt, dass derZustand innerhalb der EU nicht überwunden worden ist,der schon den G-8-Gipfel geprägt hat. Dort ist die Forde-rung der Vereinten Nationen, sofort in einen beidseitigenWaffenstillstand einzutreten und ihn durch eine interna-tionale Schutztruppe abzusichern, am Widerstand derUSA gescheitert.

Es ist zwar schön, dass Sie am Ende eine Vereinba-rung erreicht haben; da gibt es Verdienste gerade desdeutschen Außenministers. Aber angesichts dieser Zö-gerlichkeit frage ich Sie: Was wäre eigentlich anders ge-wesen, wenn man bereits am 19. Juli dazu gekommenwäre, die Waffen zum Schweigen zu bringen und ent-sprechende Truppen zur Verfügung zu stellen; ohnediese Truppen geht es nämlich nicht?

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

– Danke, dass Sie dafür applaudieren.

(Monika Knoche [DIE LINKE]: Das war ein Versehen!)

– Ich glaube, dass viele von Ihnen wissen, dass ich dies-bezüglich Recht habe.

Was wäre der Unterschied gewesen? Der Krieg hätteweniger Menschen das Leben gekostet und es wäre we-niger zerstört worden. Alles andere war zu diesem Zeit-punkt schon offensichtlich, vor allen Dingen die Tatsa-che, dass der Versuch, die Hisbollah militärisch zuschlagen, ein aussichtsloses Unterfangen ist, weil es sichnämlich nicht um ein rein militärisches Problem handelt.

Leider hat die Weigerung der G-8-Staaten, frühzeitigzu handeln, diesen Krieg meines Erachtens unnötig ver-längert. Dann ist es aber gelungen, ihn zu beenden. Andieser Stelle will ich anmerken, dass ich sehr deutlichsehe, dass sich Deutschland alle Mühe gibt, dieses Pro-blem in einen politischen Prozess einzubinden.

Die Agenturen haben heute gemeldet, Frau Merkelhabe gesagt, man brauchte mehr Geld für die Bundes-wehr. Dazu sage ich mit Verlaub: Strukturiert die Bun-deswehr erst einmal um und modernisiert sie; haltetnicht länger am Alten fest und finanziert nicht das Neuemit zusätzlichem Geld. An einem solchen Tag mussdoch die Frage erlaubt sein, ob die Zusage Deutschlands,von den 730 Millionen Euro Soforthilfe für den Libanon22 Millionen Euro, also nicht einmal 3 Prozent, zu über-nehmen, der politischen Rolle Deutschlands eigentlichangemessen ist. Ich finde, nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Der Friedensprozess im Libanon wird meines Erach-tens – das unterscheidet mich von den Mitgliedern derbeiden anderen Oppositionsfraktionen – nur dann erfolg-

reich sein, wenn UNIFIL ein robustes Mandat erhält.Umgekehrt ist aber auch richtig, dass dieses robusteMandat von UNIFIL nur dann Bedeutung haben wird,wenn UNIFIL in den Friedensprozess eingebettet wird.Das sind die beiden Kriterien, die unseres Erachtens zu-grunde gelegt werden müssen.

Man muss sich fragen: Ist diese internationale Truppegeeignet, die Sicherheit Israels und die territoriale Inte-grität des Libanons wieder herzustellen? Gibt es einePerspektive für eine Zweistaatenlösung, für Israel undPalästina, für einen Ausgleich zwischen Syrien und Is-rael? Was das deutsche Engagement angeht, ist unter mi-litärischen Gesichtspunkten eine Frage zentral: Ist aus-geschlossen, dass es zu Kampfhandlungen zwischendeutschen und israelischen Soldaten kommt? – Das sinddie drei Kriterien, auf deren Grundlage meine Fraktionihre Haltung zu diesem Mandat bestimmen wird. Jederhat eine persönliche Entscheidung zu treffen.

Lieber Herr Bundesverteidigungsminister, wir lassenuns bei dieser sachlichen Prüfung – das sage ich ganzausdrücklich – durch Ihr, wie ich finde, an vielen Stellenfahrlässiges und vorschnelles Gerede nicht in eine leicht-fertige Ablehnung treiben.

(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich will mit allem Nachdruck sagen: Unsere Soldaten er-warten von dem Inhaber der Befehls- und Kommando-gewalt, dass er Orientierung bietet. Er sollte sie nichtverwirren und den Eindruck erwecken, der Bendlerblocksei eine Neuausgabe des „Blauen Bocks“.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Zu den politischen Lösungen will ich ausdrücklich sa-gen: Lieber Frank Steinmeier, wir halten den Ansatz,Syrien einzubeziehen, nicht nur für dringend geboten,sondern loben ihn ausdrücklich. Dieser Ansatz basiertnicht auf der Vorstellung, dass man es mit einem Kampfder Guten gegen die Bösen zu tun hat. Wir müssen jetzt,fünf Jahre nach dem 11. September 2001, sagen: DieseForm der Bekämpfung des Terrorismus ist gescheitert.Im Irak ist sie leider sogar spektakulär gescheitert.

Das führt mich zu einer anderen Fragestellung: Wirmüssen einmal darüber nachdenken, wie sich die unter-schiedlichen Vorgehensweisen bei der Bekämpfung desTerrorismus – die eine geht von einem umfassenden Si-cherheitsbegriff aus, die andere, die unilaterale, setzt fastausschließlich auf militärische Macht – miteinander ver-tragen. Stellen Sie sich einmal vor, was die Fantasien,die in einigen Kreisen der Neokonservativen in den USAdiskutiert werden – Raketenangriffe und Luftangriffe aufden Iran –, für die Sicherheit der 10 000 europäischenSoldaten der UNIFIL heißen würden. Hier merkt mandoch, dass solch ein unilaterales Vorgehen und ein multi-lateraler Friedenseinsatz Ansätze sind, die in einenschwersten Konflikt miteinander geraten können.

In einem Bereich fürchten wir, dass genau dieserKonflikt schon eingetreten ist, nämlich in Afghanistan –nicht dadurch, dass wir dort Drogen bekämpfen, undnicht dadurch, dass Aufständische militärisch von ihrenUntaten abgehalten werden, sondern durch die Art und

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Jürgen Trittin

Weise, in der das in letzter Zeit geschehen ist. Man hatsich beispielsweise vor allen Dingen auf das Abbrennenvon Mohnfeldern konzentriert und nicht darauf, denMohnbauern wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkei-ten zu geben. Das hat im Ergebnis dazu geführt, dass derintegrative Ansatz, den Deutschland im Norden Afgha-nistan umsetzt, heute in seiner Sicherheit gefährdet ist.Deswegen müssen wir in der Diskussion mit unserenVerbündeten klar sagen, dass sich ein multilateraler An-satz einer politischen Friedensstiftung über Institutio-nenbildung nicht mit einem simplifizierten Modell desKampfes gegen den Terrorismus ausschließlich mit mili-tärischen Mitteln verträgt. Ich glaube, das wird die He-rausforderung der nächsten Zeit sein.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Gert Weisskirchen, SPD-

Fraktion.

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Frau Präsidentin! Lieber Kollege Trittin, am Anfang

Ihrer Rede haben Sie den Außenminister ein wenig kriti-siert. Ich möchte ganz deutlich sagen: Im ersten Mo-ment, als der Krieg von Hisbollah auf Israel angefachtworden war, hat der Außenminister, als die Reaktion ausIsrael kam, sofort gehandelt. Er hat die Region besucht.Er war in Israel und Jordanien. Er hat versucht, mitSyrien zu sprechen. Er war überall in der Region und hatversucht, Fäden anzuknüpfen, wodurch die UN-Resolu-tion 1701 erst in Kraft gesetzt werden konnte. Wie kanner denn anders handeln, als zu versuchen, dagegen, dassalle anderen sich unilateral verhalten, das heißt, auf ihreeigene Kraft und Stärke setzen, ein multilaterales,internationales Konzept zu stellen? Das hat er ge-macht. 1701 ist nicht zuletzt deswegen zustande gekom-men, weil er so unermüdlich dafür gekämpft hat. LieberKollege Trittin, das ist nicht zu vergessen.

(Beifall bei der SPD – Jürgen Trittin [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Habe ich auch ge-sagt!)

So etwas dauert nun einmal seine Zeit. Wir habendoch gesehen, wie es in New York gelaufen ist. Jedervon uns hat gesehen, wie die Schockstarre in Europa nurSchritt für Schritt überwunden werden konnte. Ichmöchte ein Land nennen, das sich mit der Konferenz inRom zur Libanonkrise wirklich an die Spitze gestellt hat.Italien hatte den Mut, sich als erstes Land deutlich zupositionieren und zu sagen: Wir schicken unsere Solda-ten im Rahmen des UNIFIL-Mandats sogar in den Liba-non selbst. Ich finde, dass gerade Europa mit diesemMoment zeigt, dass es bereit ist, gemeinsam zu handeln.Der Anfang wurde von Frank-Walter Steinmeier ge-macht. Dafür danken wir.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nun will ich nicht übertreiben, wenn ich sage, welcheChancen in diesem Prozess deutlich werden. Aber ichmöchte gern Martin Indyk vom Saban Center zitieren,früher war er Botschafter der USA in Israel. Er hat ge-sagt: Jetzt ist der Moment für Europa gekommen. – Gernhoffe ich, dass das so ist oder so sein wird. Aber wennich mir beispielsweise die Tageszeitung „Ha‘aretz“ vonheute anschaue, dann sehe ich, dass es drei Artikel gibt,die sich kritisch mit der Entwicklung des seit 33 Tagendauernden Krieges auseinander setzen. Ich bitte Sie,diese drei Artikel ganz genau zu lesen. In ihnen wirdversucht, deutlich zu machen, dass das unilaterale Han-deln falsch gewesen ist und dass es jetzt eine gute undneue Chance gibt, ein wirkliches internationales Kon-zept zu entwickeln, um einen überschaubaren Prozesseinzuleiten, der politisch dazu führt, dass das Schlüssel-problem Israels endlich angegangen werden kann: DieBürger Israels müssen in garantierten, international gesi-cherten und anerkannten Grenzen leben können.

Diese Chance ist jetzt gegeben, weil alle in der Re-gion – so schrecklich die 33 Tage und Nächte des Krie-ges auch waren – in den Abgrund geblickt haben. DasEntsetzen darüber wird in den drei Artikeln – aber nichtnur in ihnen – deutlich gemacht.

Mag sein, dass Nasrallah ein Zyniker ist. Mag sein,dass er sich in der einen oder anderen Situation sogarwie ein Terrorist verhält.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]:Ach, jetzt doch?)

Aber, lieber Kollege Gehrcke, er sagt: Unser Problem imLibanon ist, dass wir einen schwachen Staat haben; wirlassen uns entwaffnen, wenn der libanesische Staat starkwird. Sind das nicht Anzeichen dafür, dass in der gesam-ten Region ein Nachdenken eingesetzt hat? So schlimmdieser Krieg, diese 33 Tage und Nächte, auch waren,jetzt besteht wirklich die Chance, einen neuen Prozesseinzuleiten. Die UN-Resolution 1701 kann der Anfangs-punkt dafür sein, dass dieser neue Prozess eine stabileGrundlage findet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Gehrcke?

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Bitte.

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Herr Kollege Weisskirchen, Ihre Feststellung, die ich

sehr vernünftig finde, kann ich nur unterstreichen. Ichfrage Sie: Wenn sich selbst bei der Hisbollah der Ton än-dert, die Beurteilungen kritischer werden und man kei-nen Siegesjubel anstimmt wie damals, als Israel aus demSüden Libanons ausmarschiert ist bzw. als man Israelangeblich aus dem Süden Libanons vertrieben hat – Siekennen diese Töne –, wäre es dann nicht vernünftig undangemessen, wenn auch wir unseren Ton gegenüber die-sen politischen Kräften ändern und auf einen Dialog set-

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Wolfgang Gehrcke

zen, um diese Entwicklung zu bestärken, statt, wie in derVergangenheit, nicht mit den Verantwortlichen zu reden?

(Beifall bei der LINKEN)

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Herr Kollege Gehrcke, ich würde Ihnen gerne glau-

ben. Wir müssen uns aber auch vor Augen führen, wiezerklüftet das Land Libanon ist. Dort gibt es quasi-staat-liche Strukturen, die sich mit Terror identifizieren lassenund die vielleicht sogar die Ursache dafür sind, dass dieProbleme, die Israel jetzt militärisch beantwortet hat, sosehr haben wachsen können.

Wenn Nasrallah in der Tat beginnt, sich politisch zuverhalten, wenn er nicht versucht, auf die militärischeKarte zu setzen, und wenn er beginnt, darüber nachzu-denken, ob Israel nicht doch ein Existenzrecht in der Re-gion hat, damit seine Bürger in gesicherten Grenzen le-ben können, statt ständig durch terroristische Angriffebedroht zu werden, dann, so meine ich, könnte hier einneuer Friedensprozess beginnen. Niemand wäre darüberglücklicher als wir.

Ich finde es gut, dass Kurt Beck gesagt hat: Am Endeeines solchen Prozesses brauchen wir so etwas wie eineKSZE,

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit, wiewir sie aus Europa kennen. Wir brauchen eine Nachbar-schaft, bei der der eine Nachbar dem anderen Nachbarnein guter Nachbar ist. Das haben wir in Europa gelernt.Warum sollte das nicht auch in dieser Region möglichsein? Dafür kämpfen wir und dafür ist die UN-Resolution 1701, wie ich finde, ein guter Anfangspunkt.

Nun, Kollege Gehrcke, komme ich auf den prakti-schen Teil zu sprechen: Wenn es um das Mandat geht,das zur Sicherheit auch durch Militär geschützt werdenmuss, dann dürfen Sie sich nicht verweigern. Denn da-durch würde die Art und Weise, wie Sie sich jetzt verhal-ten, unglaubwürdig. Man kann nicht das eine wollen undzum anderen Nein sagen. Das geht nicht. Auch das ge-hört dazu.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Was die Frage betrifft, ob es einen Siegesrausch gebe,empfehle ich Ihnen, lieber Kollege Gehrcke: SchauenSie sich die öffentliche Debatte bis in die Knesset und indie Regierung hinein in Israel genau an. Dort gibt es kei-nen Triumphalismus, vielleicht besteht dort sogar ausder Sicht Kadimas die Gefahr, dass die Partei zerbrö-ckelt. In der „Ha’aretz“ von heute wird ein Artikel über-schrieben: Bye-bye Kadima. – Auf WiedersehenKadima.

Was war denn der neue Konsens, nachdem Netanjahudamals gesagt hat: Wir haben keinen Partner, deswegenmüssen wir unilateral handeln? Der Konsens bestand da-rin, dass die Linke in Israel gesagt hat – Sie kennen dieDebatte –: Wir gehen raus aus den besetzten Gebieten.Die Rechte hat gesagt: Wir können nur unilateral heraus-

gehen. Dieser Paradigmenwechsel hat in Kadima seinepolitische Form gefunden. Das war der Grund dafür, wa-rum Kadima so überragend gewählt worden ist. Dieserinnere Konsens zerbricht jetzt. Das ist zu erkennen.

Wir müssen allerdings kritisch nachfragen: Ist der in-nere Konsens, den beispielsweise Hisbollah bisher zu-sammengehalten hat, nämlich Israel von der Landkarteausradieren zu wollen, inzwischen auch zerbrochen? Bisauf die selbstkritischen, vielleicht auch zynischen Be-merkungen von Nasrallah ist hiervon noch nichts zu er-kennen. Ich will das nicht kleinreden, wir kommen jetztin einen neuen Prozess.

Katsav hat gestern erklärt, dass, wenn die Soldatenfreigesetzt werden können und sollen, eine Verhandlungzwischen Hisbollah und Israel, möglicherweise mitÄgypten als Mediator, stattfinden muss. Das ist der Be-ginn eines Prozesses, auf den wir setzen, der aber nurdann möglich ist, wenn die jetzt durch die Resolution1701 gegebene Chance auch wirklich realisiert werdenkann. Darum geht es. Um es ganz deutlich zu sagen: Diejetzige Situation kann sich für uns Europäer als sehrschwierig erweisen. Die Resolution 1701 zu realisieren,wird in der Tat sehr schwierig werden; das können wirauch daran erkennen, dass zwei Hisbollahminister inBeirut versuchen, auf die Bremse zu treten. Wir Euro-päer werden jetzt lernen müssen: Der Nahe Osten istnicht mehr von uns getrennt. Es ist nicht mehr der NaheOsten, der irgendwo dahinten verschwindet, sondern erist Mittelpunkt unserer Außenpolitik. Wir müssen uns inunserem Handeln auf die Roadmap stützen, wir müssenIsraels Existenzrecht sichern und dafür sorgen, dass dasKernproblem gelöst wird und Palästina die Möglichkeiterhält, ein eigener, selbstbestimmter, unabhängiger Staatzu werden. Diese Aufgaben haben wir uns gemeinsamgestellt.

Lieber Kollege Trittin, ich bin nach wie vor dankbar,dass die Blaupause für die Roadmap hier in Berlin er-stellt worden ist. Joschka Fischer war für die frühereBundesregierung daran beteiligt. Ich bin froh, dass diegegenwärtige Bundesregierung mit Frau Merkel undHerrn Steinmeier genau an dieser Roadmap mitarbeitet.Sie ist der Schlüssel zur Lösung des Problems, damitdiese Region, die so nahe liegt, eine Region des Friedenswerden kann.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang

Gerhardt, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es be-

steht hier im Hause wirklich kein Streit, dass die Regiondes Nahen Ostens für uns bedeutsam ist, dass sie in un-sere Sicherheitsinteressen hineinspielt: Dort wird dasWetter der Welt gemacht, diese Region bestimmt mitdarüber, was in unseren Innenstädten geschehen kannoder nicht.

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Dr. Wolfgang Gerhardt

Ich glaube nicht, dass uns die Geschichte am Ende ei-nen überzeugenden Grund liefert, uns aus allem heraus-zuhalten. Verantwortung verpflichtet, wenn man es sosieht. Aber wahr ist auch, dass es eine Frage der politi-schen Klugheit ist, dass wir entscheiden, welcher BeitragDeutschlands am sachgerechtesten und am konstruktivs-ten für diese Region ist. Wenn eine Fraktion erklärt, nachihrer Überzeugung ist das nicht der militärische Beitrag,und sie es für besser hält, auf die Verhandlungen Ein-fluss zu nehmen, humanitäre und medizinische Hilfe zuleisten und Kontakte aufzubauen, dann ist das eine ge-nauso legitime Hilfe, die unserer Verantwortung gerechtwird, wie ein militärischer Beitrag.

(Beifall bei der FDP sowie bei der LINKEN)

Viele der Kolleginnen und Kollegen, die sich heutefür einen militärischen Beitrag aussprechen, drücken diegroße Hoffnung aus – sie benutzen das Wort „endlich“ –,dass es mithilfe dieses Beitrags gelingt, dass in der Re-gion endlich die Fähigkeit entwickelt wird, miteinanderzu kommunizieren; diese Fähigkeit ist ja reichlich unter-repräsentiert. Das ist eine schmale Hoffnung. Es warkeine Schockstarre, die mich getroffen hat, als ich gese-hen habe, was in der Region vor sich geht. Wir wissenseit Jahrzehnten, was dort gemacht werden muss. Dasweiß auch die amerikanische Außenpolitik. Ich bin einüberzeugter Transatlantiker, aber ich muss sagen: Unsereamerikanischen Freunde können dort die Trümmer ihrerAußenpolitik – der fehlgeschlagenen Versuche, Bewe-gungen zu isolieren; so wie das jetzt im Grunde auch mitdem Iran ist – besichtigen. Sie können die Folgen einergrandiosen Fehleinschätzung besichtigen, was den Irakangeht. In „Foreign Policy“ ist diese Woche eine Kritikerschienen, wie sie kein Kollege hier ausdrücken würde:Die Rede war von Amerikas Unfähigkeit, im Irak etwasaufzubauen. Die Double-Standards des Westens, die vieleim Nahen Osten kritisieren, machen auch mir zu schaffen.Amerika antwortet bis heute auf das Atomprogrammvon Nordkorea mit vielen Verhandlungen und manchemAchselzucken, Indien hingegen, das den Atomwaffen-sperrvertrag nie unterschrieben hat, wird eine besondereRolle gegönnt. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wosind denn die Anstrengungen der Atomwaffen besitzen-den Mächte – auch der mit uns verbündeten –, der Weltzu zeigen, dass sie ihre Arsenale wirklich abrüsten?

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Das zu bedenken, gehört zu wirkungsvoller Politik,wenn neben der Stationierung von Soldaten am Ende et-was herauskommen soll. Jeder von uns weiß: DieHamas ist eine Organisation, die zu terroristischen Mit-teln gegriffen hat und auch gegenwärtig greift. Jederweiß, dass sie eine zutiefst soziale Verankerung hat. Egalaus welchem Grund: Jeder von uns weiß, dass sich diePalästinenser in den besetzten Gebieten zutiefst verletztgefühlt haben – auch die Israelis haben sich verletzt ge-fühlt – durch die terroristischen Angriffe. Aber wahr ist,dass in Gaza die soziale Lage der Palästinenser verbes-sert werden muss und dass Israel einen großen Beitragdazu leisten muss. Sonst werden auch Tausende von Sol-daten nicht helfen können, die Region zu stabilisieren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des Abg. Hans Eichel[SPD])

Das muss man gegenüber dieser Region offen sagen dür-fen.

Wer von den großen Staatsmännern der Welt kannschon sagen, wie Russland und China am Ende reagie-ren, nicht nur hinsichtlich Irans, sondern auch, was dieFinanzierung der Hisbollah durch Iran und Syrien an-geht. Russland und China zeigen uns bisher nur, dassohne sie international nichts zu erreichen ist. Wir erwar-ten aber, dass mit ihnen etwas gelingen kann. Beide ha-ben erklärt, nach ihrer Überzeugung bräuchte man keineSanktionen, sie seien in der Lage, das mit einem – wieman das neudeutsch nennt – Containment zu einem gu-ten Ende zu bringen. Dann muss einmal ernsthaft mit ih-nen gesprochen werden, dass sie uns das zeigen. Ich höreaber von keiner internationalen Konferenz, dass so etwasgeschehen würde. Dass Verschwiegenheit und eine ge-wisse Konferenzsprache zu den Gepflogenheiten der in-ternationalen Diplomatie gehören, ist jedem klar. Aberdas darf nicht dazu führen, dass überhaupt kein Wortmehr an die Öffentlichkeit dringt, wie das Problem tat-sächlich gelöst werden kann. Israel erweitert jetzt mit ei-nigen Baumaßnahmen seine Siedlungen wieder. Der Re-gierungschef erklärt: Ob man bei der Westbank imJahre 2010 reagieren könnte, sei noch höchst fraglich.

Wir haben es zur Staatsräson gemacht, das Existenz-recht Israels zu schützen. Dabei bleibt es. Aber wir ha-ben die eindringliche Bitte an unsere israelischenFreunde, es uns nicht so schwer zu machen, ihnen beizu-stehen!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des Abg. Walter Kolbow[SPD])

Auch das gehört zu einer offenen Aussprache hierher.

Die bisherigen Erfolge und Bewertungen, die meinKollege Hoyer angesprochen hat, will ich mangels Zeitnicht mehr ausführen.

Eine nüchterne Überprüfung der militärischen Ent-sendung zeigt uns, dass wir sie am Balkan und auch inAfghanistan und anderswo weiter brauchen. Sie zeigtuns aber eben auch – das ist mein Eindruck –, dass diepolitische Mühsal der entsprechenden Ebenen gewaltignachlässt, wenn in den Hauptstädten dieser Welt die Ent-scheidung, Militär zu entsenden, getroffen worden ist.Unsere amerikanischen Freunde entsenden gerne Solda-ten, aber ihre politische Anstrengung, in einer RegionRahmenbedingungen zu schaffen, durch die das Lebender Menschen verbessert wird, und dafür Verbündete zufinden, ist etwas geringer ausgeprägt. Wir sollten unsnicht daran gewöhnen, dass sich die einzige deutscheAntwort, die diskutiert wird – das war in diesem Fall be-merkenswert; jeden Tag wurde ja diskutiert, wie der Bei-trag aussehen könnte –, darin erschöpft. In diese Gefahrsollten wir nicht kommen.

Deshalb werbe ich für ein Bewusstsein bei uns allendafür – das ist insbesondere denjenigen gegenüber vor-

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Dr. Wolfgang Gerhardt

zutragen, die jetzt entsenden wollen –, dass nicht einEntsendebeschluss gefällt wird und dann wieder Funk-stille in Sachen Beitrag zur entscheidenden politischenLösung in der Region herrscht. Wer entsendet, muss sichhinterher umso mehr um einen politischen Beitrag be-mühen. Mein Eindruck heute ist leider, dass die Haupt-städte dieser Welt diesen Beitrag zur Lösung der Grund-probleme nicht leisten. Das Israel-Palästina-Problem istfast ein symbolhaftes Beispiel, aber es kreiert nicht dasÜbel aller Welt. Alle anderen Beziehungen werden da-durch aber so schwierig. Das Problem muss im Kern ge-löst werden. Dafür wäre jetzt der Zeitpunkt.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ich höre sofort auf. – Ich glaube, ich bin verstanden

worden.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Ingo Schmitt, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ingo Schmitt (Berlin) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-

gen! Es ist heute bereits viel über die Frage gesprochenworden, inwieweit es gerechtfertigt und geboten ist, UN-Friedenstruppen in den Libanon zu entsenden. Deswe-gen will ich mich schwerpunktmäßig auf die Entwick-lung der Europäischen Union und auf das, was dort inder nächsten Zeit wichtig ist, konzentrieren.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Auch ein wichtiges Thema! Sehr gut!)

Lassen Sie mich vorneweg aber eine Anmerkung zumThema Libanon machen. Ich war heute Morgen etwasüberrascht, als von Kollegen aus der Opposition der Ein-druck vermittelt worden ist, dass sich die Bundesregie-rung geradezu darum gerissen hat, ein entsprechendesMandat zu erhalten. Ich glaube, wer das behauptet, derwird der Situation nicht gerecht. Alles andere ist nämlichrichtig: Zutreffend ist, dass wir uns der dortigen Situa-tion nicht entziehen können und dass wir auch und ge-rade im wiedervereinigten Deutschland bereit sein müs-sen, bestimmte Vorhaben in der Weltgemeinschaftmitzutragen.

Ich verbinde das auch mit einer persönlichen Situa-tion. Als ich dem Bundestag noch nicht angehört habe,habe ich immer relativ schnell für mich entschieden,dass es richtig und klug ist, dass der Bundestag entspre-chend entscheiden wird. Beim Mandat für den Kongohatte ich zum ersten Mal selbst darüber zu entscheidenund ich rede bewusst nicht von einer Verlängerung vonAufträgen. Ich habe mir sehr viele Gedanken gemacht

und ich hatte sehr gemischte Gefühle, als ich mich dafürentschieden habe. Heute sage ich, dass diese Entschei-dung richtig war, und ich bin der Meinung – deshalbwerde ich das auch unterstützen –, dass sich die Bundes-wehr auch an einem UN-Mandat im Libanon beteiligensollte.

Nun aber zu dem Thema, das ich eigentlich anspre-chen wollte, nämlich zur Europäischen Union. LassenSie mich vorwegschicken, dass ich sehr froh darüber bin,dass der Stabilitätspakt zum ersten Mal seit Jahren end-lich wieder eingehalten wird. Ich darf Ihnen aus meinerErfahrung im Europäischen Parlament berichten. Es warnicht so, dass die Kollegen geradezu voller Häme durchdie Reihen gingen und sich freuten, dass auch einmal derMusterknabe Deutschland die Hausaufgaben nicht erle-digen konnte, sondern bei den Kollegen aus den andereneuropäischen Staaten war eher die Sorge erkennbar,wieso nun gerade Deutschland über Jahre hinweg nichtin der Lage war, diesen Stabilitätspakt einzuhalten, undwarum es Deutschland nicht gelang, Wirtschaftsdaten zuproduzieren, durch die deutlich wird, dass hier eineLokomotivfunktion der Deutschen gegeben ist. Ich sagetrotz unserer Koalition mit allem Verlaub: Herr KollegeEichel, ich glaube, Sie haben in diesem Bereich auf derEU-Ebene keine besonders glückliche Rolle gespielt.

(Abg. Hans Eichel [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Ich möchte aber an dieser Stelle dem Minister für Fi-nanzen, Herrn Steinbrück, Dank sagen, der es geschaffthat, die Maastrichtkriterien einzuhalten. Aber ich sageauch: Wer lobt, kann auch einmal eine kritische Anmer-kung machen. Ich halte es für nicht besonders klug undauch nicht für richtig, dass man die Europäische Zen-tralbank, die aus meiner Sicht in den vergangenen Jah-ren durch ihre große Weitsicht, Vorsicht und Umsicht ge-zeigt hat, dass sie einerseits dem Wirtschaftswachstum,andererseits aber auch der Stabilität gerecht wird, warnt:Die Europäische Zentralbank sollte eine nicht zu straffeGeldpolitik betreiben.

Es ist angesprochen worden: Der Regierungsstil hatsich gerade in der Außen- und Europapolitik verändert.Deshalb glaube ich, dass wir gute Chancen haben, dieRatspräsidentschaft im nächsten Jahr positiv zu gestal-ten. Es gibt eine Vielzahl von Themen: von illegaler Zu-wanderung über die Frage Energiesicherheit, Bekämp-fung des internationalen Terrorismus bis hin zum Abbauvon Bürokratie. Das bedeutet für mich weniger den Ab-bau von Personal, sondern den Abbau einer Vielzahl vonGesetzen, Verordnungen und Richtlinien, die ihre Funk-tion in dieser Form nicht erfüllen.

Ein ganz zentrales Thema wird sein: Gelingt es derdeutschen Ratspräsidentschaft, den Verfassungsvertragwieder anzuschieben, ihn so zu beleben und zu bewegen,dass es endlich zu einer positiven Entscheidung allerStaaten zu diesem Verfassungsvertrag kommt? Ich weißsehr wohl, dass einige Punkte in diesem Verfassungsver-trag als nicht so gut gelungen gelten können. Aber manmuss sich immer wieder vergegenwärtigen: Dieser Ver-fassungsvertrag wurde nicht nur zwischen den Parteien

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Ingo Schmitt (Berlin)

mit ihren ganz unterschiedlichen Auffassungen ausge-handelt, sondern letztlich waren daran 28 Staaten betei-ligt, die ganz unterschiedliche Ausgangspositionen, auchpolitisch unterschiedliche Traditionen und unterschiedli-che Staatsaufbauten haben.

Wenn man all das berücksichtigt, so kommt man zudem Schluss, dass dies ein gelungener Vertrag ist.Schließlich werden dadurch wesentliche Ziele erreicht.Zunächst einmal wird der Vertrag von Nizza abgelöst,von dem wir alle wissen, dass er nicht gelungen war. Wirschaffen eine transparente und klare Kompetenzrege-lung. Der Menschenrechtskatalog wird in Kraft gesetztwerden. Wir würden damit auch ernsthaft – das ist ge-rade in der heutigen Debatte ein wichtiges Thema – ineine verbindliche gemeinsame Außenpolitik einsteigen.

Es gibt natürlich auch Defizite, die wir in den nächs-ten Jahren angehen müssen. Ein Defizit dieser Verfas-sung war, dass man bestimmte Teile ausgeklammert hat.Wir sind längst weg von der Wirtschaftsgemeinschaftund haben uns – wie wir das alle wollten – zu einer Poli-tischen Union entwickelt. Das ging mal schneller, mallangsamer und mal war es ein schleichender Prozess.Wir wissen aber bis heute nicht – darüber diskutiert kei-ner laut, es sei denn im wissenschaftlichen Bereich –,was das Ziel sein soll.

Wir sitzen in einem Zug und wir fahren in eine Rich-tung, aber wir wissen nicht, welches der Endbahnhofsein soll. Auch wissen wir nicht, wer während der Fahrtunter welchen Voraussetzungen zusteigen darf. Ich fragealso: Wie weit kann sich Europa erweitern? Wo solltendie natürlichen Grenzen sein? Die Frage, wohin dieFahrt mit wem geht, muss irgendwann einmal diskutiertund als Vision festgelegt werden. Was in 40 oder50 Jahren sein wird, sei dahingestellt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Für mich gehört dazu auch die Frage, Herr Minister:Wie gehe ich mit den Anrainern um? Sie haben da dasentsprechende Signal gegeben. Beide Themenbereichemüssen miteinander kombiniert werden. Gleiches giltfür die Frage, wie die EU zukünftig mit Russland um-geht. Von daher gibt es in dem Jahr der Ratspräsident-schaft viele Chancen. Ich bin zuversichtlich, dass dieseBundesregierung diese Chancen auch aufgrund der vor-genommenen Klimaverbesserungen nutzen wird.Nichtsdestotrotz sollten wir neben dem halben Jahr, dasvor uns liegt, die großen Themen, die für die Gestaltungdieses Kontinents von Bedeutung sind, nicht aus denAugen verlieren, sondern irgendwann den Dialog da-rüber beginnen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich, Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Alexander Ulrich (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mein Vorredner hat dankenswerterweise die Außenpoli-tik in Richtung Europa gelenkt. Ich möchte das an dieserStelle fortsetzen.

Europa ist in der Krise. Das kann man überall lesenund hören. Wurde das zu Beginn nur von Journalistenöffentlich diskutiert, so geben mittlerweile alle Regie-rungen Europas zu, dass Europa tatsächlich in der Kriseist. Als bedürfte es noch eines weiteren Beweises, hatman auf dem letzten EU-Gipfel erklärt, dass der selbster-nannte Sanierungsfall Deutschland nun zum Retter Eu-ropas werden soll. Ich glaube, daran zeigt sich, wie tiefEuropa tatsächlich in der Krise ist. Denn Deutschland istmit Ihrer Politik nicht geeignet, Europa ein menschlichesAntlitz zu verleihen.

Es ist grandios, wie die an sich tolle Idee der Europäi-schen Union von Europas Regierungen in die Sackgassegeführt worden ist. Man muss sich die Frage stellen,Herr Bundesaußenminister, was Deutschland in dem ei-nen Jahr der Reflexionsphase getan hat. Man hat oftmalsden Eindruck gehabt, dass die Regierung tatenlos warund sich die Phase eines Denkverbots auferlegt hatte.Als man im Sommer wieder zusammengekommen ist,um zu beraten, wie der EU-Verfassungsvertrag zu rettenist, hat man unreflektiert die Reflexionsphase um einweiteres Jahr verlängert.

Ich glaube, wenn Deutschland Impulse für die EU-Verfassung setzen will, dann muss man akzeptieren,dass mit dem Ratifizierungsprozess und dem Nein derFranzosen und der Niederländer die EU-Verfassung inder vorliegenden Form gescheitert ist. Ich glaube auch,dass es nicht möglich ist, den Ländern schmackhaft zumachen, möglicherweise aufs Neue darüber zu entschei-den. Man nimmt hier und da einige Änderungen an demEntwurf vor und formuliert noch den einen oder anderenAnhang zum Verfassungsvertrag. So kann man aber dieEU-Verfassung nicht retten. Wir brauchen einen Neu-start in der Debatte um die EU.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte noch einmal betonen, dass die Linke imBundestag beglückwünscht, dass zwei Länder – Frank-reich und die Niederlande – zu dieser EU-VerfassungNein gesagt haben, weil uns das die Chance gibt, endlichüber eine andere Verfassung nachzudenken, in der auchder soziale Charakter der Europäischen Union verankertwerden kann. Deshalb meinen herzlichen Glückwunschan die Länder Frankreich und die Niederlande für diesesklare Nein bei der Abstimmung!

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben die Chance, dass die EU dadurch wieder de-mokratischer, friedlicher und sozialer werden kann.

Herr Steinmeier, ich hätte mir von Ihnen konkretereAusführungen darüber gewünscht, wie Sie die Ratsprä-sidentschaft im ersten halben Jahr zu nutzen gedenken,um neue Impulse zu setzen. Beschädigen Sie nicht dieDemokratie und versuchen Sie nicht, während der deut-

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Alexander Ulrich

schen Ratspräsidentschaft mit neuen Tricks die geschei-terte Verfassung wieder aufzulegen!

Wir – der EU-Ausschuss des Bundestags – waren imFrühjahr in Paris und haben uns mit dem EU-Ausschussdes französischen Parlaments getroffen. An die anderenFraktionen gerichtet sage ich deutlich: Die Ignoranz, mitder Sie mit der Tatsache umgehen, dass die Franzosenklipp und klar und auch parteiübergreifend gesagt haben,diese Verfassung könnten sie in ihrem Land nicht mehrvorlegen, ist beschämend. Man kann nicht einfach fest-stellen, dass 15 Länder dem Verfassungsvertrag zuge-stimmt und dass ihn einige Länder abgelehnt haben. Wirmüssen erkennen, dass wir für eine EU-Verfassung alleLänder brauchen. Deshalb war es sehr ignorant, wie Siesich in Paris verhalten haben.

Der Verfassungsvertrag ist gescheitert. Der vorlie-gende Verfassungsvertrag verfestigt Demokratiedefiziteder EU, verstärkt die Dominanz der großen Mächte überdie kleinen Mitgliedstaaten und legt die EU auf einenwirtschafts- und währungspolitischen Kurs des rigorosenNeoliberalismus fest, bei dem der Profit der Großkon-zerne das oberste Gebot ist.

(Markus Löning [FDP]: Da kennen Sie aber einen anderen Verfassungsvertrag als wir!)

Er begünstigt den europaweiten Sozialabbau und erhebtdie Militarisierung der EU in den Rang einer Verfas-sungspflicht.

Wir wollen eine neue Debatte anschieben. Wir brau-chen eine neue verfassungsgebende Versammlung,weil der Zivilgesellschaft mit der außerparlamentari-schen Bewegung ein Neustart für die europäische Ver-fassung gelingen muss. Wir brauchen ein Europa, dasdemokratisch, friedvoll und sozial ist und eine ökologi-sche und solidarische Gemeinschaft darstellt. Wir wollenkeinen europäischen Superstaat, sondern einen Verbundeuropäischer Staaten und Völker auf der Basis desGleichheitsgrundsatzes und des Selbstbestimmungs-rechts.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen die europäischen Grundwerte Friedenund Wohlergehen der Völker. Diese müssen in der Ver-fassung verankert sein. Wir brauchen ein nachhaltigesEuropa mit ausgewogenem Wirtschaftswachstum, Preis-stabilität, Vollbeschäftigung und sozialem Fortschritt.Wir brauchen ein Europa, das tatsächlich die Armut be-kämpft und ein hohes Maß an Umweltschutz garantiert,ein Europa, in dem Wirtschaft und Wissenschaft geför-dert werden und andere Antworten auf energiepolitischeFragen gegeben werden als gegenwärtig in der Europäi-schen Union.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

Die Zustimmung der Bürger zu Europa hängt abernicht nur von einer Verfassung ab. Vielmehr muss diePolitik auch bei aktuellen Entscheidungen die Ängsteund Sorgen der Menschen um Arbeitsplatzverluste undArbeitsplatzverlagerungen in die neuen EU-Länder ernstnehmen. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass Beitrittslän-

der auf Unternehmensteuern verzichten, aber gleichzei-tig in den Topf der EU-Subventionen greifen. Damit ge-winnt man die deutsche Bevölkerung nicht für dieEuropäische Union.

Die Lissabonstrategie ist gescheitert. Es wäre loh-nenswert zu überprüfen, warum sie gescheitert ist, wa-rum man die Ziele nicht erreicht hat. Ich kann dazu nursagen: Wer glaubt, dass man diese Strategie unverändertweiterverfolgen kann, wird sehen, dass Europa nochweiter in die Sackgasse gerät.

Die Linke im Bundestag wird gemeinsam mit der Zi-vilgesellschaft und der außerparlamentarischen Bewe-gung die deutsche Ratspräsidentschaft nutzen, um füreine demokratische, friedvolle und soziale EuropäischeUnion zu kämpfen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Müller vom

Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich willzuerst auf die Debatte eingehen, die von einem mögli-chen Libanoneinsatz stark geprägt ist. Herr Gerhardt undHerr Hoyer, ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehörtund gebe zu, dass ich Ihnen in Ihrer Analyse inhaltlichteilweise folgen kann. Dazu trägt auch Ihre Art undWeise – Herr Gerhardt, Sie ganz bedächtig, und Sie,Herr Hoyer, recht erfahren – bei. Aber die Konsequen-zen, die Schlussfolgerungen, zu denen Sie kommen, sindziemlich katastrophal. Man spürt förmlich, wie unwohlSie sich fühlen, dass Ihr Vorsitzender Westerwelle dabeiist, die außenpolitische Tradition der Genscher-FDP zuzertrümmern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Er tut das beispielsweise dann, wenn er konsequent je-den UNO-Einsatz mit der Begründung ablehnt, Deutsch-land könne nicht ständig dabei sein. Tatsächlich stehtDeutschland an 32. Stelle, was solche Einsätze angeht.Zudem ist ISAF kein UNO-Einsatz. Wenn er etwas an-deres behauptet, dann zeugt das von außenpolitischerUnkenntnis.

