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1 HUGO VON SANKT VIKTOR DIDASCALICON DE STUDIO LEGENDI 1 Aus: Hugo von Sankt Viktor , Didascalicon. De studio legendi. Studienbuch, lat./dt., übersetzt und eingeleitet von Thilo Offergeld (Fontes Christiani 27), Freiburg i.Br. 1997. INHALTSVERZEICHNIS Vorwort ................................................................................................................................................... 3 Erstes Buch............................................................................................................................................. 4 Kapitel 1: Der Ursprung der Wissenschaften ...................................................................................... 4 Kapitel 2: Philosophie ist das Streben nach Weisheit ....................................................................... 6 Kapitel 3: Die dreifache Potenz der Seele – Nur der Mensch ist mit Vernunft begabt ................. 6 Kapitel 4: Welche Bereiche zur Philosophie gehören........................................................................ 8 Kapitel 5: Der Ursprung der Theoretik, der Praktik und der Mechanik ........................................ 8 Kapitel 6: Die drei Arten von Dingen................................................................................................... 9 Kapitel 7: Die superlunare und die sublunare Welt ......................................................................... 10 Kapitel 8: Worin der Mensch Gott ähnlich ist .................................................................................. 10 Kapitel 9: Die drei Werke .................................................................................................................... 11 Kapitel 10: Was Natur ist ..................................................................................................................... 12 Kapitel 11: Der Ursprung der Logik ................................................................................................... 12 Zweites Buch......................................................................................................................................... 14 Kapitel 1: Die Unterscheidung der Wissenschaften ......................................................................... 14 Kapitel 2: Die Theologie ....................................................................................................................... 15 Kapitel 3: Die Mathematik .................................................................................................................. 16 Kapitel 4: Die Vierzahl der Seele ........................................................................................................ 17 Kapitel 5: Die Vierzahl des Körpers ................................................................................................... 18 Kapitel 6: Das Quadrivium .................................................................................................................. 18 Kapitel 7: Der Begriff „Arithmetik“ ................................................................................................... 19 Kapitel 8: Der Begriff „Musik“ ............................................................................................................ 19 Kapitel 9: Der Begriff „Geometrie“ ..................................................................................................... 19 Kapitel 10: Der Begriff „Astronomie“ ................................................................................................. 19 Kapitel 11: Die Arithmetik .................................................................................................................. 19 Kapitel 12: Die Musik ........................................................................................................................... 20 Kapitel 13: Die Geometrie .................................................................................................................... 20 Kapitel 14: Die Astronomie .................................................................................................................. 21 Kapitel 15: Definition des Quadriviums............................................................................................. 21 Kapitel 16: Die Physik.......................................................................................................................... 21 Kapitel 17: Das Spezifische der einzelnen Wissenschaften ............................................................. 22 Kapitel 18: Zusammenfassung des oben Gesagten ............................................................................. 23 Kapitel 19: Fortsetzung ......................................................................................................................... 23 Kapitel 20: Die Einteilung der Mechanik in sieben Wissenschaften ............................................ 24 Kapitel 21: Erstens: Die Tuchherstellung .......................................................................................... 24 1 Das Studienbuch – über das Studium des Lesens

Didascalicon - Hugo v. Sankt Viktor

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1

HUGO VON SANKT VIKTOR

DIDASCALICON DE STUDIO LEGENDI1

Aus: Hugo von Sankt Viktor , Didascalicon. De studio legendi. Studienbuch, lat./dt., übersetzt und

eingeleitet von Thilo Offergeld (Fontes Christiani 27), Freiburg i.Br. 1997.

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort ................................................................................................................................................... 3 Erstes Buch ............................................................................................................................................. 4

Kapitel 1: Der Ursprung der Wissenschaften ...................................................................................... 4 Kapitel 2: Philosophie ist das Streben nach Weisheit ....................................................................... 6 Kapitel 3: Die dreifache Potenz der Seele – Nur der Mensch ist mit Vernunft begabt ................. 6 Kapitel 4: Welche Bereiche zur Philosophie gehören ........................................................................ 8 Kapitel 5: Der Ursprung der Theoretik, der Praktik und der Mechanik ........................................ 8 Kapitel 6: Die drei Arten von Dingen ................................................................................................... 9 Kapitel 7: Die superlunare und die sublunare Welt ......................................................................... 10

Kapitel 8: Worin der Mensch Gott ähnlich ist .................................................................................. 10 Kapitel 9: Die drei Werke .................................................................................................................... 11 Kapitel 10: Was Natur ist ..................................................................................................................... 12 Kapitel 11: Der Ursprung der Logik ................................................................................................... 12

Zweites Buch ......................................................................................................................................... 14

Kapitel 1: Die Unterscheidung der Wissenschaften ......................................................................... 14 Kapitel 2: Die Theologie ....................................................................................................................... 15 Kapitel 3: Die Mathematik .................................................................................................................. 16 Kapitel 4: Die Vierzahl der Seele ........................................................................................................ 17 Kapitel 5: Die Vierzahl des Körpers ................................................................................................... 18 Kapitel 6: Das Quadrivium .................................................................................................................. 18 Kapitel 7: Der Begriff „Arithmetik“ ................................................................................................... 19 Kapitel 8: Der Begriff „Musik“ ............................................................................................................ 19 Kapitel 9: Der Begriff „Geometrie“ ..................................................................................................... 19 Kapitel 10: Der Begriff „Astronomie“ ................................................................................................. 19 Kapitel 11: Die Arithmetik .................................................................................................................. 19 Kapitel 12: Die Musik ........................................................................................................................... 20 Kapitel 13: Die Geometrie .................................................................................................................... 20 Kapitel 14: Die Astronomie .................................................................................................................. 21 Kapitel 15: Definition des Quadriviums............................................................................................. 21 Kapitel 16: Die Physik .......................................................................................................................... 21 Kapitel 17: Das Spezifische der einzelnen Wissenschaften ............................................................. 22 Kapitel 18: Zusammenfassung des oben Gesagten ............................................................................. 23 Kapitel 19: Fortsetzung ......................................................................................................................... 23 Kapitel 20: Die Einteilung der Mechanik in sieben Wissenschaften ............................................ 24 Kapitel 21: Erstens: Die Tuchherstellung .......................................................................................... 24

1 Das Studienbuch – über das Studium des Lesens

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Kapitel 22: Zweitens: Die Waffenschmiedekunst ............................................................................. 24

Kapitel 23: Drittens: Die Handelsschiffahrt ..................................................................................... 25 Kapitel 24: Viertens: Die Landwirtschaft .......................................................................................... 25 Kapitel 25: Fünftens: Die Jagd ............................................................................................................ 26 Kapitel 26: Sechstens: Die Medizin ..................................................................................................... 26 Kapitel 27: Siebtens: Die Theaterkunst .............................................................................................. 27 Kapitel 28: Die Logik als der viere Teil der Philosophie ................................................................ 27 Kapitel 29: Die Grammatik .................................................................................................................. 28 Kapitel 30: Die Argumentationslehre ................................................................................................. 28

Drittes Buch ......................................................................................................................................... 30

Kapitel 1: Ordnung und Methode in Studium und Wissenschaft ................................................... 30 Kapitel 2: Die Urheber der Wissenschaften ...................................................................................... 30 Kapitel 3: Welche Wissenschaften vornehmlich zu studieren sind ............................................... 32 Kapitel 4: Die zwei Arten von Schriften ............................................................................................ 33 Kapitel 5: Jeder Wissenschaft muß man das Ihre zukommen lassen ............................................ 34 Kapitel 6: Was für das Studium nötig ist ........................................................................................... 35 Kapitel 7: Die natürliche Auffassungsgabe ....................................................................................... 35 Kapitel 8: Die Ordnung beim Lesen .................................................................................................... 35 Kapitel 9: Die Methode beim Lesen .................................................................................................... 36 Kapitel 10: Die Meditation ................................................................................................................... 36 Kapitel 11: Das Gedächtnis .................................................................................................................. 37 Kapitel 12: Die sittliche Disziplin ...................................................................................................... 37 Kapitel 13: Die Demut .......................................................................................................................... 38 Kapitel 14: Der Eifer im Forschen ..................................................................................................... 39 Kapitel 15: Die vier übrigen Vorschriften ......................................................................................... 41 Kapitel 16: Ruhe .................................................................................................................................... 41 Kapitel 17: Untersuchung ..................................................................................................................... 41 Kapitel 18: Anspruchslosigkeit ............................................................................................................ 41 Kapitel 19: Fremde ................................................................................................................................ 42

Viertes Buch ......................................................................................................................................... 42

Kapitel 1: Das Studium der heiligen Schriften ................................................................................. 42 Kapitel 2: Ordnung und Zahl der Bücher .......................................................................................... 43 Kapitel 3: Die Verfasser der heiligen Bücher ................................................................................... 44 Kapitel 4: Was eine Bibliothek ist ...................................................................................................... 44 Kapitel 5: Die Übersetzer ...................................................................................................................... 45 Kapitel 6: Die Verfasser des Neuen Testamentes .............................................................................. 45 Kapitel 7: Die übrigen sind Apokryphen – Was sind Apokryphen? .............................................. 46 Kapitel 8: Die Bedeutung der Namen der heiligen Bücher ............................................................. 46 Kapitel 9: Das Neue Testament ............................................................................................................ 49 Kapitel 10: Die Kanontafeln ................................................................................................................ 49 Kapitel 11: Die Kanones der Konzilien .............................................................................................. 49 Kapitel 12: Es gibt vier Hauptsynoden ............................................................................................... 50 Kapitel 13: Die Begründer von Bibliotheken .................................................................................... 51 Kapitel 14: Welche Schriften authentisch sind ................................................................................ 51 Kapitel 15: Welche Schriften apokryph sind .................................................................................... 52 Kapitel 16: Einige Worterklärungen, die sich auf das Lesen beziehen ......................................... 53

Fünftes Buch ........................................................................................................................................ 54

Kapitel 1: Einige Besonderheiten der Schrift – Die Art, sie zu lesen............................................ 54 Kapitel 2: Der dreifache Wortsinn ..................................................................................................... 54 Kapitel 3: Auch Dinge haben in der Heiligen Schrift eine Bedeutung ......................................... 55 Kapitel 4: Die sieben Regeln ................................................................................................................ 56 Kapitel 5: Was das Studium behindert ............................................................................................... 58 Kapitel 6: Die Früchte der geistlichen Lektüre ................................................................................ 59 Kapitel 7: Wie man die Heilige Schrift studieren soll, um sein sittliches Verhalten zu verbessern ................................................................................................................................................ 59 Kapitel 8: Studieren ist die Sache der Anfänger, Handeln Sache der Vollkommenen ................ 61 Kapitel 9: Vier Stufen ........................................................................................................................... 62

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Kapitel 10: Die drei Arten von Studierenden .................................................................................... 63

Sechstes Buch ....................................................................................................................................... 64

Kapitel 1: Wie diejenigen die Heilige Schrift studieren sollen, die darin Wissen suchen ......... 64 Kapitel 2: Die Ordnung bei den Wissenschaftsdisziplinen ............................................................. 64 Kapitel 3: Geschichte ............................................................................................................................ 64 Kapitel 4: Die Allegorie ........................................................................................................................ 67 Kapitel 5: Die Tropologie, das heißt die Moralität .......................................................................... 70 Kapitel 6: Die Reihenfolge der Bücher .............................................................................................. 71 Kapitel 7: Die Reihenfolge der Erzählung ........................................................................................ 72 Kapitel 8: Die Reihenfolge der Auslegung ......................................................................................... 72 Kapitel 9: Der Wortlaut........................................................................................................................ 72 Kapitel 10: Der Sinn ............................................................................................................................. 73 Kapitel 11: Die tiefere Bedeutung ....................................................................................................... 74 Kapitel 12: Die Methode beim Lesen .................................................................................................. 74 Kapitel 13: Die Meditation wird hier nicht behandelt..................................................................... 74

Appendices ............................................................................................................................................ 75

Appendix A: Einteilung des Inhalts der Philosophie ...................................................................... 75 Appendix B: Die Magie und ihre Teile .............................................................................................. 76 Appendix C: Die drei Seinsweisen von Dingen .................................................................................. 77

VORWORT

Es gibt viele Menschen, welche in ihrer Begabung so sehr von der Natur vernachlässigt

worden sind, daß sie sogar leichte Sachen kaum geistig erfassen können. Von solchen

Menschen scheint es mir zwei Arten zu geben. Die einen kennen ihre geistige Schwäche sehr

wohl, bemühen sich aber dennoch mit all ihrer Kraft, Wissen zu erwerben; und indem sie sich

unablässig anstrengen, erreichen sie schließlich verdientermaßen als Ergebnis ihrer

Willenskraft, was sie als Ergebnis ihrer Arbeitsleistung nicht erreicht haben. Die anderen

dagegen, weil sie merken, daß sie die höchsten Dinge nicht verstehen können, vernachlässigen

auch die geringsten, und während sie sozusagen im Schutze ihrer Trägheit dahindämmern,

verlieren sie das Licht der Wahrheit in den wichtigsten Dingen um so mehr, je mehr sie sich

weigern, die geringsten, welche sie doch verstehen könnten, kennenzulernen. Von solchen sagt

der Psalmist: „Sie wollten nicht verstehen, wie sie Gutes tun könnten“ (vgl. Ps 35,4 Vg. G).