Sie haben sicherlich zu Recht darauf hingewiesen,dass die internationale Truppe im Libanon ohne einenpolitischen Prozess keinen Erfolg haben kann. Aber Siemüssen doch wissen, dass es ohne eine solche Truppeund die entsprechende Resolution gar keinen Waffen-stillstand in dieser Region gäbe. Dass man der PDS er-klären muss, dass man einen Waffenstillstand braucht,bevor man politisch aktiv werden kann, wissen wir imDeutschen Bundestag. Aber, meine Damen und Herrenvon der FDP, Ihnen mit Ihrer Tradition sollte man das ei-gentlich nicht erklären müssen. Unabhängig vom deut-schen Beitrag ist die internationale Truppe – dazu habe

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Kerstin Müller (Köln)

ich von Ihnen nichts gehört – absolut erforderlich. DieEntscheidung der Europäer in diesem Fall ist richtig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es stimmt, dass der politische Prozess entscheidendist. Wir brauchen eine Wiederbelebung des Quartetts derAußenminister. Und wir möchten Sie, Herr Außenminis-ter, darin bestärken, auf dem Weg der Einbindung Syri-ens fortzuschreiten. Wir brauchen eine Fortsetzung desinnerlibanesischen Dialogs; denn die Entwaffnung derHisbollah ist überhaupt nur im Rahmen eines politischenProzesses vorstellbar. Militärisch ist dazu niemand wil-lens und in der Lage.

Wenn das nicht passiert – das ist für uns auch eineganz wichtige Bedingung –, dann wird man möglicher-weise spätestens in einem halben Jahr vor der Situationstehen, dass der Konflikt wieder aufbricht. Auch einneuer Bürgerkrieg im Libanon ist nicht ausgeschlossen.Es ist fast unvorstellbar, dass dann internationale Trup-pen, darunter möglicherweise deutsche, zwischen denFronten stehen. Von uns geht ganz klar die Aufforderungan die Bundesregierung, alles dafür zu tun, dass wir indiesem politischen Prozess weiterkommen.

Mich treibt aber noch etwas anderes um, nämlich dassangesichts der Libanonkrise die Krisen in Afrika wiederin Vergessenheit geraten. Die Wahlen im Kongo habentrotz der EU-Mission und der deutschen Beteiligungkaum noch interessiert. Selbst der deutsche Oberkom-mandierende weilte im Urlaub, während es vor Ort zuersten Unruhen kam. In Darfur im Sudan geht der schlei-chende Völkermord vor den Augen der Weltöffentlich-keit weiter, aber es findet dazu weder eine Debatte in derdeutschen Öffentlichkeit statt, noch bereitet die Bundes-regierung dazu eine Diskussion vor. Wir haben doch beider Kongodebatte gesehen, wie fahrlässig und kurzsich-tig das ist.

Ich habe hier damals ein politisches Gesamtkonzeptfür meine Fraktion und eine strategische Debatte darübergefordert, ob und warum es im europäischen und deut-schen Interesse ist, sich auch an friedenssichernden Ein-sätzen in Afrika zu beteiligen. Da ist leider Fehlanzeige.Stattdessen – das muss ich jetzt zitieren – kündigt derStaatssekretär des Herrn Jung, Herr Schmidt, vor derCSU-Landesgruppe an, man werde in jedem Fall nachvier Monaten aus dem Kongo abziehen. Begründung:die zusätzliche Belastung durch den Libanoneinsatz,nicht etwa die Sicherheitslage im Kongo. Jeder weiß,dass es nach den Stichwahlen im Oktober erst so richtiglosgehen kann, wie man im August gesehen hat.

Ich meine, das ist nun wirklich das Gegenteil vonkonzeptioneller Politik, ganz zu schweigen von einer ko-härenten Afrikastrategie. Das bedeutet, dass Sie immernoch von Einsatz zu Einsatz stolpern, dilettantisch vor-bereitet durch den Herrn Verteidigungsminister undseine Mannen, ohne darzulegen, was die außen- und si-cherheitspolitischen Ziele sind, ohne eine Strategie fürden Nachbarkontinent Afrika zu entwickeln und ohnesich zum Beispiel im Rahmen der Debatte über dasWeißbuch Gedanken darüber zu machen, wie man denn

die Bundeswehr auf diese neuen Herausforderungen vor-bereitet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eine der schwersten Krisen weltweit findet zurzeit inDarfur statt. Es gibt schwerste Menschenrechtsverlet-zungen und mehr als 300 000 Tote und 2 Millionen Ver-triebene. Ich glaube, es war überfällig, dass die UNOjetzt endlich eine robuste Blauhelmtruppe nach Darfurschicken will, die nicht die Fehler der AU-Mission wie-derholt und zu schwach ist.

Ich finde es angesichts der Dimension des Konfliktesgewagt, dass man, wie heute Morgen von der Kanzleringeschehen, vorsorglich schon einmal ankündigt, manwerde sich da vollständig heraushalten. Das ist ein Aus-spruch der Kanzlerin, der an die eigenen Reihen gerich-tet ist und der mit der Außenpolitik gar nichts zu tun hat.Ich erwarte aber zumindest, dass man sich, wenn mandas nicht will, in diesem Konflikt politisch engagiert unddass man zum Beispiel alles dafür tut, dass die sudanesi-sche Regierung der Blauhelmmission zustimmt. Daskönnte man machen, indem der Außenminister und dieKanzlerin mit Putin oder in der nächsten Woche mit demchinesischen Premier reden; denn China und Russlandmüssen endlich bei der sudanesischen Regierung aufeine Zustimmung zur UNO-Mission drängen. Das wäreganz konkrete Politik, ohne dass es um Militär geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darfur gehört ganz oben auf die politische Tagesord-nung, auch während der deutschen Ratspräsidentschaft.Da wird es nicht nur um den europäischen Beitrag zu derMission gehen, sondern auch um diplomatische Initiati-ven, um unter anderem das geschlossene Friedensab-kommen zu retten. Wir müssen generell, was Afrika be-trifft, endlich die vorhandene europäische Afrikastrategievom Dezember mit Leben füllen. Ich erwarte Konzeptevon der Bundesregierung.

Ein letzter Satz: Der 11. September 2001, über denheute viel geredet wurde und über den nächste Wochenoch einmal geredet wird, hat doch eines gezeigt, näm-lich dass es im Kampf um den Terror um langfristig an-gelegte und nachhaltige politische Strategien gehenmuss. Man muss rechtzeitig dafür sorgen, dass geschei-terte Staaten erst gar nicht entstehen. Damit sind wirwieder bei Afrika, wo wir das gerade wieder verpassen.Frieden und Sicherheit in Afrika entsprechen unserenunmittelbaren Sicherheitsinteressen. Tun wir endlich et-was dafür!

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen

Hans Eichel das Wort.

Hans Eichel (SPD): Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich habe mich schon

zu Wort gemeldet, als der Kollege Schmitt gesprochenhat. Das ist leider übersehen worden.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006 4541

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Hans Eichel

Herr Kollege Schmitt, ich will auf Folgendes hinwei-sen:

Erstens. Wenn der Abbau der Steuersubventionen,den Sie und die Mehrheit des Bundesrates unmittelbarnach Bildung der großen Koalition mit beschlossen ha-ben, schon beschlossen worden wäre, als die rot-grüneBundesregierung entsprechende Gesetzentwürfe ein-gebracht hat, dann hätten wir, wie die Zahlen des Sta-tistischen Bundesamtes jetzt ausweisen, bereits 2005 die3-Prozent-Grenze wieder unterschritten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt istnach einem einstimmigen Beschluss der Staats- und Re-gierungschefs – die Finanzminister waren anwesend –geändert worden. Die Lobreden auf diese Änderungenhaben der österreichische Bundeskanzler Schüssel undder niederländische Ministerpräsident Balkenende, be-kanntlich Vertreter christlich-demokratischer bzw. kon-servativer Parteien, gehalten.

Drittens. Der bayerische Ministerpräsident Stoiber,Vorsitzender der CSU, war unmittelbar vor der Verab-schiedung der Reform des Stabilitäts- und Wachstums-pakts beim Treffen der Parteivorsitzenden der konserva-tiven Parteien, um gegen diese Änderung zu protestieren.Ihm wurde dort von allen anderen Vertretern der konser-vativen Parteien nachdrücklich gesagt, dass diese Ände-rung in Ordnung sei, insbesondere von Herrn Jean-Claude Juncker – Sie können ihn danach befragen – undvon Herrn Schüssel.

Letztens. Die von uns gemeinsam getragene Bundes-regierung profitiert von der Reform des Stabilitäts- undWachstumspaktes; denn erst mit dieser Reform war esmöglich, ein weiteres Jahr bei schlechter Konjunktur zugewinnen und nicht bereits in diesem Jahr eine Politikmachen zu müssen – darauf hat Herr Steinbrück in seinerRede hingewiesen –, durch die die 3-Prozent-Grenzezwingend unterschritten wird. Nur dadurch wurde esmöglich, eine Politik zu betreiben, durch die erst dieWachstumskräfte stimuliert werden und dann die Konso-lidierung vorangebracht wird.

Ich weise Sie darauf hin, dass die Einhaltung des Sta-bilitäts- und Wachstumspaktes – seine Kriterien sindnicht weich gemacht worden – für unsere Regierungnoch härter werden wird, weil wir das strukturelle Defi-zit jedes Jahr um 0,5 Prozent abbauen müssen. Das ist inder mittelfristigen Finanzplanung noch nicht voll abge-bildet. Das wird noch zu machen sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Schmitt, zur Erwiderung, bitte schön.

Ingo Schmitt (Berlin) (CDU/CSU): Herr Kollege Eichel, Herr ehemaliger Finanzminister,

ich glaube, man muss dabei zwei Dinge sehr sorgfältigauseinander halten.

Das eine ist Tatsache – das will ich gar nicht vor-wurfsvoll sagen –, dass Deutschland den Stabilitätspaktin den letzten Jahren nicht erfüllt hat. Man kann sicher-lich Gründe dafür finden, warum das nicht der Fall war.Auf jeden Fall ist es eine Tatsache.

Daraus hat sich dann die zweite Problematik entwi-ckelt: Derjenige, der den Stabilitätspakt nicht erfüllt,fängt an, an diesem Pakt herumzumäkeln und ihn aufzu-weichen. Dabei findet er sehr viele, die gerne mitma-chen. Schließlich war die 3-Prozent-Hürde vielen einDorn im Auge. Dieser Punkt ist, Herr Eichel, in Brüsselund bei vielen Kollegen, auch im Europäischen Parla-ment, nicht sehr gut angekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Niels

Annen von der SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Niels Annen (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Mit Ihrer Erlaubnis werde ich mich wieder derAußenpolitik zuwenden. Ich will klar sagen: Die deut-sche Außenpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder Linksfraktion, ist Friedenspolitik. Ich finde, das hatder Außenminister während der 32 Tage der Kampf-handlungen im Libanon eindrucksvoll unter Beweis ge-stellt.

Die Priorität galt – da kann es gar keinen Zweifel ge-ben – den Bemühungen um die Beendigung der Feind-seligkeiten. Spät, aber nicht zu spät konnte die Reso-lution 1701 verabschiedet werden. Auch ohne dassDeutschland Mitglied des UN-Sicherheitsrats ist, habenwir, vor allem der Außenminister, sehr viel zum Zustan-dekommen dieser Resolution beigetragen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Das ist ein Grund für die Erwartungen, die heute an un-ser Land gerichtet werden.

Ich weiß aus sehr vielen Gesprächen, dass es in derBevölkerung durchaus eine Verunsicherung über dieweltweiten Einsätze der Bundeswehr gibt. Deutsche Sol-daten sind in der Tat am Horn von Afrika, auf dem Bal-kan und sogar in Afghanistan im Einsatz. Ich sage andieser Stelle ausdrücklich: Es geht auch darum, über diepolitischen Kriterien für solche Einsätze zu diskutieren.Hier ist der Ort dafür, weil wir als Mitglieder des Bun-destags letztlich auch darüber entscheiden müssen, wodeutsche Soldatinnen und Soldaten eingesetzt werden.Es geht also um unsere Verantwortung und es geht umdie Frage: Was liegt im deutschen Interesse? Ich will an-hand der aktuellen Krise darstellen, warum ich glaube,dass unser Engagement in der Region im Nahen Ostensinnvoll und richtig ist.

Diese Region hat seit 1948 durchschnittlich allesechseinhalb Jahre einen Krieg durchlitten – mit

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Niels Annen

dramatischen Folgen für die betroffenen Menschen, dieInfrastruktur, die wirtschaftliche Entwicklung und dieStabilität in einer Weltregion, die – bei ein wenigRückenwind – nicht mehr als dreieinhalb Stunden Flug-zeit von uns entfernt liegt.

Es besteht kein Zweifel – das ist hier schon gesagtworden; ich stimme dem zu –: Auslöser der jüngstenKrise war die Entführung von zwei israelischen Soldatendurch die Hisbollah. Aber war die Entführung auch dieUrsache für diesen Konflikt oder hat vielmehr der ehema-lige amerikanische Sicherheitsberater Brent ScowcroftRecht, wenn er sagt – ich zitiere ihn –:

Die Quelle des Problems ist nicht die Hisbollah.Das ist nur ein Ableger der Ursache, nämlich destragischen Konflikts über Palästina, …

(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Genau!)

Wie dem auch sei: Es ist richtig, glaube ich, dass un-sere Politik die Probleme des Libanon nicht isoliert be-trachtet. Wir müssen die Probleme um den besetzten Go-lan und um die Scheba-Farmen einbeziehen und wirmüssen letztlich auch die Debatte um die Eigenstaatlich-keit Palästinas berücksichtigen.

(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies-loch] [SPD] sowie bei Abgeordneten der LIN-KEN)

Für mich ist klar: Die Lösung der Palästinafragesteht im Mittelpunkt unserer Bemühungen.

(Beifall der Abg. Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD])

Umgekehrt ist auch eindeutig: Die Lösung des palästi-nensischen Konflikts beinhaltet keine Zauberformel fürdie Lösung aller Konflikte in der Region.

(Beifall bei der SPD)

Aber die Lösung des Konflikts würde – darauf kommtes mir an – all denjenigen die politische Legitimationentziehen, die heute ihre extremistische Politik mit demVerweis auf den Befreiungskampf des palästinensischenVolkes betreiben und begründen; die meisten von ihnenim Übrigen, ohne sich jemals wirklich um das Schicksalder palästinensischen Menschen gekümmert zu haben.

(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Rich-tig! – Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist leiderwahr!)

Hier geht es auch und nicht zuletzt um die Hisbollah.Das bedeutet, es geht um eine historische Entscheidungdieser Miliz, Bewegung, Partei – wie immer Siewollen –, ob sie sich zu einer zivilen politischen Kraftweiterentwickeln möchte – einiges deutet darauf hin; dieÄußerungen von Herrn Nasrallah sind erwähnt worden –oder ob sie den Weg in den Terrorismus weiter verfolgenmöchte.

Das führt zu der Frage: Was für einen Charakter hateigentlich die aktuelle Auseinandersetzung an der Nord-grenze Israels? Die Israelis sehen sich mit einer dramati-schen Situation konfrontiert. Nach dem Rückzug der Ar-

mee vor sechs Jahren aus dem besetzten Südlibanonsieht sich Israel weiterhin andauernden Angriffen aufsein Territorium und seine Bürgerinnen und Bürger aus-gesetzt. Die aus meiner Sicht leider in weiten Teilen un-verhältnismäßigen Militärschläge der letzten Wochenkann man – davon bin ich überzeugt – nur dann verste-hen, wenn man sich klar macht, dass es aus Sicht Israelsin diesem Krieg nicht nur um eine Auseinandersetzungin einem besetzten Territorium, sondern um die Existenzdes Staates Israel geht.

In Deutschland akademische Diskussionen darüber zuführen, wie man die Hetzreden des iranischen Präsiden-ten bewerten soll, ist eine Sache; angesichts von bis zu250 Raketeneinschlägen pro Tag darüber zu diskutieren,ist eine andere Sache.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Da bekommen die antisemitischen Hetzreden von HerrnAhmadinedschad im wahrsten Sinne des Wortes eine ex-plosive Bedeutung.

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Teheraneine Mitverantwortung an der gegenwärtigen Krise zu-kommt. Deshalb habe ich persönlich großes Verständnisfür diejenigen in Israel, die den Kampf gegen die Hisbol-lah auch als einen Kampf gegen einen bewaffneten ArmTeherans verstehen. Die Reden von Ahmadinedschad al-lein beantworten aber nicht die Frage, ob die Hisbollahnun eine libanesische oder eine Agenda der schiitischenWeltrevolution verfolgt.

Wir müssen kurz vor dem fünften Jahrestag des11. September leider feststellen, dass die US-Politik desKrieges gegen den Terrorismus eine ehrliche Analyseder Politikentwicklung in der Region behindert.

(Beifall des Abg. Lothar Mark [SPD])

Sie unterscheidet bei der Beurteilung der Politik vonHamas und Hisbollah nicht zwischen regionalen undmöglichen globalen Zielen, sondern subsumiert ganz un-terschiedliche Parteien, Bewegungen und Beweggründeunter den Begriff des Terrorismus und kommt so leiderzwangsläufig häufig zu falschen Schlüssen.

Mein Eindruck ist zudem, dass die Auswirkungen desBürgerkriegs im Irak auf die Region auch bei uns unter-schätzt werden. Die Bilder von tödlichen Anschlägen imIrak werden in ihrer Dramatik von uns doch kaum nochzur Kenntnis genommen. Was bei uns in wenigen Sekun-den im Nachrichtenüberblick zusammengefasst über denBildschirm flimmert, wird jeden Tag in brutaler De-tailtreue über al-Dschasira und andere Netzwerke in Mil-lionen arabischer Haushalte übertragen. Welche Wir-kung das auf die benachbarten Länder mit all ihrenkomplizierten politischen Gemengelagen und Minder-heitensituationen hat, brauche ich, glaube ich, an dieserStelle nicht weiter auszuführen.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stel-len heute ohne jede Genugtuung fest, dass die Politikvon Bundeskanzler Gerhard Schröder, sich nicht amKrieg im Irak zu beteiligen, richtig gewesen ist.

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Niels Annen

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt heute mehr Instabilität und mehr Terrorismus alsvor dem Irakkrieg. Hinzu kommt – ich glaube, das istwichtig – in den letzten Monaten ein mangelndes Enga-gement bezüglich der Lösung des Nahostkonfliktes. Dasuntergräbt die Legitimation der amerikanischen Politik.Wir brauchen die amerikanische Rolle. Aber gleichzeitigmüssen wir die europäische Rolle in dieser Situationstärken.

Ich meine – um das abschließend zusammenzufas-sen –, dass der Außenminister die unterschiedlichenKomponenten des Konfliktes in dieser Situation betonthat.

(Beifall des Abg. Lothar Mark [SPD])

Es ist auch richtig, dass wir die Bereitschaft signalisierthaben, uns an einem UNIFIL-Mandat zu beteiligen. Diepolitischen Voraussetzungen muss jedoch die libanesi-sche Regierung schaffen. Ich sage es auch mit Blick aufden Verteidigungsminister: Wir drängen uns nicht auf;aber wir beteiligen uns schon heute an der Lösung desProblems, und zwar mit ehrenamtlichen Helfern bei-spielsweise des THW, mit Entwicklungshelfern, durchtechnische und anderweitige Unterstützung. Meine sehrverehrten Damen und Herren, diesen Menschen, dieschon dort in der Region unterwegs sind, sollte unser ge-meinsamer Dank gelten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Markus Löning von der

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Markus Löning (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Frau Müller, erlauben Sie mir eine kurze Bemerkung zuIhren Anmerkungen zu unserer Tradition. Es ist immerTradition der Liberalen gewesen – und so wird es auchweiterhin sein –, Dinge differenziert zu betrachten.

(Lothar Mark [SPD]: Ui!)

Wir haben diese Debatte sehr intensiv geführt und dieKollegen sind in der Bewertung zu unterschiedlichstenErgebnissen gekommen. Aber wir lassen uns von Ihnennicht eine undifferenzierte Haltung vorwerfen.

Wir sind alle froh, dass die Tradition Joschka Fischerendlich beendet ist; es wurde Zeit, dass diese TraditionIhrer Partei beendet wurde, auch an dieser Stelle.

(Beifall bei der FDP)

Aber ich möchte daran erinnern, dass dieser Außen-minister noch bei seinem Amtsantritt die NATO infragegestellt hat. Ebenso möchte ich daran erinnern, dass HerrTrittin noch kurz vor seinem Amtsantritt die Bundes-

wehr auf Demonstrationen gegen Gelöbnisfeiern inGrund und Boden verdammt hat. Jetzt fordert er ihrenEinsatz an jeder Stelle dieser Erde, wo es möglich ist.Das sind Brüche in Traditionslinien, die Sie sich vorhal-ten lassen müssen, Frau Müller, nicht wir.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE])

Meine Damen und Herren, mein Thema ist aber dieEU-Präsidentschaft. Wir brauchen eine erfolgreicheEU-Präsidentschaft. Herr Außenminister, Sie habenheute schon die erste Chance verspielt. Wir reden vonTransparenz, wir wollen die Bürger mitnehmen, wir wol-len einen offenen politischen Prozess. Warum sagen Siedann hier, zu den Themen der Präsidentschaft könntenSie jetzt leider noch nicht sehr viel sagen? Es wäre dieChance gewesen, hier im Bundestag darüber eine De-batte zu führen. Es wäre die Chance gewesen, die Bürgermitzunehmen und eine öffentliche Resonanz hinsichtlichIhrer Ziele in der Europäischen Union zu erzeugen. Ichhätte mir gewünscht, dass Sie diese Chance heute hierergriffen hätten.

Wir sind – da sind wir uns, glaube ich, alle einig – derMeinung, dass wir die Bürger stärker mitnehmen müs-sen. Wir brauchen ein Europa der Erfolge; auch das ha-ben wir hier schon öfter gesagt. Lieber Herr Schmitt, damöchte ich Ihnen ausdrücklich widersprechen: Ichglaube nicht, dass wir eine Debatte über Ziele und Gren-zen brauchen. Wir können nicht nachfolgenden Genera-tionen vorschreiben, wie sie mit der EU umzugehen ha-ben. Auch wir nehmen für uns in Anspruch, die EU nachunseren Vorstellungen und anders als vor 20 Jahren zugestalten. Eine Debatte, wie Sie sie einfordern, würdefehlgehen. Es wird an den zukünftigen Generationen lie-gen, zu entscheiden, ob etwa die Ukraine Mitglied derEU werden kann oder nicht. Es ist Unfug, das jetzt ab-schließend beschreiben zu wollen.

Wir unterstützen die Bundesregierung, wenn sie denVerfassungsprozess neu in Gang setzen will, HerrSteinmeier. Wir brauchen in Europa mehr Transparenzund mehr Demokratie. Wir brauchen eine gemeinsameAußenpolitik. Aber – auch das ist wichtig – wir könnendas klare Votum der Franzosen und der Holländer nichtvöllig ignorieren. Das muss man sehr klar sehen.

(Beifall des Abg. Alexander Ulrich (DIE LINKE)

Wir drücken der Bundesregierung die Daumen, dass eshier wirklich zu Ergebnissen kommt. Diese Debattemuss beendet werden; denn unsere Bürger fordern zuRecht von Europa mehr als eine für sie in vielen Berei-chen theoretische Verfassungsdebatte. Sie fordern prak-tische Ergebnisse.

Zu einem praktischen Ergebnis können auch wir alsBundestag beitragen. Wir haben mit der Bundesregie-rung eine Vereinbarung über die frühzeitige Beteiligungdes Bundestages geschlossen. Wir als Opposition werdendiese Beteiligung immer wieder einfordern. Aber es wirdbei einer Koalition mit einer so erdrückenden Mehrheit indiesem Hause auch darauf ankommen – da appelliere ichan die Kollegen aus den Koalitionsfraktionen –, dass die

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Markus Löning

Kollegen den Mut haben, auch ihrer eigenen Regierungzu sagen: Wir wollen beteiligt werden. Darüber muss imAusschuss diskutiert und im Plenum debattiert werden.Es hängt von Ihnen ab, ob Sie diese Vereinbarung, diewir mit der Bundesregierung getroffen haben, auchwirklich mit Leben erfüllen. Wir werden darauf dringenund Sie mahnen, diese Forderung auch weiterhin zu un-terstützen.

(Beifall bei der FDP)

Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, dieTransparenzinitiative der Europäischen Kommis-sion. Sie ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie wirEuropa den Bürgern näher bringen können. Legen wirdoch offen, wer welches Geld aus der europäischenKasse bekommt! Was spricht denn dagegen, dass wir sa-gen: Es ist öffentliches Geld und wer öffentliches Geldbekommt, soll dies auch nach außen darstellen können.Ich wünschte mir – die FDP hat einen entsprechendenAntrag in den Bundestag eingebracht –, diese Bundesre-gierung würde aus vollem Herzen und mit voller Über-zeugung die Europäische Kommission an dieser Stelleunterstützen. Wir können eine Offenlegung sehr gut ver-tragen. Dann wird sich nämlich auch im Agrarbereichherausstellen, dass die vielen Behauptungen, die Bauernbekämen so viel, gerade für die kleinen bäuerlichen Be-triebe eben nicht zutreffen und dass dort oft und zu Un-recht Vorurteile gepflegt werden.

(Beifall bei der FDP)

Der Lissabonprozess wurde bereits angesprochen.Wir haben schon oft darüber debattiert und ich will dasThema an dieser Stelle nicht vertiefen. Eines muss manallerdings dieser Bundesregierung immer wieder sagenund ins Stammbuch schreiben: Wir werden nicht zu ei-nem Erfolg in der Europäischen Union kommen, wenndiese Bundesregierung im wirtschaftlichen Bereich ihreHausaufgaben nicht macht. Ich werde wieder und wiedervon europäischen Kollegen angesprochen: Meine Güte,was macht ihr denn bei euch zu Hause? Die Nachbarnmachen es und sind erfolgreich. Warum kriegt ihr das inDeutschland nicht auf die Reihe?

Die Rezepte liegen vor. Ich fordere Sie auf: Tun Siedas Notwendige! Nur so bekommen wir auf Dauer auchwieder unser politisches Gewicht in der EuropäischenUnion.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Außenpolitik trägt das Momentum in sich,dass wir uns mit Aufgaben konfrontiert sehen, die wiruns nicht selbst ausgesucht haben. Dennoch müssen wirAntworten finden auf Fragen, die uns berühren, und des-

halb in jedem Einzelfall klären, warum es uns angeht,was außerhalb unseres Landes geschieht. Bei europäi-schen Fragen fällt uns das nicht mehr schwer, bei Einsät-zen der Bundeswehr im Ausland dagegen umso mehr.

Ich meine, wir müssen definieren, welche Interessenwir verfolgen, wenn wir die Bundeswehr zu Auslands-einsätzen entsenden, und wir müssen uns darüber klarwerden, welche Kapazitäten wir an Personal, an Materialund an Finanzen dafür bereithalten wollen. Ich plädieredafür, dass wir unabhängig von konkreten Einsätzen ob-jektive Kriterien entwickeln, die uns als Orientierungs-maßstab dienen können. Das Weißbuch des Bundesver-teidigungsministers zur Sicherheitspolitik bietet uns imHerbst dazu die Gelegenheit.

Ich darf im Rahmen der Haushaltsdebatte anfügen:Ich bin der Überzeugung, dass sich jedes internationaleEngagement auch in unsere Grundlinie der Konsolidie-rung des Bundeshaushaltes einfügen muss. Auch dieserAspekt muss Berücksichtigung finden. Im Ergebnismeine ich, dass eine solche Konzeption, bei der versuchtwird, objektive Maßstäbe zu konkretisieren, nicht nurein Beitrag zur Berechenbarkeit und damit zur Glaub-würdigkeit unserer Außenpolitik ist, sondern auch zumAusdruck bringt, dass wir gar nicht erst den Eindruckentstehen lassen wollen, Getriebener internationaler Ent-wicklungen zu sein. Vielmehr wollen wir einen Gestal-tungsanspruch in der internationalen Gemeinschaftwahrnehmen.

Durch den Nahostkonflikt wird unmittelbar einsich-tig, dass es eine Illusion wäre, zu glauben, wir könntenwegsehen bei dem, was in unmittelbarer Nachbarschaftder Europäischen Union vor sich geht. Nicht zuletzt diein Deutschland versuchten Attentate, die schon vor demAusbruch des Libanonkonflikts geplant waren, bringenzum Ausdruck, dass es offenbar das Ziel von Fundamen-talisten und Terroristen ist, die Schauplätze ihres Terrorsin die westliche Welt zu verlagern. Deswegen könnenwir nicht wegsehen, sondern müssen hinsehen, wenn esetwa das erklärte Ziel des Iran als Mitglied der VereintenNationen ist, Israel als Mitglied der Vereinten Nationenvon der Landkarte zu tilgen.

Meine Damen und Herren, ich meine, dass es auch,aber nicht nur in der besonderen historischen Verantwor-tung Deutschlands gegenüber Israel liegt, diesen Kon-flikt als sehr ernsthaft wahrzunehmen. Die gesamte in-ternationale Gemeinschaft muss ein Interesse daranhaben, den Frieden im Nahen Osten wiederherzustel-len und damit auch die Autorität des Systems der Verein-ten Nationen sicherzustellen.

Ich denke, dass die Bundesregierung einen bemer-kenswerten Beitrag dazu geleistet hat – ich will das aus-drücklich anerkennen –, dass es tatsächlich zu der Waf-fenruhe, die wir seit einigen Wochen haben, gekommenist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wenn wir uns vor Augen halten, dass dieser Konflikt einganz enormes Eskalationspotenzial beinhaltet, dann istes eben keine Selbstverständlichkeit, dass es relativ zü-

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Thomas Silberhorn

gig zu dieser Waffenruhe gekommen ist und dass bei-spielsweise keine israelische Bodenoffensive mit30 000 Soldaten mehr stattgefunden hat, weil der Druckund die Geschlossenheit der internationalen Gemein-schaft die Beteiligten dazu bewogen haben, der jetzt vor-liegenden UN-Resolution zuzustimmen.

Das Ziel, um das es jetzt geht, ist schlichtweg, dieseWaffenruhe zu stabilisieren und in einen politischenProzess überzugehen, der sicherstellt, dass die Sicher-heit Israels und die Unabhängigkeit eines selbstständi-gen palästinensischen Staates gewährleistet werden kön-nen und die Stabilität in der gesamten Region weitergefestigt wird. Mir scheint, dass ein militärischer Beitrageine Komponente ist, um dieses Ziel zu erreichen. Wirsind uns sicher darin einig, dass das keine hinreichendeKomponente ist. Aber es ist eine notwendige.

Mit einigem Bedauern sehe ich, dass die Kolleginnenund Kollegen von der FDP sich in dieser Frage ausge-rechnet mit der PDS

(Monika Knoche [DIE LINKE]: Der Linken!)

in einem Boot wiederfinden.

(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Ziemlich dümmlich!)

Vor dem Hintergrund der langen Tradition liberalerAußenpolitik von Theodor Heuss bis Otto GrafLambsdorff, der sich bei der Entschädigung jüdischerVerfolgter Verdienste erworben hat, sollten Sie IhrePosition nochmals überdenken.

(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Jetzt wird es lang-sam unerträglich!)

Immerhin nehme ich zur Kenntnis, Herr Hoyer und HerrGerhardt, dass Sie sich deutlich vorsichtiger geäußerthaben als manche Kolleginnen und Kollegen aus derzweiten Reihe, wie in den Medien immer wieder zu le-sen und zu hören war.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Seit wann ist Westerwelle bei Ihnenzweite Reihe, Herr Kollege? – Zuruf des Abg.Dr. Werner Hoyer [FDP])

– Sie weiten meine Kritik noch aus, Herr Hoyer. IhrenZuruf lasse ich unkommentiert.

Infrage steht, ob sich Deutschland an einer seeseiti-gen Sicherung der Grenze des Libanon beteiligt. Ichbin der Auffassung: Das kann ein angemessener Beitragfür Deutschland sein, um die UN-Resolution 1701 um-zusetzen. Ich möchte aber auch deutlich machen, dass dakein Automatismus entstehen kann, sondern dies eineautonome Entscheidung des Bundestages bleibt.

Dafür fehlen uns derzeit noch die Voraussetzungen.Die erste Voraussetzung ist ein klares Mandat, mit demdie Kontrolle des Waffenembargos effektiv umgesetztwerden kann, einschließlich der Einsatzregeln, die wirnoch erwarten. Die zweite Voraussetzung ist – dasmöchte ich ausdrücklich erwähnen –, dass die libanesi-sche Regierung eindeutig den politischen Willen zum

Ausdruck bringt, den Waffenschmuggel in den Libanonauch selbst zu unterbinden.

Das ist die Geschäftsgrundlage für eine Beteiligungder Bundeswehr. Das werden wir bereden können, wenneine Anfrage der Vereinten Nationen an die Bundesre-gierung vorliegt und die Bundesregierung uns, dem Bun-destag, ein entsprechendes Mandat zur Beratung über-weist.

Meine Damen und Herren, wir streben an, dass einemögliche Beteiligung der Bundeswehr an dem Einsatzim Nahen Osten auf eine breite Zustimmung in diesemHause stößt. Wir streben auch eine möglichst breite Un-terstützung der deutschen Bevölkerung für die Soldatenan, die wir möglicherweise in einen solchen Einsatz ent-senden. Ich möchte aber hinzufügen, dass ich erwarte,dass die Staaten der Region, die für die Situation, in derwir stecken, Mitverantwortung tragen, einen eigenenBeitrag leisten. Sie müssen sich in die politischen Bemü-hungen um Wiederbelebung des Friedensprozesses ein-binden lassen und sie müssen, beispielsweise Syrien, einInteresse daran haben, nicht isolationistische Tendenzenzu stärken, sondern auf Alternativen einzugehen, die dieEuropäische Union ihnen bieten kann.

Ich möchte zum Schluss kommen. Die EuropäischeUnion zieht ihre Autorität in diesem Konflikt aus meinerSicht auch daraus, dass Europa Krieg und Nationalismusdurch die Kooperation in der Europäischen Union über-wunden hat. Europa hat nach dem Zweiten Weltkrieg dieStunde null erlebt und erfolgreich den Wiederaufbau ge-meistert. Deswegen meine ich, die Europäische Unionist ein gelebtes Beispiel dafür, wie sich aus Vernichtungund Niederlage wieder eine gute Nachbarschaft entwi-ckeln kann. Das ist die Ursache für die Autorität, die dieEuropäische Union hier einbringen kann. Die Europäi-sche Union wird deshalb im Nahostkonflikt das beson-dere Vertrauenskapital, das sie genießt, das namentlichDeutschland und Frankreich genießen, einbringen müs-sen, um diesen Konflikt einzudämmen, ihn eingedämmtzu halten und in einen politischen Prozess zu überführen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norman Paech von

der Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Norman Paech (DIE LINKE): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich erinnere mich noch an Ihre Rede auf dem MünchenerKongress für Sicherheitspolitik im Februar dieses Jah-res, Herr Außenminister. Da stellten Sie Ihre Politik un-ter die Devise des Einsatzes für Freiheit und Demokra-tie. Das klang alles etwas amerikanisch, aber das istnoch keine Kritik.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

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Dr. Norman Paech

Dass Sie damit Ihre gesamte Nahost- und Mittelost-politik in das Fahrwasser der US-Administration lenk-ten, das allerdings verdient entschiedenen Widerspruch.

(Beifall bei der LINKEN)

Denn Sie besiegelten dadurch einen gravierenden Wan-del in der deutschen Außenpolitik. Militäreinsätze inder ganzen Welt – zur Sicherung welcher deutschen Inte-ressen eigentlich? –, das hat weder mit dem Grundgesetznoch mit Verteidigung zu tun. Sie holen sich damit auchalle Schwierigkeiten ins Haus, mit denen die Amerika-ner derzeit zu kämpfen haben, nämlich zunehmende Ge-walt, bürgerkriegsähnliche Zustände und Chaos in ihrenDe-facto-Protektoraten Irak und Afghanistan sowiewachsende Terrorgefahr auch im eigenen Land.

Ihre sonst so sympathische Devise „Reden statt schie-ßen“ hat sich gefährlich gewendet. Nehmen wir nurAfghanistan, wo sich die Bundeswehr derzeit eingräbt,um offensichtlich die nächsten zehn Jahre dort für De-mokratie und Freiheit zu sorgen. Nach fünf Jahren hatsich dort eine Situation entwickelt, vor der wir immergewarnt haben. Sie war voraussehbar. Jetzt beklagt dieTruppe in Afghanistan selbst die dramatisch sinkendeZustimmung der Bevölkerung zum Einsatz der Bundes-wehr. Die Truppe fordert das, was wir immer schon ge-fordert haben, nämlich mehr zivile Entwicklungshilfeund Unterstützung für die zivilen Strukturen beim Auf-bau des Landes.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie, Herr Außenminister, preisen die neuen demokra-tischen Institutionen der Regierung Karzai. Das mag fürKabul so zutreffen, aber überhaupt nicht für ganz Afgha-nistan. Dort blühen der Mohn und die Freiheit der Dro-genhändler. Eine Steigerung der Ernte um fast 60 Pro-zent in diesem Jahr hat Afghanistan unter dem Schutzder ISAF und von „Enduring Freedom“ zum größtenOpiumlieferanten der Welt gemacht. Der Preis dafür istnicht etwa Stabilität, Sicherheit und Demokratie, son-dern Angst vor irakischen Zuständen. Alle Erfahrung dervergangenen Jahre hat uns gelehrt, dass man dem ebennicht mit Militär begegnen kann.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch in der Auseinandersetzung mit dem Iran hat dieviel beschworene Geschlossenheit mit den USA Sieletztlich in eine Sackgasse geführt. Denn es ist eine Illu-sion, immer noch zu glauben, dass Teheran von seinemAtomprogramm zu zivilen Zwecken abrücken wird.Vielleicht werden Sie ein Moratorium erreichen, nichtaber einen definitiven Verzicht. Es ist reine Symbolpoli-tik, wenn Sie Sanktionen fordern, Sanktionen, die in derGeschichte nachweisbar noch nie zu einem Erfolg ge-führt und nie einen Politikwechsel herbeigeführt haben.Sie schaden damit der Bevölkerung, ohne aber Ihr Zielzu erreichen.

Ein Ausweg zeigt sich derzeit unseres Erachtens nur,wenn zwei Punkte erfüllt werden: Anerkennung desRechts auf Urananreichung zu zivilen Zwecken und un-ter der Kontrolle der IAEO sowie eine umfassende Si-cherheitsgarantie durch die USA. Doch die USA haben

sich offensichtlich noch nicht von ihren Plänen zu einemgewaltsamen Regimewechsel im Iran distanziert. Sie,Herr Steinmeier, werden wohl noch viel Arbeit zu leistenhaben, um die USA von der Wirksamkeit des diplomati-schen Weges zu überzeugen. Im äußersten Fall müsstenSie, wenn Sie und die Frau Bundeskanzlerin es wirklichernst meinen, der Bush-Administration erneut die Ge-folgschaft verweigern. Sie haben ja genug Erfahrung miteiner solchen Mission aus der Zeit der vorherigen Regie-rung.

(Beifall bei der LINKEN)

Schließlich komme ich zu dem Punkt Israel, Paläs-tina und Libanon. Man konnte schon den Eindruckgewinnen, dass Ihr voreiliges Vorpreschen mit der Ent-sendung von Marineeinheiten über Ihre Ratlosigkeit hin-wegtäuschen sollte,

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

wie Sie die tief verfeindeten Gegner zwischen Gaza undBeirut zu einem Frieden bewegen können. Sie habenwieder einmal nur unsere Verantwortung gegenüber Is-rael, nicht aber die gegenüber den Palästinensern, die wirja auch haben, berücksichtigt. Wir haben wiederholt be-tont: Deutsche Soldaten und Polizisten haben aufgrundunserer historischen Verantwortung nichts in dieser Re-gion zu suchen. Sie sind, wie wir erfahren haben, auchgar nicht notwendig; denn es gibt genügend Angebotevon anderen Staaten.

Um auch hier nicht missverstanden zu werden: Wirwenden uns nicht gegen die Stationierung von UNO-Truppen zwischen den verfeindeten Gegnern. Wirklichneutral können UNO-Truppen aber nur sein, wenn sieauf beiden Seiten der Grenzen stationiert werden, wasaber nicht der Fall ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Die jetzige Parteilichkeit gegen den Libanon und für Is-rael verstärken Sie nur, indem Sie zwar auf der einenSeite Waffenlieferungen an die Hisbollah verhindern,was richtig ist, aber auf der anderen Seite neue Waffen-systeme und U-Boote an Israel liefern, was falsch ist.

(Beifall bei der LINKEN)

So verspielen Sie unseres Erachtens die Glaubwürdig-keit als ehrliche Makler.