„Nicht wissen“ ist nämlich etwas ganz anderes als „nicht wissen wollen“. Nichtwissen ist

einfach ein Zeichen von Schwäche, die Ablehnung von Wissen aber ist Zeichen eines bösen

Willens.

Es gibt aber noch eine andere Art von Menschen, welche die Natur mit der ganzen Fülle

der Begabung ausgestattet und denen sie den Zugang zur Wahrheit leicht gemacht hat. Dabei

ist gewiß das Ausmaß dieser Begabung jeweils unterschiedlich, aber diese Menschen haben

auch nicht alle die gleiche Disziplin und denselben Willen, ihre natürliche Anlage durch

Übung und Unterricht weiter auszubilden. Denn viele verwickeln sich über das nötige Maß

hinaus in die Geschäfte und Sorgen dieser Welt oder geben sich (105) Lastern und sinnlichen

Neigungen hin und vergraben so das ihnen von Gott gegebene Talent (vgl. Mt 25,18) in der

Erde, ohne sich damit die Frucht der Weisheit oder den Lohn eines guten Werkes zu

erwerben. Diese Leute sind in der Tat verabscheuungswürdig. Für andere hingegen

beeinträchtigen Mangel an Familienvermögen und geringer Besitz die Möglichkeit zu lernen.

Allerdings sind wir keinesfalls der Ansicht, daß diese damit vollauf entschuldigt werden

können, denn wir sehen schließlich, daß die meisten von ihnen, auch wenn sie mit Hunger,

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Durst und Blöße zu kämpfen haben, trotzdem die Frucht des Wissens erlangen. Und doch ist

es ein Unterschied, ob man nicht lernen kann – oder besser: nicht leicht lernen kann –, oder

ob man lernen kann, es aber nicht will. Denn wie es ruhmvoller ist, allein aus eigener Kraft

zur Weisheit zu gelangen, auch wenn die Mittel fehlen, so ist es gewiß schimpflicher, voller

Geisteskraft und allen Reichtum zu besitzen und dennoch im Nichtstun zu erschlaffen.

Zwei Dinge sind es vor allem, durch die jeder Wissen erlangt, nämlich Lesen und

Meditation. Von diesen beiden steht das Lesen an erster Stelle in der Unterweisung, und

davon handelt auch dieses Buch, indem es Regeln zum richtigen Lesen gibt. Drei Regeln sind

in besonderem Maße für das Lesen notwendig: erstens soll jeder wissen, was er lesen soll,

zweitens, in welcher Reihenfolge er lesen soll, also welches früher und welches später, und

drittens, in welcher Weise er lesen soll. Diese drei Punkte werden, jeder für sich, in diesem

Buch behandelt. Das Buch unterweist aber sowohl den Leser weltlicher wie auch den heiliger

(107) Schriften. Es gliedert sich daher in zwei Teile, von denen jeder drei Abschnitte enthält.

Im ersten Teil belehrt es den Leser der Wissenschaften, im zweiten Teil den Leser der

heiligen Schriften. Es geht in der Belehrung so vor, daß es erst zeigt, was gelesen werden soll,

und dann, in welcher Reihenfolge und auf welche Weise gelesen werden soll. Um aber

deutlich zu machen, was gelesen werden soll, oder vielmehr, was vor allem gelesen werden soll,

führt das Buch im ersten Teil zunächst den Ursprung aller Wissenschaften auf sowie dann

deren Beschreibung und Einteilung, das heißt, inwiefern jede Wissenschaft eine andere

einschließt oder aber selbst in einer anderen enthalten ist. Auf diese Weise wird die

Philosophie aufgegliedert, von ihrer Spitze bis hinunter zu den letzten Einzelgliedern. Dann

zählt das Buch die Autoren der jeweiligen Wissenschaften auf und zeigt anschließend,

welche dieser Wissenschaften vornehmlich zu studieren sind, sowie in welcher Reihenfolge

und auf welche Weise. Zuletzt werden den Studierenden Weisungen für ihre Lebensführung

gegeben, und damit schließt der erste Teil.

Im zweiten Teil wird definiert, welche Schriften als die „heiligen“ zu gelten haben, dann

werden die Zahl und die Reihenfolge der heiligen Bücher, die Erklärungen ihrer Namen und

ihre Verfasser aufgeführt. Anschließend werden einige Besonderheiten der Heiligen Schrift

behandelt, die zu kennen unverzichtbar ist. Dann lehrt das Buch, wie derjenige die Heilige

Schrift lesen soll, der darin die Besserung seines Verhaltens und eine Richtschnur für sein

Leben sucht. Zuletzt schließlich unterweist es denjenigen der die Heilige Schrift aus Liebe

zur Wissenschaft liest, und somit kommt auch der zweite Teil zu seinem Ende. (109)

ERSTES BUCH

Kapitel 1: Der Ursprung der Wissenschaften

Unter allem, was erstrebenswert ist, ist das höchste die Weisheit, in der die Form des

vollkommenen Guten existiert. Die Weisheit erleuchtet den Menschen, so daß er sich selbst

erkennen kann – denn er war den übrigen Geschöpfen gleich, solange er nicht erkannte, daß

er als ein ihnen überlegenes Wesen erschaffen wurde. Sein unsterblicher Geist aber, von der

Weisheit erleuchtet, betrachtet seinen eigenen Ursprung und erkennt, wie unangemessen es

für ihn ist, irgend etwas außerhalb seiner selbst zu suchen, wenn doch das, was er selbst ist,

ihm genug sein könnte. Auf dem Dreifuß des Apollo steht geschrieben: „Gnothi seauton“ das

heißt, „erkenne dich selbst“. Denn in der Tat, wenn der Mensch seinen Ursprung nicht

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vergessen hätte, so würde er erkennen, daß alles, was der Veränderung unterworfen ist, ein

Nichts ist.

Unter Philosophen findet der Satz Zustimmung, daß die Seele aus allen Teilen der Natur

zusammengesetzt sei. Und (111) Platos Timaeus formte die Entelechie aus der teilbaren, der

unteilbaren und der aus beiden gemischten Substanz und ebenso aus der „einen“, der

„verschiedenen“ und der aus beiden gemischten Natur, wodurch das Universum bezeichnet ist.

Denn die Entelechie erfaßt „nicht nur die Elemente, sondern auch alle Dinge, die aus den

Elementen zusammengesetzt sind“, da sie, durch ihre geistige Erkenntnis, die unsichtbaren

Urgründe der Dinge wahrnimmt und, durch ihre Sinneseindrücke, die sichtbaren Formen der

tatsächlichen Dinge erfaßt. „Gewissermaßen geteilt, versammelt sie ihre Bewegung in zwei

Kreisen“, denn ob sie durch ihre Sinne hinausgeht zum Sinnenhaften oder ob sie durch ihre

geistige Erkenntnis zum Unsichtbaren hinaufsteigt, sie kreist umher und zieht die

Ähnlichkeiten der Dinge in sich zusammen; und daher ist auch ein und derselbe Geist, der

alles und jedes zu erfassen vermag, aus (113) jeder Substanz und Natur zusammengesetzt, so daß

er ein Abbild von deren Ähnlichkeit darstellen kann.

Denn es war ja ein Lehrsatz der Pythagoreer, daß Ähnliches von Ähnlichem erfaßt wird,

so daß also die vernunftbegabte Seele nicht in der Lage wäre, alles zu erfassen, wenn sie nicht

selbst aus allem zusammengesetzt wäre. Jemand hat dies einmal so formuliert:

„Erde erfassen wir durch Irdisches, Feuer durch Flammendes,

Nasses durch Flüssiges, Luft durch unseren Atem.“

Wir sollten allerdings nicht denken, daß Männer, die mit jeglicher Natur der Dinge aufs

beste vertraut waren, die Auffassung gehabt hätten, einfache Wesenheit könne aus einer

Quantität von Teilen bestehen. Sie erklärten vielmehr, um das bewundernswerte Vermögen

der Seele noch deutlicher zu machen, daß diese aus allen Naturen bestehe „nicht in ihrer

tatsächlichen Zusammensetzung, sondern in dem Prinzip dieser Zusammensetzung“. Denn

man darf nicht annehmen, daß die Seele die besagte Ähnlichkeit mit allen Dingen von

anderswo oder von außen erhalten hätte, vielmehr findet sie diese Ähnlichkeit in sich selbst

und schöpft sie aus sich selbst, aufgrund eines angeborenen Vermögens und eigener Kraft.

Denn, wie Varro im Periphyseon sagt: „Nicht jede Veränderung kommt von außen her auf die

Dinge zu, und in einer solchen Weise, daß alles was sich verändert, dabei notwendigerweise

etwas Vorhandenes verliert oder etwas Anderes, Verschiedenartiges, das es vorher nicht hatte,

von außen her dazugewinnt.“ Wir sehen zum Beispiel, wie eine Wand die Ähnlichkeit eines

beliebigen Bildes annimmt, wenn die Form diese Bildes von außen auf sie aufgetragen wird.

Wenn aber ein bildender Künstler ein Bild in Metall einprägt dann ist es das Metall selbst,

das beginnt, etwas anderes darzustellen, nicht einfach nur äußerlich, sondern aufgrund seiner

eigenen Fähigkeit (115) und natürlichen Beschaffenheit. Auf dieselbe Weise heißt es auch vom

Geist, da ihm die Ähnlichkeit mit allen Dingen eingeprägt ist, daß er alle Dinge ist und sich

aus allen Dingen zusammensetzt, nicht in tatsächlicher Wirklichkeit, sondern seiner

Möglichkeit und Fähigkeit nach. Dies also ist die Würde unserer Natur, die alle Menschen

von Natur aus in gleichem Maße besitzen, die aber nicht alle in gleichem Maße erkennen.

Denn der Geist, betäubt durch die körperlichen Leidenschaften und von sich selbst abgelenkt

durch die Gestalten des Sinnenhaften, hat vergessen, was er einmal war, und weil er sich nicht

erinnert, etwas anderes gewesen zu sein, glaubt er nur das zu sein, was man sehen kann. Aber

durch das Studium werden wir wiederhergestellt, so daß wir unsere eigentliche Natur

erkennen und lernen, nicht außerhalb zu suchen, was wir in uns selbst finden können. „ Das

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höchste Heilmittel im Leben“ ist also das Streben nach Weisheit; wer sie findet, ist glücklich,

und wer sie besitzt, der ist selig.

Kapitel 2: Philosophie ist das Streben nach Weisheit

„Pythagoras war der erste, der das Streben nach Weisheit Philosophie nannte“ und der es

vorzog, „ Philosoph“ genannt zu werden, denn bis dahin sprach man von sophoi, das heißt,

von Weisen. Es ist in der Tat angemessen, die Forscher der Wahrheit nicht „Weise“, sondern

„Liebhaber der Weisheit“ zu nennen, denn alle Wahrheit ist ja verborgen, so daß der Geist,

wie brennend er sie auch begehren und wie sehr er auch zu ihrer Erforschung aufstreben mag,

die Wahrheit in ihrem Wesen nur sehr schwer erfassen kann. Pythagoras aber etablierte die

Philosophie als Wissenschaft (117) „von den Dingen, die wahrhaft existieren und selber

unveränderbare Substanz besitzen“.

„Philosophie ist also die Liebe zur Weisheit, das Streben nach Weisheit und

gewissermaßen die Freundschaft mit der Weisheit. Gemeint ist allerdings nicht jene

Weisheit, die sich mit irgendwelchen Werkzeugen und mit handwerklichem Wissen und

Können beschäftigt, sondern die Weisheit, die in jeder Beziehung vollkommen ist, die ein

lebendiger Geist und die alleinige Grundursache der Dinge ist. Diese Liebe zur Weisheit aber

ist eine Erleuchtung des verständigen Geistes durch jene reine Weisheit und, gewissermaßen,

ein Rückzug und ein Rückrufen des menschlichen Geistes zu sich selbst, so daß das Streben

nach Weisheit als eine Freundschaft mit diesem Göttlichen, diesem reinen Geist erscheint.

Diese Weisheit überträgt die Würde ihrer eigenen Göttlichkeit auf alle Seelen und führt diese

zurück zu der Kraft und Reinheit, die ihrer Natur eigen ist. Und daraus entstehen die

Wahrheit des Forschens und des Denkens und die reine und heilige Sittlichkeit des

Handelns.“

„Da aber dieses hervorragendste Gut, die Philosophie, für menschliche Seelen vorbereitet

worden ist, muß die Darstellung auch, um ihrem Leitfaden weiter zu folgen, bei den

Wirkkräften der Seele beginnen.“

Kapitel 3: Die dreifache Potenz der Seele – Nur der

Mensch ist mit Vernunft begabt

„Es läßt sich insgesamt eine dreifache Potenz der Seele im Beleben von Körpern

unterscheiden: Die eine führt dem Körper das bloße Leben zu, so daß er geboren wird, wächst

und durch Ernährung weiter lebt; die zweite befähigt zur Unterscheidung durch die

Sinneswahrnehmung; die dritte stützt sich auf die Kraft des Geistes und der Vernunft. (119)

Die Aufgabe der ersten ist es, der Schaffung, der Ernährung und der Erhaltung von

Körpern zu dienen, ohne ihnen jedoch die Fähigkeit der Unterscheidung durch

Sinneswahrnehmung oder durch Vernunfterkenntnis zu verleihen. Diese Potenz ist wirksam

etwa in Gräsern und Bäumen und überhaupt in allem, was mit Wurzeln in der Erde haftet.