Dabei gibt es auch bei diesem letzten Punkt eine Al-ternative, auf die wir seit Beginn dieses Jahres nichtmüde werden hinzuweisen. Herr Außenminister, ver-trauen Sie da doch Ihrem neuen Parteichef, der unserenVorschlag aufgenommen hat.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Reden Sie nicht nur von einem politischen Prozess, son-dern konzentrieren Sie alle Ihre Kräfte und auch die Fi-nanzen auf eine Nahostkonferenz nach dem Vorbild derKSZE. Nur dort werden auch die Wurzeln des Streits,des Konflikts und des Krieges Israels mit seinen Nach-barn zur Sprache gebracht. Alle Teilnehmer sind dortgleichberechtigt, ohne von Gewalt, Terror und Drohun-gen beeinflusst zu werden. Dann wird Ihre Devise „Re-

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Dr. Norman Paech

den statt schießen“ wieder uneingeschränkt gelten. Aufdieser Konferenz wird dann die Existenz beider Staaten,nämlich Israels und Palästinas, gesichert werden.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächster Redner hat der Kollege Josip Juratovic

von der SPD-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Josip Juratovic (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Als jemand, der den Balkankrieg unmittelbar erlebenmusste und der Hass und Gewalt nicht ausstehen kann,muss ich zugeben: Wir als größte Nation der Euro-päischen Gemeinschaft können uns nicht unserer ge-meinsamen Verantwortung für eine Stabilisierung desFriedens im Nahen Osten entziehen.

(Beifall bei der SPD)

Ich denke, es ist für keinen von uns einfach, Soldatin-nen und Soldaten mit einem Auftrag zu versehen, ohnedie Garantie bieten zu können, dass sie nach der Erfül-lung des Auftrags wieder gesund nach Hause zurückkeh-ren. Deshalb möchte ich mein ausdrückliches Lob anunseren Außenminister für seine diplomatischenBemühungen, die Gefahren der uns bevorstehendenMission möglichst gering zu halten, richten. Das gibtMut und Hoffnung vor allem für diejenigen, die in die-sen Einsatz gehen müssen.

Viele Menschen stellen uns die berechtigte Frage:Wie viele Soldaten noch an wie viele Brennpunkte? Ichmuss gestehen: Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wo dasnächste Mal ein Brand entsteht und wo wir Zerstörung,Verfolgung oder Mord verhindern müssen. Was ichweiß, ist, dass man präventiv handeln kann und muss. Esist wichtig, der Weltgemeinschaft zu vermitteln, dass wirEuropäer nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, son-dern vor allem eine Wertegemeinschaft sind.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiedes Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Die OSZE-Schlussakte, die Charta der Grundrechte derEU und viele andere europäische Beschlüsse sind einewichtige Grundlage dafür. Sie sind eine Grundlage fürunsere gemeinsamen Ideen, Überzeugungen und Hoff-nungen. In unserem politischen Handeln müssen wir inder globalen Politik zu verstehen geben, dass für unsFreiheit, Frieden und Wohlstand für alle Menschenwichtig sind.

Frieden braucht Vertrauen. Vertrauen schaffen wirnur, wenn wir die nationalen und kulturellen Unter-schiede der Menschen respektieren und nach gemeinsa-men Werten und Interessen suchen. An dieser Stellemöchte ich ausdrücklich dem diplomatischen Korps, denpolitischen und den anderen Stiftungen sowie den vielenzivilen Organisationen meinen Dank für ihren Einsatz

und ihre Bemühungen beim Vermitteln der von mir zu-vor erwähnten Ziele aussprechen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Man kann ihre Leistung nicht hoch genug würdigen.Durch den Einsatz vieler Organisationen weltweit blei-ben der Menschheit viele militärische Auseinanderset-zungen und damit verbundene Opfer erspart.

Dennoch muss ich zugeben, dass manch eine Organi-sation vor Ort für große Verwirrung sorgt, unter Umstän-den sogar kontraproduktiv arbeitet. Bei meiner langjäh-rigen Friedensarbeit auf dem Balkan musste ich oftfeststellen, dass Menschen, die in ihrer Not auf Hilfe vonaußen angewiesen waren, zu Opfern gesellschaftspoliti-scher Experimente wurden. Ein Beispiel: Es kann nichtsein, dass wir in Europa vom „Sozialmodell Europa“ re-den, während Vertreter der Wirtschaftsverbände in denKrisengebieten von „Marktwirtschaft pur“ sprechen unduns die Ergebnisse als angebliche Erfolgsmodelle anbie-ten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie desAbg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Meine Damen und Herren, Sie glauben nicht, wieviele Glücksritter ich während meiner Friedensarbeit vorOrt erleben musste. Es war beschämend, beobachten zumüssen, dass manch ein so genannter Entwicklungshel-fer nicht begriffen hat, dass er es mit am Boden zerstör-ten Menschen zu tun hat.

Deshalb möchte ich angesichts der kommenden deut-schen EU-Ratspräsidentschaft die Schaffung einer EU-Koordinationsstelle für zivile Einsätze in Krisen-gebieten empfehlen. Diese soll in den Krisengebietengemeinsame europäische Werte und politische Ziele ver-mitteln, sich vor Ort am Aufbau der zivilen Gesellschaftbeteiligen sowie die vor Ort aktiven Hilfsorganisationenberaten, unterstützen und ihre Einsätze sinnvoll koordi-nieren.

Das Ziel Deutschlands und der EU muss es sein, dieinnere Stabilität zu sichern, ohne die globale Sicherheitzu vernachlässigen. Deshalb müssen wir zur EU-Erwei-terung und zur europäischen Nachbarschaftspolitik inZukunft klar Position beziehen. Gerade für den West-balkan muss die Beitrittsperspektive unmissverständlichdefiniert werden. Es ist wichtig, den dortigen politischenKräften deutlich zu machen, dass wir nicht tolerieren,dass die Menschenrechtsfragen nur auf dem Papier ge-löst werden, sondern eine aktive Bekämpfung der Natio-nalismen vor Ort erwarten.

(Beifall bei der SPD)

Wir müssen deshalb die demokratischen Kräfte unter-stützen. Diesbezüglich liegt mir die Jugend besondersam Herzen. Es kann nicht sein, dass der Jugend in man-chen Teilen Europas die Teilhabe an unseren Werten fürimmer verwehrt bleiben soll. Es ist wichtig, dass wir dieEU-Nachbarschaftspolitik klar definieren und uns vorallem den jungen Menschen widmen. Sie müssen

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4548 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006

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Josip Juratovic

begreifen, dass sie für die Gestaltung der Demokratie inihrem Land der wichtigste Hoffnungsträger sind.

(Beifall bei der SPD)

Sie müssen begreifen, dass es in einer Demokratie nichtausreicht, nur das private Leben zu organisieren, sonderndass sie sich auch an der Organisation der Gesellschaftbeteiligen müssen. Dabei müssen wir ihnen helfen.

Recht vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und derFDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächster Redner hat das Wort der Kollege

Joachim Hörster von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Joachim Hörster (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte

die verehrten Kolleginnen und Kollegen um Nachsicht,dass ich mich, obwohl ich Vorsitzender der Deutsch-Arabischen Parlamentariergruppe bin, heute nicht zumNahostkonflikt äußere. Dazu ist schon sehr viel gesagtworden. Außerdem denke ich, dass wir noch eine inten-sive Debatte darüber haben werden, wenn die Entschei-dung aufgrund eines konkreten Antrages der Bundes-regierung ansteht.

Deswegen will ich unter dem Gesichtspunkt derNachhaltigkeit in der Politik zwei Themen ansprechen,die bereits bei der Verabschiedung des Bundeshaushaltesfür das Jahr 2006, also für dieses Jahr, in der außenpoliti-schen Debatte eine Rolle gespielt haben. Einen Teil mei-ner Rede, die ich am 27. März gehalten habe, könnte ichjetzt wiederholen, weil der Herr Bundesaußenministerzum Schluss seiner Rede die auswärtige Kulturpolitikangesprochen hat, die so genannte dritte Säule der deut-schen Außenpolitik.

Ich will jetzt nicht fragen, was aufgrund der Erkennt-nisse, die am 27. März dieses Jahres vorgelegen haben,bis heute geschehen ist. Denn es braucht einen gewissenVorlauf, um feststellen zu können, wie alle an der aus-wärtigen Kulturpolitik Beteiligten – das ist nicht derBundesaußenminister allein – sich bemühen, die auswär-tige Kulturpolitik mehr in den Mittelpunkt unserer aus-wärtigen Tätigkeit zu stellen und vielleicht auch die frü-here Philosophie über Bord zu werfen, dass dort, wo diedeutsche Sprache auf kommerzielle Weise durch pri-vate Institute erlernt werden kann, unsere Präsenz durchdas Goethe-Institut und ein entsprechendes Angebotnicht mehr notwendig seien. Man sollte vielmehr auf dierichtige Erkenntnis, die der Herr Bundesaußenministerheute kundgetan hat, zurückgreifen, nämlich die, dassdie Vermittlung von Führungskräften aus aller Welt nachDeutschland am ehesten dann zustande kommt, wenn siezuerst die deutsche Sprache gelernt haben. Deswegenmuss man ihnen das erleichtern. Genauso muss man esAusländern, insbesondere aus Staaten der Dritten Welt,erleichtern, in Deutschland studieren zu können. Denn

sie können später in Führungsfunktionen in ihren Län-dern in der Wirtschaft oder in der Politik helfen, zu GoodGovernance beizutragen, was vor allem in diesen Län-dern gebraucht wird. Wir werden das auf Wiedervorlagelegen. Vielleicht gibt es dann eine Möglichkeit, plasti-sche und griffige Erfolge und Verbesserungen vorzule-gen.

Ich will einen anderen Punkt ansprechen, der damalsauch eine Rolle gespielt hat, nämlich die Parlamentari-sche Versammlung des Europarates. Die Parlamenta-rische Versammlung des Europarates führt ja bei uns imDeutschen Bundestag ein Schattendasein. Das wollenwir doch einmal ganz ehrlich sagen. Das ist eigentlichungerechtfertigt, weil die Parlamentarische Versamm-lung des Europarates immerhin die Versammlung vonnationalen Abgeordneten aus 46 Ländern in Europa bishin zu Georgien und Aserbaidschan ist. Die Parlamenta-rische Versammlung des Europarates befasst sich damit,Länder, die nicht der Europäischen Union angehören, angewisse Mindeststandards – ich sage es einmal vereinfa-chend – einer zivilisierten Gesellschaft, wie wir sie ver-stehen, heranzuführen.

Es gibt die Europäische Menschenrechtskonvention,die der Europarat umzusetzen hat. Es gibt die Antifolter-konvention, die er beachtet. Es gibt zum Beispiel auchverschiedene Konventionen zur Harmonisierung der so-zialen und rechtlichen Praktiken der Mitgliedstaaten, diedas Bewusstsein für eine europäische Identität unter-streichen.

Der Europarat hat ganz unzweifelhaft nach 1989wesentlich mit dazu beigetragen, dass in den postkom-munistischen Ländern der Gedanke des Herankommensihrer politischen Kultur an die europäischen Mindest-standards nicht nur verkündet worden ist, sondern dassauch versucht worden ist, das umzusetzen.

In diesem Zusammenhang und unter Berücksichti-gung der Wünsche vieler Länder in Europa, möglicher-weise Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu wer-den – das sehen wir allerdings mit großer Skepsis, weilman die Europäische Union nicht überdehnen darf –,könnte dem Europarat sehr wohl auch in der nationalenPolitik eine viel beachtete Rolle zukommen. Er könnteals Bindeglied fungieren zwischen den europäischenAnrainerstaaten, hauptsächlich aus dem früheren Ost-europa bis zum Gebiet der früheren südlichen Sowjet-union, und der Europäischen Union. Auf diesem Wegekönnte man versuchen, bestimmte Standards zu etablie-ren – auf sozialem und rechtlichem Gebiet, was die Ein-haltung der Menschenrechte betrifft sowie im Hinblickauf die demokratische Entwicklung insgesamt –, ohnedass sofort die Frage der Mitgliedschaft in der Europäi-schen Union gestellt würde.

Immerhin muss man folgende Unterscheidung tref-fen: Die Europäische Union ist ein Verbund von Staaten,die ihrerseits Souveränitätsrechte an die Union abtreten,sodass die Union der Entscheidungsträger ist, währendder Europarat ein Verbund von Staaten ist, die sich inVerträgen, die sie miteinander geschlossen haben, ver-pflichtet haben, bestimmte Regeln einzuhalten, die der

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Joachim Hörster

Europarat durch die Parlamentarische Versammlungdann durchzusetzen versucht.

Das wichtigste Instrument ist in diesem Zusammen-hang der Europäische Gerichtshof für Menschen-rechte. Wir haben schon bei früherer Gelegenheit überdie Frage diskutiert, wie sich die Situation nach Grün-dung der Europäischen Menschenrechtsagentur dar-stellen wird. Mir ist, wie auch meinen Kolleginnen undKollegen in der Parlamentarischen Versammlung desEuroparates, bekannt, dass die Dinge bereits so weit ge-diehen sind, dass man sie nicht gänzlich rückgängig ma-chen kann. Mit Zuversicht habe ich aber festgestellt,dass Sie, Herr Bundesaußenminister, das Petitum desEuropaausschusses bzw. der Delegation der Parlamenta-rischen Versammlung des Europarates zur Kenntnis ge-nommen haben und nun versuchen, die Richtung einzu-schlagen, die wir von Ihnen erbeten haben, um dafür zusorgen, dass keine Doppelstrukturen entstehen und dasssich die Europäische Union auf ihre ureigenen Aufgabenkonzentrieren und die anderen Aufgaben wie die Über-wachung der Einhaltung der Menschenrechte im We-sentlichen dem Europarat überlassen kann, der auf die-sem Gebiet auch die größeren Kompetenzen und diebesseren Erfolgsaussichten hat.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wün-sche der weiteren Debatte einen guten Verlauf.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Lothar Mark von der

SPD-Fraktion.

Lothar Mark (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Wir haben bereits heute früh, als es um den Einzelplandes Bundeskanzleramtes ging, eine außenpolitische De-batte geführt. Jetzt führen wir erneut eine außenpoliti-sche Debatte zum Einzelplan des Auswärtigen Amtes.Ich weise allerdings darauf hin, dass wir uns eigentlichin der ersten Lesung des Entwurfs des Bundeshaushaltsfür das Jahr 2007 befinden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist richtig!)

Ich bin dem Außenminister sehr dankbar, dass er, wiezwei weitere Kollegen, den Haushalt angesprochen hat.Ich denke, das dient der Würdigung der Arbeit derer, diehierfür die Verantwortung tragen.

Der Haushalt des Auswärtigen Amtes steigt von2006 auf 2007 um 6 Prozent an. Das macht insgesamt140 Millionen Euro aus. Davon sind bereits 81 MillionenEuro für Erhöhungen im Rahmen von VN-Pflichtbeiträ-gen reserviert. 34 Millionen Euro mehr als im vorigenHaushalt hängen mit der EU- und der G-8-Präsident-schaft zusammen, wobei schon heute abzusehen ist, dassdiese Mittel sehr wahrscheinlich nicht ausreichen wer-den.

7,5 Millionen Euro der genannten Summe werden fürden Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds zur Verfü-

gung gestellt. Darüber hinaus wurden einige kleinerePositionen erhöht oder sie sind hinzugekommen, zumBeispiel Mittel für die Biometrie.

Der Anteil des Haushalts des Auswärtigen Amtesam gesamten Bundeshaushalt macht nur 0,95 Prozentaus, und dies trotz wachsender Aufgaben, einer zuneh-menden Bedeutung der auswärtigen Politik und der in-ternationalen Wertschätzung; der Außenminister hat aufdiese Thematik bereits hingewiesen. Es muss das Zielsein – darin sind sich zumindest die Haushälter, die fürdas Auswärtige Amt zuständig sind, einig –, dass wir die1-Prozent-Marke erreichen und in nicht allzu ferner Zu-kunft geringfügig überschreiten. Die Kosten des Aus-wärtigen Amtes belaufen sich pro Kopf der Bevölkerungumgerechnet auf 28,99 Euro. Ich glaube, dass es nurganz wenige Haushalte gibt, bei denen der Pro-Kopf-Be-trag so niedrig angesiedelt ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe in allenHaushaltsberatungen immer wieder Haushaltsklarheitund Haushaltswahrheit angemahnt. Ich habe diesbe-züglich auch heute drei Beispiele, die ich ansprechenmöchte.

Das erste Beispiel sind die Stabilitätspakte Afghanis-tan und Südosteuropa; der eine mit 30 Millionen Euroausgestattet, der andere mit 15 Millionen Euro, wobeider Haushaltstitel für den Stabilitätspakt Südosteuropaim Vergleich zu 2006 um 15 Millionen Euro gekürztwurde und damit zu niedrig angesetzt ist. Diese beidenHaushaltstitel sind im BMZ angesiedelt. Wir sind derMeinung, dass hier ein Transfer der bislang dem Aus-wärtigen Amt nur zur Bewirtschaftung zur Verfügunggestellten Ansätze in den Haushalt des Auswärtigen Am-tes erfolgen müsste, weil auch der politische Zugriffbeim Auswärtigen Amt liegt. Das gehört einfach zurHaushaltsklarheit und Haushaltswahrheit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derCDU/CSU – Markus Löning [FDP]: Transfe-rieren Sie doch gleich das ganze BMZ insAuswärtige Amt!)

Das zweite Beispiel ist die Streulage einzelner Posi-tionen für eine Maßnahme oder einen Empfänger in ver-schiedenen Einzelplänen, und da selbst nach derzeitigerHaushaltsstrukturvorgabe in verschiedenen Titelgruppenund Titeln. Ich denke, dass dies beim Lesen des Haus-haltes sehr unübersichtlich ist, und rege an, dass mandarüber nachdenkt, dies neu zu ordnen. Ich nenne nur alsStichwort die Budgetierung.

(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies-loch] [SPD])

Ein dritter Hinweis ist, dass verschiedene Fußnotenund Anmerkungen in den jeweiligen Titeln enthaltensind, die nicht unbedingt zielführend sind. Ich möchtehier – man möge mir die Nennung der Zahl verzeihen –auf den Haushaltstitel 687 17, die Pflege kultureller Be-ziehungen, hinweisen. Darin wird, wie auch in vielen an-deren Titeln, zwei Mal auf das Goethe-Institut Bezug ge-nommen. Das Goethe-Institut kommt aber auf der

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Lothar Mark

gesamten Seite nicht mehr vor, obwohl insgesamt16 verschiedene Positionen aufgezählt sind.

Kollege Juratovic hat vorhin das Thema Präventionangesprochen. Ich wollte zu diesem Thema einige Aus-führungen machen. Da aber meine Redezeit etwas ge-schrumpft ist, will ich dies beiseite lassen und lediglichdarauf hinweisen, dass wir insgesamt gesehen verstärktüber Fragestellungen der Prävention nachdenken müs-sen.

Wir haben uns im Juni dieses Jahres auf die Umset-zung eines Aktionsplans „Zivile Krisenprävention“ ver-ständigt, in dem aufgezeigt wird, wie wir mit der Krisen-prävention umgehen sollen. Darin sind so vieleHandlungshinweise enthalten, dass wir das Thema ver-stärkt in Angriff nehmen müssen. Wir müssen auch dievielen kritischen Anmerkungen, die hier immer wiedergemacht werden, sehr ernst nehmen. Es darf nicht derEindruck entstehen, dass die militärische Komponentean erster Stelle steht. Vielmehr sollten wir zeigen, dassintegrativ gearbeitet wird, um die Probleme in der Weltzu lösen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben bereits im Jahr 2006 und für die Folgejahreden Haushaltstitel für humanitäre Hilfsmaßnahmenauf 50 Millionen Euro verstetigt. Den Haushaltsansatzfür Maßnahmen des humanitären Minenräumens habenwir auf 8,4 Millionen Euro festgezurrt. Wir wissen, dassdies nicht ausreichend ist. Andererseits muss der Haus-halt natürlich auch in diesen Bereichen den Gegebenhei-ten angepasst werden.

Ich bin sehr dankbar, dass der Kollege Hörster undauch der Außenminister in ihren Beiträgen auf die Kul-turpolitik und auf die Bedeutung der Kultur hingewie-sen haben. Ich möchte darauf hinweisen, dass für dieAuslandskulturarbeit im Haushalt 2007 ein Zuwachs von4,4 Millionen Euro vorgesehen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Die institutionelle Förderung für die allgemeine Aus-landskulturarbeit sinkt in 2007 auf die ursprüngliche Fi-nanzplanung, da 2006 aus besonderen Gründen eine ein-malige Verstärkung der institutionellen Förderung beimGI vorgenommen wurde.

Ich will auch darauf hinweisen, dass wir eine Versteti-gung der Mittel für Maßnahmen der politischen Stiftun-gen im Ausland durchgeführt haben. Ihre Arbeit mussimmer wieder als segensreich für die Bundesrepublik an-gesehen werden. Wir sollten uns hierfür wieder verstärkteinsetzen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und derFDP sowie des Abg. Winfried Nachtwei[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Zum Goethe-Institut wäre viel zu sagen; in den letz-ten Wochen und Monaten ist in den Medien viel darübergeschrieben worden. Ich denke, die Kernaufgaben desGoethe-Instituts sind unbestritten. Die Zielformulierun-gen sind klar: Das Goethe-Institut muss zukunftssicher

aufgestellt werden. Die Strukturen des Goethe-Institutsmüssen modernisiert, Synergien in vielfältiger Weise er-reicht werden. Auch eine Erweiterung seiner Finanzba-sis muss erfolgen. Einige Bereiche des Goethe-Institutssind Gott sei Dank inzwischen budgetiert. Wir hoffen,dass diese Prozesse weitergeführt werden

(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies-loch] [SPD])

und dass ab 2008 eine Totalbudgetierung des Goethe-In-stituts erfolgt. Meine Forderung war immer, alle Mittler-organisationen zu budgetieren,

(Beifall des Abg. Herbert Frankenhauser [CDU/CSU])

weil dadurch mehr Flexibilität entsteht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Zur Arbeit der weltweit 144 Goethe-Institute insgesamtkann ich weiter nichts ausführen, weil meine Redezeitallmählich zu Ende geht.

Ich möchte noch darauf hinweisen, dass wir über diekonzeptionellen Umstrukturierungen hinaus eineReform des Auslandsschulwesens ins Auge fassenmüssen. Das Schulwesen insgesamt muss effizientergestaltet werden. Mit den 117 Schulen und 364 geför-derten Bildungseinrichtungen erreichen wir immerhin230 000 Schülerinnen und Schüler. Hier wären der Deut-sche Akademische Austauschdienst, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, das Deutsche Archäologische Insti-tut und viele andere Einrichtungen zu erwähnen.

Ich darf einen Satz zur ODA-Quote sagen, weil sieimmer eine große Rolle spielt. Die Maßnahmen, die fürdie ODA-Quote angerechnet werden, sind nicht nurbeim BMZ angesiedelt, sondern auch in verschiedenenanderen Ministerien. Auch das Auswärtige Amt trägt mitden Mitteln für humanitäre Einsätze seinen Teil dazubei.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege, Sie haben die Zeit schon weit überzo-

gen. Ich bitte Sie, jetzt zum Schluss zu kommen.

Lothar Mark (SPD): Ich darf zum Schluss dem Außenminister danken für

seine ausgezeichnete Arbeit, die das Ansehen Deutsch-lands weiter hebt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich danke dem Haushaltsreferat des AA für die gute Zu-sammenarbeit. Ich danke auch allen Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern im Auswärtigen Amt für ihren enga-gierten Einsatz weltweit. Schließlich danke ich meinenBerichterstatterkollegen, insbesondere dem KollegenHerbert Frankenhauser, für die faire Verständigungsbe-reitschaft.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Herbert Frankenhauser

von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Herbert Frankenhauser (CDU/CSU): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich über-

nehme gerne die Ausführungen meines geschätzten Vor-redners Lothar Mark, inklusive aller Dankadressen;

(Heiterkeit)

das kann meine Redezeit etwas verkürzen.

Ich habe dieser ebenso kurzen wie kurzweiligen De-batte über den Einzelplan 05

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

aufmerksam zugehört und festgestellt, dass zumindest inzwei Fragen völlige Übereinstimmung im Hause herrscht– zumindest von halb links bis zu den Liberalen –,

(Markus Löning [FDP]: Na, na! Nichts Falsches sagen!)

nämlich dass die deutsche Außenpolitik von herausra-gender Bedeutung ist und die auswärtige Kulturpolitikeinen ganz besonderen Stellenwert hat.

(Beifall des Abg. Markus Löning [FDP] – KarlDiller, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-ter der Finanzen, betritt den Saal)

– Es freut mich, dass an dieser Stelle meiner Rede auchder Vertreter des Bundesfinanzministers den Saal wiederbetritt.

(Heiterkeit)

Ihn betrifft das nämlich am meisten; denn er ist der Ein-zige, der sich dieser allgemeinen Erkenntnis des HohenHauses bislang widersetzt hat.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Wenn wir aber weiter so geschlossen voranmarschieren,dann könnte es uns durchaus gelingen, auch noch denBundesfinanzminister in die Knie zu zwingen. Dazu for-dere ich Sie alle sehr herzlich auf.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, derSPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

– Ich glaube, ich bin heute der einzige, der von der Op-position beklatscht worden ist. Vielleicht hält das ja an,sodass wir endlich sowohl dem Einzelplan 05 als auchder darin enthaltenen auswärtigen Kulturpolitik einehalbwegs angemessene Dotierung zukommen lassenkönnen. Ich hoffe, dass sich die Kolleginnen und Kolle-gen, die sich immer in Feuilletons äußern, wenn über dieSchließung eines Goethe-Instituts nachgedacht wird, beider entsprechenden Abstimmung so verhalten werden,dass solche Schließungen gar nicht angedacht werdenmüssen.

(Walter Kolbow [SPD]: Sehr wahr!)

Da ich Haushälter bin, muss ich natürlich auch etwasüber die Kostensituation sagen. Herr Außenminister, ichhabe in den zurückliegenden Jahren und auch heute wie-der festgestellt, dass wir sehr viel über das Engagementim Ausland – ob direkt oder über die UNO – reden. Da-mit kein Missverständnis entsteht: Ich unterstütze dieÜberlegungen der Bundesregierung zur deutschen Betei-ligung im Libanon nachhaltig. Wir reden auch sehr vielüber diese Auslandsbeteiligungen, und zwar darüber,wie und ob wir hineingehen. Was ich aber vermisse, isteine Diskussion darüber – wenn auch nur bescheidenerArt –, ob und wann wir wieder hinausgehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich lese Ihnen einmal vor – jeder wird es wissen und miteinem Aha begleiten –, woran wir beteiligt sind: MINURSO,UNOMIG, UNFICYP, UNMIK, UNOCI, MINUSTAH. Dasist ein Beispiel von vielen; ich brauche die Abkürzungennicht im Detail zu erklären, weil das allgemein bekanntist. Wir sollten aber wieder einmal darüber reden, ob dasnoch sinnvoll ist. Wenn ich mich recht entsinne, gab esam 19. März 1978 die erste UNO-Resolution zum Liba-non. Ich kenne mich in der großen Außenpolitik nichtaus – wie gesagt: Ich bin nur Haushälter – und weißnicht, ob diese Resolutionen, nachdem sie verabschiedetwurden, von irgendjemandem noch einmal gelesen undmöglicherweise auch kontrolliert werden.

(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Aber ja doch!)

– Dann sind Sie wahrscheinlich eine Ausnahme.

In der UN-Resolution zur Gründung der UNIFIL– die Kosten dieser Mission, an denen wir auch beteiligtsind, betragen etwa 268 Millionen Dollar pro Jahr –stand zwar, dass die Hisbollah entwaffnet werden soll.Allgemein ist aber feststellbar, dass es in der Zeit, seitdie UNIFIL vor Ort tätig ist, zur größten Wiederbewaff-nung und Aufrüstung der Hisbollah aller Zeiten gekom-men ist.

(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Das lag am Mandat!)

Herr Außenminister, ich bitte darum, nicht nur auf dieLaufzeiten solcher Mandate zu achten, sondern viel-leicht auch etwas auf die Qualität.

(Beifall des Abg. Markus Löning [FDP])

Ich möchte noch etwas zur Europäischen Unionbzw. zur Europäischen Gemeinschaft sagen. Sie habenbeklagt, dass sich die Bürgerinnen und Bürger etwas da-von entfernen. Das ist wohl wahr. Ich habe manchmalden Eindruck, die EU-Kommission sieht ihre Arbeitzielgerichtet darin, die EU bewusst von den Bürgern zuentfernen. Ich darf Ihnen ein Beispiel aus der Praxis nen-nen: Ich finde nur wenige Leute, die begeistert darübersind, dass die Europäische Union dafür sorgt, dass dieBiersteuer erhöht wird. Das verstehen die Leute einfachnicht; sie empfinden es auch nicht als besonders europa-förderlich. Daher bitte ich Sie dringend, Herr Staats-sekretär, sich dagegen auszusprechen.

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Herbert Frankenhauser

Auch die neue Kennzeichnungspflicht in Bezug aufBier- und Weinflaschen freut die Leute nicht und fördertauch nicht ihre Nähe zu Europa. Ich weiß nicht, wel-chem Gehirn dies eingefallen ist; ich muss mich ja parla-mentarisch ausdrücken. Diese Pflicht fördert die ange-sprochene Einstellung der Bürger, insbesondere solangedie EU-Kommission bei gleichen oder noch stärkerenGefährdungspotenzialen keine Warnhinweise gibt, zumBeispiel bei Eisenbahnlokomotiven, die bekannterma-ßen auch gefährlich sind, wenn man gegen sie läuft,während sie in Fahrt sind, oder bei den durchaus belieb-ten Schwarzwälder Kirschtorten,

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

wobei ich als Nichtmediziner der festen Überzeugungbin, dass acht Schwarzwälder Kirschtorten gesundheits-schädlicher sind als acht Seidel Bier.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In diesem Sinne bitte ich Sie herzlich, daran mitzuwir-ken, dass die Europäische Union mehr auf ihre Bürgerzielt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des

Auswärtigen Amtes liegen nicht vor.

Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums der Verteidigung, Einzelplan 14.

Bevor ich das Wort erteile, bitte ich diejenigen Kolle-gen, die jetzt die Plätze wechseln wollen, dies zu tun, da-mit wir dem Verteidigungsminister anschließend unsereAufmerksamkeit schenken können. – Ich erteile jetztdem Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz JosefJung, das Wort.

Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi-gung:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Verteidigungshaushalt ist insbesonderedurch die aktuellen Diskussionen im Hinblick auf dieAuslandseinsätze wieder etwas mehr in den Blickpunktder Öffentlichkeit geraten. Ich halte es für richtig undgut, dass wir uns hier inhaltlich über die Fragen derSicherheits- und Verteidigungspolitik auseinander set-zen; denn ich bin durchaus der Auffassung, dass dieBundeswehr auch und gerade durch die Auslandsein-sätze einen erheblichen Beitrag für unsere Sicherheitleistet. Aber von der Bundeswehr können nicht immermehr dieser Einsätze verlangt werden, wenn die dafürerforderlichen finanziellen Grundlagen nicht vorhandensind.

Bevor diese Regierung ins Amt kam, musste inner-halb der letzten fünfzehn Jahre eine Reduzierung desAnteils des Verteidigungsetats am Gesamthaushalt umcirca ein Drittel hingenommen werden. Angesichts die-

ser Tatsache bin ich froh und dankbar, dass wir im Haus-halt 2006 eine Stabilisierung der Mittel erreichen konn-ten und dass wir im Haushaltsplanentwurf für das Jahr2007, über den wir hier diskutieren, eine Steigerung fest-stellen können.

Wir haben insgesamt – einschließlich der Versorgung,lieber Kollege Kampeter – einen Etat von 28,4 Milliar-den Euro,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist doch schon was!)

der um 525 Millionen Euro ansteigt – ohne Versorgungsind dies 480 Millionen Euro – und in der Perspektivebis 2009/2010 um 1 Milliarde Euro. Dies ist auch not-wendig; denn wenn wir unsere Soldatinnen und Soldatenim Interesse unserer Sicherheit in gefährliche Einsätzeschicken, haben sie es verdient, eine gute Ausbildungund eine gute Ausrüstung zu bekommen. Dafür brau-chen wir die notwendige finanzielle Grundlage.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Teilweise wurde die Frage angesprochen, woran sichdie Auslandseinsätze der Bundeswehr eigentlich orien-tieren sollten. Diesbezüglich sollten wir schon eineÜbereinstimmung erzielen. Die Auslandseinsätze sindwertorientiert; sie dienen den nationalen Interessen undsie entsprechen unseren internationalen Verpflichtungen.

Aktuell befinden sich 7 850 unserer Soldatinnen undSoldaten in Auslandseinsätzen. Wie Sie wissen, sind wirmit dem stärksten Kontingent in Bosnien-Herzegowinasowie im Kosovo vertreten. Ich kann nur hoffen, dasssich nach den im Oktober anstehenden Wahlen in Bos-nien-Herzegowina und den hoffentlich positiven Ergeb-nissen der Statusverhandlungen hinsichtlich des Kosovodort eine Entwicklung abzeichnen wird, aufgrund derendie Region ihre Sicherheit und Stabilität in einer euro-päischen Perspektive selbst mit gewährleisten kann.

Wir sind in einer nicht einfachen Mission in Afgha-nistan. Es darf nicht vergessen werden, dass Afghanis-tan ein Ausbildungszentrum für den Terrorismus war.Dort sind jetzt erstmals seit mehr als 30 Jahren demokra-tische Parlaments- und Präsidentenwahlen durchgeführtworden. Die Strategie, die die Bundesrepublik Deutsch-land und unsere Soldatinnen und Soldaten jetzt dort ver-wirklichen, nämlich im Norden Afghanistans mit fünfWiederaufbauteams Stabilität und Sicherheit zu gewähr-leisten, aber auch die zivile Komponente – das heißt denAufbau von Sicherheitsstrukturen der Polizei sowieentwicklungspolitische und wirtschaftspolitische Initia-tiven – mit im Blick zu behalten, lässt die Menschenspüren, dass die Stabilisierung und der Wiederaufbau er-folgen und damit letztlich Sicherheit und eine positiveEntwicklung gewährleistet werden. Ich glaube, das istdie richtige Strategie einer vernetzten Sicherheitspolitik,die wir in Afghanistan umsetzen. Ich hoffe und wünsche,dass sie auch Ihre Unterstützung findet, weil ich glaube,dass das der richtige Weg für einen Erfolg in Afghanis-tan ist.

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Bundesminister Dr. Franz Josef Jung

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Wir haben über 2 700 Soldatinnen und Soldaten inAfghanistan. Herr Trittin ist nicht mehr da,

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist keinVerlust! – Gegenruf der Abg. Undine Kurth[Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das kann man so und so sehen!)

sonst hätte ich ihm sagen können, dass wir die Verant-wortung für den Norden übernommen haben, die italie-nischen Freunde die Verantwortung für den Westen, dieBriten die Verantwortung für den Süden und die Ameri-kaner die Verantwortung für den Osten. Insgesamt sinddort 37 Nationen engagiert.

Ich habe das, was wir aus meiner Sicht dort beispiel-haft umsetzen, gerade mit meinem italienischen Kolle-gen besprochen. Unsere Freunde – auch unsere briti-schen Kollegen – sehen das genauso. Inzwischen denkenauch unsere amerikanischen Freunde so, sodass ichhoffe und wünsche, dass wir dort zu einer Stabilisierungder Lage und zu einer guten Entwicklung kommen. Manmuss aber auch deutlich machen, dass sich die Zahl derAnschläge gegenüber dem Vorjahr verdoppelt hat unddass im Hinblick auf die Sicherheit eine Risikolage be-steht. Deshalb habe ich angeordnet, dass wir dort nurnoch mit geschützten Fahrzeugen fahren, und deshalb istdie Aufklärung zusätzlich verstärkt worden. Der Schutzunserer Soldatinnen und Soldaten muss uns ein besonde-res Anliegen sein – auch und gerade in schwierigen Ein-sätzen wie in Afghanistan.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Über den Kongoeinsatz ist hier teilweise kritisch dis-kutiert worden. Aber ich glaube, man muss in aller Ruhefeststellen, dass dieser Einsatz dazu geführt hat, dass inder Zeit vom 21. bis 22. August der erneute Ausbruch ei-nes Bürgerkriegs verhindert werden konnte. Die Situa-tion war mehr als kritisch, als die Truppen Kabilas dieVilla des Vizepräsidenten Bemba umstellt hatten und esdort zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam. In derVilla waren auch Botschafter. Als sich die Frage derEvakuierung stellte, haben sowohl die spanischen alsauch die polnischen Freunde mit unserer Unterstützungbei der Aufklärung dazu beigetragen, dass die Situationnicht in einen Bürgerkrieg umgeschlagen ist. Vielmehrkönnen wir jetzt wieder davon ausgehen, dass sich dieSituation stabilisiert hat. Ich hoffe und wünsche, dasswir diese Situation bis zu den Stichwahlen aufrechterhal-ten können, damit sie in einem friedlichen und stabilenUmfeld stattfinden können und die ersten demokrati-schen Wahlen nach über 45 Jahren in diesem Land ihrenpositiven Niederschlag finden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ich könnte noch alle anderen Einsätze, an denen diedeutsche Bundeswehr beteiligt ist, darstellen. Wie Siewissen, sind wir in beobachtender Mission im Sudan, inDarfur, und in Äthiopien und Eritrea. Wir sind im Rah-

men von Enduring Freedom am Horn von Afrika inDschibuti. Wir sind an der Operation Active Endeavouram Mittelmeer beteiligt, die als Folgewirkung des11. September aufgrund des Bündnisfalls nach Art. 5 desNATO-Vertrags zustande kam. Wir sind beispielsweiseauch in Georgien im Einsatz.

Gegenwärtig diskutieren wir über eine weitere Unter-stützung einer Friedenstiftenden Mission im Libanon.Erlauben Sie mir vorab eine Bemerkung. Wir leistenauch einen wichtigen Beitrag zu humanitären Hilfen.Wir haben bis zum heutigen Tag mit über 20 Flügenmehr als 135 Tonnen Hilfsgüter – von Babynahrungüber Medizin und Zelte bis zu UNO-Fahrzeugen – sowieHilfspersonen in die Region gebracht und damit einenwichtigen humanitären Beitrag geleistet.

Nun geht es darum, dafür Sorge zu tragen, dass eineim Hinblick auf die Gewährleistung des Waffenstillstan-des Frieden stiftende Mission erfolgreich ist. Ich halte esfür richtig, dass wir uns in einer Situation nicht verwei-gern, in der es um das Existenzrecht des Staates Israel,die Souveränität des Libanon und das Verhältnis Palästi-nas zu Israel im Hinblick auf die Umsetzung derRoadmap geht. Die notwendige und vorrangige politi-sche Lösung kann aber nur erzielt werden, wenn dieWaffen weiter schweigen, wenn die Einhaltung des Waf-fenstillstandes unterstützt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wie Sie wissen, warten wir auf die Anforderung desLibanon. Wenn sie eingetroffen ist, werden die VereintenNationen gegebenenfalls unsere Unterstützung bei derGewährleistung der Seesicherheit beschließen. Wenn dasder Fall ist, werde ich bei Ihnen für ein entsprechendesMandat werben.

Das sind die Verpflichtungen der Bundeswehr in denAuslandseinsätzen. Aber wir sollten uns keine Illusionenmachen. Es sind zwar Frieden stiftende Missionen. Abersie sind mit Risiken und teilweise mit Gefahren für Leibund Leben unserer Soldatinnen und Soldaten verbunden.64 Soldatinnen und Soldaten haben bereits ihr Leben inAuslandseinsätzen verloren. Deshalb muss man aus mei-ner Sicht, wenn es um einen neuen Einsatz geht, daraufhinweisen, dass es gefährliche Situationen geben kann,in denen unsere Soldaten kämpfen müssen. Das giltebenfalls im Hinblick auf eine eventuelle Evakuierungim Kongo. Wir haben das bereits beispielsweise in Af-ghanistan erlebt, wo unsere Soldaten angegriffen wur-den. Das kann man bei neuen Einsätzen nicht ausschlie-ßen. Das sollte man auch in der Öffentlichkeit deutlichansprechen. Ich erachte es für falsch, die wahre Situationnicht zu beschreiben, sondern Illusionen zu verbreiten,wenn es um gefährliche Auslandseinsätze geht. UnsereSoldatinnen und Soldaten leisten, wie ich finde, einenhervorragenden Dienst. Sie mehren das Ansehen derBundesrepublik Deutschland in den unterschiedlichenKulturen. Wir sollten ihnen für den Einsatz dankbar sein,den sie für unsere Sicherheit leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

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Bundesminister Dr. Franz Josef Jung

Zu den Aufgaben der Bundeswehr gehört natürlichauch der Schutz Deutschlands. Die Bundeswehr hilft beijeglicher Art von Katastrophen. Ihr Einsatzspektrumreicht – ich kann es nur schlagwortartig skizzieren – vonder Schneekatastrophe über die Vogelgrippe bis zumHochwasserschutz. Die Bundeswehr soll sicherlich nichtoriginäre Polizeiaufgaben übernehmen. Da man aberheute nicht mehr ohne weiteres zwischen innerer und äu-ßerer Sicherheit trennen kann, halte ich es für notwen-dig, dass die Bundeswehr dann, wenn die Fähigkeitender Polizei nicht mehr ausreichen, wenn es beispiels-weise um terroristische Anschläge aus der Luft oder vonSee oder um eine asymmetrische Bedrohung geht, ihreFähigkeiten zur Gewährleistung der Sicherheit und zumSchutz unserer Bürgerinnen und Bürger einsetzt. Dieswerden wir auch in Zukunft gewährleisten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir zählen im Rahmen des Konzepts der zivil-militä-rischen Zusammenarbeit auf die Unterstützung derReservisten. Wir brauchen weiterhin Reservisten.1 800 finden jedes Jahr Verwendung in Auslandseinsät-zen. Die Reservisten sind ein wichtiger Transmissions-riemen für die Bundeswehr in die Gesellschaft. Sie ha-ben weiterhin unsere Unterstützung verdient. Deshalbmöchte ich hier meinen Dank an die Reservisten für denBeitrag, den sie zur Gewährleistung unserer Sicherheitleisten, zum Ausdruck bringen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Weil das angesprochen wurde, möchte ich es aufgrei-fen: Ich bin dankbar, dass wir im Koalitionsvertragvereinbart haben, an der Bundeswehr als eine Wehr-pflichtarmee festzuhalten. Von der Richtigkeit diesesBeschlusses bin ich felsenfest überzeugt; denn die Wehr-pflicht hat sich in mehr als 50 Jahren Bundeswehr be-währt. Sie stellt eine Verbindung der Bundeswehr mitunserer Gesellschaft dar.

Zur Bundeswehr gehört nicht nur die innere Führung,sondern auch die Wehrpflicht. Die Bundeswehr hat sichals Wehrpflichtarmee über 50 Jahre hinweg positiv ent-wickelt. Ich bin der Auffassung, wir sollten auch in Zu-kunft an der Wehrpflichtarmee festhalten, weil die Ver-bindung mit der gesellschaftlichen Entwicklung fürunsere Armee positiv ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Von 60 000 Wehrpflichtigen, die wir im Jahr einzie-hen, verpflichten sich 25 000 freiwillig weiter. Auch dasist ein Gesichtspunkt, den man nicht aus dem Auge ver-lieren darf, wenn es um Strukturentwicklungen der Bun-deswehr geht. Ich möchte noch hinzufügen, dass wirauch im Hinblick auf die Investitionen einen erheblichenBeitrag leisten. Der Jahreswirtschaftsbericht beziffert siemit 6 Milliarden Euro.

Natürlich befindet sich die Bundeswehr in einemTransformationsprozess. Natürlich müssen wir uns aufaktuelle Einsatzlagen einstellen und tun dies auch. DieBundeswehr steht vor einer enormen Herausforderung.Wenn ich aber in dem einen oder anderen Bericht lese

– ich sehe Sie gerade, Herr Kollege Kahrs –, dass unsereSchiffe für den Einsatz in warmen Gewässern wie zumBeispiel dem Mittelmeer nicht vorgesehen sind, dannmuss ich sagen: Unsere Schiffe fahren vor Dschibuti, wodie Gewässer noch ein Stück wärmer sind. Das heißt, un-sere Bundeswehr ist schon ordentlich ausgerüstet undwir bieten ordentliche Fähigkeiten an. Deshalb sollteman konkret werden, wenn man über diese Dinge redet.

Tatsache ist, dass unsere Soldatinnen und Soldatengut ausgebildet, gut ausgerüstet und auch hoch motiviertsind. Deshalb haben sie unsere politische Unterstützungund im Rahmen der Haushaltsberatungen auch unsere fi-nanzielle Unterstützung verdient. Ich bitte Sie um Zu-stimmung zu diesem Haushaltsentwurf, im Interesse derSicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger und im Inte-resse der Sicherheit unseres Landes.

Besten Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der letzte Satzwar sehr gut, Herr Minister!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, be-

grüße ich in Ihrer aller Namen den indischen Verteidi-gungsminister Pranab Mukherjee mit seiner Delegation,die auf der Diplomatentribüne Platz genommen haben.

(Beifall)

Herr Minister, wir freuen uns sehr über Ihren Besuch.Wir wünschen Ihnen einen erfolgreichen Aufenthalt inBerlin und fruchtbare Gespräche. – Vielen Dank.

Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger vonder FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Birgit Homburger (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

meisten Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ver-richten ihren Dienst im Moment in den Kasernen und aufden Übungsplätzen in Deutschland, aber doch sind na-hezu 8 000 Soldatinnen und Soldaten heute schon imEinsatz in Afghanistan, in Usbekistan, in Bosnien-Her-zegowina, im Kosovo, in Georgien, im Kongo und amHorn von Afrika. Ihnen allen gebührt unser Dank fürihre hohe Leistungsbereitschaft und ihre vorbildlichePflichterfüllung, die sie oft genug unter widrigen Um-ständen beweisen müssen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese widrigen Umstände sind einerseits im Zusam-menhang mit den Einsatzländern zu sehen, andererseits,Herr Minister, beruhen sie auf mangelnder Führungsleis-tung Ihrerseits.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie desAbg. Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN])

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Birgit Homburger

Eine mangelhafte Führungsleistung ist es zum Beispiel,wenn Aufträge und Mittel nicht im Einklang stehen. Wirhaben im Jahr 2000 drei Auslandseinsätze der Bundes-wehr bei einem Etat von 23,2 Milliarden Euro gehabt.Im Jahr 2006 gibt es acht Auslandseinsätze bei einemEtat von 23,88 Milliarden Euro. Der erste Eindruck: eineSteigerung von 3 Prozent, zumindest nominal. Wennman allerdings die Inflationsrate herausrechnet, dann er-gibt sich real eine Reduzierung um über 10 Prozent, unddas vor dem Hintergrund mehrerer zusätzlicher gefährli-cher Aufträge.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Unglaublich!)

Das geht zulasten der Ausrüstung. Das ist für die Truppeunzumutbar und politisch nicht mehr hinnehmbar.

(Beifall bei der FDP)

Sie, Herr Minister, sagen, Sie brauchten mehr Geld.Das haben wir im Übrigen vor dem Beschluss über denKongoeinsatz auch schon von Ihnen gehört. Aber durch-gesetzt haben Sie es nicht. Jetzt wird die Forderung wie-der erhoben. Herr Minister, Forderungen allein nützennichts. Sie dürfen sich vom Finanzminister eben nichtwieder über den Tisch ziehen lassen. Sie müssen sichendlich einmal durchsetzen – bisher weit gefehlt!

Der Gesamthaushalt 2007 steigt nach dem vorliegen-den Entwurf um 2,3 Prozent. Der Einzelplan 14 steigtum 2 Prozent, in Zahlen ausgedrückt: um 480 MillionenEuro. Herr Minister, 2007 wird die Mehrwertsteuer um3 Prozentpunkte erhöht. Das bedeutet für den Verteidi-gungshaushalt eine Zusatzbelastung von 300 MillionenEuro. Für die Bundeswehr heißt das unterm Strich, dassim nächsten Jahr trotz gestiegener Anforderungen realweniger Mittel zur Verfügung stehen als in diesem Jahr.Das, Herr Minister, ist nicht weiter zu verantworten.

(Beifall bei der FDP)

Deshalb müssen Sie dafür sorgen, dass sich die Bun-desregierung hier eindeutig erklärt. Am saubersten wäreeine Lösung, die vorsieht, dass zusätzliche Einsätze ausdem allgemeinen Haushalt bezahlt werden. Das Ganzeliegt ohne Wenn und Aber in Ihrer Verantwortung. Ichsage Ihnen ganz deutlich: Sie schulden der Truppe Klar-heit in der Forderung und auch Durchsetzungsfähigkeit.Beides vermissen wir, nicht nur beim Haushalt.

Beispielhaft verweise ich auf all das, was beim Ein-satz im Kongo schief gelaufen ist. Zuerst waren Sie ei-gentlich eher ablehnend und haben gesagt: nur Sanitäteroder nur Transport. Dann haben Sie gesagt: keine Füh-rungsrolle. Heute haben wir eine Führungsrolle. Dannhaben Sie gesagt: 500 Soldaten. Jetzt sind es 780. Dannhaben Sie gesagt: Der Einsatz ist auf vier Monate be-grenzt. Sie haben in der Vorbereitung des Kongoeinsat-zes einen Hickhack abgeliefert. Wenn man sich heute an-schaut, was in der Vorbereitung des von Ihnen geplantenNahosteinsatzes geschieht, dann muss man schlicht fest-stellen: Sie haben daraus nichts gelernt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sämtliche von uns vorgetragenen Bedenken sind be-stätigt worden. Ihre Prognose, dass deutsche Soldaten imKongo höchstens vier Monate stationiert sind, ist nichthaltbar. Schauen Sie sich doch einmal die Situation nachdem ersten Wahlgang an! Sie haben sie gerade selbst ge-schildert. Heute wurde bekannt, dass das oberste Gerichtdes Kongo die Bekanntgabe der endgültigen Ergebnisseder Präsidentschaftswahl auf unbestimmte Zeit verscho-ben hat, weil dagegen geklagt wird. Wir hören auch, dassdie Milizen im Kongo aufrüsten.

Das alles gibt doch Anlass zur Sorge. Ihre einzige Re-aktion lautet: Ich verspreche den Soldatinnen und Solda-ten, dass sie in vier Monaten zu Hause sind. Für dasKontingent, das vor Ort ist, gilt das auf jeden Fall, HerrMinister. Aber ich prophezeie Ihnen: Wenn die Situationnach dem zweiten Wahlgang eskaliert und internationalDruck dahin gehend ausgeübt wird, dass deutsche Solda-ten weiterhin im Kongo stationiert sind, dann werden Sieauch in diesem Punkt einknicken. Das wird passieren.Ich wiederhole: Schon jetzt ist absehbar, dass diese Auf-gabe in vier Monaten nicht zu erledigen ist.

(Beifall bei der FDP – Steffen Kampeter[CDU/CSU]: Frau Homburger ist jetzt unterdie Prophetinnen gegangen!)

Was die Wahlen angeht, haben Sie sich nach wie vornicht um ein politisches Konzept gekümmert. Ich findees bemerkenswert, dass sich die Bundesregierung nachdem Beschluss im Deutschen Bundestag – ein wesentli-cher Grund, warum wir, die FDP, ihm nicht zustimmenkonnten, war, dass unserer Meinung nach ein politischesKonzept für die Stabilität des Landes nach den Wahlenfehlt – um das Thema Kongo schlicht und ergreifendnicht mehr gekümmert hat. Dieses ganze Thema ist erstwieder auf Ihrem Plan gewesen, als der deutsche Bot-schafter und andere in dieser gefährlichen Situation wa-ren.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Stuss! Unglaublich!)

Vorher haben Sie sich darum nicht gekümmert. Das istnicht hinnehmbar. Wer deutsche Truppen ins Auslandschickt, muss sich auch um eine politische Lösung küm-mern.

(Beifall bei der FDP)

Das gilt im Übrigen auch für die Vorbereitungen einesEinsatzes im Nahostkonflikt. Wir haben die Grundsatz-debatte dazu im Rahmen der Beratung des Etats desAuswärtigen Amtes geführt. Die Bundesregierung hathier in den letzten Wochen aus unserer Sicht Vorschlägefür eine politische Lösung und Hilfsangebote durch eineMilitärangebotspolitik ersetzt. Herr Minister, Sie warenderjenige, der hier zuvorderst klar gesagt hat: „Wir kön-nen uns dem nicht entziehen!“ und damit die Bundesre-publik Deutschland in diese schwierige Situation ge-bracht hat.

Sie haben dann nahezu täglich für weitere Irritationengesorgt. In einem für den Auftrag und die Truppe ent-scheidenden Moment fehlen wieder Klarheit und Durch-setzungsfähigkeit. Ich wundere mich schon, dass Sie hier

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Birgit Homburger

nichts zu der aktuellen Debatte über diese Sechs-Meilen-Zone sagen. Herr Minister, das hätte in diese Debatte ge-hört.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das ist eine Haushaltsdebatte!)

Wir stellen fest, der Libanon stellt Bedingungen. Ichhätte von Ihnen erwartet, dass Sie auch sagen: Diese Be-dingung ist nicht akzeptabel, weil eine effektive Kon-trolle und die Unterbindung von Waffenschmuggel esnicht zulassen, dass die libanesische Armee in einerSechs-Meilen-Zone zuständig ist. Das sagen Ihnen alleFachleute.

(Rainer Arnold [SPD]: Kennen Sie die Bedin-gungen schon? Kennen Sie die Papiere?)

Beispielsweise hat Herr Gertz vom Bundeswehr-Ver-band deutlich gesagt, dass das nicht geht. Herr Minister,deswegen erwarte ich von Ihnen, dass Sie klar und deut-lich sagen, dass das nicht infrage kommt. Solange dieEinsatzregeln nicht klar sind und solange das Ziel einesEinsatzes, wie Sie es definieren, aufgrund der Rahmen-bedingungen gar nicht erreichbar ist,

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Werhat Ihnen das aufgeschrieben? – SteffenKampeter [CDU/CSU]: Kennen Sie die Anfor-derung schon?)

ist es unverantwortlich, deutsche Soldaten in Gefahr zubringen.

(Dr. Karl Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]: Das tun wir doch gar nicht!)

Dazu erwarte ich eine klare Stellungnahme von Ihnen.

(Beifall bei der FDP)

Ich möchte eine letzte Bemerkung zum ThemaAfghanistan machen. Herr Minister, die Situation in Af-ghanistan – auch Sie haben das angesprochen – hat sichverschärft. Ich erwarte, dass wir im Deutschen Bundes-tag im Rahmen der Diskussion über die Verlängerungdes ISAF-Mandats, das am 13. Oktober abläuft, endlicheinmal darüber sprechen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Das machen wir doch!)

welche politischen Ziele und welche Ziele im Land ei-gentlich erreicht sein müssen, damit die Bundeswehrwieder abziehen kann. Das sind Fragen, die beantwortetwerden müssen. Auch hierbei geht es um ein politischesGesamtkonzept und eine Diskussion mit unseren Part-nern. Das muss im Rahmen dieser Debatte im DeutschenBundestag gewährleistet werden.

Hierzu müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, auchGespräche beispielsweise in Afghanistan. Sie warendort. Sie haben die Truppe besucht. Sie waren nicht inKabul. Das ist einer der weiteren großen Fehler IhrerAmtszeit.

Herr Minister, in der heutigen Debatte geht es nichtnur um die Einbringung des Haushalts 2007, sondernauch um die Bilanz über ein Jahr Regierungstätigkeit.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt jetzt wieder nicht!)

Eine klare Linie ist nicht erkennbar. Sie stolpern von ei-nem Einsatz in den nächsten. Die dringend nötigeGrundsatzdebatte über Kriterien für einen Auslandsein-satz, die eigentlich anhand des Weißbuchs geführt wer-den müsste, haben Sie durch desaströses Managementund unnötige Alleingänge an die Wand gefahren. Des-halb bitte ich die Bundeskanzlerin um eine Regierungs-erklärung zur Sicherheitspolitik. Die Bundeswehr unddie Sicherheitspolitik sind zu wichtig, um sie weiter ei-nem angeschlagenen Minister allein zu überlassen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg.Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN] – Widerspruch bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Rainer Arnold von der

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Rainer Arnold (SPD): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Für

uns Verteidigungspolitiker ist es eine neue Erfahrung,dass in einer solchen Haushaltsdebatte eigentlich durch-gängig von morgens bis abends über deutsche Sicher-heits- und Verteidigungspolitik gesprochen wird.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Au-ßenpolitik haben wir auch ein bisschen bespro-chen!)

Das begrüßen wir. Das spiegelt auch die Veränderung inder Welt, in der Staatengemeinschaft wider.

Frau Homburger, die sicherheitspolitische Welt, diesich rasant verändert, verändert sich nicht nach den Vor-gaben der FDP. Das können Sie nicht steuern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Birgit Homburger [FDP]:Aber die kann man mit Ihrer Art und Weise derPolitik auch nicht gestalten!)

Sie machen es sich hier in einer Art und Weise leicht mitder Kritik, dass ich das, was Sie an Pfeilen losgesendethaben, zurückgeben will.

Sie erheben hier den Vorwurf, Deutschland isolieresich durch sein internationales Engagement in der inter-nationalen Staatengemeinschaft. Darüber müssen Sie inIhrer Partei schon noch einmal nachdenken.

(Walter Kolbow [SPD]: Sehr wahr!)

Würden wir Ihren Ratschlägen folgen, wäre Deutschlandin der Staatengemeinschaft allein

(Bernd Siebert [CDU/CSU]: So ist die Wahr-heit!)

und würde sich nicht mehr mit seinen Freunden undPartnern auf gemeinsame Vorgehensweisen gegen ge-

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Rainer Arnold

meinsam erkannte Risiken verständigen. Das wäre un-verantwortlich.

Wenn Sie genau nachdenken, werden Sie merken,dass Sie inzwischen manchmal doch nahe an der Argu-mentation der Kollegen der PDS bzw. der Linken sind.Da würde ich mich an Ihrer Stelle schon fragen, ob ichnicht etwas falsch mache.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Bleiben Sie auf demTeppich! – Birgit Homburger [FDP]: Völligdaneben!)

Als ich heute Morgen den Sprecher aus dem Saarlandgehört habe, ist mir eingefallen, dass Willy Brandt– vielleicht haben wir ihn mal gemeinsam geschätzt –gesagt hat: links und frei. Er hat aber nicht gemeint: freivon Verantwortung. Diese Art der Politik „frei von Ver-antwortung“ betreiben diese beiden Oppositionsparteien,Linke und FDP, gerade miteinander.

(Beifall bei der SPD – Jürgen Koppelin [FDP]:Das ist doch Ihr Koalitionspartner in Mecklen-burg-Vorpommern!)

So viel zum Einstieg.

Wir alle merken, was sich auch für die Bundeswehrverändert hat. Wir haben in den Einsatzgebieten verän-derte Bedingungen und neue Aufgaben. Das gilt in ho-hem Maße für die Sicherheitslage in Afghanistan. Beiallen Erfolgen, die der Außenminister heute hier zuRecht beschrieben hat, gibt es keinen Grund, um die ei-gentlichen Probleme herumzureden. Im Süden des Lan-des herrscht in diesen Tagen letztlich wieder Krieg.Auch wenn es noch keine Irakisierung des Landes gibt,die Methoden sind in Afghanistan die gleichen wie imIrak: Sprengstofffallen, Selbstmordattentäter und vielesandere mehr. Dass dies auch im Norden durchschlägt,macht die Arbeit für die Soldaten und für die Bundes-wehr dort nicht einfacher. Deshalb ist es selbstverständ-lich, dass wir Politiker, aber auch die Truppe selbst, im-mer wieder darüber nachdenken, wo dieses Mandat einStück weit nachgebessert und neu justiert werden muss,wo neue Fähigkeiten benötigt werden, wo zusätzlicherSchutz für die Soldaten erforderlich ist.

Aber am Ende bleibt doch die Erkenntnis, dass dieserAuftrag wirklich ohne Alternative ist.

(Birgit Homburger [FDP]: Das ist aber anmaßend!)

Wenn wir diesen Auftrag nicht hinbekommen, fragenuns die Menschen eines Tages: Warum habt ihr zugelas-sen, dass sich Drogenkartelle, Terroristenausbildungs-camps und schlimmste Menschenrechtsverletzungen un-ter euren Augen wieder ausgebreitet haben? – Das wäredie Frage, die uns die nachfolgenden Generationen stel-len würden. Deshalb sage ich ausdrücklich: Wir müssenund werden alles tun, damit dieses Mandat zum Erfolggeführt wird.

Ich weiß, dass das nicht primär eine militärische Auf-gabe ist. Es ist wichtig, dass die Soldaten das bekom-men, was sie brauchen. Sie haben dort 480 geschützteFahrzeuge. Es ist also keinesfalls so, dass wir sie ohneSchutz und alleine lassen. Wir wissen, dass das Basisla-

ger verstärkt werden muss. Aber entscheidend bleibt:Wenn es uns nicht gelingt, die Lebensbedingungen derMenschen in Afghanistan wirklich zu verändern, wennes uns nicht gelingt, zu erreichen, dass die Menschen inden Dörfern etwas anderes hören und erfahren als isla-mistische Propaganda, dann wird das Mandat am Endenicht erfolgreich sein. Wir brauchen eine sehr viel stär-ker vernetzte Debatte über den politischen und ökonomi-schen Prozess in Afghanistan.

(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)

Wir werden in der nächsten Sitzungswoche ausführlichGelegenheit haben, diese ein Stück weit zu verbreitern.Ich denke, das ist die richtige Antwort angesichts derHerausforderungen.

Die zweite neue Herausforderung, die wir haben, istdas Mandat im Kongo. Bei allen Schwierigkeiten– aber wir sind ja dort, weil es schwierig ist – ist derWahlprozess wie geplant verlaufen. Die Entsendung dereuropäischen Truppe war richtig. Eines hat sich doch ge-zeigt: Beim Aufkeimen von Unruhen hat sich die Theseder Staatengemeinschaft, dass eine stabile Gruppe benö-tigt wird, die möglicherweise von außen noch verstärktwerden kann, bestätigt und damit hat sich die Entsen-dung bewährt. Deshalb gibt es keinen Grund für Verän-derungen.

Noch weniger Grund gibt es, schon jetzt über eineVerlängerung des Mandats zu diskutieren. Ich glaube,dass die Verlässlichkeit bezüglich der Einhaltung desMandats von vier Monaten für die Soldaten in derTruppe, aber auch für die deutsche Öffentlichkeit einsehr hohes Gut ist. Wenn die Situation sich wirklich ver-ändert, dann muss auch in New York neu nachgedachtwerden, wie MONUC ausgestaltet wird. Wir würdengern zu den im Einsatzbeschluss vorgesehenen vier Mo-naten stehen. Dies ist für die Verteidigungspolitiker na-türlich ein sehr wichtiger Punkt.

Frau Homburger, wenn Sie hier immer die angeblichfehlenden politischen Konzepte anmahnen,

(Birgit Homburger [FDP]: Ist doch so!)

dann ist das keine Kritik am Verteidigungsminister undauch keine Kritik an der Bundesregierung. Es ist eine an-maßende Kritik der Weltmacht FDP an allen internatio-nalen Organisationen und der internationalen Staatenge-meinschaft insgesamt. Die Konzepte für den Kongo– dieses Mandat ist ja nur ein kleines Mosaiksteinchen;es gibt ein breites Konzept für den Kongo – und für Af-ghanistan müssen hinterfragt und auch verändert wer-den. Ihre Kritik richtet sich in einer überheblichen Artund Weise an all die Akteure,

(Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist eine schulmeis-terliche Art, das ist ja nicht auszuhalten!)

die sich in der internationalen Politik um diese Prozessebemühen. Ich halte die Kritik wirklich für absolut nichtin Ordnung.

Es gibt eine dritte Veränderung – sie wurde schon an-gesprochen –, und zwar den möglichen Einsatz im

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Rainer Arnold

Libanon. Wir wissen alle, dass das in erster Linie einehumanitäre Aufgabe ist, die schnell angegangen werdenmusste. Das Blutvergießen dort musste gestoppt werden.Der Maßstab, nach dem wir entscheiden, sollte nicht sosehr die historische Verantwortung sein. Die haben wir;ganz klar. Daraus kann man aber zwei unterschiedlicheErkenntnisse ziehen: Man kann sagen, wegen unsererGeschichte müssen wir uns dort heraushalten. Aber ge-nauso ethisch ist es zu sagen, gerade wegen unserer Ge-schichte müssen wir uns dort engagieren.

Deshalb ist mein Maßstab – und ich denke, auch dervieler Kollegen – die Frage: Können wir einen ernsthaf-ten Beitrag zur Stabilisierung in dieser Region leisten?Können wir kurzfristig einen ernsthaften Beitrag zumBeenden des Blutvergießens leisten und langfristig einenProzess mit unterstützen, der zu einer nachhaltigen Frie-denslösung führt? Ich glaube, wenn wir gefragt werdenund das Mandat so ausgestaltet wird, dass es wirksamist, dann wird es keinen Dissens geben und dann werdenalle dieses Mandat unterstützen, auch der Verteidigungs-minister.

(Birgit Homburger [FDP]: Dann kann man es auch sagen!)

Dann werden wir am Ende gut daran tun, diese Aufgabezu übernehmen.

All diese Veränderungen werden sich natürlich aufdie Bundeswehr auswirken. Ich glaube nicht, dass dieReform deshalb falsch ist. Aber wir haben ein objektivesProblem: Die Reform zielte auf das Jahr 2010 ff. ab; dieWelt hat sich aber schneller verändert. Deshalb glaubeich, dass wir sehr sorgsam miteinander über die Fragereden müssen: Welche Veränderungen sind kurzfristigerforderlich? Ich würde es für richtig halten, wenn wirsorgsam die Fragen untersuchen: Welchen zusätzlichenSchutz braucht die Truppe? Was kann die Truppe aus ei-gener Kraft noch zusätzlich erwirtschaften? Es gilt si-cherlich das Prinzip, dass man das Geld nur einmal aus-geben kann, aber es lohnt sich schon, zweimal darauf zugucken, wie man es ausgibt. Ich persönlich glaube aller-dings, dass das Strecken von Investitionen, das Setzenvon Prioritäten in den letzten Jahren sehr gut und schlüs-sig war und dass es daher nicht mehr viel Spielraum ge-ben wird.

Auch wenn wir über 600 Millionen Euro für Aus-landseinsätze vorgesehen haben, gehe ich davon aus,dass dieses Geld am Ende für die neuen Aufgaben nichtreichen wird. Ich wäre auch nicht damit zufrieden, wenndie Bundeswehr gerade so mal eben alle diese Aufträgeerledigen kann. Soll die Truppe auch in Zukunft ein In-strument der Außen- und Sicherheitspolitik sein, musssie auch weitere Spielräume haben und darf in diesemBereich nicht von vornherein Einschränkungen unterlie-gen. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir sehr kon-zentriert, projektbezogen quantifizierbar im Etat nach-steuern und die Dinge beschaffen, die notwendig sind.Das ist der richtige Prozess, der dann auch nicht die be-fürchteten Kaskaden bei den anderen Ressorts weckenwird mit der Folge, dass die Begehrlichkeiten überallsteigen. Ich glaube, diesen Weg sollten wir miteinander

gehen. Der Verteidigungsminister hat hierbei unserevolle Unterstützung.

Nach wie vor gelten die folgenden vier Grundsätze:

Erstens. Die Reform der Bundeswehr war richtig. Wirmüssen sie jetzt aber auch durchhalten.

Zweitens. Wir sehen allerdings, dass es schneller ge-hen muss. Nicht alles kann man der Politik an den Huthängen; auch die Industrie ist manchmal langsamer, alswir uns wünschen – das muss man ganz deutlichsagen –, und enttäuscht uns gelegentlich auch. Es kannauch nicht alles mit der Bereitstellung von Mitteln ge-klärt werden. Hubschrauberpiloten und qualifizierteÄrzte kann man nicht einfach kaufen. Das braucht seineZeit.

Drittens. Die Koalition hat im Koalitionsvertrag ver-einbart: Wir werden für die Auslandseinsätze die not-wendigen Ressourcen bereitstellen. Dieser Koalitions-vertrag gilt.

Viertens. Wir werden – ich sagte es schon – dafür sor-gen, dass die Bundeswehr als Instrument für den Spiel-raum in der internationalen Politik erhalten bleibt.

(Birgit Homburger [FDP]: Man kann es sichauch einfach machen! Man kann es sich wirk-lich verdammt einfach machen, Herr Arnold!)

Bei all diesen Diskussionen vergessen wir nicht dieMenschen in der Truppe. Wir müssen die Attraktivitätsteigern. Wir müssen jetzt das Personal für morgen an-werben. Wir müssen uns jetzt Gedanken darüber ma-chen, dass es bei einem veränderten Arbeitsmarkt für dieBundeswehr nicht einfacher wird, qualifiziertes Personalzu bekommen. Wir müssen jetzt auch darüber nachden-ken, ob Zeitsoldaten nicht vielleicht ein bisschen längerdienen sollten. Ich halte das für richtig. Ich halte auchdie Feststellung des Ministers für richtig, dass wir in derFrage der Wehrpflicht das Thema Dienstgerechtigkeit imHinterkopf haben müssen. Das darf am Ende aber aufkeinen Fall zulasten der Zahl der Zeit- und Berufssolda-ten gehen. An diesen Stellschrauben entlang gilt es zudiskutieren.

Eines wissen wir aber auch: Alle diese materiellenFragen sind wichtig, aber wir brauchen in unserer Ge-sellschaft eine breite Debatte über die Legitimation vonAuslandseinsätzen. Das Weißbuch kann dazu einenBeitrag leisten. Ich appelliere deshalb sehr dafür, denFokus auf diese Frage und nicht so sehr auf eine Ver-mengung zwischen äußerer und innerer Sicherheit zu le-gen. Wir werden das tun müssen, was der Minister sagt,nämlich die Einsätze in der Luft und auf See verfas-sungsmäßig regeln. Dann ist es aus sozialdemokratischerSicht aber auch gut.

Wir müssen den Fokus auf die Frage der Legitimationlegen. Ich glaube, es ist nicht so schwer, diese Debatte zuführen. Ich habe heute hier ein paar Mal die Forderungnach einem Kriterienkatalog gehört. Einen solchen Kata-log mit Häkchen für einen Einsatz wird es nicht gebenkönnen.

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Rainer Arnold

(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)

Aber etwas muss geben.

(Birgit Homburger [FDP]: Aber Grundsätze wird es geben!)

– Das sage ich doch gerade, Frau Homburger. – Manmuss sich die Maßstäbe, nach denen wir entscheiden,noch einmal klar machen. Diese Maßstäbe beruhen beiallen Einsätzen auf drei Säulen:

Die erste Säule ist die ethische Verantwortung. Wirdürfen nicht wegsehen, wenn Menschen in der Welt inBedrängnis sind, wenn Massenmord und Völkermorddrohen. Das ist eine Legitimation für Auslandseinsätze.

Die zweite Säule ist die Frage von Interessen. Dabeigeht es nicht um partikulare nationale Interessen, son-dern um gemeinsame europäische Interessen. Frieden imLibanon und im Kongo liegt im Interesse eines jedenvernünftigen Menschen auf der ganzen Welt. Bei der Ge-wichtung von Interessen müssen wir aber auch fragen:Wo hat Deutschland eine besondere Verantwortung inder Welt, vielleicht weil das Krisengebiet in der Näheliegt oder aufgrund unserer besonderen Geschichte? Fürandere Länder stellen sich diese Fragen im Zusammen-hang mit ihrer Verantwortung gegenüber früheren Kolo-nien. So definiert würde die Debatte um Interessen einerichtige Debatte.

Wir sollten den Fehler vermeiden, ökonomische Inte-ressen missverständlich herüberzubringen. Den Zugriffauf Ressourcen mit militärischer Gewalt will niemandhier. Aber es geht um ökonomische Interessen in folgen-dem Sinne: Die Stabilität im Kongo – um dieses Beispielzu nennen – ist eine Voraussetzung dafür, dass die deut-sche Wirtschaft die Türen geöffnet bekommt und mit ei-nem fairen Handel beginnen kann, der letztlich denMenschen im Kongo hilft und verhindert, dass mafiöseStrukturen dieses Land ausbeuten. Insofern geht es auchum ökonomische Interessen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Die dritte Säule schließlich kommt in der Legitima-tion der deutschen Politik oftmals vielleicht zu kurz. Esgibt auch ein politisches Interesse für Einsätze. In derVergangenheit haben wir die ethisch-moralische Fragemanchmal ein bisschen überhöht. Vielleicht war diesaufgrund der deutschen Geschichte auch notwendig; eswar nicht einfach, plötzlich in den Kongo zu ziehen.Dies hat es manchmal nicht leichter gemacht. Aber na-türlich war der Einsatz in Osttimor in erster Linie poli-tisch und nicht operativ begründet.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Arnold, denken Sie an Ihre Zeit.

Rainer Arnold (SPD): Ja, ich komme zum Ende. – Ich halte es für richtig,

dass wir uns zu diesem politischen Interesse bekennen.Denn dieses wirtschaftsstarke, wichtige Land in Mittel-europa muss den Anspruch haben, bei internationalen

Prozessen mit am Tisch zu sitzen, sie mitzugestalten undmitzudiskutieren.

Wenn ich dies alles werte, muss ich feststellen: DieLinken haben Recht: Die Bundeswehr ist eine Interven-tionsarmee geworden. Sie interveniert für Frieden aufder Welt und nicht, um jemandem etwas wegzunehmen.Die Bundeswehr ist seit 50 Jahren die Armee für Friedenund Freiheit. Darauf bauen ihr Auftrag, ihre Struktur,ihre Aufgaben auf. In diesem Sinne begreifen auch dieSoldaten ihren Dienst. Das gilt für diejenigen, die zuHause in den Kasernen ihre Arbeit verrichten. Das giltaber besonders für diejenigen, die an den schwierigenAuslandseinsätzen teilnehmen. Das ist eine Belastung,eine Gefahr für die Familien.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Arnold!

Rainer Arnold (SPD): Ich möchte mich am Ende –

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Nein, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Rainer Arnold (SPD): – bei den Soldaten und allen Mitarbeitern der Truppe

für dieses Engagement recht herzlich bedanken und beiIhnen für die Geduld, mit der Sie mir zugehört haben.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Paul Schäfer von der Frak-

tion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Dass der Bundesfinanzmi-nister, wenn es um öffentliche Ausgaben geht, eherknausert, ist bekannt. Dass deshalb ein Fachminister,wenn sich das steinbrücksche Füllhorn über ihm öffnet,als Franz Josef im Glück vorkommen muss, kann ichnachvollziehen. Ob sich allerdings die Bürgerinnen undBürger mit dem Minister über diese Entwicklung freuenkönnen, steht auf einem ganz anderen Blatt.

In den Verteidigungsetat werden 480 Millionen Euromehr eingestellt. Das ist kein Pappenstiel. Warten wirerst einmal ab, aus welchen Töpfen der Libanoneinsatzbezahlt wird. Wir haben eben gehört, das Geld reichenicht. In der Tat ist schon eingeplant, bis 20111 Milliarde Euro draufzupacken. Jeder Euro kann nureinmal ausgegeben werden. Die über 400 MillionenEuro, die Sie jetzt allein für die Munitionsbeschaffungvorsehen, fehlen natürlich für Infrastrukturinvestitionen,die Bildung oder die Gesundheitsreform.

Der Kollege von Klaeden von der Union hat jetztgefordert, uns der NATO-Maßgabe hinsichtlich desAnteils der Rüstungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt

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Paul Schäfer (Köln)

anzunähern. Wir liegen gegenwärtig bei 1,21 Prozent.Die NATO-Vorgabe lautet: 2 Prozent. Da sollen wir alsohin. Das ist nun wirklich kühn.

Aber es ist folgerichtig, wenn in diesem Zusammen-hang vorsichtig angedeutet wird, dass wir uns bestimmteDinge wohl nicht mehr leisten können, weil wir vielmehr in die Sicherheit investieren müssen. Beispiels-weise eine Rente, die den Lebensstandard sichert, istdann einfach nicht mehr drin.

Mehr als 60 Prozent der Deutschen sind der Meinung,dass wir, bevor wir die Bundeswehr überall hinschicken,erst einmal die hiesigen wirtschaftlichen und sozialenProbleme lösen müssen. Diese Meinung muss man nichtteilen. Aber es entspricht den Erfahrungen vieler Men-schen, dass für die Anschaffung von neuen Panzerhau-bitzen problemlos Geld bereitgestellt wird, während dieMittel für die öffentliche Förderung von Schulbussen– ich rede von den Regionalisierungsmitteln im ÖPNV –zusammengestrichen werden. Friedensgruppen sammelnderzeit Unterschriften unter der Überschrift „Spart end-lich an der Rüstung“

(Beifall bei der LINKEN)

und fordern Abrüstung statt Sozialabbau. Die Linke un-terstützt diesen Aufruf.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch wenn der inflationäre Gebrauch des Wortes„Transformation der Bundeswehr“ suggeriert, es gebeein langfristiges, stringentes und durchdachtes Konzeptfür die Modernisierung der Bundeswehr: Dieses Kon-zept gibt es nicht. Was Sie hier machen, ist Stückwerkauf hohem Niveau.

Vorwiegend aus rüstungswirtschaftlichen Gründenwerden Projekte durchgezogen, die nicht mehr in dieheutige Zeit passen, die aber auf lange Jahre hinaus dieMöglichkeiten des Gesetzgebers, das heißt unsere Mög-lichkeiten, zur Haushaltsgestaltung einschränken. Alleindie Verpflichtungsermächtigungen für neues Kriegsgerätbelaufen sich derzeit auf 25 Milliarden Euro. Es ist prak-tisch ein gesamter Verteidigungsetat, der dadurch festge-legt wird.

Zu den Rüstungsantiquitäten gehören das Panzer-abwehrrakentensystem PARS III, bestellt und entwickeltin den 80er-Jahren – ein Schuss Munition aus dieserWaffe kostet die Kleinigkeit von 1 Million Euro –, dasRaketenabwehrsystem MEADS, der SchützenpanzerPuma, aber auch die 180 Eurofighter. Als Relikt des Kal-ten Krieges ist auch die Tornado-Bomberstaffel anzuse-hen, die bereit steht, um gegebenenfalls atomare Waffender USA einzusetzen. Es ist ein gefährlicher Unsinn,wenn Sie, Herr Minister, nach dem Motto „So haben wires gestern gemacht; so machen wir es auch heute undmorgen“ in Ihrem Weißbuchentwurf an dieser Doktrinfesthalten. Wir wollen keine nukleare Teilhabe und wirbrauchen sie auch nicht, um in der Nato in atomaren An-gelegenheiten mitreden zu können. Diese Flugstaffelkann aufgelöst werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Aus den Einsatzszenarien des Kalten Krieges stam-men auch die Cluster- und Streubomben, deren verhee-rende Wirkung wir gerade im Libanon gesehen haben.Sie werden von der Bundeswehr noch vorgehalten. Die-ses gesamte Arsenal sollte unverzüglich ausgemustertund vernichtet werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Um das zusammenzufassen: Ihre Losung scheint zulauten: Wir wollen alles, die alten schweren Waffensys-teme und Plattformen, zweites Los U-Boote, neue Fre-gatten, Korvetten. Sie wollen die beste Hightech-Aus-rüstung und Sie wollen die maximalen Anforderungender Nato für alle denkbaren Einsatzspektren bedienen.

Eine wirkliche Konzeption der Streitkräfte sieht mei-ner Überzeugung nach ganz anders aus. Es wäre rational,dabei auch an tiefe Einschnitte in die vorhandenen Waf-fenarsenale zu denken. Die Wahrheit ist nämlich: Rüs-tungsbarock können wir uns nicht mehr leisten. Dasseine solche Konzeption mit Überlegungen über die Um-widmung militärischer Potenziale für zivile Zwecke ver-knüpft werden muss, das liegt auf der Hand. Wir müss-ten also auch einmal wieder über Konversion reden,Konversion bei Liegenschaften, Personal, Rüstungspro-duktion. Wir werden jede Initiative unterstützen, die indieser Richtung aktiv wird. Dies gilt nicht zuletzt für dieBürgerinitiative, die sich für eine alternative Nutzungdes Bombodroms in der Wittstocker Heide einsetzt; daswerden wir unterstützen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ferner werden wir beantragen, in diesem Einzelplangut 2 Milliarden Euro einzusparen und die frei werden-den Mittel in Konversionsmaßnahmen, in den zivilenFriedensdienst, in die Friedensforschung und nicht zu-letzt in die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit zustecken. Da sind wir auch in guter Gesellschaft. Der ehe-malige amerikanische Präsident Bill Clinton wird heutevon den Nachrichtenagenturen mit den Worten zitiert,dass eine deutliche Aufstockung der Entwicklungshilfedoch entschieden billiger sei, als in den Krieg zu ziehen.Wo der Mann Recht hat, hat er Recht.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme auf ei-nen Punkt zurück, den ich eingangs erwähnt habe: DieDeutschen sind überwiegend skeptisch bis kritisch,wenn es um Bundeswehreinsätze wie im Kongo oderjetzt im Libanon geht.

(Dr. Karl Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]:Sie tragen zu einem guten Teil dazu bei, dassdas so ist!)

Steigende Rüstungslasten sind gewiss nicht das, was siewünschen. Ich muss leider feststellen, dass im Gegensatzdazu der Hauptstrom der Meinungsmacher bei der Lo-sung „Mehr Geld für die Bundeswehr“ einen gewissen

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Paul Schäfer (Köln)

Sexappeal entdeckt hat. Ich wundere mich nur, dass die-selben Autoren im gleichen Atemzug sagen: Es gibtKlärungsbedarf: Wo gehen wir mit der Bundeswehrhin? Warum? Was liegt in unserem Interesse, was nicht?Wenn wir nicht überall dabei sein können und wollen– andere tun das ja auch nicht –: Nach welchen Kriterienentscheiden wir über deutsche Beteiligung? Wo hat mili-tärisches Krisenmanagement geholfen, wo versagt?

(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sind das jetzt Fragen für euch?)