Die zweite Potenz ist zusammengesetzt und verbunden; indem sie die erste in sich

aufnimmt und sie zu einem Teil ihrer selbst macht, erlangt sie ein vielfältiges

Urteilsvermögen über diejenigen Dinge, die sie erfassen kann. Denn jedes Lebewesen, das mit

Sinneswahrnehmung ausgestattet ist, wird auch geboren, ernährt und erhalten; die Sinne aber

sind verschieden, es können bis zu fünf sein. Nun hat, was nur Nahrung zu sich nimmt,

deshalb nicht auch schon Sinneswahrnehmung, doch alles, was Sinneswahrnehmung hat,

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nimmt auch Nahrung zu sich – was beweist, daß ihm die erste Potenz der Seele, die des

Entstehens und Wachsens, zukommt. Diejenigen Lebewesen, die über Sinneswahrnehmung

verfügen, nehmen aber nicht nur die Formen der Dinge wahr, die in direkter Gegenwart des

sinnenbegabten Körpers auf sie einwirken, sondern sie behalten auch dann, wenn die

Sinneswahrnehmung aufgehört hat und die Objekte schon verschwunden sind, noch die

Abbilder der sinnlich wahrgenommenen Gestalten und entwickeln eine Erinnerung daran.

Jedes Lebewesen behält diese Eindrücke für längere oder kürzere Zeit, je nach seiner

Fähigkeit. Aber sie nehmen diese Eindrücke nur in einer verworrenen und unklaren Weise

auf, so daß sie aus deren Verbindung und Zusammenstellung heraus nichts zustande bringen

können. Sie können sich deshalb auch nicht an alle in gleicher Weise erinnern, und wenn

eine Erinnerung einmal verloren ist, können sie sie nicht zurückrufen und wieder

aufnehmen. Von der Zukunft haben sie überhaupt keine Kenntnis. (121)

Die dritte Potenz der Seele aber, die die beiden ersten Kräfte der Ernährung und der

Sinneswahrnehmung in sich einbezieht und sie gleichsam als Diener und Helfer gebraucht,

beruht ganz und gar auf der Vernunft. Sie betätigt sich entweder in unbezweifelbaren

Schlußfolgerungen über gegenwärtige Dinge oder in dem Verständnis der abwesenden oder

aber in der Erforschung der unbekannten Dinge. Diese Potenz steht nur dem

Menschengeschlecht allein zur Verfügung. Sie nimmt nicht nur vollkommene und

wohlbegründete Sinneseindrücke und Vorstellungen auf, sondern erklärt und bestätigt auch

durch einen vollgültigen Erkenntnisakt, was das Vorstellungsvermögen dargeboten hat. Dieser

göttlichen Natur genügt es daher, wie gesagt, nicht, das zu erkennen, was sich ihren Sinnen

darbietet, sondern indem sie aus Sinneseindrücken Vorstellungen bildet, ist sie auch in der

Lage, gegenwärtig nicht vorhandenen Dingen Namen zu geben, und was sie durch ihr

Erkenntnisvermögen erfaßt, das enthüllt sie durch die Benennung mit Wörtern. Denn auch

das ist dieser Natur eigen, daß sie mit Hilfe des Bekannten das Unbekannte erforscht, und

von allem will sie nicht nur wissen, ob es sei, sondern auch was, wie beschaffen und sogar

warum es sei.

Wie schon gesagt, ist allein die menschliche Natur mit dieser dreifachen Potenz der Seele

ausgestattet worden. Die Kraft ihrer Seele erstreckt sich auch auf die Bewegungen der

Erkenntnis, und dadurch übt sie die Kraft der Vernunft in der ihr eigentümlichen Weise in

den folgenden vier Betätigungen aus: Entweder sie untersucht, ob ein Ding existiert, oder,

wenn sie dies festgestellt hat, erkundet sie, was dieses Objekt ist. Wenn sie aber über dies

beides vernünftige Kenntnis gewonnen hat, erforscht sie die Eigenschaften eines jeden Dings

und die Einflüsse aller anderen Akzidentien; und wenn sie all dies weiß, so ergründet sie

gleichwohl noch weiter mit ihrer Vernunft, warum das Ding so ist, wie es ist. (123)

Da es nun die Verhaltensweise des menschlichen Geistes ist, sich stets mit der

Wahrnehmung der gegenwärtigen oder mit der Erkenntnis der nicht gegenwärtigen oder aber

mit der Erforschung und Entdeckung der unbekannten Dinge zu befassen, so gibt es zwei

Dinge, denen die Kraft der denkenden Seele ihre ganze Mühe widmet: Das eine ist, daß sie

durch rationale Erforschung die jeweilige Natur der Dinge erkenne, das andere aber ist, daß

sie dasjenige zunächst wissensmäßig erfasse, was später der sittliche Ernst in die Praxis

umsetzen soll.“

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Kapitel 4: Welche Bereiche zur Philosophie gehören

Wir sind aber nun wie ich sehe, durch die Vorgehensweise unserer Erörterung in ein

„unentrinnbares Labyrinth“ geraten, wobei die Schwierigkeit nicht durch komplizierte Worte,

sondern durch die undurchsichtige Materie selbst verursacht ist. Da wir es unternommen

haben, von dem Streben nach Weisheit zu sprechen, und da wir bestätigt haben, daß dieses

Streben aufgrund eines bestimmten Vorrechtes ihrer Natur allein den Menschen zu eigen ist,

kommen wir offenbar folgerichtig zu der Auffassung, daß die Weisheit eine Art Leiterin

aller menschlichen Handlungen ist. Während nämlich die Natur der unvernünftigen Tiere,

die durch keine rationale Urteilskraft beherrscht wird, ihre Bewegungen nur nach den

Eindrücken der Sinne richtet und im Begehren wie im Meiden keine Unterscheidung

vernünftiger Einsicht anwendet, sondern von einem blinden Verlangen des Fleisches

getrieben wird, so ist es doch auf der anderen Seite so, daß die Handlungen der

vernunftbegabten Seele nicht durch blinde Begierde hinweggerissen werden, sondern daß

ihnen stets die Weisheit als Leiterin (125) vorausgeht. Wenn dies aber als wahr feststeht, dann

können wir sagen, daß nicht nur diejenigen Studien, die sich mit der Natur der Dinge oder

der Norm des sittlichen Verhaltens befassen, mit Recht zur Philosophie gehören, sondern

auch diejenigen, welche die Prinzipien aller menschlichen Handlungen oder Bestrebungen

zum Gegenstand haben. Gemäß dieser Auffassung können wir die Philosophie so definieren:

Philosophie ist die Wissenschaft, welche die Prinzipien aller menschlichen und göttlichen

Dinge umfassend erforscht.

Damit braucht nicht verworfen zu werden, was wir oben gesagt haben, nämlich daß

Philosophie die Liebe zur und das Streben nach Weisheit sei – nicht jener Weisheit, die mit

Werkzeugen ausgeübt wird, wie etwa Baukunst, Landwirtschaft und anderes dieser Art,

sondern der Weisheit, welche „die alleinige Grundursache der Dinge ist“. Denn ein und

dieselbe Handlung kann ihrem theoretischen Prinzip nach zur Philosophie gehören, ihrer

Ausführung nach aber von ihr ausgeschlossen sein. So ist, um bei dem angeführten Beispiel

zu bleiben, die Theorie der Landwirtschaft Sache des Philosophen, ihre Ausübung aber Sache

des Landwirts. Weiterhin sind die künstlich hergestellten Werke zwar nicht Natur, aber sie

ahmen doch die Natur nach und drücken die Form ihres Vorbilds – welches die Natur ist,

durch die sie nachahmen – aufgrund vernunftgeleiteten Schaffens aus. Du siehst also, aus

welchem Grund wir die Philosophie auf alle menschlichen Handlunge ausdehnen müssen, so

daß es notwendigerweise ebensoviele Teile der Philosophie gibt wie verschiedene Arten von

Dingen, auf die sie sich, wie hier begründet, bezieht. (127)

Kapitel 5: Der Ursprung der Theoretik, der Praktik und der Mechanik

Das Ziel und die Absicht aller menschlichen Handlungen und Bestrebungen, die von der

Weisheit geleitet werden, müssen darauf gerichtet sein, entweder die Unversehrtheit unserer

Natur wiederherzustellen oder die Not der Mängel, denen unser gegenwärtiges Leben

unterworfen ist, abzumildern. Ich will dies etwas deutlicher erklären.

Zwei Dinge sind im Menschen, das Gute und das Schlechte, die ursprüngliche Natur und

die Verdorbenheit. Das Gute muß, weil es ursprüngliche Natur ist, weil es verdorben worden

ist, weil es vermindert worden ist, durch aktive Anstrengung wiederhergestellt werden. Das

Schlechte muß, weil es Fehler ist, weil es Verdorbenheit ist, weil es nicht ursprüngliche Natur

ist, ausgeschlossen werden. Wenn es aber nicht von Grund auf vernichtet werden kann, dann

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muß es wenigstens durch die Anwendung eines Heilmittels gemildert werden. Das genau ist

unsere Aufgabe: die Wiederherstellung unserer Natur und die Beseitigung unserer Fehler.

Die Vollkommenheit der menschlichen Natur aber wird durch zweierlei Dinge erzielt,

nämlich durch Wissen und durch Tugend, und nur darin besteht unsere Ähnlichkeit mit den

höheren und den göttlichen Wesen. Denn weil der Mensch nicht von einfacher Natur, sondern

aus zweifacher Substanz zusammengesetzt ist, ist er unsterblich in bezug auf den einen,

besseren Teil, der er, um es ganz deutlich zu sagen, selbst eigentlich ist. In dem anderen Teil

aber, der vergänglich ist und der für diejenigen, die nur ihrer Sinneswahrnehmung glauben

können, der einzige ist, ist der Mensch der Sterblichkeit und der Veränderlichkeit

unterworfen; er muß also so oft sterben, wie er das verliert, was (129) er ist. Und dies ist die

geringste Kategorie von Dingen, solche die Anfang und Ende haben.

Kapitel 6: Die drei Arten von Dingen

Es gibt nämlich unter den Dingen solche, die weder Anfang noch Ende haben, und diese

nennt man ewig; andere haben zwar einen Anfang, werden aber durch kein Ende begrenzt,

diese heißen unvergänglich; wieder andere haben sowohl Anfang als auch Ende, und diese

heißen zeitlich.

Zu der ersten Kategorie zählen wir dasjenige, bei dem das eigentliche Sein und „das, was

ist“, identisch sind, das heißt, bei dem Ursache und Wirkung nicht verschieden sind und das

seine Subsistenz nicht von irgendwo anders, sondern nur aus sich selbst hat. So ist es nur beim

Schöpfer und Baumeister der Natur selbst.

Dasjenige aber, bei dem das eigentliche Sein und „das, was ist“, verschieden sind, das also

sein Dasein von anderswo hat und das aufgrund einer vorherwirkenden Ursache in die

Wirklichkeit kam, so daß seine Existenz einen Anfang nahm, das ist die Natur, welche die

ganze Welt einschließt. Es ist zweifacher Art. Das eine ist etwas, das aus seinen

uranfänglichen Ursachen seine Existenz beginnt und ohne Mitwirkung durch etwas anderes

ins Dasein getreten ist, allein nach dem Entschluß des göttlichen Willens, und das dort

unvergänglich fortbesteht, frei von jeglicher Veränderung oder Beendigung. Von solcher Art

sind die Substanzen der Dinge, von den Griechen (131) ousiai genannt. Das andere aber sind

alle Körper der superlunaren Welt, die, weil sie sich nicht verändern, göttlich genannt

worden sind.

Die dritte Ordnung von Dingen aber besteht aus denjenigen, die sowohl Anfang als auch

Ende haben und die nicht aus eigener Kraft zum Dasein gelangen, sondern Werke der Natur

sind. Diese entstehen auf der Erde, in der sublunaren Welt, durch die Einwirkung des

schöpferischen Feuers, welches mit einer bestimmten Kraft sich hinabsenkt, um die

sinnlichen Dinge hervorzubringen.