– Das sind Fragen, die sich alle stellen müssen; völligklar. Ich denke nur: Man darf nicht den zweiten Schrittvor dem ersten tun, lieber Kollege Nachtwei. Wenn manfür mehr Auslandseinsätze und auch für mehr Geld fürdie Rüstung ist und erst danach fragt: „Wozu?“, ist dasetwas abstrus.

Richtig ist: Deutschland ist wichtig in der Welt; dasinternationale Engagement der Deutschen ist wichtig.Aber richtig ist damit noch lange nicht, dass wir überallmilitärisch dabei sein müssen. Bewaffnete deutsche Sol-daten im Nahen Osten – das ist heute auch schon einpaarmal gesagt worden –, das ist nicht nur hoch riskant.Vielmehr würden sie auch einen Problemfaktor darstel-len. Wenn es daneben ginge, könnte das auch unsere be-sonderen Möglichkeiten zur Konfliktvermittlung gefähr-den. Deshalb sagen wir: Wir sollten uns auf unserenBeitrag zu diesem politischen Friedensprozess

(Beifall bei der LINKEN)

und zu einer Konferenz für Sicherheit und Zusammen-arbeit in Nahost konzentrieren. Deshalb sagen wir:UNO-Mission ja, aber deutsche Beteiligung nein.

Dass wir uns beschränken müssen, gilt erst recht fürdie Rüstungsexportpraxis. Wenn ich das richtig sehe,scheint diese Regierung aber mit dem Grundsatz, dassman keine Waffen in Spannungsgebiete liefern darf, end-gültig brechen zu wollen. Der Waffenhandel mit Indienkommt in Schwung. Während man auf der einen SeiteWaffenlieferungen an die Hisbollah unterbinden will,bekommt Israel zwei U-Boote zum Subventionspreis. Estut mir leid: Das ist keine Friedenspolitik.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir müssen darüber diskutieren, ob die Voraussetzun-gen für die weitere Erhöhung der Ausgaben für Rüstungund Bundeswehr gegeben sind. Dazu gehört an ersterStelle eine genaue und schonungslose Bilanz der bisheri-gen Bundeswehreinsätze. Auch das ist schon oft hier ge-sagt worden; wir müssen es nun endlich tun.

Man könnte jetzt damit beginnen, darüber zu diskutie-ren, welche Kriegsziele im Kosovo ausgegeben wurdenund was unter dem Strich geblieben ist. Ich will mir dasan dieser Stelle ersparen. Tatsache ist jedenfalls: DieZahl der Militäreinsätze nimmt zu, die Bundeswehrbleibt überall länger als vorgesehen und eine nachhaltigeBefriedung ist oft nicht in Sicht. Daher muss doch dieFrage nach alternativen Krisenlösungskonzepten gestelltwerden dürfen. Dazu gehört zum Beispiel die Frage, obman mehr hätte erreichen können, wenn man einen Teilder Summe von circa 9 Milliarden Euro, die seit 1992

für Auslandseinsätze ausgegeben wurden – ich lasse ein-mal die sächliche Umrüstung außen vor –, in Mittel fürzivile Projekte der Konfliktbearbeitung gesteckt hätte.Sie setzen stattdessen auf ein „Weiter so!“. Ich glaube,dass das keine Antwort auf die Herausforderung der Zu-kunft ist.

Dass diese Rechnung nicht aufgehen wird, zeigt dieEntwicklung in Afghanistan. Alle sagen, die Sicher-heitslage dort werde immer prekärer. Dabei liegen80 Prozent des afghanischen Haushalts in den Händenfremder Mächte, die die Lage dort beeinflussen könnten.Afghanistan ist ein Protektorat der USA und in zweiterReihe der UNO. Aber an dieser Stelle beginnt mögli-cherweise genau das Problem. Es bleibt ein Wider-spruch, dass man durch extreme Fremdbestimmung zurSelbstbestimmung kommen will. Es funktioniert offen-bar nicht so, wie sich manche Leute das State Buildingvorstellen.

(Beifall bei der LINKEN)

Dazu braucht man ein klares Konzept.

Besonders schlimm ist auch, dass es zwischen denHauptakteuren offenkundig unterschiedliche Vorstellun-gen gibt, was Afghanistan betrifft. Nehmen wir einmaldas Beispiel Drogen. Einigen Akteuren, Regierungenund NGOs, ist völlig bewusst, dass die Entwicklung vonalternativen Erwerbsquellen in der Landwirtschaft – da-rauf kommt es an – ein länger andauernder Prozess ist.Wenn sich aber die gegenwärtige Linie weiter durch-setzt, nämlich eine rabiate und schnelle Bekämpfung desDrogenanbaus voranzutreiben, dann werden wir unwei-gerlich mit neuen sozialen Verwerfungen zu rechnen ha-ben. Eine weitere Eskalation der Gewalt ist unausweich-lich.

Kollege Arnold, Sie sagen, dass es in Afghanistan einDrogenparadies geben würde, wenn wir von dort abzie-hen. Aber die Drogenkartelle haben sich unter ISAF aus-gebreitet. In diese Zeit fiel die Rekordernte. Das ist dieEntwicklung in den letzten Jahren.

Ich glaube aber, am aller schwersten wiegt, dass dervon George Bush ausgerufene globale Krieg gegen denTerrorismus, der vor allem im Süden Afghanistans exe-kutiert werden soll, seine langen Schatten auf die Stabili-sierungsversuche andernorts wirft. Statt weniger habenwir mehr Gewalt. Afghanische Menschenrechtler spre-chen von einer „Entwicklung zurück“. Ein Vertreter derDeutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeitbeklagt, dass die Paschtunen im Süden pauschal als Tali-bananhänger bekämpft worden seien; sie seien „mehrmit Bomben bedeckt worden als mit Entwicklungshilfe“.Ich finde, es ist schlicht fatal, wenn in dieser Lage die in-ternationale Stabilisierungsmission ISAF und der Anti-terrorkrieg mehr und mehr verquickt werden. WennISAF-Soldaten jetzt Opfer von NATO-Luftangriffenwerden, dann ist der Tritt auf die Notbremse angesagt.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage Ihnen voraus, dass diese Mission, wenn sichISAF weiter amerikanisiert, nicht zu einem guten Endegeführt werden kann. Ich halte es für aberwitzig, wenn

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Paul Schäfer (Köln)

jetzt unter diesen Bedingungen laut über eine erheblicheVerstärkung der Militärkontingente nachgedacht wird.Das heißt, die Karre noch mehr in den Sumpf zu reiten.

Ich finde, das Mandat des Bundestages, das nicht aus-schließt, dass Bundeswehreinheiten temporär im Südeneingesetzt werden können, kann so nicht bestehen blei-ben. Sie tun gut daran, wenn Sie dem Parlament stattdes-sen Ende des Monats eine Ausstiegsstrategie vorlegen

(Beifall bei der LINKEN)

und Vorschläge präsentieren, wie man die zivilgesell-schaftlichen Kräfte im Lande selber stärken kann.

Vor dem eben erörterten Hintergrund ist die Vorlageeines Weißbuches zur deutschen Sicherheitspolitikwie auch eine offene und breite Debatte darüber überfäl-lig. Wir werden einige wichtige Aspekte in diese Diskus-sion einbringen:

Erstens. Vernünftige Sicherheitspolitik muss sich da-rauf konzentrieren, gewaltförmige Konflikte im Vorfeldzu verhindern. Präventive Diplomatie ist angesagt.

Zweitens. Wer darauf setzt, mehr Sicherheit durch mi-litärische Stärke und Überlegenheit erreichen zu können,der ist auf dem Holzweg. Es gibt kein besseres Beispieldafür als die Geschichte des Staates Israel.

Drittens. Selbstverteidigung darf nicht in eine militä-risch gestützte Durchsetzung außenpolitischer Interessendes Landes umdefiniert werden. Wir werden uns striktgegen eine solche Grundgesetzänderung wehren. Wirsind für eine Begrenzung des Militärischen und nicht fürdie Entgrenzung.

Viertens. Sicherheit gibt es nur, wenn die Grundlagendes Völkerrechts strikt beachtet und umgesetzt werden.Zu dem, was darüber im Weißbuch des Ministers steht,haben wir kritische Fragen.

Fünftens. Die sich zuspitzenden Konflikte um dieVerteilung knapper werdender Ressourcen in der Weltsind nur durch entschieden mehr Gerechtigkeit unddurch einen multilateralen Interessenausgleich zu lösen,nicht mit Gewalt. Auch in dieser Hinsicht befindet sichdas Weißbuch auf der völlig falschen Spur. Im Zusam-menhang mit Ressourcen und Energiequellen müssenwir über regenerative Energien, über das Energiesparenund über die Diversifizierung unserer Bezugsquellen re-den. Vor allem müssen wir endlich darüber reden, wiewir in der WTO und den internationalen Finanzeinrich-tungen zu einer Wirtschafts- und Handelsordnung kom-men, die eine gerechtere Güterverteilung in der Welt mitsich bringt.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Vorstellung, dass man unsere Ressourcen und un-seren way of life mit Militär verteidigen kann, istschlicht abwegig. Das wird im 21. Jahrhundert nichtmehr funktionieren. Streichen Sie zumindest das ausdem Weißbuch. Über den Rest können wir dann hartstreiten.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Alexander Bonde, Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Verteidigungsminister hat in seiner Rede zu Recht an un-sere internationale Verantwortung erinnert. Er hat, eben-falls zu Recht, geschildert, an welchen Stellen der Erdedeutsche Soldaten dieser Verantwortung nachkommen.Daran hat meine Fraktion nichts zu kritisieren, weil wirSie in dieser Verantwortung durch Mandatierung derSoldaten oftmals unterstützt haben, auch wenn Sie unsdas in letzter Zeit nicht immer einfach gemacht haben.

Nicht einverstanden bin ich damit, dass Sie Ihre Redezum Verteidigungshaushalt, den Sie erstmals verantwor-ten, nicht genutzt haben, um darauf einzugehen, wie dieStreitkräfte strukturell auf die veränderte internationaleSituation reagieren können und wie die Bundeswehr ins-gesamt strukturell auf die zusätzlichen Belastungen rea-gieren kann. Sie haben keinerlei Ideen formuliert, wiedie Struktur der Bundeswehr in Zukunft aussehensollte. Sie haben sich kaum dazu geäußert, inwiefern dieVeränderungen in der Welt in den letzten Jahren auch zuVeränderungen bei unseren Streitkräften hätten führenmüssen. Sie haben sich nicht zu dem veränderten Bedro-hungsszenario geäußert. Man hatte nicht den Eindruck,dass hier ein Minister spricht, dessen Haushalt in diesemJahr um knapp eine halbe Milliarde Euro aufgewachsenist. Dieses Geld ist offensichtlich schon lange in den Ap-paraten des Ministeriums versickert. Sonst hätten Siehier nicht eine solche Betteltour antreten müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen festhalten, dass die Bundeswehr zwarviele Probleme hat, die Höhe der Finanzmittel aber mitSicherheit nicht das größte ist. Das ist höchstens einSymptom für die doppelte Krise, in der sich die Bundes-wehr befindet: Sie befindet sich in einer Strukturkriseund zunehmend in einer Führungskrise. Beides hängtmiteinander zusammen.

Sie können kaum jemandem vermitteln, warum eineArmee aus 250 000 Soldaten bereits völlig am Limit an-gekommen ist, wenn sich 8 000 Soldaten im Einsatz be-finden. Wir alle wissen, welche Infrastruktur an jedemeingesetzten Soldaten notwendigerweise dranhängt.Dennoch ist dieses Missverhältnis eklatant. Man kann eserklären: Spezialisten fehlen und die Struktur stimmtnicht. Man kann aber nicht erklären, warum sich diePolitik so schwer tut, darauf zu reagieren.

Herr Minister, Sie beteiligen sich seit Ihrem Amts-antritt nur als Beobachter der Planungen Ihres Vorgän-gers Peter Struck und vor allem als Bremser ebendieserPlanungen. Sie sind nie für das eingetreten, was IhreAufgabe gewesen wäre: Es ist Ihre Aufgabe, die Bun-deswehr in der nächsten Stufe auf die veränderte Situa-tion einzustellen.

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Alexander Bonde

Die Erklärungen lauten, es mangele an Spezialisten,sei es im Bereich Sanität, bei den Fernmeldern, Feldjä-gern oder auch bei den Transporthubschraubern. Das istdas Problem der Struktur und der Strukturanpassungen,die wir vermissen. Die SWP, die renommierte Stiftung„Wissenschaft und Politik“, kommt in ihrer Studie zuRecht zu dem Ergebnis: Die Rüstungsplanungen sindnicht an die Anforderungen der heutigen sicherheitspoli-tischen Lage angepasst. Das ist richtig.

Strukturproblem Nummer eins der Bundeswehr ist,dass sie Vorbereitungen für Kriege trifft, die es nichtmehr gibt. Unter Ihre Ägide, Herr Verteidigungsminister,fällt das Comeback der Landesverteidigung; zumin-dest lesen wir es in Ihrem ersten Entwurf des Weißbu-ches so und deuten wir Ihre bisherigen Entscheidungenin der Bundeswehr so. Die wirklichen Bedrohungsszena-rien werden bei der Modernisierung der Ausrüstungkaum berücksichtigt und wenn, dann nur am Rande mitzusammengekratzten Mitteln.

Umzingelt von Freunden und gleichzeitig in derSituation, in der internationale Missionen Lebensrealitätsind, kaufen Sie immer noch teure Waffensysteme, dieausschließlich der Landesverteidigung dienen. Es gehthier nicht nur um Beschaffungskosten, sondern auch da-rum, dass diese Dinge strukturbildend wirken. Denn je-der Eurofighter, den wir nicht brauchen und trotzdemkaufen, bindet nicht nur Gelder für den Kauf, sondernauch über Jahrzehnte für Unterhaltung und Betrieb. Dasgleiche gilt für PARS III und für eine ganze Reihe ande-rer Maßnahmen, die Sie fortschreiben. Sie finden nichtden Mut, nun endlich neue Prioritäten bei den Beschaf-fungen zu setzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Strukturproblem Nummer zwei: die Wehrpflicht. DieBundeswehr hat dieses Jahr erneut mehr in die Wehr-pflicht investiert, obwohl wir wissen, dass wir für unsereEinsätze eine Armee aus Profis brauchen und keine Ar-mee bestehend aus schnell ausgebildeten Kurzzeitsolda-ten.

Strukturproblem Nummer drei liegt in der Beschaf-fung. Ich habe es bereits angesprochen. Was ist eigentlichdie Gesamtkonzeption für die Rüstungsplanungen? Wirerkennen vieles für die Landesverteidigung und wenigfür das, worauf es wirklich ankommt. Im Sommer konn-ten wir Sie wieder einmal im Fernsehen bewundern. Siewaren beim BWB und im Hintergrund surrten muntergepanzerte VW-Touaregs durch die Landschaft. Es istvielleicht richtig, dass es bei der Bundeswehr einenMangel an geschützten Fahrzeugen gibt. Aber gleichzei-tig erkennen wir in den konkreten Beschaffungsplanun-gen der Bundeswehr keine entscheidende Erhöhung derStückzahl, sondern eine Ausweitung der unterschiedli-chen Typen geschützter Fahrzeuge. Wenn die Bundes-wehr etwas nicht braucht, dann sind es viele verschie-dene Fahrzeugtypen mit zusätzlicher Logistik und einerzusätzlichen Bindung an Infrastruktur. Das führt nichtdazu, dass die Truppe besser einsetzbar ist. Vielmehr ha-ben Sie einen größeren Apparat und vor allem Auslas-tungen in der Rüstungsindustrie geschaffen. Sie haben

dort wieder Exportargumente geschaffen, die aber un-sere konkrete Einsatzsituation nicht verbessern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Strukturproblem Nummer vier. Ihr Vorgänger hat dieTransformation angeschoben; nicht immer so sehr, wiewir es uns gewünscht hätten. Aber unter Ihnen herrschtbei der Modernisierung, bei der Kooperation mit derWirtschaft und bei der Frage, wie man effizient mit Geldumgehen kann – mit PPP, zum Teil auch mitOutsourcing und Privatisierung –, die Parole: Das Impe-rium schlägt zurück. Die GEBB ist in ihrer Kompetenzbeschnitten. Die Modernisierungsstrategie wird an dasMinisterium zurückverlagert, in dem die Leute sitzen,die am wenigsten Interesse an der Modernisierung ha-ben. Bei den Truppenküchen haben wir es erfolgreichgeschafft, einen Feldversuch gegen die Wand laufen zulassen. Auch hinsichtlich des Facilitymanagements hatman nicht den Eindruck, dass Modernisierung in diesemMinisterium groß geschrieben wird.

Damit sind wir bei Strukturproblem Nummer fünf:dem Minister, der diese Politik zu verantworten hat. Ichfinde es richtig, festzustellen, dass die Bundeswehr invielen Auslandseinsätzen Belastungen aushält. Wir müs-sen uns ehrlich fragen, wie viele Kriseneinsätze wir unsnoch leisten können. Aber, ich finde, ein Krisengebietkönnen wir uns auf keinen Fall länger leisten, nämlichdie Krise im Bendlerblock, also die Führungskrise ander Spitze des Ministeriums. Denn keines der strukturel-len Probleme wird vom Minister wirklich angegangen.Es gibt keine stimmige Analyse und keine stimmige Ideeder Transformation. Es ist Stückwerk; es sind Folgenund Bremsen von Plänen aus Peter Strucks Amtszeit.

Da der Minister in den letzten Wochen zielsicher je-den Fettnapf angesteuert hat, wird man immer wiedergefragt: Muss so ein Minister nicht eigentlich zurücktre-ten? Ich finde es sehr schwierig, auf diese Frage zu ant-worten. Denn wie soll jemand zurücktreten, der mentaleSchwierigkeiten hat, das Amt mental gar nicht angetre-ten hat?

Was sind Ihre politischen Akzente? Sie wollen bei derWehrpflicht wieder draufsatteln und haben auch hierwieder über den Heimatschutz und die Frage des Einsat-zes der Bundeswehr im Innern gesprochen. Das Hin undHer bei den Einsätzen ist hinreichend benannt.

Wenn etwas schief lief, haben Sie bisher die Strategieverfolgt, Ihre Informationspolitik restriktiv zu gestaltenund uns, das Parlament, immer später zu informieren,wenn überhaupt. Ich glaube, das schadet der Zustim-mungsfähigkeit zu einer gemeinsamen und verantwort-baren Außen- und Sicherheitspolitik und trägt nicht dazubei, dass wir als Opposition Ihnen mit gutem Gewissenfolgen können.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Inzwischen sind auch aus den Reihen der Koalitionhinreichend viele Äußerungen zu vernehmen, die bestä-tigen, dass es sich hierbei nicht nur um ein Problem derOpposition handelt.

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Alexander Bonde

(Zuruf von der CDU/CSU: Wie lange doch neun Minuten sein können!)

Ein schwacher Minister ist ein Problem für die Sicher-heitspolitik. Aber ein genauso großes Problem ist eineKanzlerin, die zu schwach ist,

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh ja! Sie ist ja so schwach! – Von wegen!)

daraus Konsequenzen zu ziehen und diesen Ministerdementsprechend zu behandeln.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)

– Herr Kampeter, Sie und ich wissen doch, dass dieKanzlerin aus Rücksichtnahme auf Roland Koch über-haupt nicht daran denken darf, diesen Minister anzutas-ten.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Bundes-kanzlerin wird keinen einzigen Minister je an-tasten! Das kann ich Ihnen versichern! – Wei-tere Zurufe von der CDU/CSU: So einSchwachsinn! – Dummes Zeug!)

Ich komme zum Schluss. Vielleicht können wir es unsin den Einsatzgebieten leisten, der Bundeswehr zuzumu-ten, mit Ministern umgehen zu müssen, die ihre Funk-tion der Loyalität zu lokalen Stammesfürsten und War-lords verdanken. Wenn es aber um die Spitze deseigenen Ministeriums geht, können wir das nicht tun.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie haben teil-weise eine sachliche Rede gehalten, aber derSchluss hat alles umgehauen!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Kollege Hans Raidel, CDU/CSU-

Fraktion.

Hans Raidel (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Minister, zuerst darf ich mich sehr herzlichbei Ihnen dafür bedanken, dass Sie die Probleme ganzklar, offen und deutlich ansprechen. Ich wünsche mir,dass Sie auch weiterhin allen Winden trotzen. Lassen Siesich nicht beirren.

Lieber Herr Kollege Bonde, es kann sich keiner mehrblamieren, als dass man ihn reden lässt. Das haben Sie inhervorragender Weise geschafft.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Frau Kollegin Homburger, wenn man Ihnen zuhört,sehnt man sich nach unserem ehemaligen und großarti-gen Kollegen Günther Nolting zurück. Das waren nochZeiten in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jawohl! Das ist ein anständiger Ostwestfale!)

Meine Damen und Herren, ich möchte mich heute derTransformation der Bundeswehr, die im Mittelpunkt

steht, und den Strukturfragen zuwenden. Die Behaup-tung, wir wüssten nicht, wohin die Reise gehen soll, istganz einfach falsch. In unserer Arbeitsgruppe, aber auchgemeinsam mit den Kollegen von der SPD – das wurdein den Redebeiträgen deutlich – haben wir uns sehr wohlmit den Strukturfragen befasst, auch gemeinsam mitdem Ministerium.

Wir wissen, wie der derzeitige Sachstand ist und wel-che neuen Perspektiven folgen müssen. Deshalb warenwir übereinstimmend der Meinung, dass jetzt der Zeit-punkt gekommen ist, erneut Bilanz zu ziehen. Herr Mi-nister, Sie selbst haben neulich angeboten, jetzt alles aufden Prüfstand zu stellen, um entscheiden zu können, wasgut ist und beibehalten werden kann und was neu justiertwerden muss. Wir sind gerne bereit, diese Schritte nungemeinsam zu gehen.

Zur Transformation der Bundeswehr gibt es keine Al-ternative. Wir sind sogar der Auffassung, dass sie be-schleunigt werden muss, um den internationalen An-sprüchen insgesamt gerecht werden zu können.Natürlich steht bzw. fällt das Ziel der Modernisierungmit der Finanzlinie; auch das ist unbestritten.

Der Entwurf des Haushalts 2007 weist in die richtigeRichtung. Aber man muss offen eingestehen: Im Lichteder Transformation hat er, genauso wie der Haushalt2006, ein enges Korsett. Jetzt muss man ganz objektivzur Kenntnis nehmen: Mit der Transformation wurde vorvier Jahren begonnen. Damals hat man in den Finanz-linien Perspektiven zugestanden, aber man hat sie nieeingehalten. Das sind die Fakten, das sind die Tatsachen.An diesen Dingen haben wir noch heute ein bisschen zuknabbern, wenn man von Versäumnissen spricht.

Wie ist denn der Sachstand? Die Bundeswehr hat dienötigen Rahmenbedingungen bei Umfang, Struktur undStationierung und bei der Aussonderung von Gerät ge-schaffen. Wir haben gemeinsam festgestellt, dass wir andieser Grundstruktur festhalten wollen, weil die Rich-tung nun insgesamt stimmt. Sie haben dazu ein Stich-wort herausgegriffen, nämlich die Stationierungspla-nung. Wenn wir den Betrieb aber insgesamt sehen, dannmüssen wir natürlich feststellen, dass bei den Streitkräf-ten im Betrieb nicht mehr allzu viel zu holen ist; denndie Kosten für die Einsätze, die Erhöhung der Mehrwert-steuer, die Versorgungsausgaben, der nicht planmäßigverlaufende Abbau des Zivilpersonals – da haben wir einProblem –, die höheren Kosten für den Betrieb des zu-laufenden modernen Geräts und steigende Energiepreisesind natürlich neue Risiken für die Betriebskostenbe-trachtung insgesamt. Da könnte möglicherweise einMehrbedarf entstehen. Hierbei kommt es darauf an, wieder Haushalt nun insgesamt gefahren wird.

Ein Risiko sehe ich natürlich auch bei den Investitionen.Sie alle wissen, dass wir bei den Investitionen ein Pro-blem auf der Zeitachse haben. Wir wollen das im Lichteder letzten Entwicklungen neu betrachten und werdenals Verteidigungspolitiker natürlich einfordern, dass dieInvestitionslinie neu nach oben korrigiert wird. Ohne dasAnsteigen dieser Linie ist es nicht möglich, den Erwar-tungen – auch bei den internationalen Einsätzen – ge-recht zu werden. Sie wissen, dass wir einen Verdrän-

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Hans Raidel

gungswettbewerb an der einen oder anderen Stelle nichtausschließen können.

Zusammengefasst brauchen wir also mehr Mittel fürden Betrieb und für die Modernisierung. Wir müssenaufpassen, dass sowohl die Modernisierung als auch derBetrieb ausreichend finanziert werden, damit keine Kon-kurrenzsituation zwischen Betrieb und Investitionen ent-stehen kann; denn einen solchen Spagat kann die Bun-deswehr in ihrer Transformation nicht aushalten. Damuss man ein bisschen aufpassen.

Wir müssen auch das unterstreichen, was Sie, HerrMinister, gesagt haben: Die Armee ist seit langem eineArmee im Einsatz. Der Libanoneinsatz wäre bereits diezwölfte Mission, mehr oder weniger parallel zu den an-deren Missionen. Das heißt, die Transformation ist eineReparatur am laufenden Motor. Ich sage bewusst: Wirmüssen uns diese Einsätze finanziell leisten können;denn bei Ausbildung und Übung darf nicht gespart wer-den.

Wir brauchen leistungsfähiges und leistungsbereitesPersonal. Vor allem müssen wir den Personalabbau stop-pen. Das ist auch geschehen. Die Zahl der Soldaten sollerhöht werden. Den Weg der Personalreduzierung dürfenwir nicht gehen, vor allem deshalb, weil wir sonst hohleStrukturen schaffen würden. Dadurch könnte die Ein-satzfähigkeit der Truppe gefährdet werden; zumindestaber würde die Truppe in ihrer Kraft geschmälert. Da,glaube ich, müssen wir aufpassen. Wir – und insbeson-dere der Generalinspekteur – haben hier ein Aufbaupro-blem und kein Abbauproblem.

Die Bundeswehr muss attraktiv bleiben. FundierteAusbildung, gerechte Bezahlung und attraktiver Dienstsind hier die Schlüsselbegriffe. Wir können nicht mitModernität werben und dieses Versprechen dann nichteinhalten; denn wir stehen in Konkurrenz – künftig nochmehr – mit der hoffentlich weiter gut verlaufenden Wirt-schaft. Das kleiner werdende Potenzial an jungen Män-nern und Frauen bereitet uns in diesem Bereich künftigsicherlich Probleme.

Ich sage es noch einmal, bei der finanziellen Ausstat-tung und Besserstellung der Bundeswehr muss Folgen-des berücksichtigt werden: Wir können die einsatzbe-dingten Kosten, die Erhöhung der Mehrwertsteuer, dieVersorgungslasten und die steigenden Energiepreisenicht allein dem Verteidigungshaushalt anlasten. Spätes-tens mit dem nächsten Haushalt muss hier der Einstiegin eine weiter verbesserte Finanzlinie erfolgen.

Aber auch die Bundeswehr selbst muss natürlich ihreAufgaben machen: Sie muss bekannte Synergiepoten-ziale nützen und neue erschließen. Dabei muss gesichertsein, dass finanzielle Synergien bei der Bundeswehrbleiben. Nach meiner Auffassung gibt es nicht ein Spar-ziel, sondern es gibt ein Reinvestitionsziel – das ist einUnterschied! Wenn wir uns da einig sind, haben wir fürdie Bundeswehr schon eine ganze Menge an Verbesse-rungen erreicht.

Neben der uniformierten Seite der Bundeswehr mussauch ihre zivile Seite ihren Beitrag leisten. Ich meine,hier gibt es noch erhebliche Redundanzen: Betriebs-

abläufe können gestrafft werden, die Bedarfsdeckungkann noch flexibler und effizienter werden. Mit derWirtschaft müssen neue Kooperationen gesucht und ge-funden werden. Neue Wege sind hier einzuschlagen. Ins-besondere sollte das Augenmerk stärker auf die so ge-nannten Lifecycle-Kosten gerichtet werden; denn dasMaterial muss ja nicht nur in der Beschaffung bezahlbarsein, sondern auch im Betrieb bezahlbar bleiben. HerrMinister, ich würde gerne eine strategische Partnerschaftzwischen Bundeswehr und Industrie anregen. Auch dieIndustrie muss hieran ein besonderes Interesse haben.Ich glaube, dass es aus der Wirtschaft entsprechend posi-tive Signale gibt.

Zusammengefasst: Zur Transformation gibt es keineAlternative, sie muss fortgeführt werden. Die Bundes-wehr braucht eine bessere finanzielle Ausstattung. Wirsind auf gutem Wege. Wenn das so fortgesetzt wird unddie Bundeswehr ihre Synergiepotenziale ausschöpft,glaube ich nicht, dass die Kritik, die heute von vielen ge-äußert worden ist, in der Substanz berechtigt ist.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Hans Raidel (CDU/CSU): Ich kann alle nur einladen, gemeinsam mit uns diesen

Weg der Modernisierung der Bundeswehr konsequentweiter zu beschreiten.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Hans Raidel (CDU/CSU): Das heißt im Klartext: Ich bitte alle Kollegen, trotz al-

ler Schwierigkeiten, auch im Haushaltsausschuss, dafürzu sorgen, dass wir den Etat weiter aufstocken können.

Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit undIhre Geduld, Herr Präsident.

(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die war am Ende!)

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Elke Hoff, FDP-Frak-

tion.

(Beifall bei der FDP)

Elke Hoff (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Jung,Sie legen heute einen weiteren Verteidigungshaushaltvor, der leider längst Makulatur ist. Er ignoriert die Ent-wicklung der Materialerhaltungskosten, der Betriebsaus-gaben und der Kosten für die laufenden Auslandsein-sätze. Der zu erwartende Einsatz der Bundeswehr imLibanon kann, wenn überhaupt, in diesem Haushaltsjahr

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Elke Hoff

nur überplanmäßig finanziert werden. Die in Ihrem Hausals dringend notwendig bezeichneten Maßnahmen zumEigenschutz der Soldaten in Afghanistan sind überhauptnoch nicht dargestellt.

Genauso schwer wiegt, dass Sie mit diesem Haushaltin keiner Weise dem Anspruch gerecht werden, die Vor-gaben des Bundeswehrplanes 2007 umzusetzen. Damitsetzen Sie das Gelingen des Transformationsprozessesaufs Spiel, der doch der Dreh- und Angelpunkt der Neu-ausrichtung der Bundeswehr ist. Wenn man konservativrechnet, ergibt sich eine Unterdeckung des Verteidi-gungsetats bis 2010 von 3,34 Milliarden Euro. Die Fach-presse, in diesem Fall die August-Ausgabe der „Europäi-schen Sicherheit“, benennt sogar ein Defizit von15 Milliarden Euro bis zum Jahre 2011.

Die große Koalition schreitet von einer Steuererhö-hung zur nächsten und entfernt sich trotzdem immerweiter von einer seriösen Finanzplanung für die Bundes-wehr. Zwar entdeckt nun auch die Bundeskanzlerin– man möchte sagen: endlich – ihr Herz für unsere Sol-datinnen und Soldaten, sie bleibt aber konkrete Verbes-serungs- und Finanzierungsvorschläge schuldig. Es istschon eine verkehrte Welt, wenn die amtierende und da-mit verantwortliche Regierungschefin den Zustand ihrerBundeswehr kritisiert, als lebe sie auf einem anderenStern.

(Beifall bei der FDP)

Die Einbringung eines solchen Haushaltsentwurfs istAusdruck des mangelnden Rückhalts, den Sie, Herr Ver-teidigungsminister Jung, im Kabinett und in der großenKoalition genießen. Der Verteidigungsetat steigt in Rela-tion zum Gesamthaushalt unterdurchschnittlich, obwohldie Anforderungen an die Bundeswehr in rasantemTempo wachsen. Der investive Anteil steigt um magere1,5 Prozent. Sie können eine Neujustierung bei denwichtigsten Beschaffungsvorhaben nicht durchsetzen,obwohl der Generalinspekteur deren Notwendigkeitdeutlich anmahnt – wenn auch mit bedauernswerter Ver-spätung.

Ohne eine Reduzierung der Stückzahl bei den Groß-projekten Eurofighter und A400M werden Sie im Haus-halt nicht die Spielräume erreichen, die notwendig sind,um kurzfristig das beschaffen zu können, was für dieEinsätze der Bundeswehr am dringendsten benötigtwird. Eine klare Priorisierung zugunsten der Sicherheitunserer Soldatinnen und Soldaten im Einsatz ist notwen-dig. Sie sind mit dem besten und sichersten Material,welches zur Verfügung steht, auszurüsten. Die Entschei-dung für Einsätze der Bundeswehr im Ausland ist nurdann zu verantworten, wenn für die Soldaten ein Opti-mum an Schutz und Wirkung gewährleistet wird.

(Beifall bei der FDP)

Insofern sind der Mangel an gepanzerten Fahrzeugen,Hubschraubern und Transportkapazitäten sowie dermangelnde Feldlagerschutz unverantwortlich.

Dem Vernehmen nach sollen in Ihrem Haus all dieje-nigen Beschaffungsvorhaben noch einmal auf den Prüf-stand gestellt werden, die noch keiner vertraglichen Bin-

dung unterliegen. Dies ist eine ständig wiederholteForderung meiner Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Sie sollten aber auch die Angst vor einer Konfrontationmit Ihren Auftragnehmern bei bestehenden Beschaf-fungsvorhaben überwinden. Verzögerungen und Quali-tätsmängel bieten auch hier die Möglichkeit für Anpas-sungen und Nachverhandlungen.

Diese mangelnde Flexibilität, die Ausrüstungspla-nung der Bundeswehr bedarfsgerecht anzupassen, ge-fährdet zunehmend die Einsatzfähigkeit dieser Bundes-wehr. So führt der zeitgleiche Zulauf neuer Fluggerätebei Weiternutzung der bestehenden in den nächsten Jah-ren zu einer Explosion der Betriebskosten. Schon jetztist absehbar, dass sich die Bundeswehr nicht einmal dieerforderlichen Flugstunden zur Schulung ihres Personalsleisten kann. Es ist abenteuerlich, dass die Bundeswehrzwar teures Gerät beschafft, den Betrieb jedoch nicht be-zahlen kann.

Kein Mensch in Ihrem eigenen Hause glaubt, dass diefinanziellen Belastungen durch die Auslandseinsätze imnächsten Jahr um beinahe 30 Millionen Euro sinkenwerden. Wie soll das funktionieren, wenn man in Bos-nien-Herzegowina, im Kosovo, in Afghanistan, imKongo, am Horn von Afrika, im Sudan, in Georgien undbald auch im Nahen Osten dabei ist? Ist nicht allmählichder Zeitpunkt erreicht, die umfassende Interventionsbe-reitschaft der 90er-Jahre zur wohlgemeinten Schaffungeiner neuen Weltordnung zu überprüfen, wenn dieseVorstellung bei nüchterner Betrachtung längst auch anden enormen Kosten zu scheitern droht?

Zu Beginn dieses Jahrhunderts steht eine schnell an-wachsende Anzahl an Krisengebieten einer eng begrenz-ten Anzahl an interventionsfähigen Mächten gegenüber.Während die gewaltbereiten Akteure in den Krisenge-bieten von der Möglichkeit der Verbilligung der Kriegs-kosten durch den ungehemmten Zulauf von Kleinwaf-fen, den Einsatz von Kindersoldaten und das schierunerschöpfliche Reservoir religiös fanatisierter und öko-nomisch enttäuschter junger Menschen profitieren, be-finden sich die interventionsfähigen Staaten auf demWeg in eine nicht mehr finanzierbare Verteuerung ihrerMilitäreinsätze, ohne dass es letztlich gelingt, schnellemilitärische Erfolge in einen dauerhaften politischen Ge-winn umzusetzen.

(Beifall bei der FDP)

Die nicht mehr zu verleugnende Verschlechterung derSicherheitslage in Afghanistan scheint die Bundesregie-rung nunmehr zu Überlegungen über ein deutlich offen-siveres Vorgehen vor Ort zu veranlassen. Anders sindErwägungen hinsichtlich einer gepanzerten Reserve mitSchützenpanzern und eines Einsatz von RECCE-Torna-dos nicht zu erklären. Ein solches Vorgehen und Auftre-ten würde den ohnehin kaum noch vorhandenen Rück-halt in der Bevölkerung weiter verringern und diedeutschen Soldaten noch mehr zum Ziel gefährlicherAnschläge machen.

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Elke Hoff

Außerdem ist es für mich in diesem Zusammenhangund vor allen Dingen auch vor dem Hintergrund der De-batte am heutigen Vormittag völlig unverständlich, dassdie Bundesregierung den durch das Verteidigungsminis-terium formulierten Bedarf, die zivilen Aufbau- und Hil-feleistungen zu intensivieren, nicht mittragen will. Sichhier auf fehlende Finanzmittel zurückzuziehen, ist fahr-lässig und lässt vor allem auch den bisherigen Einsatzvon Steuergeldern fraglich erscheinen.

(Beifall bei der FDP)

Die ganze Last des Engagements in Afghanistan kannund darf nicht allein der Bundeswehr aufgebürdet wer-den.

Es gibt bisher keine nachhaltigen Erfolge bei der Dro-genbekämpfung, bei der Eindämmung der organisiertenKriminalität, beim Aufbau der fehlenden Polizei- undJustizstrukturen und vor allem bei der Verbesserung derwirtschaftlichen Lebenssituation für die Menschen.Nicht nur wir, sondern auch das verantwortliche Füh-rungspersonal der Bundeswehr vor Ort vermissen eineklare Exit-Strategie, damit der Einsatz der Bundeswehrin absehbarer Zeit auch wieder beendet werden kann.

(Beifall bei der FDP)

Dieser Haushaltsentwurf ist das sichtbare Zeugnis desmangelhaften Stellenwerts, den die Bundeswehr bei derBundesregierung hat; da hilft auch die plötzliche Um-armungsstrategie der Bundeskanzlerin nichts. Er gibt dieTransformation de facto auf, führt zu einer Gefährdungder Einsatzfähigkeit und nimmt in Kauf, dass die Arbeitbei der Bundeswehr immer unattraktiver wird.

Herr Minister Jung, nehmen Sie endlich die längstüberfälligen umfassenden Korrekturen in Ihrer Finanz-planung vor, denn anderenfalls ist zu befürchten, dassdie Bundeswehr an ihren vielfältigen Herausforderungenscheitert.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Johannes Kahrs, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Johannes Kahrs (SPD):Geschätzter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen!

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

– Ja, so soll das sein.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: „Hohes Haus“, bitte!)

– Ich freue mich über so viel Zuspruch, obwohl ich nochgar nichts Inhaltliches gesagt habe.

Zu Beginn eine kurze Anmerkung zur Kollegin Hoff:Ich halte Ihre Ausführungen zur Unterfinanzierung derBundeswehr für sehr interessant; allerdings passen Ihre

Ausführungen ganz schlecht dazu, dass die FDP in Be-zug auf den Haushalt 2006 vorgeschlagen hat, Hundertevon Millionen zu streichen. Das halte ich für kritisch,weil man letztendlich auch gegenüber der Truppe seinGesicht wahren muss. Daher kann ich mich meinemKollegen nur anschließen: Das wäre Herrn Nolting nichtpassiert.

Im Moment geht es um die Einbringung des Haus-halts in das Parlament. Manchmal habe ich das Gefühl,in einer außenpolitischen Debatte zu sein; hier jedochgeht es um die Bundeswehr und ihre realen Probleme so-wie darum, wie wir damit umgehen.

Bei der Betrachtung des Haushalts zeigt sich ein Auf-wuchs gegenüber dem letzten Jahr. Das entspricht dermittelfristigen Finanzplanung, die Peter Struck nochmit eingeleitet hat. Ich freue mich, dass wir sie in dergroßen Koalition gemeinschaftlich fortführen. Im Ergeb-nis bekommt die Bundeswehr mehr Geld, aber das sinddie Mittel, die man im Rahmen des Inflationsausgleichsbraucht. Bei genauer Betrachtung stellt man fest, dasswir immer noch 71 Prozent unseres Haushaltes für Be-triebsausgaben ausgeben, insbesondere 48 Prozent fürPersonal. Das sollte eigentlich zu denken geben. 8,1 Pro-zent geben wir für Materialerhalt aus, 15,1 Prozent fürBetriebsausgaben wie Betriebsstoffe, die Bewirtschaf-tung von Liegenschaften und Ähnliches. Betreiberver-träge sind nur mit 2,6 Prozent beteiligt.

Darin, dass wir in diesem Jahr für Forschung undEntwicklung weniger ausgeben als im letzten Jahr, zeigtsich eine Veränderung gegenüber den Haushalten derletzten Jahre. Wir haben immer darauf geachtet, mehrGeld für militärische Beschaffung sowie für Forschungund Entwicklung auszugeben. Beide Ausgabenansätzesind in diesem Jahr rückläufig. Hinzu kommen – dasmuss man der Genauigkeit halber sagen – allerdingsVersorgungsausgaben in Höhe von ungefähr 4 Milliar-den Euro. Hierzu ist festzustellen, dass der Verteidi-gungshaushalt anders strukturiert ist als die anderenHaushalte, weil die Bundeswehr andere Probleme hat:Zeitsoldaten und Berufssoldaten, die deutlich eher abge-hen, sowie den Abbau von Zivilbeschäftigten.