Über die zweite Art von Dingen ist gesagt worden: „Nichts in der Welt stirbt“, und zwar

deshalb, weil eine Wesenheit nicht vergehen kann. Denn nicht die Wesenheiten der Dinge

vergehen, sondern deren Formen. Wenn man sagt, die Form vergehe, so ist nicht gemeint, daß

ein existierendes Ding völlig zugrunde geht und sein Dasein verliert, sondern daß es eine

Veränderung erfährt, etwa in der Weise, daß einst Verbundenes voneinander getrennt oder

daß, was getrennt war, verbunden wird. Oder auch daß das, was hier war, jetzt dorthin geht,

oder daß, was jetzt Gewesenes ist, einst Seiendes war. Bei all diesem erleidet das Sein der

Dinge keinen Schaden. Über die dritte Art heißt es „Alles was aufsteigt, geht wieder unter,

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und alles, was zunimmt, schwindet dahin.“ Denn so wie alle Werke der Natur einen Anfang

haben, so entgehen sie auch dem Ende nicht. Über die zweite Art wiederum heißt es: „Nichts

wird aus (133) nichts, und in das Nichts kann nichts zurückkehren“, denn die gesamte Natur

hat ja uranfängliche Ursache und unvergängliche Dauer. Über die dritte aber ist gesagt

worden: „Und zum Nichts kehrt zurück, was vorher nichts war“, denn so wie jedes Werk der

Natur aus verborgenem Grund für eine bestimmte Zeit in die Wirklichkeit trat, so wird es

dorthin zurückkehren, woher es kam, wenn seine Wirklichkeit zeitweise zerstört worden ist.

Kapitel 7: Die superlunare und die sublunare Welt

Demgemäß haben die Mathematiker die Welt in zwei Teile geteilt, nämlich in den Teil,

der über der Mondbahn, und in den, der unter ihr liegt. Die superlunare Welt nannten sie,

weil in ihr alles nach uranfänglichem Gesetz existiert, „Natur“, die sublunare Welt dagegen

„Werk der Natur“, das heißt, der oberen Welt, weil alle Arten von Lebewesen, die sich hier

unten durch die Eingießung des Lebensgeistes regen, ihre Nahrung auf unsichtbaren Bahnen

von den oberen Wesen zugeführt erhalten, nicht nur, um geboren zu werden und zu wachsen,

sondern auch, um durch Ernährung fortzubestehen. Die obere Welt nannten die

Mathematiker auch „die Zeit“, wegen des Umlaufs und der Bewegung der Gestirne in ihr, und

die untere Welt „das (135) Zeitliche“, weil sie durch die Bewegungen der höheren Welt

bestimmt wird. Auch nannten sie die superlunare Welt „Elysium“ wegen ihrer

unvergänglichen Ruhe von Licht und Stille, die hiesige Welt aber nannten sie wegen der

Unbeständigkeit und Verwirrung der wechselnden Dinge „Unterwelt“.

Wir haben dies etwas eingehender verfolgt, um zu zeigen, daß der Mensch in dem Teil,

der der Vergänglichkeit angehört, auch der Notwendigkeit unterworfen ist, daß er aber,

insofern er unsterblich ist, mit der Gottheit verwandt ist. Hieraus kann gefolgert werden, was

oben bereits gesagt wurde, daß nämlich die Intention aller menschlichen Handlungen auf ein

Ziel gerichtet ist entweder die Ähnlichkeit mit dem göttlichen Bilde in uns

wiederherzustellen oder sich um die Notwendigkeiten dieses Lebens zu kümmern, welches um

so mehr der Pflege und Sorge bedarf, je leichter es durch Unglück geschädigt werden kann.

Kapitel 8: Worin der Mensch Gott ähnlich ist

Zwei Dinge sind es welche die Gottähnlichkeit im Menschen wiederherstellen, nämlich

die Erforschung der Wahrheit und die Ausübung der Tugend. Denn der Mensch ist Gott darin

ähnlich, daß er weise und gerecht ist – allerdings ist der Mensch diese nur in veränderlicher

Weise, während Gott unveränderlich weise und gerecht ist. Von den Handlungen aber, die den

Notwendigkeiten dieses Lebens dienen, gibt es drei Arten: erstens solche, die für die

Ernährung der Natur sorgen; zweitens solche, die gegen von außen kommenden Schaden

schützen; und drittens solche, die Heilmittel gegen bereits erlittenen Schaden bieten. Wenn

wir uns nun um die Wiederherstellung unserer Natur bemühen, so ist dies eine göttliche

Handlung, kümmern (137) wir uns aber um die Bedürfnisse unserer Schwächen, so ist dies eine

menschliche Handlung. Jede Handlung ist folglich entweder göttlich oder menschlich. Die

erstere können wir, da sie sich auf Höheres richtet, in angemessener Weise „Erkenntnis“

nennen, die letztere, da sie sich auf Niederes bezieht und gleichsam eines gewissen Rates

bedarf, können wir als „Wissen“ bezeichnen.

Wenn also die Weisheit, wie oben gesagt, alle vernunftgemäßen Handlungen leitet, dann

folgt daraus, daß sie diese zwei Teile enthält, die Erkenntnis und das Wissen. Die Erkenntnis

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teilen wir wiederum in zwei Arten, da sie sich sowohl um die Erforschung der Wahrheit als

auch um die Reflexion über das sittliche Verhalten bemüht: in die Theorik, das ist die

spekulative, und die Praktik, das ist die aktive Art, die auch ethische oder moralische Art

genannt wird. Das Wissen aber, da es sich nur auf menschliche Werke bezieht, wird

angemessenerweise „Mechanik“, also das unechte, genannt.

Kapitel 9: Die drei Werke

„Es gibt nämlich drei Werke: das Werk Gottes, das Werk der Natur und das Werk des

schaffenden Menschen, der die Natur nachahmt.“ Das Werk Gottes ist es, das zu schaffen, was

vorher nicht existierte. Daher heißt es: „Im Anfang (139) schuf Gott Himmel und Erde“ (Gen

1,1). Das Werk der Natur ist es, das, was verborgen lag, in die Wirklichkeit zu überführen.

Daher heißt es: „die Erde bringe Grünes hervor“ (Gen 1,11). Das Werk des schaffenden

Menschen ist es, Getrenntes zu verbinden und Verbundenes zu trennen. Daher heißt es: „Sie

hefteten sich einen Schurz zusammen“ (vgl. Gen 3,7). Denn die Erde kann nicht den Himmel

erschaffen, und der Mensch, der nicht eine Handbreit seiner Körpergröße hinzufügen kann

(vgl. Lk 12,25), vermag nichts Grünes hervorzubringen.

Unter diesen drei Werken wird das Werk des Menschen, welches nicht Natur ist, sondern

sie nur nachahmt, zu Recht „mechanisch“, das heißt unecht, genannt, geradeso wie ein

heimlich nachgemachter Schlüssel „mechanisch“ heißt. Auf welche Weise aber das Werk des

schaffenden Menschen jeweils die Natur nachahmt, ist langwierig und schwer im Detail

darzustellen. Wir können es aber dennoch an einigen wenigen Beispielen vorführen: Wer ein

Standbild gegossen hat, der hat dafür einen Menschen als sein Modell studiert. Wer ein Haus

gebaut hat, hat vorher einen Berg betrachtet. Denn, wie der Prophet sagt: „Du läßt Quellen

hervorsprudeln in den Tälern, mitten zwischen den Bergen laufen die Wasser dahin“ (Ps

104,10: Vg. Ps 103,10). Die Kuppen der Berge halten kein Wasser zurück, und genauso muß

auch die Spitze eines Hauses sich bis zu einer gewissen Höhe erheben, damit es den Ansturm

hereinstürzender Regenwetter sicher ableiten kann. Wer als erster den Gebrauch von

Kleidung erfand, hat beobachtet, daß die einzelnen Lebewesen jeweils ihren eigenen Schutz

haben, durch welchen sie ihre Natur gegen Widrigkeiten abschirmen. Rinde umgibt den

Baum, Federn bedecken den Vogel, Schuppen umhüllen den Fisch, Wolle bekleidet das Schaf,

Haare gewanden Vieh und wilde Tiere, eine Muschel schützt das Weichtier, und Elfenbein

läßt den Elefanten die Speere nicht fürchten. Aber es ist nicht ohne Grund, daß, während

alle Lebewesen mit der ihrer Natur eigenen Bewaffnung (141) auf die Welt kommen, der

Mensch allein nackt und schutzlos geboren wird. Es war nämlich nötig, daß denjenigen, die

nicht für sich selbst sorgen können, die Natur beistehe. Dem Menschen aber sollte gerade

dadurch noch mehr Gelegenheit gegeben werden, Erfahrungen zu machen, weil er aus eigener

Verstandeskraft erfinden mußte, was den anderen Lebewesen von Natur aus gegeben wurde.

In der Erfindung dieser Dinge erstrahlt nämlich die Vernunft des Menschen in viel hellerem

Lichte, als sie es bei deren naturgegebenem Besitz getan hätte. Und das Sprichwort sagt nicht

ohne Grund: „Der erfinderische Hunger hat alle Künste hervorgebracht.“ Auf diese Weise

nämlich ist all das erfunden worden, was du heute als das Herausragende in den

menschlichen Bemühungen siehst. So sind die unzähligen Arten des Malens, Webens, des

Bildhauens und Gießens entstanden, so daß wir neben der Natur nicht minder auch den

schaffenden Menschen mit Bewunderung betrachten.

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Kapitel 10: Was Natur ist

Da wir nun schon so oft von „Natur“ gesprochen haben, dürfen wir die Frage der

Bedeutung diese Wortes nicht gänzlich mit Stillschweigen übergehen, wenn auch gilt, was

Cicero sagt: „Natur ist schwer zu definieren“. Außerdem dürfen wir nicht verschweigen, was

wir sagen können, nur weil wir nicht alles sagen können, was wir sagen wollen.

Die Alten, so stellen wir fest, haben viel über die Natur gesagt, aber doch keineswegs so,

daß nicht noch manches zu bemerken wäre. Soviel ich aus ihren Worten erschließen kann,

pflegten sie diesen Begriff in dreierlei Bedeutung zu gebrauchen, wobei sie für jede eine

spezielle Definition gaben. (143)

Als erstes wollten sie mit diesem Wort jenes ursprüngliche Muster aller Dinge

bezeichnen, das im göttlichen Geist existiert und nach dessen Vorbild alles geschaffen wurde.

Sie sagten, die Natur sei die uranfängliche Ursache eines jeden Dings, von der es nicht nur

sein Sein, sondern auch seine Beschaffenheit habe. Dieser Bedeutung schrieben sie die

folgende Definition zu: „Die Natur ist das, was jedem Ding sein Sein verleiht.“

Als zweites sagten sie, daß „Natur“ das spezifische Wesen eines jeden Dings sei, und für

diese Bedeutung stellten sie die folgende Definition auf: „Natur nennt man den spezifischen

Unterschied, der jedem Ding seine Form gibt.“ Diese Bedeutung ist gemeint, wenn wir etwa

sagen: „Es ist die Natur aller schweren Körper, zur Erde zu sinken, der leichten, nach oben zu

steigen, die Natur des Feuers ist es zu brennen, die des Wassers, naß zu machen.“

Die dritte Definition ist diese: „Natur ist ein schöpferisches Feuer, das aus einer gewissen

Kraft hervorgeht, um die sinnlichen Dinge zu erschaffen.“ Denn die Naturforscher sagen, daß

alles aus Wärme und Feuchtigkeit entsteht. Deshalb nennt Vergil Oceanus „Vater“, und

Valerius Soranus spricht in einem bestimmten Vers von Jupiter im Sinne eines ätherischen

Feuers:

„Jupiter, allmächtiger Urheber der Dinge und Könige, Erzeuger

und Gebärerin der Götter, wahrhaft ein und derselbe.“ (145)

Kapitel 11: Der Ursprung der Logik

Nachdem wir nun also den Ursprung der Theorik, der Praktik und der Mechanik

nachgewiesen haben, bleibt jetzt noch der Ursprung der Logik zu erforschen. Diese erwähne

ich an letzter Stelle, weil sie zuletzt erfunden worden ist. Die anderen Wissenschaften sind

vorher entwickelt worden, aber es war unbedingt nötig, auch die Logik zu erfinden, weil

niemand in angemessener Weise Dinge erörtern kann, wenn er sich nicht vorher die

Grundlage der richtigen und zutreffenden Rede angeeignet hat. Denn, wie Boethius sagt, als

die Alten sich zuerst um die Erforschung der Naturen der Dinge und der Eigenschaften der

Sitten bemühten, mußten sie notwendig in zahlreiche Irrtümer fallen, da sie die rechte

Unterscheidung von Wörtern und Begriffen nicht einzuhalten wußten : „So ist es häufig der

Fall bei Epikur, der glaubt, daß die Welt aus Atomen bestehe, und der fälschlich behauptet,

daß das Vergnügen eine sittliche Tugend sei. Es ist offensichtlich, daß solches dem Epikur

und anderen deshalb widerfahren ist, weil sie in ihrer Unkenntnis des Argumentierens alle

Ergebnisse ihrer rationalen Schlußfolgerungen auf die Realität selbst übertragen zu können

glaubten. Aber das ist ein großer Irrtum, denn die realen Dinge stimmen mit unseren

Schlußfolgerungen nicht immer so überein, wie sie es mit den Zahlen tun. Was man nämlich

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bei den Zahlen an den Fingern richtig abzählt, das erhält man zweifellos auch bei den realen

Dingen zum Ergebnis, so daß, wenn man bei der Zählung ‚hundert‘ zum Ergebnis hat, sich

notwendigerweise auch hundert Dinge als Grundlage dieser Zählung finden müssen. Dies ist

aber bei logischen Schlußfolgerungen nicht in gleicher Weise der Fall. Denn nicht alles, was

der Verlauf einer Erörterung ergibt, hat sein tatsächliches Äquivalent in der Natur. Wer

daher die Natur der Dinge erforschen will, aber die Wissenschaft des Argumentierens

ignoriert, verfällt notwendigerweise dem Irrtum. Wer nämlich (147) vorher nicht sichere

Kenntnis darüber erlangt hat, welche Art der logischen Überlegung den wahren Weg des

Argumentierens einhält und welche nur den wahrscheinlichen, wer nicht gelernt hat, welche

Art zuverlässig und welche zweifelhaft ist, der kann nicht durch Vernunftüberlegung zur

unverfälschten Wahrheit gelangen.

Da nun also die Alten, die immer wieder auf diverse Irrwege geraten waren, in ihren

Untersuchungen zu falschen und widersprüchlichen Ergebnissen kamen und da es unmöglich

schien, daß von zwei über dieselbe Sache aufgestellten entgegengesetzten Behauptungen, die

durch gegensätzliche Schlußfolgerungen zustande gekommen waren, beide wahr sein sollten,

man aber ebenso unmöglich im Zweifel lassen konnte, welcher Schlußfolgerung zu glauben

sei: Aus diesen Gründen wurde es offensichtlich, daß man zuerst die wahre und unverfälschte

Natur des logischen Argumentierens zu prüfen habe. Hatte man diese erkannt, war nämlich

ebenso erwiesen, ob die Ergebnisse der Argumentation korrekt erfaßt waren. Von da nahm die

Kenntnis in der Logik ihren Ausgang, derjenigen Wissenschaft, welche die Wege zur

Unterscheidung von Argumentationsweisen und Schlußfolgerungen bereitet, so daß man

erkennen kann, welche Schlußfolgerung bald wahr und bald flasch, welche immer falsch und

welche nie falsch ist.“

So kam also die Logik der Zeit nach als die letzte, der Reihenfolge nach aber ist sie die

erste. Denn die Logik muß von den Anfängern in der Philosophie als erstes studiert werden,

weil in ihr die Natur der Wörter und Begriffe gelehrt wird, ohne die kein philosophischer

Text vernunftgerecht erklärt werden kann.

Die Logik hat ihren Namen von dem griechischen Wort logos, das eine doppelte

Bedeutung hat. Denn logos heißt einerseits „Wort“, andererseits auch „Vernunft“, und deshalb

kann die Logik entweder „Wissenschaft vom Wort“ oder „Wissenschaft von der Vernunft“

genannt werden. (149) Die Logik als Vernunft-Wissenschaft, die auch „erörternde

Wissenschaft“ genannt wird, umfaßt die Dialektik und die Rhetorik. Die Logik als Wort-

Wissenschaft gehört der Gattung nach zu Grammatik, Rhetorik und Dialektik und schließt

daher auch die erörternde Logik mit ein. Diese Logik als Wissenschaft vom Wort nennen wir

als vierten Bereich nach Theorik, Praktik und Mechanik.

Man soll aber nur nicht glauben, daß diese Wissenschaft „die logische“, also „Wort-

Wissenschaft“ genannt wird, weil es vor ihrer Erfindung keine Wörter gegeben hätte oder als

ob die Menschen sich vorher nicht miteinander unterhalten hätten. Vielmehr gab es vorher

schon sowohl gesprochene wie geschriebene Wörter, allerdings aber waren die Prinzipien von

gesprochener und geschriebener Rede noch nicht in die Regeln einer Wissenschaft gefaßt

worden; es gab noch keine Regeln für das richtige Sprechen und Argumentieren. Alle

Wissensbereiche bestanden nämlich zuerst in der praktischen Anwendung, bevor sie zu

Wissenschaften wurden. Aber als dann die Menschen sahen, daß Praxis in Wissenschaft

überführt werden und das, was zuvor unbestimmt und willkürlich war, durch sichere Regeln

und Vorschriften festgelegt werden könne, begannen sie, wie es heißt, die teils durch Zufall,

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teils von Natur aus entstandene Gewohnheit in die Regeln einer Wissenschaft zu fassen. Sie

korrigierten, was im praktischen Gebrauch verkehrt gewesen war, ergänzten, was fehlte,

stutzten zurück, was überflüssig war, und gaben überhaupt für jede Anwendung sichere

Regeln und Vorschriften.

Auf diese Weise sind alle Wissenschaften entstanden, wir finden dies in jedem einzelnen

Fall bestätigt: Bevor es eine Grammatik gab, haben die Menschen geschrieben und

gesprochen; bevor es eine Dialektik gab, haben sie durch logische Überlegung Wahr und

Falsch unterschieden; bevor es eine Rhetorik gab, haben sie über Rechtsfälle verhandelt.

Bevor es eine Arithmetik gab, wußten sie zu zählen; bevor es eine Musik gab, haben sie

gesungen; bevor es eine (151) Geometrie gab, haben sie Felder vermessen; bevor es eine

Astronomie gab, haben sie nach dem Lauf der Sterne die Zeiten unterschieden. Dann aber

kamen die Wissenschaften; sie hatten ihren Ursprung zwar im praktischen Gebrauch, sind

diesem aber doch weit überlegen.

An dieser Stelle wäre nun eigentlich darzulegen, wer die Erfinder der einzelnen

Wissenschaften gewesen sind, wann und wo sie gelebt haben und wie die jeweiligen

Disziplinen durch ihr Wirken begründet worden sind. Zuvor aber möchte ich die einzelnen

Wissenschaften voneinander abgrenzen, indem ich eine Art Einteilung der Philosophie gebe.

Daher soll das oben gesagte nun noch einmal kurz rekapituliert werden, so daß der Übergang

zum folgenden erleichtert wird.

Wir haben gesagt, daß es nur vier Wissensbereiche gibt, welche alle übigen

Wissenschaften umfassen, nämlich die Theorik, die sich um die Erforschung der Wahrheit

bemüht, die Praktik, welche die Normen des Verhaltens behandelt, die Mechanik, die die

Tätigkeiten dieses Lebens ordnet, und die Logik, welche die Kenntnis des richtigen Sprechens

und genauen Argumentierens lehrt. Es ist wohl kaum abwegig, hierbei an jene Vierzahl der

Seele zu denken, welche die Alten aus Ehrfurcht vor ihr in ihre Eide aufnahmen:

„Bei dem, der unserer Seele die Vierzahl gab!“

Wir wollen nun zeigen, in welcher Weise diese Wissensbereiche in der Philosophie

enthalten sind und welche anderen Wissenschaften sie wiederum selbst enthalten. Dabei soll

zuerst kurz die Definition von Philosophie wiederholt werden. (153)

ZWEITES BUCH

Kapitel 1: Die Unterscheidung der Wissenschaften

„Philosophie ist die Liebe zu jener Weisheit, die in jeder Beziehung vollkommen ist, die

ein lebendiger Geist und die alleinige Grundursache der Dinge ist.“ Diese Definition beachtet

besonders die Etymologie des Wortes. Denn das griechische philos heißt auf lateinisch amor

(„Liebe“), und sophia bedeutet sapientia („Weisheit“); daraus wurde „Philosophie“ gebildet, das

heißt „Liebe zur Weisheit“. Die hinzugefügten Worte „die in jeder Beziehung vollkommen ist,

die ein lebendiger Geist und die alleinige Grundursache der Dinge ist“ bezeichnen die

göttliche Weisheit, die „in jeder Beziehung vollkommen“ genannt wird, weil sie alles in

gleicher Weise enthält und alles, das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige, in

einer Einheit und zu gleicher Zeit erschaut. „Lebendiger Geist“ wird sie genannt, weil, was

einmal im göttlichen Geist existiert hat, niemals dem Vergessen anheimfällt. „Alleinige

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Grundursache der Dinge“ ist sie deshalb, weil alles nach ihrer Ähnlichkeit gestaltet worden

ist.

Einige sagen, daß das, womit die Wissenschaften sich beschäftigen, immer bleibe. Dies

aber ist, womit alle Wissenschaften sich beschäftigen, und dies ist was sie anstreben: daß die

göttliche Ähnlichkeit in uns wiederhergestellt werde, die Ähnlichkeit, die für uns eine Form,

für Gott aber seine Natur ist. Je ähnlicher wir der göttlichen Natur werden, um so mehr

Anteil haben wir an der Weisheit. Dann nämlich beginnt in uns wieder zu erstrahlen, was in

Gottes Geist immer existiert hat, was in uns vergänglich ist, bei ihm aber unveränderlich

fortbesteht.

Eine andere Definition ist: „Philosophie ist die Kunst der Künste und die Wissenschaft

der Wissenschaften“, also das, worauf alle Künste und Wissenschaften sich ausrichten. (155)

„Kunst“ kann dasjenige Wissensgebiet genannt werden, „das auf Regeln und Vorschriften

einer Kunst beruht“, wie es zum Beispiel beim Schreiben der Fall ist; „‚Wissenschaft‘ aber

dasjenige, welches ‚vollständig‘ genannt wird“, wie es in der Lehre nach mathematischer

Methodik der Fall ist. Von Kunst kann man auch sprechen, „wenn Wahrscheinliches oder von

Meinungen Abhängiges behandelt wird“, von Wissenschaft aber, „wenn in

wahrheitsbezogenen Argumentationen etwas erörtert wird, das nur so und nicht anders sein

kann. Dies ist der Unterschied, den Plato und Aristoteles zwischen Kunst und Wissenschaft

machen wollten.“ Weiterhin kann das „Kunst“ genannt werden, was sich in der zugrunde

gelegten Materie realisiert und in praktischer Ausführung entfaltet, wie zum Beispiel die

Architektur; „Wissenschaft“ aber ist das zu nennen, was im reinen Gedanken besteht und sich

in der bloßen rationalen Überlegung entfaltet, wie zum Beispiel die Logik.

Eine weitere Definition „Philosophie ist die Wissenschaft, welche die Prinzipien aller

menschlichen und göttlichen Dinge auf überzeugende Weise erforscht.“ So gehört also das

theoretische Prinzip aller Bemühungen zur Philosophie, die praktische Ausübung aber ist

nicht unbedingt philosophisch. Deshalb heißt es von der Philosophie, sie erstrecke sich in

gewisser Weise auf alle Dinge.

Die Philosophie wird eingeteilt in Theorik, Praktik, Mechanik und Logik. Diese vier

enthalten alles Wissen. Theorik bedeutet spekulative, Praktik aktive Wissenschaft. (157)

Letztere wird mit anderem Namen auch ethische, das heißt moralische Wissenschaft genannt,

und zwar deshalb, weil Moralität in guten Taten besteht. Mechanik bedeutet unechte

Wissenschaft, weil sie sich mit menschlichen Werken beschäftigt; Logik heißt Wort-

Wissenschaft, weil sie von Wörtern handelt. Die Theorik wird eingeteilt in Theologie,

Mathematik und Physik. Boethius macht diese Unterscheidung mit anderen Wörtern, indem

er die Theorik aufteilt in die intellektible, die intelligible und die natürliche Theorik, wobei

die intellektible der Theologie entspricht, die intelligible der Mathematik und die natürliche

der Physik. Und die intellektible definiert Boethius folgendermaßen.

Kapitel 2: Die Theologie

„Das Intellektible ist das, was immerwährend als ein und dasselbe in eigener Göttlichkeit

durch sich selbst fortbesteht und nie von den Sinnen, sondern nur von Geist und

Vernunfterkenntnis allein erreicht werden kann. Die Erforschung dieses Gegenstandes

besteht darin, die Betrachtung Gottes, die Unkörperlichkeit der Seele und die Reflexion über

die wahre Philosophie zu studieren. Dies“, so sagt Boethius, „nennen die Griechen Theologie.“

Es wurde „Theologie“ genannt in der Bedeutung als „Rede über göttliche Dinge“, denn theos

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bedeutet „Gott“, und logos bedeutet „Wort“ oder „Vernunft“. Es ist also Theologie „wenn wir,

gleich unter welchem Aspekt, die unaussprechliche Natur Gottes oder die geistigen Wesen auf

tiefgründigste Weise erörtern“. (159)

Kapitel 3: Die Mathematik

Die lehrhafte Wissenschaft wird Mathematik genannt. Mathesis heißt, wenn das „t“ ohne

Hauchlaut ist, „leerer Schein“ und bedeutet den Aberglauben derjenigen, die die Schicksale

der Menschen von den Sternkonstellationen abhängig machen. Daher werden solche Leute

auch „Mathematiker“ genannt. Wenn aber das „t“ den Hauchlaut hat, bezeichnet mathesis die

lehrhafte Wissenschaft.