In Bezug darauf müssen wir aufpassen, dass uns dieExtralasten, die in der Struktur der Bundeswehr begrün-det liegen, auch zukünftig vom Bundesfinanzminister er-setzt werden. Ansonsten wird der Übergang der Versor-gungsausgaben in den Einzelplan 14 ein großes Problemfür diesen Einzelplan. Ich bitte insbesondere meine Kol-legen im Fachausschuss, diesem Hinweis entsprechendnachzugehen.

An dieser Stelle bedanke ich mich ganz herzlich fürdie Zusammenarbeit in den jeweiligen Arbeitsgruppenmit den Kollegen von SPD und CDU, insbesondere derKollegin Jaffke und dem geschätzten Kollegen von derCSU, der mich jetzt gerade anlächelt.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Alldieweil wir in diesem Fall zu dritt sind – zwei Christ-demokraten und ein armer Sozialdemokrat –, muss manfeststellen, dass es trotzdem gut zusammengeht.

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An dieser Stelle möchte ich mich auch dafür bedan-ken, dass das Engagement der Soldatinnen und Soldatenhervorgehoben wurde. Ich möchte mich insbesonderebei all denjenigen bedanken, die sich für die Ableistungder Wehrpflicht entscheiden. Das halte ich für wichtig.In diesem Zusammenhang möchte ich mich insbeson-dere für die vorzügliche Arbeit – insbesondere in denletzten Monaten im Zusammenhang mit dem Kongoein-satz – des Wehrbeauftragten Reinhold Robbe bedanken,der heute auch zugegen ist.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDPund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowiebei Abgeordneten der LINKEN)

Lassen Sie mich darauf eingehen, was heute ausgeführtwurde. Der Kollege Raidel hat die Transformation alseine Reparatur am laufenden Motor bezeichnet. Das istzwar eine gängige, aber nicht die formale, offizielle Be-gründung. Darin heißt es, dass Transformation die Ver-besserung der Einsatzfähigkeit und die Anpassung an dieLage ist. Ich glaube, das beschreibt es genauer. Die Bun-deswehr wird nie fertig sein. Wir werden nie eine Armeehaben, die wir nach einem Bauplan erstellen nach demMotto „Wenn sie irgendwann fertig ist, stellen wir sie ir-gendwohin und sind stolz darauf“. Vielmehr werden wirdie Bundeswehr ständig anpassen müssen. Deswegenwird es ständig zu Veränderungen kommen. Darüber zustreiten, wie sinnvoll diese Veränderungen sind, ist sehrehrenvoll. Ich glaube jedoch nicht, dass man sich gegen-seitig etwas vorwerfen muss. Für mich sind verschie-dene Standpunkte durchaus möglich.

Ein Blick in den Haushalt zeigt aber, dass die Risikenin diesem Haushalt größer geworden sind als die beste-henden Handlungsspielräume. Jetzt müssen wir uns da-mit auseinander setzen, wie man damit umgeht.

In diesem Zusammenhang will ich aber auch daraufeingehen, dass wir neue Belastungen bewältigen müs-sen. Wir haben in der Vergangenheit mehr Geld für For-schung und Entwicklung und für militärische Beschaf-fung ausgegeben. Diese Mittel werden inzwischeninsbesondere von Auslandseinsätzen aufgefressen, diedie Bundeswehr durchführen muss. Dafür werden keinezusätzlichen Mittel zur Verfügung gestellt, sodass wirdas Geld anderweitig aufbringen müssen. Deshalb mussman diese Ausgaben näher betrachten.

Der Einsatz in Afghanistan – das wurde schon er-wähnt – wird auf jeden Fall gefährlicher und teurer undwird stärkere Belastungen für die Soldatinnen und Sol-daten mit sich bringen. Hinzu kommen neue Einsätze imKongo und Libanon. Darüber und über die Sinnhaftig-keit dieser Einsätze ist schon viel gesagt worden. DesWeiteren wird über einen weiteren Auslandseinsatz inDarfur diskutiert.

Ich glaube – so sinnstiftend der jeweilige Einsatz derBundeswehr in all diesen Regionen auch immer seinmag –, man muss sich genau überlegen, was der Bundes-wehr noch zugemutet werden kann und was wir finan-zieren können. Deswegen glaube ich, dass die Feststel-lung Gerhard Schröders immer noch gilt: Werirgendwann irgendwo hineingeht, muss auch wissen, wie

er wieder herauskommt. – Das wird meiner Meinungnach nicht immer berücksichtigt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist der Philo-soph Schröder!)

– Das hat mit Philosophie nichts zu tun, Herr Kollege.Ich finde, das hat vielmehr etwas damit zu tun, wie manmit der Planbarkeit bei der Bundeswehr umgeht. Es istwichtig, künftig stärker zu bedenken, wie man aus Aus-landseinsätzen wieder herauskommt – ein Blick auf Bos-nien zeigt, wie man Entwicklungen verändern kann –und wie wir alle dazu beitragen können. Ich persönlichglaube, dass wir uns verstärkt darum kümmern müssen,die Einsätze der Bundeswehr enger mit den Maßnahmender Entwicklungshilfe zu verknüpfen. Wenn zum Bei-spiel afghanische Bauern ihr Geld nicht mehr mit demDrogenanbau verdienen können, dann müsste eigentlichsofort die GTZ einfliegen und sich um gemeinsameMaßnahmen bemühen.

Die viel stärkere Verknüpfung der Entwicklungshilfemit den Einsätzen der Bundeswehr kann auch das Na-tion-Building und den Wiederaufbau vor Ort erleichtern.Die Aufgabenkritik in der Entwicklungshilfe ist auchdeshalb nötig, um zu erkennen, inwiefern beides zusam-menpasst. Denn nur so kann man eine Perspektive schaf-fen, dass der Einsatz der Bundeswehr bei Abwesenheitvon Krieg dazu führt, dass vor Ort etwas passiert, wasuns alle weiterbringt. Diese Aufgabe werden wir in dennächsten Jahren verstärkt wahrnehmen müssen. Es istzwar schon einiges passiert, aber ich glaube, dass nochsehr viel mehr notwendig ist.

Ich möchte noch einige Punkte ansprechen, die ich fürwichtig halte. Die Einsatzfähigkeit der Bundeswehrselber muss verbessert werden. Ich glaube, dass man an-gesichts der Haushaltsrisiken darüber diskutieren kann,ob wir die durch die Mehrwertsteuererhöhung entste-henden Mehrausgaben ersetzt bekommen und ob wir dieEinsätze der Bundeswehr refinanzieren lassen. Es gehtaber nicht an, zu fordern, dass der bei der Bundeswehrentstehende Mehrbedarf extern ausgeglichen werdenmuss. Als Haushälter versichere ich Ihnen, dass dasnicht funktioniert. In einem solchen Fall würden jedesRessort und jeder Fachpolitiker folgen. Vielmehr sollteman in Zukunft nachweisen, dass die für die vom Parla-ment beschlossenen Einsätze benötigten Mittel auch zurVerfügung stehen.

Das, was innerhalb der Bundeswehr erledigt werdenkann, muss die Bundeswehr selber machen. Wir müssenuns aber die Möglichkeiten genau anschauen und darü-ber im Klaren sein, was wir wollen. Darüber, was wirwollen, sind wir uns einig: mehr Schutz vor Ort durchneue Fahrzeuge, egal ob sie Dingo, Boxer oder Pumaheißen. Hier haben wir allerdings ein Problem. Wir be-stellen zwar alles. Aber das militärische Gerät steht erstin zehn bis zwölf Jahren zur Verfügung. Das heißt, alles,was bestellt wurde, wird erst dann vorhanden sein, wenndie zurzeit bekannten Konflikte hoffentlich schon langebeendet sind. Das hilft der Truppe aber jetzt nicht. Waswir brauchen, sind größere Stückzahlen, die in kürzererZeit geliefert werden. Dabei muss man über die Finan-zierung nachdenken.

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Johannes Kahrs

Zurzeit haben wir verschiedene Systeme, die parallellaufen. Wir haben beispielsweise den Eurofighter undden Tornado. Die Eurofighter werden sicherlich planmä-ßig ausgeliefert werden. Aber es wird noch über einJahrzehnt dauern, bis der letzte Tornado verwertet wird,also nicht mehr fliegt. In diesem Zeitraum muss man aufdie Entwicklungskosten und die Materialerhaltungskos-ten genau achten. Das wird sich entsprechend summie-ren. Beim Heer ist die Situation ähnlich. Als ich 1984zur Panzergrenadiertruppe gekommen bin, war der Mar-der noch in Ordnung. Inzwischen ist er kein modernesGerät mehr. Aber er wird noch lange im Einsatz sein;denn bis der letzte Puma an die Truppe ausgeliefert ist,wird wieder eine Dekade vergehen. Es ist vielleichtnachdenkenswert, kurzfristig Fähigkeitslücken in Kaufzu nehmen. Beim Materialerhalt und bei den Betriebs-kosten haben wir jedenfalls ein echtes Problem. Dieseskönnen wir nur lösen, wenn wir bestimmtes Gerät früheraußer Dienst stellen.

Eine Anmerkung sei mir zum Schluss noch gestattet.Der Staatssekretär Wichert ist gerade dabei, eine Ziel-struktur für die 75 000 Zivilbeschäftigten aufzubauen;das ist richtig. Aber wir müssen genau schauen, ob das,was dann kommt, auch das ist, was wir wollen. Ich habemir sagen lassen, dass daran gedacht wird, Dienstleis-tungszentren einzurichten. Das klingt nach Kundenori-entierung und Kundennähe. Das scheint also eine wun-derbare Sache zu sein. Aber in der Praxis bedeutet das,dass die Truppenverwaltung beispielsweise aus den Ba-taillonen vor die Tore der Kasernen verlagert und mit derStandortverwaltung zu einem Dienstleistungszentrumverschmolzen wird. Für den Standort Koblenz gibt esbereits ein solches Zentrum. Dorthin müssen die Solda-ten nun fahren. Andere müssen von Appen nach Ham-burg fahren. Für Hin- und Rückfahrt besorgt man sich imFuhrpark ein Fahrzeug. So etwas darf meines Erachtensnicht unter dem Begriff „Dienstleistung“ laufen; dennDienstleistung bedeutet Nähe zum Kunden. Ich bittedeshalb darum, das noch einmal zu überprüfen.

Ich hoffe, dass wir die Transformation gemeinsamund vernünftig bewältigen – mit den Kollegen von derUnion werden wir es schon schaffen – und dass wir inder Lage sein werden, den Soldaten all das zur Verfü-gung zu stellen, was sie für ihre Einsätze benötigen. Ichbitte Sie, ernsthaft darüber nachzudenken, ob wir unsweitere Auslandseinsätze leisten können, solange andereAuslandseinsätze noch nicht beendet sind; denn das einepasst nicht zum anderen. Das habe ich schon im Zusam-menhang mit dem Kongoeinsatz gesagt. Hier sind wir imWort. Die an diesem Einsatz beteiligten Soldaten müssenWeihnachten zu Hause sein. Ansonsten haben wir alleein Problem.

Ich möchte mich ganz herzlich bedanken, dass Siemir ausnahmsweise ruhig zugehört haben. Glückauf!

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Nachtwei,

Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

den letzten Wochen gab es für die Bundesrepublik eineneuartige außenpolitische Konstellation. Wir haben esmit mindestens drei Großkrisen gleichzeitig zu tun, indenen wir jeweils stark engagiert sind – Afghanistan,Kongo und nun Libanon –, bei denen das Risiko hoch istund es auf der Kippe steht bzw. eine Eskalation schonstattgefunden hat. Dabei entsteht eindeutig der Eindruckvon Überforderung, und zwar zum einen aufseiten derÖffentlichkeit, die langsam nicht mehr nachvollziehenkann, wo überall wir uns engagieren, und zum anderenaufseiten der Politik. Damit meine ich nicht die politi-schen Fähigkeiten, sondern die politischen Kapazitäten.In dieser Situation müssen wir sehr aufpassen, dass wirbei aller Konzentration auf den Libanon auf keinen Falldie brenzligen Situationen in Afghanistan, im Kongound möglicherweise im Kosovo übersehen und vernach-lässigen.

Sie gestatten, dass ich jetzt, auch wenn wir uns in derHaushaltsdebatte befinden – hier geht es darum, wofürund in welchem Kontext das Geld ausgegeben wird –,etwas zu dem Brennpunkt Afghanistan sage, weil esnämlich dort brennt und weil die, so finde ich, brenzligeSituation, die sich seit einiger Zeit anbahnte, währendder Sommerpause kaum beachtet wurde. Seit 2001wurde in Afghanistan – das sage ich ausdrücklich – sehrviel Positives und Erstaunliches geschaffen, wenn mandas mit der Zeit davor vergleicht. Dazu haben deutscheDiplomaten, Soldaten, Entwicklungshelfer und Polizis-ten vorbildlich beigetragen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)

Mir ist bewusst, dass die Entwicklung in Afghanistanmeist selektiv wahrgenommen wird. Es werden vor al-lem die spektakulären Bad News wahrgenommen, abernicht das, was sich langfristig und hinter den Kulissentut. Wer nimmt zum Beispiel die 7 Millionen Schülerin-nen und Schüler wahr, die es inzwischen gibt? Das istenorm hoffnungsvoll, aber nicht so bilderträchtig.

Trotzdem sind die Indikatoren inzwischen unüberseh-bar: Der Stabilisierungsprozess in Afghanistan steht aufder Kippe. Er droht innerhalb kurzer Zeit zu scheitern.Seit der ISAF-Ausweitung nach Süden befinden sichNATO-Truppen in Bodenkämpfen. Es ist überra-schend, dass das heute noch nicht erwähnt – da mögli-cherweise nicht wahrgenommen – wurde. NATO-Trup-pen befinden sich zum ersten Mal in der NATO-Geschichte in Bodenkämpfen. Zum Drogenanbau gibt esinzwischen die neuesten Zahlen. Die Drogenanbauflächeist in diesem Jahr gegenüber dem Vorjahr um 59 Prozentgestiegen. Das ist ein Desaster in dem Schlüsselbereichder Stabilisierung in Afghanistan.

Was sind die Mindestschritte? Erstens brauchen wireine wirklich nüchterne, schonungslose Zwischenbilanzdessen, was in den letzten fünf Jahren geschaffen wurde,eine Bilanz der Leistungen, aber auch der Defizite. Wirbrauchen an sich gar nicht so viele Konzepte. „Afghanis-tan Compact“ zum Beispiel gibt es, mit ehrgeizigen

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Winfried Nachtwei

Zielen. Was notwendig ist, ist die Überprüfung der Stra-tegie am Boden. Die Umsetzung ist das Entscheidende.

Zweitens. Die Drogenbekämpfung ist mit ihrem An-satz eindeutig gescheitert. Es kommt darauf an, jetzt diebisher prioritäre Feldervernichtung auszusetzen und al-les für die Entwicklung und Förderung alternativer Er-werbsquellen zu tun. Man muss die Entwicklungshilfeentsprechend breiter unterstützen. Die GTZ hat da fan-tastische Erfahrungen.

Drittens. Wenn man vor Ort gewesen ist, dann weißman, was in der Entwicklungspolitik insgesamt schonGutes geleistet worden ist. Vieles ist aber noch zu wenigsichtbar, zum Beispiel in den Paschtunengebieten. Damüssen die internationale Gemeinschaft und wir bereitsein, der Entwicklungszusammenarbeit mehr Mittel andie Hand zu geben, um breiter angelegt und sichtbarerfür die Bevölkerung zu sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Viertens. Der Polizeiaufbau ist bekanntlich von stra-tegischer Bedeutung. Die Bundesrepublik leistet in ihrerFührungsrolle sehr viel Gutes. Aber die quantitativenund qualitativen Herausforderungen sind hier so riesig,dass wir nicht mehr mit 40 Beamten auskommen. Hiermüssen wir schlichtweg aufstocken. Es geht nicht umgroße Beträge, aber die wenigen Millionen Euro sind dasGeld wert.

Schließlich wird all das, was ich gerade genannt habe– die Aufzählung ist nicht vollzählig –, nur ein Kampfgegen Windmühlenflügel sein, wenn die direkte Terror-bekämpfung im Süden und Osten nicht überprüft undnicht korrigiert wird. Bisher – die Meldungen sind ziem-lich eindeutig – scheint sie mehr zur Aufstandsförderungbeigetragen zu haben. Das ist von deutscher Seite aus– das muss man nüchtern sagen – schwierig zu themati-sieren, muss aber unter Verbündeten auf den Tisch. Siewissen: Ich neige nicht zu Alarmismus, aber wenn in denkommenden Monaten nicht zentrale Korrekturen undneue Anstrengungen unternommen werden, dann kannes im nächsten Jahr zu spät sein, und das darf es nicht.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Susanne Jaffke, CDU/

CSU-Fraktion.

(Johannes Kahrs [SPD]: So, Susi, zeig’s Ih-nen!)

Susanne Jaffke (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-

statten Sie mir zu Beginn, sicherlich im Namen aller, den7 700 Soldatinnen und Soldaten, welche sich im Aus-landseinsatz befinden, für ihr Engagement, für ihre Ein-satzbereitschaft und für ihre hervorragende Arbeit zudanken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Unter zunehmend unruhigen und instabilen Bedingun-gen leisten sie für die Bundesrepublik Deutschland einenwichtigen und notwendigen Dienst und sie haben unsereAnerkennung und unseren Respekt verdient.

Ich bedanke mich beim Kollegen Johannes Kahrs fürseine charmante Einleitung und möchte in diesem Sinnefortfahren.

Nachdem wir uns mit unseren Haushaltsberatungenjetzt in einem normalen Verfahren befinden und wir unsin der großen Koalition zusammengefunden haben,möchte ich hier darauf verweisen, dass der Etat des Fi-nanzministers einen Aufwuchs erfährt. Dieser Aufwuchserklärt sich zugegebenermaßen unter anderem dadurch,dass die Versorgungslasten aufgeteilt wurden. Dennocherfährt er im investiven Bereich einen Aufwuchs von1,9 Prozent. Das bedeutet, dass er trotz der Mehrwert-steuererhöhung real wächst.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das musste einmal gesagt werden!)

Er wird auch nach der mittelfristigen Finanzplanungjährlich um 1,2 Prozent aufwachsen.

Die Haushälter der großen Koalition stimmen mit deröffentlichen Positionierung der Bundeskanzlerin, FrauDr. Merkel, überein, dass die Finanzausstattung der Bun-deswehr, gemessen an den zunehmenden Aufgaben imRahmen der internationalen Einsätze, verbesserungsbe-dürftig ist. Vergleiche mit europäischen Partnern wieEngland, Holland und Norwegen, die im Verhältnis zumBruttoinlandsprodukt prozentual weit höhere Ausgabenals Deutschland in ihren Verteidigungsetats haben, müs-sen deshalb gestattet sein.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das spricht für die Effizienz der Truppe hier!)

Trotzdem: Innerhalb des Einzelplans 14 verzeichnendie verteidigungsinvestiven Ausgaben den stärkstenAufwuchs. Auch die sonstigen Betriebsausgaben und dieAusgaben für Materialerhaltung steigen, während diePersonalausgaben durch Personaleinsparungen erfreuli-cherweise sinken.

In diesem Zusammenhang möchte ich hier noch ein-mal hervorheben, dass die Weisung des Ministers an dieEinsatzkontingente, ihre Verpflichtungen ausschließlichin geschütztem Transportraum vorzunehmen, von denHaushältern der Regierungskoalition uneingeschränktunterstützt wird. Erst im Juni hat die große Koalition imHaushalt weiteren Beschaffungsvorhaben im Bereichgeschützter Transportkapazität zugestimmt.

Lassen Sie mich an dieser Stelle einen weiterenSchwerpunkt, das Thema Finanzierung internationalerEinsätze, ansprechen. Die Haushälter der großen Koali-tion sind sich dahin gehend einig – da befinde ich mich inÜbereinstimmung vor allen Dingen mit dem KollegenKahrs; wir kämpfen darum in unseren Gruppen –, dasszunehmende internationale Verpflichtungen für humani-

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Susanne Jaffke

täre und Friedenseinsätze, die durch die Bundeswehr ge-leistet werden, nicht mehr durch den aktuellen Etat desEinzelplans 14 zu erwirtschaften sind, wenn sie in einemlaufenden Haushaltsjahr als zusätzliche Aufgabe parla-mentarisch beschlossen werden. Es ist mit meinem parla-mentarischen Verständnis nicht in Übereinstimmung zubringen, zusätzliche Verantwortung zu übernehmen unddazu auch zu stehen, das Bundesministerium der Vertei-digung bei der Finanzierung aber allein zu lassen.

Wir erwarten als Parlamentarier, dass die Administra-tive darauf reagiert und Lösungsvorschläge unterbreitet,wie sie mit beschlossenen, in Kraft getretenen Etats inZukunft verfahren will, um entsprechend Vorsorge fürsolche außerplanmäßigen Finanzierungen zu treffen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Wir erwarten als Haushälter deshalb in Zukunft, dass inden entsprechenden Regierungsvorlagen zu zusätzlichenAuslandseinsätzen ein entsprechender haushalterischerNachweis erbracht wird.

(Beifall des Abg. Johannes Kahrs [SPD])

Gestatten Sie mir weiterhin einige Bemerkungen zumThema Betreiberlösungen. Die CDU/CSU im Haus-haltsausschuss wird den Prozess der Betreiberlösungenund der damit zusammenhängenden Finanzierung undKooperation mit der Industrie weiter kritisch begleiten.Die Devise „Outsourcing gleich billiger“ ist nicht immergültig. Die Beendigung des Modellversuchs „Truppen-verpflegung“ zeigt, dass es nicht immer wirtschaftlicherist, Aufgaben an Private zu geben.

(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wenn man es nicht will!)

Auch die Umstrukturierung des Bundeswehrfuhr-parks und das Kooperationsmodell für das Bekleidungs-management werden weiterhin in der Überprüfung blei-ben. Sie sind organisationsmäßig in der Abteilung M gutaufgehoben. Für mich ist allerdings wichtig, dass in Zu-kunft dem Controlling in diesen Bereichen mehr Auf-merksamkeit gewidmet wird.

Ein weiterer Schwerpunkt bleibt für mich dieNeustrukturierung der zivilen Verwaltung der Bun-deswehr. Auch im Regierungsentwurf 2007 stehen den210 000 Berufssoldaten, 55 000 Wehrpflichtigen undfreiwillig länger dienenden Wehrdienstleistenden sowie2 500 Reservisten 106 800 zivile Mitarbeiter zur Seite.Das bedeutet, dass auf circa 2,5 Soldaten immer nocheine Verwaltungskraft kommt. Das ist einfach zu viel.

Nun steht eine neue Strukturgröße von 75 000 Zivil-stellen im Raum. Bei der eben genannten Zahl von Mili-tärbediensteten bedeutete das, dass auf 3,5 Soldaten eineVerwaltungskraft kommt. Ich halte auch das für zu viel.

Zum Jahresende soll uns Haushältern – so der Auf-trag – seitens des Verteidigungsministeriums eine Orga-nisationsstruktur für die Zivilbeschäftigten vorgelegtwerden. Ich gehe davon aus, dass man sich für den Be-reich der zivilen Verwaltung des Bundesverteidigungs-ministeriums wie in allen anderen Ressorts bei der Erar-

beitung einer Strukturkonzeption an die Vorgaben desBeauftragten für die Wirtschaftlichkeit in der Bundes-verwaltung, Herrn Professor Dr. Engels, Präsident desBundesrechnungshofs, hält. Die Zielstruktur von75 000 Zivilbeschäftigten kann also kein Dogma sein.

Wenn sich alle Ressorts an den Vorgaben „Entbüro-kratisierung“ und „schlanke Verwaltungsstrukturen“orientieren müssen, so gilt das auch für das Verteidi-gungsministerium. Wichtig wird für uns Haushälter abersein, dass die in diesem Zusammenhang frei werdendenVerwaltungsmittel im Etat verbleiben und dem investi-ven Bereich zugeordnet werden können.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit, habe dieeine Minute hereingeholt; Bernd, sie steht dir wieder zurVerfügung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Nun hat das Wort Kollege Andreas Weigel, SPD-

Fraktion.

Andreas Weigel (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Freitag vergangener Woche hat im Kosovo derdeutsche Generalleutnant Kather das Oberkommandoübernommen. Die Diskussion um die Tagesordnung desVerteidigungsausschusses der nächsten Wochen – Liba-noneinsatz, Verlängerung des Afghanistanmandats,Situation im Kongo – zeigt, dass Deutschland seine Rollegefunden hat, in der Staatengemeinschaft Zug um Zugmehr Verantwortung übernimmt und sicherheitspolitischeine Mittelmacht geworden ist.

Die Bundeswehr ist als Bündnisarmee konzipiert unddie europäischen Streitkräfte wachsen zusammen. Daszeigen die Einsätze, die durchweg multinational organi-siert sind. Aus diesen Einsatzstrukturen folgt zwangsläu-fig, dass es zu multinationalen Strukturen bei der Fi-nanzierung, Ausrüstung, Durchführung, Verteilung undAbstimmung der Fähigkeiten kommt. Es geht darum,dass die Streitkräfte unserer Verbündeten und ihre jewei-ligen Fähigkeiten mit denen der Bundeswehr bestmög-lich aufeinander abgestimmt werden. Schwerpunkte sindhierbei die Festlegung auf Kernfähigkeiten, die Bereit-schaft zur Integration auf europäischer Ebene und dieErhöhung der verteidigungsinvestiven Aufgaben.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Bernd Siebert [CDU/CSU])

Diese Gesichtspunkte werden in Zukunft ohne Frage we-sentlich stärker ihren Niederschlag in unserer Haushalts-struktur finden.

Gemeinsam mit unseren Verbündeten denken wirüber neue Formen der europäischen Finanzierung nach.Auch im Rahmen der NATO werden wir unsere Anstren-gungen verstärken, durch Bündelung militärischer Fä-higkeiten, gemeinsame Beschaffung von Gerät und ge-meinsame Finanzierung von Rüstungsvorhaben gegeneine Zersplitterung zu arbeiten.

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Andreas Weigel

Ein gutes Beispiel hierfür ist die NAMSA, die seitFrühjahr dieses Jahres auf dem Flughafen in Leipzigzwei geleaste Antonov-Maschinen bereithält, um dieBundeswehr und ihre NATO-Verbündeten für den Luft-transport zu verstärken und dann in die Einsatzgebiete,zum Beispiel nach Afghanistan, zu fliegen. Das sindGroßraumflugzeuge aus Russland und der Ukraine. Dasbedeutet, dass wir hier einen erheblichen Rationalisie-rungseffekt haben. Solche Projekte machen auch in Zu-kunft Sinn. Es ist zum Beispiel sinnvoll, für logistischeLeistungen oder Beschaffungsvorhaben immer mehreuropäische oder transatlantische Organisationen einzu-binden.

Das Gleiche gilt für die Aufgabenverteilung. Hier ha-ben zum Beispiel die Niederländer bereits eine Lösunggefunden, die, wie ich meine, Modellcharakter hat. Stattsich eigene Flugzeuge für den Lufttransport zu beschaf-fen und sich Folgekosten wie deren Wartung einzuhan-deln, haben sie ein Transportabkommen mit der Bun-desrepublik Deutschland geschlossen. Für ungefähr50 Millionen Euro nehmen sie entsprechende deutscheTransportleistungen in Anspruch. Dieses Transport-abkommen hat aus meiner Sicht allein deswegen Mo-dellcharakter, weil es erhebliches Einsparungspotenzialbietet. Natürlich führen Aufgabenverteilung und Spezia-lisierung zu gegenseitigen Abhängigkeiten im Handelnund Entscheiden. Dennoch liegen die Vorteile auf derHand.

Es gilt, nationale Barrieren zu überwinden und inter-nationale Organisationen in die Finanzierung von Rüs-tungsprojekten stärker einzubinden. VergaberechtlicheFragen dürften dabei kein Hindernis sein. Damit werdenunsere Streitkräfte so aufgestellt und ausgerüstet, dass siedie von der Politik übertragenen Aufgaben und Aufträgeerfüllen können. Im Vordergrund steht hier aber nichtmehr die Optimierung der Fähigkeiten der einzelnenTeilstreitkräfte, sondern die Zusammenarbeit der Streit-kräfte. Das erfordert Interoperabilität in einer neuen Qua-lität.

Dieses Anforderungsprofil hat weitreichenden Ein-fluss auf die notwendige Ausrüstung unserer Streitkräfte.Von zentraler Bedeutung sind hier die Bereiche For-schung, Entwicklung und Erprobung. In der Sicher-heitsforschung werden wir neue Wege beschreiten. InDeutschland existieren hervorragende wehrtechnischeKapazitäten. Zur Sicherstellung dieser Fähigkeit gilt es,zwei Aspekte zu berücksichtigen, und zwar einerseitsdie Anerkennung der Wehrtechnik als Hightechfähigkeitim Rahmen nationaler Wirtschaftspolitik, also die Erhal-tung industrieller Kernfähigkeiten, und andererseits dieKoordination der Verteidigungsforschung mit der Si-cherheitsforschung. Die Förderpolitik der Bundesregie-rung setzt hier neue Akzente.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Blick aufdie Forschungslandschaft zeigt uns, dass wir noch eini-gen Diskussionsbedarf haben. Es ist zu fragen, ob For-schungsgelder noch effizienter aufgeteilt werden könnenund wie viel wir für Grundlagenforschung und wie vielfür angewandte Forschung bereitstellen. Im Übrigenmuss auch die Finanzierung der Forschungsinstitute

überprüft werden. Ich glaube, hier gibt es erheblichenRationalisierungsbedarf.

Wichtig ist insbesondere, solche Forschungsprogrammevoranzutreiben, die dem Schutz der Soldaten dienen. Sosind die Robotik und die Entwicklung unbemannterFlugzeuge Bereiche, denen wir besondere Aufmerksam-keit zuteil werden lassen sollten. Auf europäischerEbene wird dabei die Europäische Verteidigungsagenturin Brüssel eine besondere Rolle übernehmen müssen.Die Entwicklung einer eigenen europäischen Verteidi-gungs- und Rüstungsidentität sollten wir vor dem darge-stellten Hintergrund auch für den Bereich Forschung undEntwicklung als Chance begreifen und nutzen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Einzel-plan 14 haben wir Ausgaben in Höhe von 642 Millio-nen Euro für die internationalen Einsätze der Bundes-wehr vorgesehen. Das sind Ausgaben, die zusätzlich fürdie Anforderungen des jeweiligen Einsatzes unmittelbarvor Ort entstehen. Der weitaus größte Teil der Aufwen-dungen für unsere internationalen Verpflichtungen istaber im gesamten Verteidigungshaushalt verteilt. DerHaushalt garantiert, dass unsere Streitkräfte überhaupt inder Lage sind, die Aufträge optimal auszuführen. Genauhier gilt es, darauf zu achten, dass unsere fiskalischenAnstrengungen in allen Bereichen so ausgelegt sind,dass sie die größtmögliche Effizienz für die Bundeswehrals Armee im Einsatz haben.

Die Steigerung von Effizienz ist auch das Ziel derProjektgruppe „Öffentliche und private Partnerschaft“.Auf dem Feld der öffentlichen und privaten Partner-schaft gibt es weitere Rationalisierungspotenziale, umdie verteidigungsinvestiven Ausgaben zu verstärken. Ichglaube, da sind wir auf einem richtigen Weg, der aller-dings, wie das Beispiel des Pilotprojektes „Verpflegung“in München zeigt, nicht ohne Rückschläge verläuft.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumSchluss. Nach meiner Auffassung liegt einer der ent-scheidenden Schlüssel für eine ausreichende Finan-zierung der Bundeswehr in der Kooperation – in derKooperation mit der Wirtschaft, in der Kooperation mitBündnispartnern bei der Beschaffung und bei der Durch-führung von Einsätzen sowie in einer intelligenten Auf-gabenverteilung, insbesondere zwischen den europäi-schen Partnern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Bernd Siebert, CDU/

CSU-Fraktion.

Bernd Siebert (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

möchte am Anfang ein paar Worte zu dem Redebeitragvon Kollegin Homburger sagen. Ich habe Ihre Aussagen,liebe Frau Homburger, für maßlos gehalten. Sie entspre-chen nicht der Realität in unserem Land.

(Rainer Arnold [SPD]: Wohl wahr!)

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Bernd Siebert

Sie eignen sich höchstens für die Stammtische bestimm-ter freidemokratischer Mitglieder.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Auch das, was Sie zum Kongo gesagt haben, halte ichfür unverantwortlich, gerade weil wir in den letzten Wo-chen erlebt haben, welche hervorragende Leistung un-sere Soldatinnen und Soldaten und ihre europäischenKameraden im Kongo erbracht haben, sodass dort einefriedliche Situation erhalten werden konnte.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Mit Ihren Bemerkungen schaden Sie der Bundeswehr,den Soldaten und – ich gehe noch weiter – auch dem An-sehen Deutschlands in der Welt.

(Johannes Kahrs [SPD]: Und der FDP!)

– Das ist ein Problem, das die FDP mit sich selbst auszu-machen hat. Aber wir haben ja vorhin schon an einerZwischenbemerkung erkannt, dass sie hier sicherlich nurfür einen Teil ihrer Fraktion geredet hat.

(Rainer Arnold [SPD]: Ein stilles Licht!)

Ich möchte am Anfang – auch der eine oder andereKollege hat das getan; ich denke, es ist wichtig – auf dieSoldatinnen und Soldaten insgesamt eingehen. Sieleisten überall dort, wo sie eingesetzt sind – inzwischenschon viele Jahre in den Einsatzgebieten in Afghanistanund im ehemaligen Jugoslawien, nun seit einigen Wo-chen im Kongo –, hervorragende Arbeit. Diese hervorra-gende Arbeit muss auch hier entsprechend gewürdigtwerden. Das hat der Minister vorhin getan, das haben ei-nige andere getan, und auch ich möchte das für die Frak-tion der CDU/CSU und für meine Arbeitsgruppe in allerDeutlichkeit hier tun.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Sie haben mit ihren Leistungen das Ansehen der Bun-desrepublik Deutschland international gestärkt und ge-festigt, und sie haben den politischen Auftrag umgesetzt,den wir ihnen hier im Deutschen Bundestag gegeben ha-ben.

Gerade unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatzhaben es verdient, dass wir den Verteidigungshaushaltmit besonderer Sorgfalt prüfen und gestalten. Sie habenein Anrecht darauf, dass die Politik sie mit dem best-möglichen Material zu ihrem Schutz ausstattet. DieseVerpflichtung und besondere Verantwortung hat jederEinzelne von uns übernommen, der den Einsätzen derBundeswehr zugestimmt hat. Weil wir diesen Einsätzenzugestimmt haben, stellen wir uns dieser Verantwortungin aller Deutlichkeit und nehmen am Prozess der Verän-derung der Bundeswehr und auch an der Veränderungder Haushaltsvolumina des Verteidigungshaushaltes teil.

Mit dem Entwurf des Verteidigungshaushaltes 2007stehen dem Bundesminister der Verteidigung insgesamt28,4 Milliarden Euro zur Verfügung. Das sind zwar rund4,4 Milliarden Euro mehr als 2006. Aber mit dem Weg-

fall des Einzelplans 33 werden als Ausgleich für diePensionslasten über 4 Milliarden Euro mehr zur Verfü-gung gestellt. Es bleiben dem Bundesverteidigungs-minister also netto rund 480 Millionen Euro mehr für2007.

Ich möchte aber darauf hinweisen, dass es in den letz-ten Jahren in der mittelfristigen Finanzplanung auch an-dere Zahlen für 2007 gab. Die lagen bei etwa der doppel-ten Summe. Wenn man diese Zahlen vergleicht, dannbedeutet das, dass für die Bundeswehr auch im Jahre2007 der Spielraum bei den Finanzen stark einge-schränkt bleiben wird – und dies angesichts einer Ein-satzrealität für die Bundeswehr, die sich in den letztenMonaten grundlegend verändert hat.

Da ist die spürbar verschlechterte Sicherheitslage inAfghanistan zu nennen, die mit dem Wiedererstarkender Taliban auch in dem von der Bundeswehr kontrol-lierten Norden des Landes einhergeht. Diese Risikendürfen nicht unterschätzt werden. Bisher war es zu ver-antworten, dass die Wiederaufbauteams ihren Auftragmit ungeschützten Geländewagen erfüllten. So hat unsdie zugespitzte Lage allerdings dazu gezwungen – hierhat Verteidigungsminister Franz Josef Jung schnell undrichtig gehandelt –, die Aufträge in Afghanistan nurnoch unter besonderem Schutz, das heißt in geschütztenFahrzeugen, auszuführen. Hier wird deutlich, dass wirfür mehr geschützte Fahrzeuge sorgen müssen, damit dieSicherheit unserer Soldaten auch in Zukunft gewährleis-tet werden kann.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass zum Beispieldie vom Deutschen Bundestag noch vor der parlamenta-rischen Sommerpause beschlossene Anschaffung von149 Dingo 2 sich über einen Zeitraum von drei Jahrenhinziehen wird. Dies dauert mir eindeutig zu lange.

Das bedeutet: Über die zeitlichen Perspektiven unddie notwendige Anzahl muss in den nächsten Wochen inden Beratungen der Ausschüsse und Fraktionen gespro-chen werden. Ziel muss es sein, zwischen notwendigem,schnell zu beschaffendem Material und vorhandenemfinanziellen Spielraum nicht zuungunsten der Soldatenim Einsatz zu entscheiden. Das heißt, wir brauchen denSchutz der Soldaten schneller als bis jetzt geplant. Manmuss realisieren, dass die heutige Lage sich deutlich vonder vor einem Jahr erwarteten unterscheidet. Das gilt fürdie zukünftige Risikoanalyse in Afghanistan, für die si-chere Durchführung des neuen Einsatzes im Kongo undmöglicherweise für den Einsatz vor der Küste des Liba-non.

Nach dieser nüchternen Analyse bleibt die Erkennt-nis, dass die Bundeswehr aufgrund ihres Engagements inAfghanistan, auf dem Balkan, im Kongo und in anderenTeilen der Welt und aufgrund ihrer begrenzten Ausstat-tung vor allem mit geschützten Fahrzeugen und Hub-schraubern nicht vollständig in der Lage sein wird, zu-sätzliche Einsätze ohne weiteres zu schultern. Dasbedeutet auch – das ist vorhin mehrfach angeklungen –,dass die neuen Einsätze nicht aus dem Verteidigungsetatbezahlt werden können.

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Bernd Siebert

Ich bin überzeugt, dass dies der richtige Weg ist. Esgeht nicht um die Anschaffung von Prestigeobjekten,sondern um den Schutz unserer Soldaten und um dieEinsatzfähigkeit der Bundeswehr insgesamt. Es geht mirnicht um das Ausspielen einer Teilstreitkraft gegen dieandere, sondern um eine ganzheitliche Betrachtung derBundeswehr.

Die Messlatte muss sein, dass die Bundeswehr dasSpektrum möglicher Einsätze zu Lande, zu Wasser undin der Luft abdecken können muss, um die im Rahmeninternationaler Verpflichtungen zugesagten Fähigkei-ten für die NATO Response Force, die EU-Battle-Groups und die Anforderungen der Vereinten Nationenbereitstellen zu können. Die Alternative des Schiebensund Streckens hätte zur Folge, dass sich die Bugwelleder Ausrüstungsdefizite in der Bundeswehr verstärkenwürde. Diese Art der Mangelverwaltung ist für michkeine ernsthafte politische Option.

Ich komme zum Schluss. Aus meiner Sicht gibt eskeine Alternative zu dem eben aufgezeigten Weg. Zielmuss ein Vollschutz für unsere Soldatinnen und Soldatensein, der das Risiko für sie beherrschbar macht und mitdem wir unserer Verantwortung gegenüber den Angehö-rigen der Bundeswehr und ihren Familien gerecht wer-den.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Jörn Thießen, SPD-

Fraktion.

Jörn Thießen (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lassen Sie mich zu Beginn meines Schlussbeitrages aufeinen Satz des verehrten Kollegen Siebert und des Bun-desministers eingehen. Ja, Herr Bundesminister, inAfghanistan setzen wir die Soldaten zu Recht nur nochin gepanzerten Fahrzeugen ein. Das ist richtig, weil sodie Soldatinnen und Soldaten geschützt werden. Wirmüssen aber auch wissen, dass das Konzept der PRTs imWesentlichen ein Konzept der Kommunikation, der Of-fenheit ist, das ins Land hinein wirken soll. Deswegen istdie Frage, ob wir dieses Konzept auf Dauer verfolgenkönnen, eine ernsthafte Debatte unter Fachleuten wert.Das heißt, wir müssen auf der einen Seite über den opti-malen Schutz der Soldaten, auf der anderen Seite überKommunikationskonzepte, die der Philosophie unseresLandes und Europas entsprechen, diskutieren.

In diesem Zusammenhang eine Bemerkung an dieKolleginnen und Kollegen der FDP: Mit Abschiedsredenan die gemeinsame Verantwortung tragen Sie zu dieserernsthaften Diskussion nicht bei.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bitte Sie: Kehren Sie zu manchen guten TraditionenIhrer eigenen Partei in der Außenpolitik – Sie können esnachlesen – zurück.

Wir haben uns in diesem Hause vor wenigen Monatenüber erhöhte Ansätze für Forschung und Technologieim Haushalt 2006 gefreut. Auch der Einzelplan 14 mussseinen Beitrag dazu leisten, die Forschungslandschaft inder Bundesrepublik und in Europa zu beleben. Der Ko-alitionsvertrag enthält dazu die richtigen Worte. DerKern des Ansinnens ist, die drei Säulen der Forschungzu fördern. Im Einzelplan 14 fördern wir grundfinan-zierte Institute. Wir erhalten – das ist besonders wichtig– die interne Beratungs- und Analysefähigkeit. Wir er-proben technische Demonstratoren.

Das Ziel der gesamten Forschung und Technologie-entwicklung der Bundeswehr ist, die Wirksamkeit derBundeswehr einerseits durch Technik und andererseitsdurch Analyse, Beratung und Strategie zu erhöhen. Ent-sprechend der Tradition unserer Streitkräfte suchen wirnämlich den Frieden nicht allein mit stets besseren Waf-fensystemen zu erhalten, sondern mit einer Verbindungvon politischer und diplomatischer Strategie mit dentechnischen Möglichkeiten, deren Nutzung wir für ge-eignet halten.

Deswegen hat die Bundeswehr, die sich wandelt undstets wandeln wird, immer neue Fragen zu beantworten.Wer über Forschung und technologischen Wandel redet,weiß: Diese Fragen werden am Ende nicht beantwortetsein. Die Kernfähigkeit der Bundeswehr, über sich undihre Wirksamkeit in der Welt nachzudenken, müssen wirdringend erhalten. Wir dürfen nicht aufgeben, die Forde-rung zu stellen, dass dieser zentrale Teil des Etats derBundeswehr nicht abgesenkt wird.

Es gilt, die Forschungslandschaft des Verteidigungs-ministeriums einer genauen Analyse zu unterziehen. Beiden Ressortforschungseinrichtungen sind wir auf ei-nem richtigen Wege. Wir warten ab, was der Wissen-schaftsrat uns, dem Parlament, berichten wird. Einesaber sei schon heute gesagt: Die Kapazitäten der gesam-ten Ressortforschung der Bundesregierung können nichtauf dem freien Markt eingekauft werden. Wer glaubt,dass wir alles an den Universitäten erledigen können undkeine interne Expertise brauchen, der irrt. Eigene Ana-lyse, interne Beratung und eigenes Controlling gehörenzu den Führungsfähigkeiten einer guten Regierung. Dieshat die große Koalition verstanden. Auch deswegenstellt sie eine gute Regierung.

Die grundfinanzierte Forschung an einigen Institutender Fraunhofer-Gesellschaft oder bei der FGAN musssich folgenden Fragen stellen: Wie nahe an den Mög-lichkeiten des Marktes arbeiten die Institute? Wie kanndie Vermarktung unserer Fähigkeiten noch besser wer-den? Diese Fragen stellen sich auch den Universitätender Bundeswehr. Wer beide Universitäten zusammen be-trachtet, kommt leicht zu dem Schluss, dass das Auf-kommen an Drittmitteln mit Intelligenz und gutem Wil-len durchaus noch steigerbar ist. Diese Universitätensind über alles gesehen wirklich gut ausgestattet undkönnen im Einwerben dritter Mittel deutlich mehr leistenals bisher.

Wir müssen über verstärkte Forschungs- und Ent-wicklungsaufträge die Löcher in der produktiven Aus-lastung mancher Firmen mildern. Dies ist auch mit weni-

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Jörn Thießen

ger Finanzmitteln machbar; das sollten wir tun. Mitausreichenden F-und-T-Mitteln können Firmen Inge-nieurleistungen halten und damit auch das Abwandernvon hoch qualifiziertem Personal verhindern.

Frankreich und Großbritannien verfolgen das Ziel,ihre F-und-T-Haushalte noch weiter zu steigern. Wirwissen, dass diese beiden Länder noch andere Lastentragen als andere Länder Europas. Der Ansatz der Bun-desrepublik lässt sich noch so weiterentwickeln, dass wirAugenhöhe erreichen können. Dies ist wichtig, weil wirin der EDA und anderen Gremien als gleichberechtigteund ernst zu nehmende Partner wahrgenommen werdenwollen. Ein wichtiger Schritt dahin ist, dass wir im Rah-men des 6-Milliarden-Euro-Programms der Bundesre-gierung und des Programms der Europäischen Unionauch in der Sicherheitsforschung auf militärischer Seiteendlich von den zivilen Beteiligten ernst genommenwerden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Am Ende steht auch im Bereich der Forschung undTechnologie nicht die Technik im Vordergrund. AmEnde kommt es nämlich darauf an, zugunsten der Streit-kräfte und ihrer Entwicklungsfähigkeit zu arbeiten. Daskommt vor allem den Menschen in den Streitkräften zu-gute. Die Bundeswehr wird viel mehr durch die Frauenund Männer konstituiert, die in ihr arbeiten, als durchalle fiskalischen und technischen Faktoren. Mit diesenMenschen sorgsam und zuverlässig umzugehen, ist un-ser hohes – und meist gemeinsames – politisches Ziel.Es gibt nicht neben anderen Aspekten auch eine sozialeDimension der Transformation. Sozialität ist der Kernder Transformation; denn wer nach außen den Friedenschaffen und erhalten will, der darf seine innere und so-ziale Dimension nicht vergessen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich

liegen nicht vor.

Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung. Einzelplan 23.

Ich erteile das Wort der Bundesministerin HeidemarieWieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte von dieser Stelle aus herzliche Grüße und Gene-sungswünsche an den Vorsitzenden des Entwicklungs-ausschusses, unseren Kollegen Herrn Hoppe, richten,der heute wegen Krankheit nicht anwesend sein kann.Wir wünschen ihm von hier aus alles Gute und gute Ge-nesung.

(Beifall im ganzen Hause)

Wir alle haben in den Wochen der entsetzlichen mili-tärischen Auseinandersetzungen mit den betroffenenMenschen in Israel, in Palästina und im Libanon gelitten.Wir haben auf einen Waffenstillstand gehofft und wiralle wünschen einen dauerhaften Frieden für den NahenOsten. Uns ist klar: Es gibt keine Klärung durch Krieg,sondern nur durch politische Lösungen.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN)

Teil einer politischen Lösung muss die Stärkung derstaatlichen Autorität des Libanon für sein gesamtes Ter-ritorium sein. Ziel muss es sein, funktionierende Staat-lichkeit herzustellen.

Ich habe in Absprache mit Bundeskanzlerin Merkelim Vorfeld der Konferenz für den Libanon, zu der dieschwedische Regierung und die UN eingeladen hatten,den Libanon besucht und mir einen eigenen Eindrucküber die Notwendigkeit der Wiederaufbauhilfe ver-schafft. Ich möchte an dieser Stelle sagen: PräsidentSiniora braucht internationale Unterstützung; er ist einmutiger Mann, vor dessen schwieriger Aufgabe ich gro-ßen Respekt habe.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir müssen der Hisbollah, die kaltblütig zivile Opferin Kauf genommen hat und sich nun als Helfer in derNot gibt, den Nährboden entziehen. Bei dieser Aufgabeist das Land auf internationale Unterstützung, auch aufunsere Unterstützung angewiesen. Wir werden den Liba-non deshalb wieder zum Partnerland unserer Entwick-lungszusammenarbeit machen. Das möchte ich für dieBundesregierung an dieser Stelle ausdrücklich sagen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich weiß, dass es Menschen gibt, die fragen: Müssenwir eigentlich wiederaufbauen? Diesen Menschen sageich: Dort, wo Leid und Elend sind, ist es eine humanitärePflicht, den Menschen zu helfen. Der Frieden im NahenOsten wird auch für unsere eigene Sicherheit von Bedeu-tung sein. Israel hat durch die Angriffe der Hisbollah inhohem Umfang Schäden erlitten, für die es keine inter-nationale Hilfe anfragt. Israel will diese Schäden selberbeseitigen. Aus all diesen Gründen sage ich: Es ist wich-tig, dass wir auf dem Gebiet des Wiederaufbaus des Li-banon gemeinsam tätig sind.

Auf der Konferenz in Stockholm wurden für den Li-banon Mittel in Höhe von insgesamt 940 Millionen US-Dollar zugesagt. Über die Hälfte davon kommt übrigensvon arabischen Staaten. Das ist richtig und gut so. Aufdieser Konferenz habe ich für die Entwicklungszusam-menarbeit in 2006 – Bereiche Wasserversorgung im Sü-den des Libanon und Förderung der beruflichen Bil-dung – 10 Millionen sowie weitere Mittel aus dem Haus-halt des Finanzministers für die Kontrolle an den Land-grenzen zugesagt.

Wir erbringen in diesem Jahr Unterstützungsleistun-gen in Höhe von mindestens 22 Millionen Euro. Wirleisten Unterstützung bei der Beseitigung der Ölver-schmutzung. Weitere finanzielle Unterstützung werden

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Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul

andere Ressorts unserer Regierung beschließen, sodassdie Mittel seitens der Regierung, auch meines Ministe-riums, im nächsten Jahr aufgestockt werden.

Im Moment gefährdet nicht explodierte Streumunitiondas Leben von zurückkehrenden Flüchtlingen im Südendes Libanon. Blindgänger töten unschuldige Menschen,spielende Kinder und gefährden UNIFIL-Truppen. Siesind ein Problem für den Wiederaufbau. Lassen Sie unsan dieser Stelle gemeinsam sagen: Wir müssen alles da-für tun, dass Streubomben weltweit verboten werden!

(Beifall im ganzen Hause)

Das muss eine unserer Schlussfolgerungen sein.

Den Frieden in der Region werden wir aber nur errei-chen – das ist heute immer wieder deutlich geworden –,wenn der Kernkonflikt zwischen Israel und Palästinaeine Lösung findet. Israel hat ein selbstverständlichesRecht, in Frieden und ohne Furcht vor entsetzlichen An-griffen zu leben. Das Existenzrecht des Staates Israelmuss gesichert werden. Gleichzeitig geht es darum, ei-nen eigenständigen palästinensischen Staat zu verwirkli-chen, der in Frieden mit seinen Nachbarn lebt und Israelanerkennt.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Auf der Konferenz in Stockholm wurden für diehumanitäre Hilfe in Palästina – die Situation dort istinsbesondere für die Jugendlichen dramatisch – 450 Mil-lionen US-Dollar bereitgestellt. Wir haben den so ge-nannten Temporären Internationalen Finanzierungs-mechanismus mitfinanziert, dessen Ziel es ist, trotz derbestehenden Hamas-Regierung dafür zu sorgen, dass zu-mindest die Bedürftigsten eine Unterstützung erhalten.Auf diese Art und Weise werden bis Ende Septemberimmerhin rund 600 000 Menschen in Palästina Hilfe er-halten. Das ist richtig und gut so.

Die europäische Erfahrung zeigt doch, dass es mög-lich ist, Hass und Gewalt zu überwinden. Warum solltedas, was in Europa, in der KSZE gelungen ist – wennauch unter völlig anderen Bedingungen –, nicht auch imNahen Osten möglich sein, wo doch die große Mehrheitder Menschen Frieden will. In einer dauerhaften Konfe-renz für Sicherheit und Zusammenarbeit im NahenOsten könnten Fragen der Sicherheitspolitik, der wirt-schaftlichen Zusammenarbeit und des menschlichen Zu-sammenlebens besprochen und geregelt werden. Enga-gieren wir uns gemeinsam für diesen Weg zum Frieden!

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der LINKEN und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nun zu einem Thema, das uns jeden Tag beschäftigtund immer aufs Neue beschäftigen muss. In dieser Weltsterben pro Tag 8 000 Menschen an Aids; so viele wür-den auch sterben, wenn jeden Tag zwanzig vollbesetzteJumbojets abstürzen würden. Die Aidskonferenz in To-ronto war wichtig, um die Aufmerksamkeit wieder aufdiese dramatische Situation zu lenken. Was tun wir ge-gen Aids? Wir werden – das habe ich auf der Konferenz

auch deutlich gesagt – unsere Maßnahmen gegen HIVund Aids verstärken, die Mittel für die Jahre 2007 und2008 um rund 100 Millionen Euro auf jährlich400 Millionen Euro aufstocken, unsere bilateralen Mittelund die Schuldenumwandlungen einsetzen und den Glo-balen Fonds zur Bekämpfung von HIV, Aids, Malariaund Tuberkulose entsprechend finanziell stärken.

Warum? Das möchte ich an dieser Stelle noch einmalerläutern. Es handelt sich vor allen Dingen für jungeFrauen und Mädchen um eine dramatische Situation.Während sie noch vor zehn Jahren 12 Prozent aller Infi-zierten ausgemacht haben, machen Frauen heute fast dieHälfte aller Infizierten aus. Das hängt damit zusammen,dass sie schwächer sind und sich in vielen Situationennicht mit ihren eigenen Schutzmöglichkeiten durchset-zen können. Deshalb haben wir ausdrücklich die Mittelzugesagt, die für die Entwicklung von Mikrobizidenwichtig sind, die es den Frauen ermöglichen, sich selbstzu schützen und nicht auf den Schutz durch Männer an-gewiesen zu sein. Ich glaube, das ist ein ganz wichtigerAspekt, um den Frauen in den Entwicklungsländern zuhelfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Gleichzeitig geht es auch darum, dass wir die Pro-gramme stärker auf Frauen orientieren. Wir müssen unsunsere Programme sehr genau ansehen und vor allenDingen mit dafür sorgen, dass in den Partnerländern dieGremien, die über die Verteilung dieser Mittel entschei-den, tatsächlich mit Frauen besetzt sind und sie damitihre Stimme erheben können.

Die deutliche zweite Steigerung des Haushalts nachdem Haushalt 2006 zeigt, dass wir unsere internationaleVerantwortung und auch unseren Stufenplan zur Steige-rung der Entwicklungszusammenarbeit ernst nehmen.Das sind keine Kosten, sondern Investitionen in die Zu-kunft unserer Kinder, Investitionen in Gerechtigkeit, ineine friedlichere Welt, in Armutsbekämpfung und dieBewahrung der Schöpfung. Es sind gut investierte Mit-tel. Es ist auch ein Signal in Richtung der EU-Ratspräsi-dentschaft und der Präsidentschaft der G 8 durch unsereBundesregierung im nächsten Jahr. Ich bin überzeugt,dass wir im nächsten Jahr weitere entschlossene Schrittein diesem Sinne machen werden.

Ich möchte mich bei der Koalition für die Unterstüt-zung bedanken. Eine breite parlamentarische Mehrheithat in diesen Fragen große Vorteile. Ich möchte michaber auch bei der Opposition bedanken. Denn es ist im-mer gut, wenn es weiteren Druck und weitere Unterstüt-zung gibt.

Ich möchte zum Abschluss Kofi Annan zitieren. Erhat gesagt: „Ob es Afrika gelingt, dem Ziel der Halbie-rung der extremen Armut näher zu kommen, wird in ho-hem Maße von der Führungsrolle Deutschlands imnächsten Jahr abhängen.“ – Dazu sollen dieser Haushaltund unsere Verantwortung in EU und G 8 beitragen. Ichmöchte an dieser Stelle Kofi Annan danken. Er wirdEnde dieses Jahres aus seinem Amt ausscheiden. Er hat

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Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul

Großes für die Entwicklung und für den Frieden in die-ser Welt geleistet. Wir erwarten von ihm jetzt in seinemAmt, aber auch danach Großes für das gemeinsame Ziel.

Ich bedanke mich sehr herzlich.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowiebei Abgeordneten der LINKEN und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Hellmut Königshaus,

FDP-Fraktion.

Hellmut Königshaus (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

möchte mich zunächst von ganzem Herzen den Gene-sungswünschen für den Kollegen Thilo Hoppe anschlie-ßen. Er soll bald wieder unter uns sein. Ich will Ihnen,Frau Ministerin – jedenfalls für unseren Teil der Opposi-tion –, gern zusagen, dass wir weiterhin Druck machenwerden, den Sie offenbar begrüßen.

Frau Ministerin, Sie haben im Übrigen – wie häufig inder vergangenen Zeit – den Einsatz von Streubombendurch Israel kritisiert. Darüber kann man sicherlich dis-kutieren.

Aber eines will ich Sie in diesem Zusammenhang fra-gen: Warum klagen Sie nur andere an? Vielleicht habendie Israelis ja lediglich das getan, was die Koalitions-fraktionen erst am 28. Juni dieses Jahres, allerdings fürdie Bundeswehr, gefordert haben: Streumunition einzu-setzen, allerdings nur dann, „wenn geeignete alternativeMunition nicht verfügbar ist“? Vielleicht hatten dieIsraelis auch nichts anderes, was geeignet war, zur Ver-fügung. So geht das jedenfalls nicht, meine Damen undHerren. Sie müssen schon Konsequenzen ziehen.

(Zuruf von der SPD: Das ist doch völlig ab-surd, was Sie da sagen!)

Sehen Sie sich Ihren Antrag an dieser Stelle noch einmalan und gehen Sie mit gutem Beispiel voran.

Frau Ministerin, in den vergangenen Wochen konnteman häufig den Eindruck gewinnen – auch heute habenSie ihn wieder erweckt –, als seien unsere Haushalts-beratungen im Grunde genommen entbehrlich. Man hatimmer wieder gehört, was Sie alles versprochen haben– das haben Sie eben bestätigt –: 100 Millionen Euromehr für die Aids-Bekämpfung, wohlgemerkt aus künf-tigen Haushalten, 22 Millionen Euro hier, andere Be-träge dort usw. Sie haben Versprechungen gemacht – dasist okay –, aber dem Parlament haben Sie erst in aller-letzter Minute die Erläuterungen und Projektlisten zurBeratung Ihres Haushalts übersandt. Dafür mag esGründe geben. Aber eigentlich hätten wir schon eine Er-klärung erwartet.

Ich weiß nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen ausden Koalitionsfraktionen, wie Sie das sehen, aber sokann man eigentlich keinen Haushalt beraten. Vielleichthaben Sie sich damit abgefunden, dass die Regierung„durchregiert“ und Sie faktisch nur noch zum Abnickenbestellt werden. Ich jedenfalls finde das nicht normal

und denke, wir sollten wieder zum normalen Verfahrenzurückkehren: dass der Haushalt zunächst beschlossenund erst dann die Mittel verteilt werden.

(Beifall bei der FDP)

Jedes der genannten Vorhaben mag sinnvoll sein. Aberin den Haushaltsberatungen sollten wir zumindest dieChance haben, uns mit ihnen zu befassen.

Diese Oberflächlichkeit und dieser Mangel an Kon-kretheit sind auch in den Strukturen des Haushalts fest-zustellen. Nehmen Sie nur die Neustrukturierung derDurchführungsorganisation. Das ist natürlich einwichtiges Thema. Denn nur eine wirksame Organisationkann politische Vorgaben tatsächlich kostengünstig undeffizient umsetzen. Aber bisher liegt bloß eine Ausarbei-tung – anders kann man das nicht nennen – eines Bera-tungsunternehmens vor, die handwerklich so dürftig ist– das muss ich so sagen –, dass man sich scheut, dasInstitut namentlich zu nennen.

In dieser Ausarbeitung wurde überhaupt keine tragfä-hige Istanalyse vorgenommen. Noch schlimmer: Auchdie Ausgangslage ist völlig falsch. Sie beginnt mit derBetrachtung an der Außengrenze der Ministerien. Daseigentliche Problem ist aber nicht die unzureichendeUmsetzung, sondern zunächst einmal die mangelhaftepolitische Steuerung.

Der Kollege Mark hat vorhin am Beispiel des Aus-wärtigen Amtes erläutert, dass es auch dort Entwick-lungsaktivitäten gibt. Das ist nur ein Beispiel dafür, dasshier auch andere Ressorts mitmischen. Was wir brau-chen, ist deshalb eine Reform, die die Steuerungsfähig-keit der Politik vergrößert und das unproduktive undaufreibende Nebeneinander sowie das eifersüchtige Mit-einander-Rangeln der Ministerien beendet. Diesem An-spruch kommen Sie mit Ihrem Haushaltsansatz aller-dings ganz gewiss nicht nach. Selbst wenn der Haushaltsolide und nachvollziehbar wäre, müsste man also schondeshalb bezweifeln, dass Sie die Mittel überhaupt effi-zient einsetzen können.

Aber auch inhaltlich schreibt dieser Haushaltsentwurfalte Übel fort. Da sind insbesondere die ausuferndenGlobalzuweisungen. Es handelt sich insgesamt um28 Milliarden Euro – ich habe die Liste hier –, die ausdem Bundeshaushalt global zugewiesen werden; ein gro-ßer Teil davon sind Mittel für die Entwicklungszusam-menarbeit. Wofür diese Mittel eingesetzt werden sollen,das sollen wir uns im Rahmen der Haushaltsberatungenselbst heraussuchen. Meine Damen und Herren, dasmuss anders eingetaktet werden.

Ich glaube, wir müssen in Zukunft auch im Hinblickauf die Struktur unserer Entwicklungspolitik anders ar-beiten. Denn die Globalzuweisungen haben zur Folge,dass es letztlich nur darum geht, die ODA-Quote zu er-füllen. Hauptsache ist, das Geld fließt ab, egal wohinund egal wie: ob Weltbank, EU oder ADB. Kein Wun-der, dass hier der Überblick verloren geht!

Der krasseste Punkt ist der Europäische Entwick-lungsfonds – dazu habe ich schon oft etwas gesagt –:700 Millionen Euro wollen Sie im kommenden Jahr an

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4578 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006

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Hellmut Königshaus

diese Organisation überweisen. Das ist eine vollkommenundurchsichtige und parlamentarisch nicht kontrollierteGeschichte. Das kann im Grunde genommen so nichtweitergehen. Niemand weiß, was mit diesem Geld tat-sächlich passiert. Wir wissen nur eines: 25 Prozent die-ser Mittel, 175 Millionen Euro, fließen als Budgethilfenin die Haushalte einiger weniger AKP-Staaten.

Ich habe kürzlich mit einem führenden Europapoliti-ker aus dem Kreise der Koalition gesprochen – ich sagejetzt nicht, wer es war –, dem ich gesagt habe: Es istdoch unglaublich, dass es so etwas gibt, was parlamenta-risch nicht kontrolliert wird. Darauf sagte er, das sei inte-ressant und ich solle ihm Informationen darüber zukom-men lassen.

Es kann doch wohl nicht richtig sein, dass wir solcheInstitutionen haben und niemand davon wirklich weiß.Aus diesem Fonds werden auch die überseeischenGebiete und Länder unserer EU-Nachbarn mit finanziert– jedenfalls zum Teil –, beispielsweise Guadeloupe,Martinique und Französisch-Guayana. Ist es wirklich dieAufgabe unserer Entwicklungspolitik, dass wir den fran-zösischen, den niederländischen oder andere Staatshaus-halte entlasten? Das ist doch verrückt. So etwas mussdoch aufhören. Zahlen denn die Franzosen für uns Stra-ßen in Mecklenburg-Vorpommern?

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr populistisch!)

Das ist ziemlich abstrus, meine Damen und Herren.Obendrein zahlen wir in diesen Topf noch mehr als dieFranzosen selbst.

(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie Mecklenburg-Vorpommern als Kolonie bezeichnen?)

– Nicht aus dem Entwicklungsfonds, sondern aus Struk-turfonds. Diese Mittel kommen noch dazu, Frau Kolle-gin.

Noch schlimmer sind im Übrigen die Haushalts-risiken – über die ich hier schon mehrfach gesprochenhabe –, die das BMZ beim EEF in den letzten Jahrenheimlich, still und leise angehäuft hat. Sie, Frau Ministe-rin, haben per 1. Januar 2006 die offenen Forderungendes EEF auf über 4 Milliarden Euro beziffert – über4 Milliarden Euro! Nur ein Bruchteil davon ist gedeckt,nämlich das, was wir dieses Jahr in die Haushalte ein-stellen, also 661 Millionen Euro. Der Rest ist ungedeckt.Selbst wenn es stimmt, was Sie nun behaupten, die ab-sehbaren Abrufe des EEF seien im Haushalt des kom-menden Jahres berücksichtigt – 2005 stimmte es be-kanntlich nicht –, verschieben Sie doch damit dieProbleme nur in die Zukunft und lösen sie nicht. Das solluns hier dann als seriöse Haushaltsplanung verkauft wer-den? Das kann so nicht weitergehen.

Deshalb ist es auch kein Wunder, dass Ihnen jetztwieder nur einfällt, in Zukunft tiefer in die Taschen derBürger zu greifen, diesmal mit der geplanten Ticket-abgabe und anderen – wie Sie es dann nennen – innova-tiven Instrumenten. Wie wäre es stattdessen einmal mitSparen?

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie, Sie wollen doch aufsatteln!)

Stampfen Sie beispielsweise das Ankerländerkonzeptein. – Frau Kollegin, helfen Sie dabei mit. Das kostet nurGeld und führt zu Zuständigkeitsstreitigkeiten mit demAuswärtigen Amt, die Sie nicht gewinnen können. Hö-ren Sie auf, immer mehr Geld in undurchschaubareTöpfe und Fässer zu schütten. Setzen Sie Prioritäten, dieden Kernanliegen gerecht werden, die wir in der Ent-wicklungspolitik durch die MDG vorgegeben haben:keine U-Bahnen, Autobahnen und sonstigen Prestige-projekte mehr, weniger Beton, mehr für die Bürger inden Nehmerländern, mehr Impfstoffe, Medikamenteusw.

Sichern Sie den Haushalt ab gegen die Risiken, dieich angesprochen habe. Wir sind gern bereit, Ihnen vonder Opposition dabei zu helfen und gemeinsam nachzu-bessern, wenn Sie zur Kooperation bereit sind. In der jet-zigen Form jedenfalls – das kann ich Ihnen vorhersa-gen – werden wir diesem Haushalt nicht zustimmenkönnen.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun der Kollege Christian Ruck, CDU/

CSU-Fraktion.

(Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU] begibtsich mit geschientem Bein zum Rednerpult –Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Ich wünsche Ihnen eine gute Genesung, HerrKollege! – Hellmut Königshaus [FDP]: Dashabe ich nicht gesehen, sonst hätte ich michdem angeschlossen!)

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Es gibt keinen Grund zurAufregung. Ich bin Innenverteidiger der Bundestagsfuß-ballmannschaft; ab und zu kracht es halt entsprechend.

(Walter Kolbow [SPD]: Die Blutgrätsche eines oppositionellen Freundes!)

– Aber jetzt zum Thema, Herr Kolbow.

Mit dem Haushaltsentwurf für 2007 – das möchte ichjetzt nach den Ausführungen meines Vorredners voran-stellen – unterstreicht die schwarz-rote Koalition unterBundeskanzlerin Merkel erneut ihr klares Bekenntnis,den Spielraum der Entwicklungspolitik zu erhöhen.Durch das Engagement der Ministerin und ihres Hausesist es erneut gelungen, den Etat für den Einzelplan 23 imHaushaltsentwurf signifikant zu erhöhen, und zwar weitüber dem Wachstum des Gesamthaushalts.

Damit hat Schwarz-Rot in zwei Jahren Haushaltsfüh-rung Steigerungen um fast 18 Prozent im Entwick-lungsetat beschlossen, während der Entwicklungshaus-halt unter Rot-Grün von 1998 bis 2005 um 1 Prozent

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 46. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. September 2006 4579

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Dr. Christian Ruck

gesunken ist. Das, glaube ich, ist schon ein starkes Stückunserer neuen schwarz-roten Koalition.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Damit können wir bisher insgesamt 600 Millionen Euromehr einsetzen, um den gestiegenen entwicklungspoliti-schen Herausforderungen gerecht zu werden. Das isteine Meldung, die man, glaube ich, gut vertreten kannund mit der wir uns auf dem richtigen Weg befinden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Ereignisse in diesem Jahr unterstreichen, dass dasstrategische Gewicht der Entwicklungspolitik gewach-sen ist. Die Entwicklungen im Kongo, in Afghanistan,im Nahen Osten, die Migrationsbewegungen in Afrikazeigen doch, wo die neuen, internationalen Herausforde-rungen für Deutschland liegen: Es gibt keine friedlicheWelt ohne Entwicklung.

Die Steigerung der ODA-Quote, die wir alle anstre-ben, für die wir alle kämpfen, dient deshalb nicht nur derHerstellung von Gerechtigkeit in der Welt, sondern istauch ein signifikanter Beitrag für unsere eigene Sicher-heit. Der Haushalt des BMZ ist darüber hinaus ein in-vestiver Haushalt: Er sichert mindestens 200 000 Ar-beitsplätze im Jahr in der Bundesrepublik Deutschland.Deswegen hat er massive ökonomische Auswirkungenim eigenen Land. Das sollten wir auch der Öffentlichkeitimmer wieder sagen: Es geht nicht etwa um entwick-lungspolitische Träumereien, es geht auch um Sicherheitund es geht auch um unsere eigenen Arbeitsplätze.

Mit dem Haushalt 2007 werden diese neuen, strategi-schen Ansätze konsequent fortentwickelt. Wir stehen imVorfeld des G-8-Gipfels und unserer Präsidentschaft imEuropäischen Rat. Da müssen wir – und werden wirauch – sowohl konzeptionell als auch finanziell etwasauf den Tisch legen. Herr Königshaus, ich gebe IhnenRecht – da habe ich Ihnen schon immer Recht gegebenund Sie mir auch, Gott sei Dank –, wenn Sie sagen: Geldist natürlich nicht alles, es geht auch um Effizienz. Wir– auch die Koalition – sind ständig aufgefordert, die Ef-fizienz gerade auch in diesem Politikbereich zu diskutie-ren.

Da möchte ich etwas zu dem schon zitierten Gutach-ten sagen. Die Akteure der deutschen Entwicklungszu-sammenarbeit leisten Großartiges. Sie genießen großesAnsehen in der Welt; daran gibt es nichts zu rütteln.Aber die Strukturen auch der deutschen Entwicklungs-politik sind vielfach noch Strukturen, die vor 20,30 Jahren begründet worden sind, zum Teil kann man sa-gen: Strukturen vor dem Hintergrund der Notwendigkei-ten des Kalten Krieges. Die neuen Herausforderungenerfordern ein Umsteuern in der Zusammenarbeit – dashaben wir ja auch alle beteuert –: weg von der Projekt-arbeit allein hin zur Strukturpolitik, zum Verändern undzum Überwinden gesellschaftlicher und politischerStrukturen. Aus diesem Grunde ist es natürlich wichtig,dass wir immer wieder auch an der Optimierung derDurchführungsstruktur arbeiten, sie durchdenken. Dafürstellt das vorliegende Gutachten meiner Ansicht nacheine gute Diskussionsgrundlage dar für weitere Schritte

zur Gestaltung einer zukunftsfesten Aufstellung deut-scher EZ.

Wir wollen natürlich eine EZ aus einem Guss, wie sieauch von außen deutlich sichtbar werden muss. Was wirnicht wollen, sind Teillösungen oder eine Organisations-reform mit Siegern und Besiegten; darüber sind wir unsauch in der Koalition einig. Für Effizienzsteigerungenmüssen wir Lösungen finden, die von allen als besser alsder Status quo angesehen werden. Da, glaube ich, solltenwir sensibel vorgehen. Aus unserer Sicht muss neben derBetrachtung der einzelnen Instrumente – TZ, FZ, KfW,GTZ – auch nach der Einbettung dieser Instrumente indas Gesamtsystem gefragt werden. Zu klären ist auch,wie in einer modernen Aufstellung die Zuordnung vonBMZ und den Durchführungsorganisationen aussehensoll und was mit den Teilen der EZ betreffend Aus- undFortbildung und personelle Zusammenarbeit passierensoll. Vor allem müssen wir klären, wie die Außenstrukturaussehen soll; das ist für uns, SPD und CDU/CSU, ganzwichtig. Das sind Dinge, bei denen man nicht einfachaus der Hüfte schießen kann, da muss man zwar zügigund konsequent, aber doch auch mit der nötigen Vorsichtans Werk gehen. Effizienzsteigerung bedeutet für michaber auch – auch das ist schon angeklungen –, die regio-nale und die sektorale Konzentration voranzutreiben.Herr Königshaus, Sie haben die Anker- und die Schwel-lenländer angesprochen. Ich sage Ihnen eines: Etwasmehr Selbstbewusstsein im Umgang mit dem Auswärti-gen Amt tut auch der FDP gut.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Mir ist um die Auseinandersetzung mit dem Auswärti-gen Amt nicht bange, wenn die besseren Argumente aufunserer Seite sind. Da befinden wir uns auch untereinan-der in der Diskussion darüber, was die Kriterien für dieseAuswahl sein sollen. Ich glaube, das darf nicht nur dieBedürftigkeit sein, sondern es müssen auch Kategorienwie das Gefahrenpotenzial und das Potenzial für strate-gische Partnerschaften eine Rolle spielen. Man kann sichmit wichtigen Schwellen- oder Ankerländern natürlichsehr wohl über die weitere Zusammenarbeit unterhalten.

Bei den begrenzten Mittel müssen wir natürlich im-mer wieder auch die Frage stellen, was wirklich eineEntwicklung bewirkt und was die Armut wirklich be-kämpft. Gerade im islamischen Bereich existiert alleinschon durch die Vielzahl der arbeitslosen Jugendlichen,deren Anzahl jedes Jahr größer wird und die in die Weltund in diese Gesellschaften drängen, ein Pulverfass. Ichglaube, viele islamische Länder sind auf die Zusammen-arbeit mit uns und darauf angewiesen, dass wir unsereKonzepte im gegenseitigen Interesse austauschen. Es istdoch vor allem für Entwicklungspolitiker völlig unbe-friedigend, wenn man zuerst zum Aufbau eines Landesbeiträgt und danach dann alles zusammengeschossenwird, sodass man wieder sagen kann: Gut, wir sind be-reit, das wieder aufzubauen. Das kann ja nicht das Endevom Lied sein. Vielmehr müssen wir eine vorausschau-ende Entwicklungspolitik betreiben und Strukturen ver-ändern. Das ist unsere Aufgabe.

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Dr. Christian Ruck

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Dazu ist es natürlich auch erforderlich – das ist klar –,dass wir unsere Anstrengungen für ressortübergreifendeKonzepte und Koordinationen fortsetzen. Komplexe Si-tuationen wie im Kongo und im Nahen Osten erfordernnatürlich, dass alle Ressorts parallel an den richtigenStellschrauben drehen. Es reicht nicht allein aus, dassman Soldaten schickt oder die dortige Polizei ausbildet.Die Menschen in diesen Entwicklungsländern müssenauch spüren, dass sich der Einsatz für Demokratie, dasssich Wahlen und dass sich die Beachtung der Menschen-rechte lohnen. Deswegen ist es auch eine ganz entschei-dende Kernaufgabe der Entwicklungspolitik, in der Post-konfliktphase die Probleme schneller und besser zulösen, als das bisher gelungen ist.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Herr Königshaus, noch ein Punkt, in dem wir uns alleeinig sind: Zu dem Bereich der Effizienzsteigerung ge-hört auch eine bessere internationale Arbeitsteilung.Auch hier rennen Sie offene Türen bei uns ein. Das istaber eine Knochenarbeit. Wir müssen ja nicht uns selbervon der Notwendigkeit einer besseren Koordination inder EU überzeugen, sondern wir müssen vor allem dieEU-Partner davon überzeugen. Das ist eine Knochenar-beit. Wir haben uns heuer aber vorgenommen, geradediesen Punkt anzugehen. Lassen Sie uns doch erst ein-mal abwarten, wie weit die Ministerin und wir mit dieserKnochenarbeit kommen. Wir werden sie dabei jedenfallstatkräftig unterstützen.

(Beifall des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU])

– Danke.

Dasselbe gilt natürlich auch für die Versuche, dasUN-System transparenter zu machen und zu straffen.Auch hier sind wir uns einig. Aber auch das ist eineKnochenarbeit. Das können wir nicht par ordre du muftiim Bundestag entscheiden, sonst hätten wir Koalitionäredas schon abgewickelt. Das dauert halt eine Weile. Hiermuss uns Kofi Annan auch noch zur Seite stehen.

Wir wollen die Präsidentschaften – sowohl hinsicht-lich der G 8 als auch hinsichtlich der EU – nutzen, umauch unsere Themen vorwärts zu bringen. Das gilt vorallem für das Problem der Arbeitsteilung in der EU.Auch auf Afrika soll ein bestimmter Fokus gelegt wer-den. Wir treten aber auch dafür ein, dass die Diskussiontiefer gehen muss. Es darf nicht nur um Geldfragen ge-hen. Mit Geld allein sind die Probleme Afrikas ebennicht zu lösen. Ganz im Gegenteil: Wir müssen weiterdenken und Konzepte anbieten und darüber diskutieren,wie ein mit Rohstoffen so reich gesegneter Kontinentwie Afrika viel mehr aus eigenen Kräften in der Lagesein kann, etwas daraus zu machen. Ich glaube, wir müs-sen einfach erkennen, dass eine schlechte Regierungs-führung auch in Afrika ein Hauptübel ist. Der Run aufdas Öl und andere Rohstoffe macht viele – auch unsere

eigenen – Anstrengungen für eine gute Regierungsfüh-rung oft kaputt.

Meine Damen und Herren, ich möchte natürlich auchdie vielen nicht staatlichen Akteure, die für die Entwick-lungszusammenarbeit so wichtig sind – Kirchen, Nicht-regierungsorganisationen, Stiftungen und viele andere –erwähnen. Sie sind für diesen Prozess des Strukturwan-dels, für den Aufbau von Zivilgesellschaften und für dieInitiierung von gesellschaftlichen Prozessen, die für eineauf Entwicklung zielende Politik entscheidend sind,wichtig.

Herr Königshaus, ich ziehe mir Ihren Schuh nicht an,dass wir in den zukünftigen Haushaltsberatungen allesabnicken. Das ist ein Schmarren. Wir werden über dieeine oder andere Änderung in den weiteren Beratungenim Detail und sehr konstruktiv diskutieren. Wir solltengerade diese Nichtregierungsorganisationen und Stiftun-gen, die im Koalitionsvertrag erwähnt sind, und anderedadurch stärken, dass wir hier Akzente setzen. Danebenmüssen wir neue Akzente in dem Bemühen setzen, dieSchöpfung zu bewahren.

So ist der Regierungsentwurf für das Haushaltsjahr2007 ein Entwurf, der neue Akzente setzt.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Ruck, sehen Sie bitte auf die Uhr.

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Jawohl, Frau Präsidentin. – Selbstverständlich wer-

den auch wir Akzente setzen. Darauf können Sie sichverlassen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel, Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Heike Hänsel (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Entwicklungsetat soll für 2007 erhöht werden. Dasist natürlich zu begrüßen. Wer könnte etwas dagegen sa-gen? Wir selbst fordern das auch. Allerdings ist völligklar, dass allein mehr Geld überhaupt nichts über dieQualität von Entwicklungszusammenarbeit aussagt undkeine Garantie für die friedliche Entwicklung und dieVerbesserung von Lebensverhältnissen bietet. Entwick-lungspolitik findet immer vor dem Hintergrund konkre-ter politischer Rahmenbedingungen statt, die vor allemdurch wirtschafts- und außenpolitische Entscheidungenfestgelegt werden.

Wir haben heute viel über den Krieg im Libanon unddie Situation im Nahen Osten gehört. Dort zeigt sich,dass wir im Grunde eine völlig andere Außenpolitik be-nötigen, wenn wir ernsthaft Entwicklung für die Men-schen in der Region ermöglichen wollen. Herr Kauder

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Heike Hänsel

hat in diesem Zusammenhang heute mehrmals einenSpruch verwandt, den er von Erwin Teufel abgekupferthat: „Politik beginnt mit dem Erkennen der Realität.“

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jetzt hat es auch bei Ihnen gedämmert!)

Allerdings hat er dabei selbst Teile der Realität einfachausgeblendet.

Der Nahe Osten ist eine der am höchsten gerüstetenRegionen der Welt. Nur ganz wenige aber sprechen da-rüber, woher diese Waffen kommen. Zahlreiche deutscheFirmen liefern mit Genehmigung der BundesregierungWaffen in diese Krisenregion, und zwar an alle Seiten.Bereits im Juli listete ein sehr guter Bericht des Magazins„Monitor“ zahlreiche dieser Waffenexporte auf, die un-ter anderem nach Ägypten, Jordanien, Kuwait und Saudi-Arabien gingen. Bilder zeigten palästinensische Hamas-Kämpfer mit deutschen Maschinenpistolen und G-3-Sturmgewehren. Es ist interessant, dass ausgerechnetVolker Kauder immer ein Lobbyist von Heckler & Kochwar, dem Hersteller der G-3-Gewehre,

(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Na, na! Das müssen Sie nachweisen!)

weil er sich stets für den Erhalt deutscher Arbeitsplätzein dieser Firma eingesetzt hat.