Die Mathematik ist die Lehre, „welche abstrakte Quantität als Gegenstand ihrer

Betrachtung hat. Als ‚abstrakt‘ wird die Quantität dann bezeichnet, wenn wir sie gedanklich

von der Materie oder anderen Akzidentien trennen und in rein rationaler Überlegung

behandeln als paar, unpaar und anderes dieser Art.“ Solche Trennung vollzieht nur die

mathematische Wissenschaft, nicht die Natur. Boethius nennt diese Wissenschaft die

„intelligible“: „Durch Reflexion und Vernunfterkenntnis begreift sie den ersten, intellektiblen

Teil, begreift also, was alles zu den himmlischen Werken der erhabenen Gottheit gehört, und

was in der sublunaren Welt sich glücklicheren Geistes und reinerer Substanz erfreut und

schließlich auch den Bereich der menschlichen Seelen. All diese Dinge bestanden einst aus

jener ersten, intellektiblen Substanz, sind aber durch die Berührung mit Körpern von

intellektiblen zum intelligiblen Zustand degeneriert, so daß sie jetzt nicht mehr Objekte der

Erkenntnis sind, sondern vielmehr selbst erkennen wollen; und sie finden in der Reinheit

ihres Erkennens um so mehr Glück, je mehr sie sich den intellektiblen Dingen zuwenden.“

Denn die Natur der Geister und der Seelen hat, da sie ja unkörperlich und einfach ist,

Anteil an der intellektiblen (161) Substanz. Aber weil sie auch durch den Gebrauch der

Sinnesorgane auf verschiedene Weise zur Wahrnehmung des Sinnlichen hinabsteigt und

dessen Ähnlichkeit durch ihre Einbildungskraft in sich aufnimmt, so gibt sie ihre

Einfachheit in gewisser Weise auf und gibt dadurch einem Prinzip der Zusammensetzung

Raum. Denn nichts, was einem Zusammengesetzten ähnlich ist, kann „einfach“ genannt

werden.

Ein und dieselbe Sache ist also unter je verschiedenem Aspekt gleichzeitig intellektibel

und intelligibel. Intellektibel ist sie insofern, als sie unkörperlicher Natur ist und von den

Sinnen nicht wahrgenommen werden kann; intelligibel aber insofern, als sie eine Ähnlichkeit

mit dem Sinnlichen darstellt, wenn auch nicht selbst sinnlich ist. Intellektibel ist nämlich,

was weder sinnlich noch eine Ähnlichkeit des Sinnlichen ist. Intelligibel aber ist, was selber

nur durch den Verstand erkannt werden kann, aber nicht seinerseits nur durch den Verstand

erkennt. Denn es besitzt auch die Einbildungskraft und die Sinnesempfindung und erfaßt

dadurch das, was der sinnlichen Wahrnehmung unterliegt. Durch den Kontakt mit

Körperlichem aber degeneriert das Intelligible, denn während es durch die Sinneseindrücke

zu den sichtbaren Formen der Körper hinausgeht und diese nach erfolgtem Kontakt durch die

Einbildungskraft in sich aufnimmt, wird es jedesmal von seiner Einfachheit abgetrennt, sooft

sich ihm die Eigenschaften gegensätzlicher Empfindungen einprägen. Wenn es sich aber von

solcher Zerstreuung hinweg zur reinen Erkenntnis erhebt und sich selbst zur Einheit

sammelt, so findet es durch die Teilhabe an der intellektiblen Substanz wieder höheres Glück.

(163)

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Kapitel 4: Die Vierzahl der Seele

Über das Prinzip dieses Hinausgehens und Zurückkehrens der Seele werden wir auch

durch die Zahl selbst belehrt. Denn: drei mal eins macht drei; drei mal drei macht neun; drei

mal neun macht siebenundzwanzig; drei mal siebenundzwanzig mach einundachtzig. Nun

sieh, wie auf der vierten Stufe das ursprüngliche Eine wieder zum Vorschein kommt. Und du

wirst sehen, daß genau dasselbe sich immer wieder ereignet, auch wenn du die Multiplikation

bis zur Unendlichkeit fortführst, daß nämlich bei jeder vierten Stufe wieder das Eine

hervortritt. Die einfache Wesenheit der Seele wird durch dieses Eine, das ja ebenfalls etwas

Unkörperliches ist, aufs zutreffendste zum Ausdruck gebracht. Und auch die Dreizahl bezieht

sich in passender Weise auf die Seele, da sie ja durch das Eine als Bestandteil unteilbar

zusammengebunden ist; wie auf der anderen Seite die Vierzahl, da sie ja zwei Bestandteile hat

und daher teilbar ist, sich ihrem Wesen gemäß auf den Körper bezieht.

Das erste Fortschreiten der Seele besteht also darin, daß sie sich von ihrem einfachen

Wesen, welches durch die Einheit dargestellt wird, zu einer der Möglichkeit nach

existierenden Dreiheit ausdehnt, in welcher sie durch Verlangen das eine erstrebt, durch Zorn

das andere verwirft und kraft der Vernunft zwischen beiden die Entscheidung trifft. Und mit

Recht heißt es, sie schreite von der Einheit zur Dreiheit fort, denn jede Wesenheit ist ja von

Natur aus früher als ihre Kraftentfaltung. Die Tatsache, daß dieselbe Einzahl sich in der

Dreizahl verdreifacht wiederfindet, bedeutet weiterhin, daß die Seele nicht in Teilen besteht,

sondern in jeder ihrer Kräfte als Ganzes existiert. Denn wir können nicht sagen, daß die

Vernunft, der Zorn oder das Verlangen für sich genommen jeweils den dritten Teil der (165)

Seele bilden, da der Substanz nach die Vernunft weder etwas anderes noch weniger als die

Seele ist, der Zorn nichts anderes und nicht weniger als die Seele ist und auch das Verlangen

nichts anderes und nicht weniger als die Seele ist. Vielmehr erhält ein und dieselbe Substanz,

die Seele, verschiedene Namen gemäß ihren verschiedenen Manifestationen.

Dann schreitet die Seele in einer zweiten Progression von ihrer potentiellen Dreiheit zur

Regelung der Musik des menschlichen Körpers hinab. Diese Musik ist durch die Neunzahl

bestimmt, denn es gibt neun Öffnungen im menschlichen Körper, durch die nach natürlicher

Einrichtung alles ein- und ausfließt, was den Körper ernährt und lenkt. Auch unter den

Progressionen besteht also eine Reihenfolge, denn die Seele besitzt ja von Natur aus ihre

Kräfte schon bevor sie eine Verbindung mit dem Körper eingeht.

Als nächstes aber tritt die Seele in einer dritten Progression bereits durch die Sinne aus

sich heraus, befaßt sich mit den sichtbaren Dingen – welche durch die Zahl

siebenundzwanzig gekennzeichnet sind, eine Kubikzahl, in ihrer Dreidimensionalität dem

Körper ähnlich – und zerstreut sich so in zahllosen Tätigkeiten.

In einer vierten Progression aber löst sich die Seele vom Körper und kehrt zur Reinheit

ihres ein-fachen Seins zurück. Deshalb erscheint auch in der vierten Multiplikation, in

welcher aus drei mal siebenundzwanzig die einundachtzig entsteht, als Schlußergebnis die

Eins, damit ganz offenkundig klar werde, daß die Seele nach dem Ende dieses Lebens,

welches durch die achtzig bezeichnet wird, zur Einheit ihres einfachen Seins zurückkehrt,

von der sie ja ausgegangen war, als sie niederstieg, um die Herrschaft über einen

menschlichen Körper zu übernehmen. Daß aber das Ende des menschlichen Lebens von

Natur aus auf achtzig festgesetzt ist, verkündet der Prophet, wenn er sagt: „Bei kräftiger

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Gesundheit achtzig Jahre, darüber aber nur Mühsal und Schmerz“ (vgl. Ps 90,10: Vg. 89,10).

(167)

Einige glauben, diese vierfache Progression sei als die Vierzahl der Seele zu deuten, die

wir oben angesprochen haben, und sie nennen diese die Vierzahl der Seele im Unterschied zu

der Vierzahl des Körpers.

Kapitel 5: Die Vierzahl des Körpers

Denn auch dem Körper schreiben sie eine Vierzahl zu. Wie der Seele die Einheit, so

kommt dem Körper die Zweiheit zu. Denn: Zwei mal zwei macht vier; zwei mal vier macht

acht; zwei mal acht macht sechzehn; und zwei mal sechzehn macht zweiunddreißig. Auch

hier finden sich auf der vierten Stufe dieselbe Zahl, mit der die Multiplikation begann,

nämlich die Zweizahl; und wenn du die Rechnung bis zur Unendlichkeit fortsetzt, wirst du

zweifellos feststellen, daß stets auf der vierten Stufe die Zweizahl zum Vorschein kommt. Und

dies ist die Vierzahl des Körpers, aus welcher zu ersehen ist, daß alles, was aus Teilbarem

zusammengesetzt ist, auch selbst teilbar ist.

Und nun siehst du deutlich genug, meine ich, wie die Seelen von intellektiblen zu

intelligiblen Wesenheiten degenerieren, wenn sie von der Reinheit einfacher

Vernunfterkenntnis, die durch kein Abbild körperlicher Dinge getrübt ist, zur Vorstellung

von sichtbaren Dingen hinabsteigen; und wie sie wieder glücklicher werden, wenn sie sich aus

dieser Zerstreuung wieder zum einfachen Ursprung ihrer Natur sammeln und gleichsam das

Zeichen in sich tragen, das die vollkommene Gestalt ihnen eingeprägt hat. Es ist also, um

mich deutlicher auszudrücken, das Intellektible in uns soviel wie die Vernunfterkenntnis, das

Intelligible aber soviel wie das Vorstellungsvermögen. Vernunfterkenntnis aber ist das

unverfälschte und sichere Wissen von den alleinigen Urgründen der Dinge, das heißt von

Gott, von den Ideen, der Ur-Materie und den unkörperlichen (169) Substanzen.

Vorstellungsvermögen aber ist die Erinnerung an Sinneswahrnehmungen aufgrund der im

Geist haftenden Spuren der wahrgenommenen körperlichen Dinge; es besitzt aus sich selbst

nichts Gewisses als Grund seiner Erkenntnis. Sinneswahrnehmung aber ist, was die Seele im

Körper durch die Eigenschaften der Dinge der Außenwelt an Eindrücken aufnimmt.

Kapitel 6: Das Quadrivium

Da also, wie oben gesagt, der eigentliche Gegenstand der Mathematik die abstrakte

Quantität ist, so sind nun die Unterteilungen der Mathematik gemäß den verschiedenen Arten

von Quantität zu ermitteln. Abstrakte Quantität ist nichts anderes als eine in ihrer linearen

Dimension sichtbare, dem Geist eingeprägte Form, die in der Vorstellung existiert. Sie besteht

aus zwei Arten: Die eine ist zusammenhängende Quantität, wie etwa ein Baum oder ein Stein,

und wird „Größe“ genannt; die andere ist getrennte Quantität, wie etwa eine Herde oder ein

Volk, und wird „Menge“ genannt. Was die Menge angeht, so bestehen einige Quantitäten ganz

durch sich selbst, wie zum Beispiel die Drei, die Vier oder jede andere Zahl; andere aber

bestehen in Relation zu anderen, wie etwa das Doppelte, die Hälfte, Anderthalb, Eineindrittel

und so weiter. Bezüglich der Größe aber gibt es das Bewegliche, wie die himmlischen

Sphären, und das Unbewegliche, wie die Erde. Die Menge, die durch sich selbst besteht, ist der

Gegenstand der Arithmetik, die in Relation zu anderem bestehende Menge aber der der

Musik. Die Kenntnis der unbeweglichen Größe vermittelt die Geometrie; das Wissen von der

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beweglichen (171) Größe beansprucht die Wissenschaft der Astronomie. Die Mathematik

gliedert sich demgemäß also in Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie.

Kapitel 7: Der Begriff „Arithmetik“

Das griechische Wort ares bedeutet im Lateinischen virtus („Kraft“); und rithmus

bedeutet numerus („Zahl“). Die Kraft der Zahl aber besteht darin, daß alles nach ihrer

Ähnlichkeit gebildet worden ist.

Kapitel 8: Der Begriff „Musik“

Musik hat ihren Namen von dem Wort „Wasser“, und zwar weil keine Euphonie, das

heißt Wohlklang, ohne Feuchtigkeit möglich ist.

Kapitel 9: Der Begriff „Geometrie“

Geometrie bedeutet „Messung der Erde“, denn diese Wissenschaft wurde zuerst von den

Ägyptern erfunden, deren Land der Nil in seinen Überschwemmungen mit Schlamm bedeckte

und dadurch alle Grenzlinien verwischte und die daher begannen, das Land mit Stangen und

Schnüren zu vermessen. Später wurde dies von weisen Männern auch auf die Messung der

Räume des Meeres, des Himmels, der Atmosphäre und aller möglichen Körper angewandt und

ausgedehnt. (173)

Kapitel 10: Der Begriff „Astronomie“

Astronomie und Astrologie unterscheiden sich, wie es scheint, dadurch, daß die

Astronomie ihren Namen vom „Gesetz der Sterne“ hat, während Astrologie gewissermaßen

„Rede von den Sternen“ bedeutet. Denn nomia heißt „Gesetz“, und logos bedeutet „Rede“. Es ist

also offensichtlich die Astronomie, die über das Gesetz der Gestirne und die Umdrehung des

Himmels handelt und die die Zonen, Umläufe, Bahnen, Auf- und Untergang der Sterne sowie

die Bedeutung ihrer Namen untersucht. Die Astrologie aber betrachtet die Sterne in ihrem

Einfluß auf Geburt und Tod und alle anderen Geschehnisse; sie ist nur zum Teil natürlich,

zum anderen Teil abergläubisch. Natürlich ist sie insofern, als sie sich mit physischen

Beschaffenheiten beschäftigt, die sich je nach der Stellung der Himmelskörper verändern, wie

etwa Gesundheit und Krankheit, schlechtes und gutes Wetter, Fruchtbarkeit und

Unfruchtbarkeit. Abergläubisch aber ist sie insofern, als sie Dinge behandelt, die sich rein

zufällig ereignen oder die von freier Entscheidung abhängig sind; dies ist das Metier der

„Mathematiker“.

Kapitel 11: Die Arithmetik

Die Arithmetik hat zum Gegenstand die gerade und die ungerade Zahl. Die gerade Zahl

ist entweder paar-paar, paar-unpaar oder unpaar-paar. Auch von der ungeraden Zahl gibt es

drei Arten. Die erste Art sind Primzahlen und nicht zusammengesetzt; die zweite sind

„Sekundzahlen“ (175) und zusammengesetzt; die dritte sind Zahlen, die für sich genommen

Sekundzahlen und zusammengesetzt, im Vergleich zu anderen jedoch Primzahlen und nicht

zusammengesetzt sind.

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Kapitel 12: Die Musik

Es gibt drei Arten von Musik: die Musik des Universums, die des Menschen und die der

Instrumente.

Die Musik des Universums existiert in den Elementen, in den Planeten und in den Zeiten;

bei den Elementen besteht sie in deren Gewicht, Zahl und Maß; bei den Planeten in deren

Stellung, Bewegung und Beschaffenheit; bei den Zeiten in Tagen, durch den Wechsel von

Licht und Nacht, in Monaten, durch das Zu- und Abnehmen des Mondes, und in Jahren,

durch die Folge von Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

Die Musik des Menschen existiert im Körper, in der Seele und in der Verbindung von

beiden. Die Musik des Körpers besteht zum einen in der Lebensaktivität, durch welche der

Körper wächst und die allen Lebewesen eigen ist, zum anderen in den Säften, durch deren

Mischung der menschliche Körper fortbesteht und die allen sinnesbegabten Wesen zukommt,

und sie besteht schließlich in den Tätigkeiten, die den vernunftbegabten Wesen zu eigen sind

und die von der Mechanik geleitet werden. Solange sie nicht das Maß überschreiten, sind

diese Tätigkeiten gut, so daß nicht die Begehrlichkeit durch genau die Mittel gefördert wird,

die eigentlich unserer Schwäche abhelfen sollten. Wie Lukan in seiner Lobrede auf Cato sagt:

„Für ihn ist ein Festmahl, wenn der Hunger gestillt ist; eine

glanzvolle Wohnung, wenn ein Dach ihn vor Unwetter schützt;

kostbare Kleidung, wenn er sich die grobe Toga über die Glieder zieht,

nach dem Brauch der römischen Quiriten.“ (177)

Die Musik der Seele besteht zum einen in ihren Tugenden, wie Gerechtigkeit,

Frömmigkeit, Mäßigkeit, zum anderen in ihren Kräften, wie Vernunft, Zorn und Verlangen.

Die Musik zwischen Körper und Seele ist jene natürliche Freundschaft, durch welche die

Seele mit dem Körper verbunden ist, nicht durch körperliche Bande, sondern durch gewisse

Gefühle der Zuneigung, und zu dem Zweck, dem Körper Bewegung und Sinneswahrnehmung

zu verleihen. Diese Freundschaft ist es, aufgrund deren „niemand sein eigenes Fleisch haßt“

(Eph 5,29). Diese Musik besteht darin, sein Fleisch zu lieben, noch mehr aber seinen Geist,

damit der Körper versorgt werde, aber die Tugend nicht zugrunde gehe.

Die Instrumentalmusik besteht teils im Schlagen, wie auf Trommeln und Saiten, teils im

Blasen, wie von Flöten und Orgeln, und teils in der Stimme, wie bei Gesängen und Liedern.

„Es gibt auch drei Arten von Musikern: Die einen erfinden Lieder, andere spielen die

Instrumente, und wieder andere beurteilen Lied und instrumentale Ausführung.“

Kapitel 13: Die Geometrie

Die Geometrie hat drei Teile: Planimetrie, Altimetrie und Kosmimetrie. Die Planimetrie

mißt das Ebene, also die Länge und die Breite, sie erstreckt sich auf das Vorn und Hinten

und auf das Links und Rechts. Die Altimetrie mißt die Höhe, sie erstreckt sich auf das Oben

und Unten. Denn „hoch“ werden ja sowohl das Meer, im Sinne von „tief“, als auch der Baum,

im Sinne von „hochaufragend“, genannt. Kosmos heißt übersetzt „Welt“, und daher kommt der

Name Kosmimetrie, „Ausmessung der Welt“. Diese mißt das Sphärische, das heißt das Kugel-

und Kreisförmige, wie einen Ball oder ein Ei. Aufgrund der Kugelgestalt der Welt (179) und

wegen deren hervorragender Bedeutung wird die Kosmimetrie so genannt – nicht weil sie nur

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mit der Ausmessung der Welt befaßt ist, sondern weil die Weltkugel unter allen

kugelförmigen Körpern die bedeutendste ist.

Kapitel 14: Die Astronomie

Das eben Gesagte steht nicht im Widerspruch dazu, daß wir oben die unbewegliche Größe

der Geometrie und die bewegliche der Astronomie zugeschrieben haben, denn wir haben dies

mit Bezug auf die erste Erfindung der Geometrie gemeint, aufgrund deren sie „Landmessung“

genannt wird. Wir können auch sagen, daß dasjenige an der Weltkugel, was die Geometrie

erforscht, nämlich die Ausdehnung der himmlischen Zonen und Kreise, unbeweglich ist, was

den Aspekt geometrischer Betrachtung betrifft. Denn die Geometrie betrachtet nicht die

Bewegung, sondern den Raum. Was aber die Astronomie erforscht, ist das Bewegliche,

nämlich die Bahn der Sterne und die Abschnitte der Zeiten. Daher können wir also ganz

allgemein sagen, daß unbewegliche Größe der Gegenstand der Geometrie, bewegliche Größe

der Gegenstand der Astronomie ist, denn obwohl sich beide mit demselben Objekt

beschäftigen, so betrachtet doch die eine an ihm das Bleibende, die andere das

Vorübergehende.

Kapitel 15: Definition des Quadriviums

Arithemtik ist also die Wissenschaft von den Zahlen. Musik ist die Unterscheidung der

Klänge und die Verschiedenheit der Stimmen. Oder auch: Musik oder Harmonie ist der

Einklang von mehreren untereinander verschiedenen, aber zu einer Einheit

zusammengefaßten Dingen. Geometrie ist die Wissenschaft von der unbeweglichen Größe und

die betrachtende Beschreibung der Formen, wodurch die Abgrenzungen eines jeden Dings

aufgezeigt werden. Anders gesagt: die Geometrie ist „die Quelle der Sinneswahrnehmung (181)

und der Ursprung der Wortbezeichnungen“. Astronomie ist die Wissenschaft, die die Räume,

Bewegungen und Kreisläufe der Himmelskörper in ihren festen Zeiten erforscht.

Kapitel 16: Die Physik

Die Physik erforscht und betrachtet die Ursachen der Dinge in ihren Wirkungen und

diese Wirkungen als Ergebnisse ihrer Ursachen.

„Woher Erdbeben kommen, durch welche Kraft tiefe Meere

emporschwellen, Welches die Kräfte der Pflanzen, die Gemüter und

das Wüten der Tiere sind, Jede Art von Buschwerk, von Steinen und

kriechenden Wesen.“

Das Wort physis heißt übersetzt „Natur“, und deshalb hat auch Boethius in der oben

erwähnten Einteilung der Theorik die Physik als Natur-Wissenschaft aufgeführt. Sie wird

auch „Physiologie“ genannt, das heißt „Rede von der Natur der Dinge“, was aber denselben

Gegenstand meint. Mitunter gebraucht man den Begriff Physik im weiteren Sinne, etwa

gleichbedeutend mit Theorik. Gemäß diesem Gebrauch teilen einige die Philosophie in drei

Teile ein, nämlich in Physik, Ethik und Logik. In dieser Einteilung ist die Mechanik nicht

enthalten, vielmehr wird die Philosophie hier auf Physik, Ethik und Logik beschränkt.

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Kapitel 17: Das Spezifische der einzelnen Wissenschaften

Wenn auch alle Wissenschaften auf das eine Ziel der Philosophie zustreben, so verfolgen

sie doch nicht alle denselben Weg; vielmehr hat jede einzelne ihr eigenes Forschungsgebiet,

(183) durch welches sie sich von den anderen unterscheidet.

Gegenstand der Logik sind die Dinge, und zwar wendet sie sich den Begriffen von Dingen

zu: entweder durch die Erkenntnis, so daß die Begriffe weder die Dinge noch deren

Ähnlichkeiten sind, oder durch die Vernunft, so daß die Begriffe zwar nicht die Dinge selbst

sind, wohl aber deren Ähnlichkeiten. Die Logik befaßt sich also mit den Gattungen und

Arten von Dingen.

Die spezifische Aufgabe der Mathematik aber ist es, Dinge, die in der Wirklichkeit

vermischt sind, durch die Vernunft als unvermischt zu zeigen. In der Wirklichkeit findet

man zum Beispiel keine Linie ohne Oberfläche und Volumen. Denn kein Körper besitzt pure

Länge, das heißt ohne Breite und Höhe; vielmehr besitzt jeder Körper diese drei zusammen.

Die Vernunft aber erfaßt die reine Länge an sich, ohne Oberfläche und Dicke, und dies ist

das mathematische Verfahren. Nicht, weil es in der Wirklichkeit so ist oder so sein könnte,

sondern weil die Vernunft oft die Eigenschaften der Dinge nicht so betrachtet, wie sie sind,

sondern so, wie sie sein können, nicht wie sie an sich sondern wie sie im Verhältnis zur

Vernunft sind, das heißt, wie die Vernunft ihnen zu sein gestattet. Dieser Überlegung folgend

hat man gesagt, daß zusammenhängende Größe in eine unendliche Zahl von Teilen geteilt

und getrennte Größe ins Unendliche multipliziert werden kann. Denn darin besteht die

Tätigkeit der Vernunft, daß sie jede Länge in Längen und jede Breite in Breiten teilen kann

und ähnliches mehr und daß sie, wenn sie auch selbst keiner Unterteilung bedarf, allein

durch sich selbst Unterteilungen erzeugt.

Das der Physik eigene Gebiet ist es, die vermischten Wirklichkeiten der Dinge als

unvermischte zu betrachten. Denn die Wirklichkeiten der körperlichen Dinge der Welt sind

nicht rein, sondern aus reinen Wirklichkeiten zusammengesetzt. Diese existieren als solche

eigentlich nirgends, werden aber dennoch von der Physik als reine und absolute (185)

untersucht. So betrachtet die Physik die reine Wirklichkeit des Feuers oder der Erde, der

Luft oder des Wassers, und aus der Betrachtung von deren jeweiliger Natur beurteilt sie die

Zusammensetzung und die Wirkungsweise des aus ihnen zusammengesetzten Ganzen.

Es darf auch nicht übergangen werden, daß allein die Physik sich im eigentlichen Sinne

mit Dingen beschäftigt, die anderen Wissenschaften aber mit Begriffen von Dingen. Die

Logik behandelt die Begriffe selbst, und zwar im Rahmen des Systems von Kategorien,

während die Mathematik sie in ihrer zahlenmäßigen Zusammenstellung behandelt. Die

Logik gebraucht also mitunter die reine Vernunfterkenntnis, während die Mathematik

niemals ohne Vorstellungskraft auskommt und daher nichts wirklich Einfaches erfaßt. Da

nun Logik und Mathematik im Lehrplan der Physik vorangehen und ihr sozusagen als

Hilfsmittel dienen, die jeder sich aneignen muß, bevor er sich der physikalischen Forschung

zuwendet, war es nötig, daß diese Wissenschaften ihre Betrachtung nicht auf die

Wirklichkeiten der Dinge stützen, wo die Erfahrung trügerisch ist, sondern allein auf die

Vernunft, wo die Wahrheit unerschütterlich bleibt, und daß sie dann erst, unter der Führung

der Vernunft, zur erfahrungsmäßigen Untersuchung der Dinge hinabsteigen.

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Nachdem wir also gezeigt haben ,wie die von Boethius aufgestellte Einteilung der Theorik

mit der oben gegebenen übereinstimmt, wollen wir nun kurz beide wiederholen, um so die

einzelnen Benennungen der beiden Einteilungen direkt miteinander zu vergleichen.

Kapitel 18: Zusammenfassung des oben Gesagten

Die Theorik wird eingeteilt in Theologie, Mathematik und Physik, oder anders gesagt:

Die Theorik wird eingeteilt in die intellektible, die intelligible und die natürliche oder noch

anders: Die Theorik wird eingeteilt in die göttliche, (187) die lehrhafte und die Philologie.