Wer weiß, wo diese G-3-Gewehre sonst noch gelan-det sind? Es gab nämlich auch offizielle Lizenzen für de-ren Produktion in Pakistan, Saudi-Arabien und Iran. Wo-her kommen die Waffen der Hisbollah?

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie wissen, dass das vor 1975 war!)

Iran ist der Hauptwaffenlieferant der Hisbollah. Ange-sichts dessen stellt sich die Frage, wer die Verantwor-tung für die Aufrüstung in dieser Region übernimmt.

Wir fordern einen sofortigen Stopp sämtlicher Waffen-exporte in diese Region und in sämtliche andere Krisen-regionen. Wer Waffen exportiert, ist immer mit dafürverantwortlich, dass sie eingesetzt und mit ihnen Men-schen getötet werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Das betrifft natürlich auch die andere Seite, in diesemFall Israel. Es gibt Lieferungen deutscher U-Boote an Is-rael und von deutscher Technik für israelische Kampf-panzer und Kampfjets. Diese Waffen wurden im Krieggegen den Libanon und sie werden in den besetzten pa-lästinensischen Gebieten eingesetzt, zum Beispiel imGazastreifen. In zahlreichen Fällen wurde zivile Infra-struktur bombardiert; ebenso wird die Zivilbevölkerungbombardiert. Es ist ganz klar, dass auch wir Verantwor-tung dafür tragen.

Herr Ruck hat es gesagt: In den betroffenen Regio-nen, so in den palästinensischen Gebieten und im Liba-non, bauen wir mit EU-Geldern Entwicklungsprojekteauf – also auch mit deutschen Steuergeldern –, die an-schließend bombardiert und zerstört werden. Das Ab-surde daran ist, dass dies zum Teil mit deutschen Waffen

geschieht. Was ist das für eine Politik? Dies lehnen wirentschieden ab. Die Verantwortlichkeiten müssen hiernoch einmal klar benannt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Diese Politik hat sehr viele Menschen in der Region dasLeben gekostet.

Übrigens hat Herr Steinmeier geäußert, dass er unsereKritik an der Entsendung deutscher Soldaten in den Li-banon nicht ertragen könne. Als viel unerträglicher er-achte ich das Schweigen der Bundesregierung in denletzten Wochen hinsichtlich der Forderung nach einemsofortigen Waffenstillstand sowie die Bilder von AngelaMerkel und George Bush beim Grillfest in Stralsund justan dem Tag, an dem der Krieg gegen den Libanon be-gann.

(Beifall bei der LINKEN)

In diesem Zusammenhang möchte auch ich – wieschon zahlreiche andere heute – Ihnen, Frau Wieczorek-Zeul, unsere Unterstützung dafür zum Ausdruck brin-gen, dass Sie sich im Kabinett als Einzige für einen so-fortigen Waffenstillstand eingesetzt haben

(Beifall bei der LINKEN)

und dass Sie bei der UNO eine Untersuchung über denEinsatz von Streubomben gefordert haben.

Wir haben heute viel über internationale Verant-wortung gehört. Das ist eine Standardvokabel, die auchHerr Arnold vorhin benutzt hat. Vor allem die Kollegenaus dem Verteidigungsausschuss, aber auch die Außen-politiker verwenden den Begriff „internationale Verant-wortung“ gerne. Was aber bedeutet der Begriff, wenn eskonkret wird? Es geht immer nur um Militäreinsätze, imGrunde für deutsche Interessen. Das Wort Verantwor-tung wird nicht mehr anders verstanden.

Wir sind jedoch gewählt worden, um politische Ver-antwortung zu tragen und politische Lösungen für politi-sche Probleme zu entwickeln, aber nicht, um unsere Ver-antwortung an das Militär abzugeben. Das ist keinZeichen von Verantwortung; es ist vielmehr ein deutli-ches Zeichen von politischer Schwäche.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Beck?

Heike Hänsel (DIE LINKE): Nein, das gestatte ich nicht. Ich möchte jetzt fortfah-

ren.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Dann geht es auch schneller zu Ende!)

Wir sind jetzt fast am Ende der Debatte und ich habeheute selber schon sehr viel anhören müssen.

Ich möchte noch von unserer Ausschussreise berich-ten. Wir waren mit dem Ausschuss in Israel und in den

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Heike Hänsel

besetzten palästinensischen Gebieten. Ich denke, dieKolleginnen und Kollegen können es bestätigen: Mit ge-sundem Menschenverstand kann man erkennen, dass dieSituation der Unterdrückung bei den Palästinensern undPalästinenserinnen ständig Hass und damit auch Gewalt-bereitschaft erzeugt. Deshalb ist es überfällig – wirfordern das schon seit langem –, einen neuen umfassen-den Friedensprozess in der Region einzuleiten, an des-sen Ende zwei lebensfähige Staaten in sicheren Grenzenstehen müssen.

Es war viel vom Existenzrecht Israels die Rede, daswir ganz klar unterstützen. Aber das Existenzrecht alleinist noch keine Garantie für die Sicherheit der israeli-schen Bevölkerung. Dafür brauchen wir eine umfas-sende Friedenspolitik. Denn die Sicherheit der israeli-schen Bevölkerung und die Sicherheit der Palästinenserund der Libanesen sind zwei Seiten einer Medaille. Wirmüssen beide zusammen bedenken. Deshalb haben wirdie Verantwortung, uns für eine Friedenspolitik in dieserRegion einzusetzen.

Für mich war auf unserer Reise interessant, dass wirsehr viele mutige Menschen getroffen haben – Israel istauch eine multikulturelle Gesellschaft mit unterschiedli-chen Vorstellungen; Zehntausende haben gegen denKrieg in Israel demonstriert; das wird viel zu wenig er-wähnt –, die sich für einen Dialog auf palästinensischerwie auf israelischer Seite einsetzen. Diese Kräfte müssenwir unterstützen. Deshalb halte ich es für entscheidend,dass wir viel mehr Ressourcen in den Aufbau der Zivil-gesellschaft auf allen Seiten investieren.

Sparen wir uns die unsinnige Libanonmission, dieüberhaupt keinen Sinn hat! Wir sollten das eingesparteGeld stattdessen direkt in Friedensprojekte in der Regionund den Aufbau des Libanon investieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen dringend eine Logik des Friedens gegendie Logik des Krieges. Das haben wir in den letzten Wo-chen erlebt.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Wir brauchen eine Logik der Vernunft!)

Dazu kann die Entwicklungspolitik unserer Ansicht nacheinen entscheidenden Beitrag leisten. Es kann nicht sein,dass Militärmissionen uns jetzt sogar als humanitärerBeitrag und als Entwicklungsbeitrag verkauft werden.

Es ist entscheidend, dass wir konsequent eine zivilePolitik entwickeln.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.

Heike Hänsel (DIE LINKE): Viele Stimmen weltweit haben das längst erkannt. Sie

wurden bereits zitiert. Auch wir stehen auf dieser Seiteund halten es für unsinnig, wenn der Bundeswehretatnoch erhöht werden sollte. Wir setzen uns für eine aktiveFriedenspolitik ein.

(Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck[CDU/CSU]: Jetzt müssen Sie noch etwas zumEinzelplan sagen!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich der Kol-

legin Beck.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Frau Kollegin, wer laut und aufgeregt argumentiert,hat nicht allein deswegen Recht. Wenn Sie vom Krieggegen den Libanon sprechen, dann möchte ich das imDeutschen Bundestag so nicht stehen lassen.

Jeder, der sich mit der Frage beschäftigt, muss wissen– auch Sie als Parlamentarierin sollten das wissen –, dassdie Hisbollah über Jahre hinweg im Süden des Libanon,als dort nach dem Abzug der israelischen Truppen einpolitisches Vakuum entstanden war, Raketen aufgebauthat, mit denen ständig, und zwar über einen langen Zeit-raum, Angriffe auf den Norden Israels geflogen wordensind.

Es war dann die Entführung von zwei israelischenSoldaten auf israelischem Boden und die Tötung vonacht Soldaten, die dazu geführt haben, dass Israel ange-fangen hat, sich zur Wehr zu setzen. Das will ich in die-sem deutschen Parlament richtig stellen. Es ging nichtum einen Krieg gegen den Libanon. Wir wissen, dass dielibanesische Regierung mit der schwierigen Situation le-ben musste, nicht mehr die Souveränität über das ganzeLand zu haben. Das ist die Situation, in der nun die inter-nationale Truppe ihre Funktion erfüllen soll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin Hänsel, Sie dürfen erwidern.

Heike Hänsel (DIE LINKE): Frau Beck, das sehe ich ganz anders. Die Menschen

im Libanon, die fast vier Wochen bombardiert wurden,dürften das ebenfalls anders sehen. In meinen Augenwar es ein Angriffskrieg gegen die gesamte Bevölkerungdes Libanon. Hat dieser Krieg die Hisbollah in irgendei-ner Form ausgeschaltet? Nein. Die Hisbollah existiertweiter. Es war ein gezielter Krieg gegen die zivile Infra-struktur – das sagt Amnesty International –, und zwarunter Inkaufnahme von über 1 000 toten Menschen inder Region. Das kann man nicht als einen Krieg gegendie Hisbollah bezeichnen. Egal welche internationaleStimme Sie nehmen, es war ein Krieg gegen die gesamteBevölkerung des Libanon.

(Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck[CDU/CSU]: Es ist schrecklich, dass so eineim Deutschen Bundestag sitzt!)

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Ute Koczy, Bündnis 90/

Die Grünen.

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und

Herren! Zum Haushalt des Bundesministeriums fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:7,8 Prozent Steigerung der Barmittel, ich finde, dies istein Schritt in die richtige Richtung. Dass auch Mittel be-treffend die Verpflichtungsermächtigungen für die bila-terale staatliche Entwicklungszusammenarbeit 2007 um430 Millionen Euro angehoben werden, ist ebenfallsrichtig.

Ein Blick zurück, auf den Haushalt 2006, zeigt aber,in welchem Zustand sich die Finanzierung der Entwick-lungszusammenarbeit der Bundesregierung befindet: indem der Orientierungslosigkeit; denn noch in diesemJahr haben Sie die Mittel betreffend die Verpflichtungs-ermächtigungen für die bilaterale Entwicklungszusam-menarbeit um 130 Millionen Euro gekürzt. Das nenneich einen Zickzackkurs. Die Regierung müsste doch wis-sen: Um nach dem EU-Zeitplan das 0,7-Prozent-ODA-Ziel zu erreichen, kann sich Deutschland ein solchesHott und Hü gar nicht leisten. Uns läuft nämlich schonjetzt die Zeit davon. Unser gemeinsames Ziel ist die Um-setzung der Millennium Development Goals. Dabei istes wichtig, die Verpflichtungsermächtigungen genau insVisier zu nehmen; denn sie sind die Barausgaben vonmorgen und die Grundlage für neue Kooperationsange-bote, die Sie heute den Entwicklungsländern in den Re-gierungsverhandlungen machen können.

Tun Sie, was Sie sich selbst im Koalitionsvertrag vor-genommen haben! Sie wollen den EU-Stufenplan mit derErhöhung der Haushaltsmittel, der Entschuldung der Ent-wicklungsländer und mittels der Einführung innovativerFinanzierungsinstrumente umsetzen. Wir unterstützenSie dabei nach besten Kräften. Damit Sie aber in Bewe-gung kommen, haben wir Ihnen eine Brücke gebaut undeinen Antrag auf Einführung einer Flugticketsteuer inden Bundestag eingebracht. Mit diesem Antrag tun wirnichts anderes, als Ihnen Ihre Koalitionsvereinbarungund die Erklärungen Ihrer Kanzlerin zur Entwicklungsfi-nanzierung ins Gedächtnis zu rufen. Aber was tun Sie?Sie verhindern mit der Koalitionsmehrheit die Befassungmit diesem Antrag in den Ausschüssen, auch im AwZ-Ausschuss.

Sie begehen damit einen großen Fehler. Sie machensich international unglaubwürdig. Sie können nicht jah-relang mit unseren Partnern über innovative Finanzie-rungsinstrumente diskutieren und sich in der Pilotgruppefür die Einführung von Solidaritätsbeiträgen zugunstenvon Entwicklung tummeln, um dann, wenn andere wiebeispielsweise Frankreich, Brasilien und Südkorea Ernstmachen, unterzutauchen. Mittlerweile sind es schon18 Länder, die eine Ticketabgabe eingeführt oder dieseverbindlich beschlossen haben. Dabei ist zum BeispielSchweden gar nicht mitgezählt. Sie könnten in Deutsch-land durch eine Flugticketsteuer – wenn wir das Mini-

malmodell Frankreichs zugrunde legen – mindestens300 Millionen Euro jährlich mobilisieren.

Würden Sie es so machen wie die Schweden, kämesogar knapp 1 Milliarde Euro heraus. Die Briten habenbereits seit 1994 eine Flugticketabgabe und erwirtschaf-ten damit heute jährlich 1,45 Milliarden Euro.

Es sind nicht allein die zusätzlichen Mittel, die dieFlugticketabgabe so bedeutend machen. Das Besonderedaran ist – das wissen Sie –, dass es eine internationalverabredete gemeinsame Initiative von Industrie- undEntwicklungsländern ist und dass die Mittel sehr konti-nuierlich und sehr verlässlich sprudeln. Weder in Groß-britannien noch in Schweden hat die Abgabe zu Einbrü-chen im Flugverkehr geführt. Das sage ich denen, diedagegen sind. Ganz im Gegenteil, der Flugverkehr istsehr gewachsen und bedarf schon allein aufgrund derGerechtigkeit gegenüber anderen Transportmitteln einerzusätzlichen Besteuerung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich zum Haushaltsentwurf 2007 hinzu-fügen: Wir brauchen mehr Mittel für die ländliche Ent-wicklung, für Grundbildung, für die Bekämpfung vonHIV/Aids, Malaria und Tuberkulose. Wir müssen Frauenstärken, dafür sorgen, dass Frauen Verantwortung in derGesellschaft übernehmen können, und den Kampf gegenGewalt und Vergewaltigung intensivieren. Wir brauchenUmsetzungsstrategien für die Einführung erneuerbarerEnergien und den Ressourcenschutz in den Entwick-lungsländern. Ich sehe in Richtung Christian Ruck undunterstreiche, dass wir mit der Ausrichtung der Vertrags-staatenkonferenz zum Schutz der biologischen Vielfalt2008 in Deutschland eine große Verantwortung haben,unsere Kooperation aufzubauen.

Wir müssen sowohl die staatliche Entwicklungszusam-menarbeit als auch die wertvolle Arbeit von Nichtregie-rungsorganisationen entschieden stärken. Wenn ich mir denHaushaltsentwurf anschaue, dann stelle ich fest: Für dieseGruppen, für die Nichtregierungsorganisationen – nichtfür die Kirchen und Stiftungen; die meine ich nicht –, fürdie nicht staatlichen zivilen gesellschaftlichen Gruppenhaben wir nichts im Haushalt. Dem Titel für private Trä-ger wurden weder 2006 noch 2007 zusätzliche Barmittelzur Verfügung gestellt. Hier besteht dringender Nachhol-bedarf.

(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Das heißt nicht, dass wir nichts haben!)

– Alle anderen wurden erhöht, Herr Kollege, aber in die-sem Bereich gibt es nur gute Worte und keine Taten.

(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Da ist aber etwas!)

Ich finde, das ist verkehrt. Das muss geändert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ebenso meine ich, dass die entwicklungsorientierte Not-und Übergangshilfe besser ausgestattet werden muss.Hier muss endlich etwas passieren.

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Ute Koczy

Ich wiederhole es gerne: Der von Ihnen vorgelegteEntwurf für den Einzelplan 23 weist zwar in die richtigeRichtung; trotzdem wird nicht erkennbar, wie Sie das0,7-Prozent-Ziel erreichen wollen. Dafür ist ein jährli-cher Mittelzuwachs von 1 Milliarde Euro für die ge-samte öffentliche Entwicklungszusammenarbeit bis2015 nötig. Mit Trippelschritten ist dies nicht zu ma-chen.

Die Kanzlerin hat hier im Bundestag ihr Bekenntniszum EU-Stufenplan mit folgenden Worten bekräftigt:

Ich weiß, was ich da sage. Das sind ganz anspruchs-volle Ziele. Aber wir müssen lernen: Die Problemeereilen uns im Inland, wenn wir es nicht schaffen,die Probleme anderswo einer Lösung zuzuführen.

Das ist ein Auftrag auch an die Entwicklungszusam-menarbeit. Das ist ein Auftrag an uns. Wir haben eineganze Menge zu tun. Den Sätzen ist nichts hinzuzufü-gen, außer dass wir nicht nur schöne Worte hören wol-len, sondern couragierte Taten erwarten. Die stehen im-mer noch aus.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Dr. Bärbel Kofler, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Bärbel Kofler (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Wenn man den Worten der Opposition gefolgt ist,dann könnte man meinen, zu dem Haushaltsentwurf, derjetzt eingebracht worden ist und über den wir heute inerster Lesung, Herr Königshaus, diskutieren, wäre nichtsPositives anzumerken oder es wäre ein schlechter Ent-wurf. Ich muss sagen: Das Gegenteil davon ist der Fall.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Lassen Sie uns auf den Haushaltsentwurf zurückkom-men. Wir haben im Haushalt 2007 einen Aufwuchs von7,8 Prozent. Das sind 324 Millionen Euro, um es deut-lich zu machen. Das ist neben dem Etat des Familienmi-nisteriums der zweitgrößte Aufwuchs aller Ministerien.Auch das ist wichtig und richtig. Wie die Ministerin zuRecht betont hat, ist es eine Zukunftsinvestition, ein in-vestiver Haushalt, ein Haushalt, in dem sich die Aus-einandersetzung mit den Problemen dieser globalisiertenWelt widerspiegelt. Deshalb ist dieser Aufwuchs vonganz besonderer Bedeutung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Dieser Haushalt ist auch ein Zeichen dafür, dass wirals Regierungskoalition das im Aktionsplan festge-schriebene Ziel, die ODA-Quote bis 2015 auf0,7 Prozent zu erhöhen, ernst nehmen, Frau Koczy. Dakönnen Sie uns etwas Vertrauen entgegenbringen.

(Gabriele Groneberg [SPD]: Eben! Das wäre einmal angebracht!)

Wir haben in diesem Haushalt einige wesentlichePunkte aufgegriffen, die die bilaterale Entwicklungszu-sammenarbeit angehen. Ich verweise auf die TechnischeZusammenarbeit. Die entsprechenden Verpflichtungs-ermächtigungen wurden ganz deutlich aufgestockt, näm-lich um 430 Millionen Euro. Das war ebenfalls richtigund wichtig. Es ist lange gefordert worden. Auch dasmuss man der Ehrlichkeit halber sagen. Es war dringendnötig und verschafft den Durchführungsorganisationendie nötige Planungssicherheit für ihre zukünftigen Pro-jekte. Auch daran wird die langfristige Planung sichtbar.

(Beifall bei der SPD)

Frau Hänsel, Sie haben sicherlich Recht: Allein mehrGeld bringt es noch nicht. Ich möchte anhand einigerPunkte, die gerade unsere bilaterale Entwicklungszu-sammenarbeit betreffen, deutlich machen, dass wir beimHaushalt sehr wohl auf Qualität setzen. Der Barmittelan-satz bei der bilateralen EZ steigt um 10 Prozent. Wa-rum steigt er? Weil wir mit diesen Mitteln zu Recht diegute Arbeit unserer Durchführungsorganisationen för-dern wollen und müssen.

An dieser Stelle möchte ich vonseiten der SPD-Frak-tion den Durchführungsorganisationen – seien es KfW,GTZ, INWENT, DED, CIM, Stiftungen, Kirchen oderviele andere Nichtregierungsorganisationen – noch ein-mal ein Lob für ihre wirklich hervorragende Arbeit aus-sprechen. Ich denke, auch in einer Haushaltsdebatte istes angemessen, dies einmal zu sagen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und derFDP – Hellmut Königshaus [FDP]: Wer willda widersprechen?)

– Herr Königshaus, bei Ihnen bin ich mir nicht so sicher.Sie widersprechen bei allem.

(Hellmut Königshaus [FDP]: Ich habe ge-klatscht! Sogar ganz laut!)

Unser Ausschuss hat sich für seine Arbeit sehr wich-tige Ziele gesetzt. Sehr wichtige Ziele enthält auch die-ser Haushaltsentwurf: Bekämpfung der Armut,Millennium Development Goals. Wir waren auf unse-ren Reisen zum Beispiel in China und haben gesehen,wie sinnvolle Projekte durch die Arbeit der Durchfüh-rungsorganisationen, durch das, was wir für die bilate-rale Zusammenarbeit finanziell zur Verfügung stellen,geschaffen werden, die gerade den ländlichen Raum un-terstützen, die gerade dazu beitragen, nachhaltige Wirt-schaftsentwicklungen zu fördern, Menschen in die Situa-tion zu versetzen, sich selbst zu helfen, aber auchDemokratie und zivilgesellschaftliche Strukturen zu för-dern. Das sind wichtige Punkte, die man nicht einfachmit dem Satz „Na ja, durch unsere EZ passiert ja nichtsWichtiges“ abtun kann. Wir tragen hier wirklich zuStrukturveränderungen in den Partnerländern, auch imDialog mit diesen Ländern, bei. Auch damit leisten wireinen Beitrag zur Erreichung der Millennium Develop-ment Goals.

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Dr. Bärbel Kofler

Ich möchte anhand von zwei Haushaltstiteln nochdarauf eingehen, dass wir sehr wohl Strukturveränderun-gen anstoßen und besondere Beiträge leisten. FrauKoczy, Sie haben angesprochen, dass Zuhörer den Ein-druck haben könnten, dass keine Mittel für zivilgesell-schaftliche Organisationen und private Träger in diesemEinzelplan vorgesehen sind. So mag es jemandem er-scheinen, der diesen Haushalt nicht kennt. Ich darf daranerinnern, dass dafür ungefähr 480 Millionen Euro zurVerfügung stehen.

Ein Titel betrifft die Förderung der Sozialstrukturen.Auch dieser Titel wird in diesem Haushaltsentwurf auf-gestockt. Ich finde übrigens, es ist ein sehr wichtiger Ti-tel, weil durch ihn Mittel gerade für Institutionen zurVerfügung gestellt werden – ich verweise in diesem Zu-sammenhang auf das Bildungswerk des DGB –, die sichmit den Fragen von Sozialstandards, von Kernarbeits-normen auseinander setzen. Das sind Fragen, die wahr-scheinlich sehr viele Menschen innerhalb und außerhalbdieses Saales bewegen. Dabei geht es darum, wie wirweltweit das Verbot von Kinderarbeit und Zwangsarbeitdurchsetzen, wie wir entsprechende Arbeitnehmerrechteund Verbote der Diskriminierung am Arbeitsplatz orga-nisieren.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU])

Auch das ist ein Titel, der in diesem Haushaltsentwurfaufwächst. Ich finde das positiv. Das ist auch etwas, wasvon der SPD-Arbeitsgruppe sehr positiv aufgenommenwurde.

„Ziviler Friedensdienst“ ist ein weiterer Titel, derdeutlich aufwächst. In vielen Beiträgen, auch außenpoli-tischen Beiträgen, heute ist deutlich angeklungen, wiewichtig die Arbeit ziviler Friedensdienste in den ver-schiedensten Krisenregionen dieser Erde ist. Ich bin sehrfroh darüber, dass dieser Titel aufwächst, bei den Bar-mitteln und noch deutlicher bei den Verpflichtungser-mächtigungen. Damit wird eine Richtung für die nächsteZeit aufgezeigt und deutlich gemacht, dass wir Krisen-prävention, Konfliktnachsorge bei traumatisierten Men-schen und Ausgleich zwischen ehemaligen Konfliktpar-teien mit den Mitteln in unserem Haushalt besondersunterstützen wollen.

Wenn man das alles in einer Zusammenschau sieht,dann stellt man fest: Der Entwurf des Haushalts 2007,den wir jetzt diskutieren, weist einen ordentlichen Mit-telaufwuchs auf. Die Verpflichtungsermächtigungen si-chern ordentliche Beiträge für die Zukunft. Mit demBarmitteleinsatz für die bilaterale EZ werden deutlicheAkzente gesetzt. Deshalb ist dieser Haushalt ein richti-ger und wichtiger Schritt für unsere Entwicklungszu-sammenarbeit in der Zukunft.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zur mul-tilateralen EZ und zur künftigen Finanzierung machen.Herr Königshaus, ich habe schon fast befürchtet, dassSie wieder den EEF ansprechen. Es ist richtig und wich-tig, dass man sich mit europäischen Themen und euro-

päischen Fonds auseinander setzt. Der Kollege Ruck hataber sehr richtig gesagt: Man muss dabei bereit sein,auch einmal Knochenarbeit zu leisten. Man darf Kritiknicht nur in der Form üben, dass man den Fonds inBausch und Bogen verurteilt.

Zur Erinnerung sollte man noch einmal sagen:78 Länder, die AKP-Staaten – Afrika, Karibik, Pazifik –,sind die Hauptprofiteure des EEF. Es ist richtig undwichtig, dass wir uns mit diesen Ländern beschäftigenund ihnen Mittel zur Verfügung stellen. Wer, wenn nichtdie Europäische Union, sollte das tun? Es betrifftschließlich unseren Nachbarkontinent Afrika. Wir wer-den mit den Problemen Afrikas konfrontiert und werdenauch mit europäischer Entwicklungspolitik dort tätigwerden müssen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Königshaus?

Dr. Bärbel Kofler (SPD): Natürlich.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das verlängert doch nur die Redezeit!)

– Eben.

Hellmut Königshaus (FDP): Wir hatten, glaube ich, gar keinen Dissens darüber,

dass alle diese Länder im Fokus sein müssen und dasswir dort, wenn erforderlich, auch helfen müssen. DieFrage ist nur: Muss das außerhalb der öffentlichen Haus-halte stattfinden? Muss das in einer Konstruktion ge-schehen, die parlamentarischer Kontrolle entzogen ist?Muss das in einer Form passieren wie hier, wo völlig un-durchschaubar ist, wer entscheidet, wie entschieden wirdund wann Mittel abgerufen werden? Darüber habe ichgesprochen. Ich habe doch gar nicht über die Ziele gere-det.

Dr. Bärbel Kofler (SPD): Das ist die alte Strategie: Zuerst stellt man pauschal

etwas in den Raum und im Nachhinein, bei der erstenReplik, rudert man mit seinen Äußerungen ein bisschenzurück. Aber ich antworte gerne auf die Frage.

Es geht natürlich darum: Wie können wir die Politikfür die AKP-Staaten – Afrika, Karibik, Pazifik – in euro-päische Politik integrieren? Wenn es nicht sofort undeinfach möglich ist, dies im EU-Haushalt zu tun – auchdas bedarf der Abstimmung und der Koordination mitanderen Staaten –, dann ist es wichtig, weiter die finan-ziellen Mittel und die Möglichkeiten zu haben, die derEEF bietet.

Was beim 10. EEF erreicht worden ist, was zum Bei-spiel die Frage der so genannten Sunset-Clause angeht,steht in der Antwort auf die Anfrage der FDP.

(Gabriele Groneberg [SPD]: Das hat er nicht gelesen!)

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Dr. Bärbel Kofler

– Das ist meist der Punkt. Aber ich zitiere das gernenoch einmal.

(Hellmut Königshaus [FDP]: Ich rede über die 4 Milliarden aus dem 8. und 9.!)

– Dann auch dazu noch einmal. Gehen wir auf den9. und 10. EEF ein. Nach dem Ende der Laufzeit sindkeine Mittel mehr abrufbar. Deckungsfähigkeit bestehtnur noch mit Titeln des VN-Etats, nicht mehr mit sol-chen der bilateralen EZ.

Was die Evaluierung anbelangt: In der Antwort, dieSie von der Bundesregierung bekommen haben, stehtdeutlich, dass zum Beispiel Europe-Aid jährlich eineEvaluierung von Projekten vornimmt. Diese Evaluie-rung kann man sich auf der Internetseite von Europe-Aidansehen. Auch das ist ein Beitrag zur Transparenz. Esbesteht durchaus die Möglichkeit, einmal einen Blickdarauf zu werfen, Herr Königshaus.

(Beifall bei der SPD – Hellmut Königshaus[FDP]: Dann können wir ja gleich das Parla-ment abschaffen und alles Europe-Aid überlas-sen! – Walter Riester [SPD]: Setzen, fünf!)

Auch zur Flugticketabgabe einige Ausführungen;denn es ist natürlich eine wichtige Frage, wie wir zu-künftige Haushalte gestalten und wie wir den Mittelauf-wuchs, den wir alle dringend wollen und brauchen, fürunseren Etat bewerkstelligen können. Sie wissen alle,dass sich die Regierung im Februar/März dieses Jahresin Paris ganz aktiv an der Diskussion über innovativeFinanzierungsinstrumente beteiligt hat. Sie wissen, dasswir an der Leading Group beteiligt sind und dort ganzentscheidend mitwirken, um diese innovativen Finanzie-rungsinstrumente umsetzen und aufgreifen zu können,möglichst auf breiter Basis; denn je mehr mitmachen,umso erfolgreicher ist das Ganze.

(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Andere machen es schon!)

Sie haben ja selber gerade ein paar Beispiele dafür aus-geführt.

Wer sich den Finanzplan der Bundesregierung an-sieht, wird feststellen, dass die innovativen Finanzie-rungsinstrumente auch dort deutliche Erwähnung finden.Es ist vollkommen unstrittig, dass wir zur Erreichungdes 0,7-Prozent-Kriteriums diese innovativen Finanzie-rungsinstrumente brauchen. Das haben wir als SPD-Ar-beitsgruppe bei der letzten Haushaltsberatung gesagt unddas sagen wir selbstverständlich auch bei dieser Haus-haltsberatung. Ebenso stehen wir nach wie vor unverän-dert zur Flugtickettax.

Ich möchte noch auf Ihren Antrag eingehen. Der An-trag, den Sie gestellt haben, ist nicht verhindert – er wirdim Ausschuss debattiert –, sondern vertagt worden, weiles da um eine Entscheidung geht, die man nicht übersKnie brechen kann, die man nicht am Rande einer Sit-zung kurz vor der Sommerpause in fünf Minuten abhan-deln kann, sondern die gebührender Aufmerksamkeit inden Beratungen bedarf. Die wird sie in der nächsten Zeit

in den Ausschussberatungen auch bekommen; da bin ichvollkommen sicher.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg.Dr. Christian Ruck [CDU/CSU] – Ute Koczy[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es hieß, wirbekommen es nach der Sommerpause, undjetzt haben wir nach der Sommerpause und esist nichts! – Gegenruf des Abg. Dr. SaschaRaabe [SPD]: Wir haben Haushaltswoche,Frau Koczy!)

– Frau Koczy, es ist die erste Woche nach der Sommer-pause; wir klären das.

Zusammenfassend möchte ich –

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, Sie sehen aber schon, dass Sie Ihre Re-

dezeit deutlich überschritten haben.

Dr. Bärbel Kofler (SPD): – ich bin beim letzten Satz – deutlich darauf hinwei-

sen, dass der Haushalt 2007 ein guter Haushalt ist. Ichdenke, wir werden in den Beratungen noch einige As-pekte der Fachpolitiker positiv einbringen können. Ichfreue mich auf die interessante Debatte zur Flugticket-abgabe und zu anderen Punkten in den nächsten Wochenim Ausschuss.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und einDank geht an die Ministerin für ihr Engagement.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Hartwig Fischer, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir sind am Ende eines Debattentages, an dem wir denKanzlerhaushalt, den Haushalt des Außenministeriums,des Verteidigungsministeriums und jetzt der wirtschaftli-chen Zusammenarbeit diskutieren. Wer die Debatte überden gesamten Tag verfolgt hat, hat festgestellt, dassdiese Koalition ganz deutlich Politik aus einem Gussmacht. Das begann bei der internationalen Diplomatie,die die Kanzlerin angesprochen hat, ging über die Prä-ventionsdiplomatie, von der der Außenminister gespro-chen hat, und das Einbinden der Friedensmission durchVerteidigungsminister Jung in diese Diplomatie bis hinzur Eröffnung dieser Debatte durch unsere Ministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Nach meiner persönlichen Überzeugung zeigt sich füruns ein großes Problem. Wir haben in den vergangenenJahren Naturkatastrophen erlebt, bei denen unser Minis-terium als Reparaturbetrieb herhalten musste. Es gibteine Vielzahl von bewaffneten Konflikten; auch da wirddieses Ministerium zu Reparaturarbeiten herangezogen.

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Hartwig Fischer (Göttingen)

Das heißt, wir machen humanitäre Entwicklungspolitikund Krisenreaktion. Leider werden dadurch die Mitteleingeschränkt, die man bräuchte, um stärker perspekti-visch tätig zu werden. Wir müssen versuchen, auf demWege internationaler Diplomatie dahin zu kommen, dasswir mehr Mittel und Kapazitäten in den Bereich der Prä-vention einbringen können.

Man muss sich einmal vor Augen führen, wie vieleKonflikte wir derzeit auf dieser Erde haben. Insgesamtsind es 39 Konflikte; die meisten in Entwicklungslän-dern. 90 Prozent der Konflikte seit 1945 haben in derDritten Welt stattgefunden. 15 kriegerische Konfliktegibt es derzeit in Asien und elf in Afrika.

Meine Damen und Herren, das zeigt die besonderenHerausforderungen in der Folge der Konflikte für die Di-plomatie, aber auch für uns alle. Das heißt: Wir müssendie Entwicklungszusammenarbeit in Teilbereichen zen-tralisieren und effektiver gestalten.

Wir haben beschlossen, in Zukunft mit weniger Staa-ten zusammenzuarbeiten. Wir wollen die Zusammenar-beit auf 60 Staaten reduzieren. Das bedeutet eine stär-kere Kooperation mit der EU und eine stärkereKooperation mit anderen Ländern. Wir müssen eine in-ternationale Arbeitsteilung vornehmen. Nicht jeder kannin jedem Land arbeiten; vielmehr sollten wir uns auf dieBereiche konzentrieren, in denen wir am besten Schwer-punkte setzen können, also insbesondere auf die Berei-che Infrastruktur, Grundversorgung bei Wasser und Nah-rung sowie Bildung und Gesundheit. Es bedeutetinsbesondere aber auch Capacity-Building bei der Unter-stützung von Staaten, um in weiten Bereichen vonschlechter Regierungsführung zu besserer Regierungs-führung zu kommen.

Wir müssen uns multilateral engagieren. Dazu gehörtauch – das ist eine besondere Aufgabe, der wir uns stär-ker stellen müssen –, dass wir personell in den interna-tionalen Institutionen mit eingebunden sind, damit wirfrühzeitig auf diese Projekte einwirken können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir sollten bei der Auseinandersetzung um die Ent-wicklungszusammenarbeit die deutschen Interessen mitin den Vordergrund stellen, damit die Partner wissen,dass wir Entwicklungspolitik auch im eigenen Interessemachen. Es gibt humanitäre Gründe, aber es gibt vor al-len Dingen auch Gründe, die wir derzeit jeden Tag anunseren Grenzen oder im Augenblick auf den kanari-schen Inseln erleben.

Die Migration hat erschreckende Ausmaße ange-nommen. Migration ist ein Zeichen von Armut und vonHoffnungslosigkeit. Lassen Sie mich nur die Zahlen derletzten Tage noch einmal nennen: 399 Flüchtlinge am4. September, 1 433 Flüchtlinge am vergangenen Wo-chenende, 5 880 Flüchtlinge derzeit auf den kanarischenInseln. Weltweit gibt es zurzeit zwischen 20 Millionen– nach Angaben des UNHCR – und 40 Millionen – nachAngaben anderer Stellen – Flüchtlinge, davon über10 Millionen Flüchtlinge in Lagern. Das sind Menschen,

die keine Hoffnung haben, und am meisten leiden darun-ter die Kinder.

Wir wissen, dass von den 15 Ländern mit der höchs-ten Kindersterblichkeit allein 14 Länder in Afrika sind.Wir wissen, dass jährlich 4 Millionen Kinder an Krank-heiten sterben, die auf verschmutztes Trinkwasser undauf mangelnde Hygiene zurückzuführen sind. Was sinddenn die Folgen der Mangelernährung? Jährlich sterbennoch immer 1,5 Millionen Babys, weil sie nicht gestilltund daher nicht ausreichend versorgt werden. Rund50 Millionen Kinder bleiben durch Jodmangel in ihrergeistigen Entwicklung zurück. Jährlich erblinden über500 000 Kinder infolge von Vitamin-A-Mangel.

Armut fördert Migration. Armut macht anfällig fürNeid und Hass. Armut bereitet einen Nährboden fürFundamentalismus, wie wir das im Umfeld von Flücht-lingslagern erleben. Arme in der Dritten Welt erleben inFernsehbildern virtuell unseren Wohlstand. In manchenLändern sehen die Menschen aus den Townships, dienicht genügend zu essen haben, über Satellit das Werbe-fernsehen, wenn sie zufällig an einem Fernsehgeschäftvorbeikommen. Dass ihre Hoffnungslosigkeit sie danndazu verleitet, unter Lebensgefahr in Booten ihre Länderzu verlassen, ist klar. Aber gleichzeitig können dieseMenschen zu einem Risiko in unseren Ländern werden.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Wieso denn?)

Deshalb müssen wir einen Schwerpunkt dabei setzen,Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten und diese Mittel konse-quent einzusetzen.

In diesem Zusammenhang will ich sagen, dass diedeutschen Nichtregierungsorganisationen, die von derGTZ umgesetzten Projekte und die Finanzierungspro-jekte ebenso wie die Unterstützung zum Beispiel durchdeutsche Polizisten beim Aufbau von Sicherheitssyste-men und durch deutsche Juristen beim Aufbau vonRechtssystemen in diesen Ländern ein hohes Ansehengenießen. Auch wenn das keine Sachprodukte, sondernmenschliche Leistungen sind, wird das in diesen Län-dern als „made in Germany“ angesehen und außer-ordentlich positiv besetzt. Deshalb erhoffe ich mir vonder Konzentration der Entwicklungszusammenarbeit aufdiese 60 Länder gleichzeitig eine Konditionierung desVerhaltens derjenigen Staaten, mit denen wir im Hin-blick auf Good Governance zusammenarbeiten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Beifall bei der FDP)

Lassen Sie mich noch auf Folgendes hinweisen: Werwie einige von Ihnen nicht nur die Situation in denKriegsgebieten in Asien – in Indien allein in fünf Provin-zen –, sondern auch im Kongo persönlich erlebt hat, werdie Hoffnung darauf setzt, dass dort durch die Wahlenein Friedensprozess in Gang gesetzt wird, der wird mitmir darin einig sein, dass wir jetzt eine Nachwahlstrate-gie zur Stabilisierung der dann gewählten Regierungvorbereiten müssen.

Das wäre zum Beispiel ein Projekt, bei dem man sichgemeinsam mit anderen europäischen Staaten so

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Hartwig Fischer (Göttingen)

engagieren kann, dass aus dieser Krisenregion mit über4 Millionen Toten in den vergangenen Jahren eine Zu-kunftsregion wird. Wenn man dann begleitend eine Roh-stoffökonomie betreibt, in deren Rahmen sich die Län-der international verständigen sollten – ich will diesausdrücklich sagen –, damit nicht ein Land wie Chinadort unkonditioniert Rohstoffe ausbeutet und andereLänder konditionierte Hilfen geben, wäre das nach mei-ner Überzeugung – ich sehe das Zeichen, dass ich aufhö-ren muss – einer der Ansätze für eine konstruktive Ent-wicklungszusammenarbeit.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf Donnerstag, den 7. September 2006, 9 Uhr,ein.

Ich wünschen allen hier im Hohen Hause einen schö-nen Abend.

Die Sitzung ist geschlossen.

(Schluss: 19.46 Uhr)

(D)

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Anlage zum Stenografischen Bericht

Anlage

Liste der entschuldigten Abgeordneten

(D)

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Adam, Ulrich CDU/CSU 06.09.2006*

Ahrendt, Christian FDP 06.09.2006

Bär, Dorothee CDU/CSU 06.09.2006

Bätzing, Sabine SPD 06.09.2006

Dr. Bartels, Hans-Peter SPD 06.09.2006

Bellmann, Veronika CDU/CSU 06.09.2006

Bodewig, Kurt SPD 06.09.2006*

Brase, Willi SPD 06.09.2006

Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

06.09.2006

Golze, Diana DIE LINKE 06.09.2006

Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 06.09.2006

* für die Teilnahme an der 15. Jahrestagung der Ostseeparlamenta-

rierkonferenz

Hilsberg, Stephan SPD 06.09.2006

Dr. Hofreiter, Anton BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

06.09.2006

Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

06.09.2006

Klug, Astrid SPD 06.09.2006

Kröning, Volker SPD 06.09.2006

Kühn-Mengel, Helga SPD 06.09.2006

Meckel, Markus SPD 06.09.2006

Polenz, Ruprecht CDU/CSU 06.09.2006

Zapf, Uta SPD 06.09.2006

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

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ISSN 0722-7980