Theologie ist also das gleiche wie die intellektible und die göttliche Theorik; Mathematik ist

das gleiche wie die intelligible und die lehrhafte Theorik; und Physik ist das gleiche wie die

Philologie und die natürliche Theorik.

Es gibt solche, die glauben, daß diese drei Teile der Theorik im Namen der Pallas

Athene, die ja für die Göttin der Weisheit gehalten wird, auf geheimnisvolle Weise

angedeutet seien. Denn sie wird „Tritona“ genannt, also „tritoona“, das heißt „dreifache

Kenntnis“, und zwar die Kenntnis Gottes, welche wir die intellektible genannt haben, die

Kenntnis der Seelen, die wir als die intelligible bezeichnet haben, und die Kenntnis der

körperlichen Dinge, welche wir als die natürliche aufgeführt haben. Und mit Recht kommt

der Name „Weisheit“ nur diesen dreien zu. Denn wir können zwar auch die übrigen drei

Wissensbereiche also Ethik, Mechanik und Logik, in nicht unzutreffender Weise der

Weisheit zuordnen, aber in genauerer Definition nennen wir jene doch eigentlich eher

Klugheit oder Wissen – die Logik wegen ihrer Beschäftigung mit der Beredtheit des Wortes,

die Mechanik und Ethik wegen ihrer Beschäftigung mit der Moral und mit den Werken. Die

Theorik allein nennen wir, da sie die Wahrheit der Dinge betrachtet, „Weisheit“.

Kapitel 19: Fortsetzung

Die Praktik wird eingeteilt in die persönliche, die private und die öffentliche oder, anders

gesagt, in die ethische, die ökonomische und die politische oder, wieder anders, in die (189)

moralische, die wirtschaftliche und die staatliche. Dabei sind persönliche, ethische und

sittliche Praktik das gleiche, ebenso private, ökonomische und wirtschaftliche und auch

öffentliche, politische und staatliche. Oeconomus heißt übersetzt Wirtschafter, deshalb wird

die ökonomische Praktik auch „wirtschaftliche Praktik“ genannt. Polis ist das griechische

Wort für das lateinische civitas („Staat“), und daher hat die politische oder staatliche Praktik

ihren Namen. Und wenn wir die Ethik als einen Teil der Praktik definieren, so ist Ethik hier

strikt im Sinne des sittlichen Verhaltens einer jeden Einzelperson zu verstehen, so daß sie

dasselbe bedeutet wie die persönliche Praktik.

Persönliche Praktik also „ist die, welche für sich selbst Sorge trägt und sich mittels

sämtlicher Tugenden erhebt, schmückt und ausweitet, die nichts im Leben zuläßt, an dem sie

sich nicht freuen könnte, und nichts tut, das sie bereuen würde“. Private Praktik ist die,

„welche die Pflichten des Haushaltes regelt und in ausgewogener Anordnung zuteilt“.

Öffentliche Praktik ist die, „welche die Sorge für staatliche Angelegenheiten auf sich nimmt

und dem Wohlergehen aller dient durch die Klugheit ihrer Umsicht, die Ausgewogenheit

ihrer Gerechtigkeit, die Stärke ihrer Tapferkeit und die Geduld ihrer Mäßigung.“

Die persönliche Praktik betrifft also jeden einzelnen, die private die Oberhäupter der

Familien, die politische die Leiter der Städte. Die Praktik selbst „wird ‚die tätige‘ genannt,

weil sie ihre Projekte in ihren Tätigkeiten realisiert. Die moralische Praktik hat ihren

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Namen daher, daß sie eine ehrenhafte Lebensführung anstrebt und Regeln aufstellt, die zur

Tugend anleiten sollen. Die wirtschaftliche Praktik heißt deshalb so, weil sie eine weise

Ordnung für die häuslichen Angelegenheiten einrichtet und die staatliche, weil sie für das

Wohl des ganzen Staates sorgt.“ (191)

Kapitel 20: Die Einteilung der Mechanik in sieben Wissenschaften

Die Mechanik umfaßt sieben Wissenschaften: die Tuchherstellung, die

Waffenschmiedekunst, die Handelsschiffahrt, die Landwirtschaft, die Jagd, die Medizin und

die Theaterkunst. Drei davon beziehen sich auf äußeren Schutz für die menschliche Natur,

wodurch sie sich gegen Widrigkeiten abschirmt, und vier beziehen sich auf die innere

Ausstattung, wodurch sie sich ernährt und für ihren Unterhalt sorgt. In dieser Einteilung

besteht eine Ähnlichkeit zum Trivium und Quadrivium, denn das Trivium befaßt sich ja mit

Worten, die etwas Äußerliches sind, und das Quadrivium mit Begriffen, die innerlich

gebildet werden. Die mechanischen Wissenschaften sind die sieben Dienerinnen, die Merkur

von der Philologie als Mitgift erhielt, denn wenn die Beredsamkeit sich mit der Weisheit

verbindet, ist ihr wahrhaftig jede menschliche Tätigkeit dienstbar. Wie Cicero in seinem

Buch über die Rhetorik vom Studium der Beredsamkeit sagt: „Durch sie wird das Leben

sicher und ehrenhaft, glanzvoll und angenehm. Denn aus der Beredsamkeit erwachsen dem

Gemeinwesen zahlreiche Vorteile, vorausgesetzt, die Weisheit, die Lenkerin aller Dinge, ist

auch mit dabei; aus der Beredsamkeit fließen für diejenigen, die sie erworben haben, Lob,

Ehre und Würde; aus der Beredsamkeit gewinnen sogar noch die Freunde jener Beredten

sichersten und verläßlichsten Beistand.“

Diese Wissenschaften heißen „die mechanischen“, das heißt die unechten, weil sie sich

mit dem Werk des schaffenden Menschen befassen, der seine Form der Natur entlehnt.

Ebenso heißen die anderen sieben die freien, weil sie einen freien, das heißt ungebundenen,

und geübten Geist erfordern – denn diese Wissenschaften behandeln ja auf subtile Weise die

Ursachen der Dinge – oder weil im Altertum nur die Freien, also die Adligen, sich ihnen zu

widmen pflegten, während die gewöhnlichen Leute und die (193) Söhne aus unfreien Familien

sich der Mechanik zuwandten, wegen ihrer Erfahrung in körperlicher Arbeit. In all diesem

sieht man die große Sorgfalt der Alten, die keinen Bereich unberührt lassen, sondern alles

unter bestimmte Regeln und Vorschriften zusammenfassen wollten. Und die Mechanik

definierten sie als die Wissenschaft, welche die Herstellung aller Dinge umfaßt.

Kapitel 21: Erstens: Die Tuchherstellung

Die Tuchherstellung umfaßt alle Arten des Webens, Nähens und Spinnens, sei es mit der

Hand, der Nadel, der Spindel, der Ahle, der Spule, dem Kamm, der Haspel, dem Brenneisen,

der Rolle oder irgendwelchen anderen Werkzeugen; aus irgendeinem Leinen- oder Wollstoff,

aus jeglicher Art von geschabten oder behaarten Häuten, auch aus Hanf oder Kork, Binsen,

Haaren, Wollflocken oder irgendeinem anderen Stoff dieser Art; zum Gebrauch als Kleidung,

Decken, Leinenzeug, Mäntel, Sättel, Teppiche, Vorhänge, Servietten, Filze, Schnüre, Netze,

Seile; auch Stroh verwenden die Menschen, um Hüte und Körbe zu flechten. Alle diese

Beschäftigungen gehören zur Tuchherstellung.

Kapitel 22: Zweitens: Die Waffenschmiedekunst

Als zweites folgt die Waffenschmiedekunst. Als „Waffen“ werden mitunter alle möglichen

Werkzeuge bezeichnet, so wie wir etwa von den Waffen des Krieges oder den Waffen eines

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Schiffes sprechen und damit das in einem Krieg oder auf einem Schiff verwendete Gerät

meinen. Ansonsten sind Waffen im eigentlichen Sinne aber das, womit wir uns schützen, wie

zum Beispiel der Schild, der Brustpanzer und der Helm, oder das, womit wir schlagen, wie

das Schwert, die Streitaxt und der Spieß. Geschosse aber sind Waffen, die wir schleudern

können, wie Speer und Pfeil.

Das Wort arma („Waffen“) kommt von armus („Arm“), weil sie den Arm schützen, den

wir meist den Schlägen (195) entgegenhalten. Das Wort tela („Geschosse“) aber kommt von dem

griechischen telon, das bedeutet „lang“, denn diese Waffen sind lang; daher verwendet man

auch das Wort protelare im Sinne von prolongare („verlängern“).

Die Waffenschmiedekunst wird also gleichsam als Werkzeugkunde bezeichnet, nicht so

sehr, weil sie bei ihrer Tätigkeit Werkzeuge verwendet, sondern weil sie aus einem

vorgegebenen formlosen Stoff etwas sozusagen zu einem Werkzeug macht. Als solch ein Stoff

dienen alle Arten von Stein, Holz, Metall, Sand und Ton.

Diese Wissenschaft besteht aus zwei Arten, der architektonischen und der

handwerklichen. Die architektonische wird eingeteilt in die Steinarbeit also das Metier des

Mauerers und des Steinhauers, und die Holzarbeit, die Tätigkeit des Schreiners und des

Zimmermanns, aber auch anderer Handwerker dieser Art, die mit Äxten und Beilen, Feile

und Brett, Säge und Bohrer, Hobeln, Messern, Kelle, Richtscheit ihre Arbeit tun, indem sie

glätten, behauen, schnitzen, feilen, schaben,, zusammenfügen und anstreichen, und zwar mit

allem möglichen Material, Lehm, Ziegeln, Stein Holz, Knochen, Kies, Kalk, Gips und

ähnlichem mehr. Die handwerkliche Art wird eingeteilt in Hammerarbeit, welche das

Material durch Schläge zu einer bestimmten Form ausweitet, und Gußarbeit, welche das

Material durch Gießen in eine bestimmte Form zurückdrängt. Deshalb „werden diejenigen,

die aus der Gestaltlosigkeit des Materials die Form eines Gerätes herzustellen verstehen,

Gießer genannt“.

Kapitel 23: Drittens: Die Handelsschiffahrt

Die Handelsschiffahrt umfaßt allen Handel mit heimischen oder fremden Waren in

Kauf, Verkauf und Tausch. Sie ist für ihren Bereich zweifellos eine besondere Art der

Rhetorik, (197) denn Beredsamkeit ist für diese Beschäftigung in ganz besonderem Maße

vonnöten. Deshalb wird auch jemand, der über hervorragende Redegabe verfügt, „Mercurius“

genannt, gleichsam als kirrius, also „Herr“ der Kaufleute. Die Handelsschiffahrt erforscht die

entlegenen Teile der Welt, sie erreicht bisher nie gesehene Küsten, durchzieht furchtbare

Wüstenregionen und treibt selbst mit barbarischen Völkerschaften und in unbekannten

Sprachen menschenfreundlichen Handel. Ihr Wirken versöhnt Völker und beschwichtigt

Kriege, es festigt den Frieden und verwandelt den privaten Vorteil des einzelnen in den

gemeinsamen Nutzen aller.

Kapitel 24: Viertens: Die Landwirtschaft

Die Landwirtschaft hat vier Unterarten: die des Ackerlandes, das für die Saat vorgesehen

ist; die des Pflanzlandes, zur Anpflanzung mit Bäumen bestimmt wie zum Beispiel in

Weinbergen, Obstgärten und Forsten; die es Weidelandes wie bei Wiesen, Matten oder

Heideland; und die der Blumenzucht wie bei Gärten und Rosenhecken.

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Kapitel 25: Fünftens: Die Jagd

Die Jagd wird eingeteilt in die Wildjagd, die Vogeljagd und den Fischfang. Die Wildjagd

wird auf viele verschiedene Weisen betrieben: mit Netzen, Schlingen, Fallstricken,

Fallgruben, dem Bogen, mit Speeren, der Lanze, mit Einkreisung, Ausräucherung, mit

Hunden und Falken. Die Vogeljagd geschieht mit Fallstricken, Schlingen, Netzen, mit dem

Bogen, der Leimrute und der Angel. Fischfang geschieht mit Schleppnetzen, Garnen, Reusen,

Angeln und Spießen.

Zu dieser Wissenschaft gehört auch die Zubereitung aller Speisen, Delikatessen und

Getränke. Ihren Namen hat sie von einer ihrer Unterarten erhalten, weil man sich im

Altertum nur durch die Jagd zu ernähren pflegte, wie man (199) auch heute noch in

bestimmten Gegenden, wo der Verzehr von Broten etwas sehr Seltenes ist, als Speise nur

Fleisch und als Getränk nur Wasser oder Honigwein zu sich nimmt.

Bei der Speise unterscheidet man Brot und Zukost. Das Brot hat seinen Namen panis oder

auch ponis daher, daß es auf allen Tischen aufgetragen wird (apponitur), oder aber von dem

griechischen Wort pan, was „alles“ bedeutet, weil kein gutes Mahl ohne Brot auskommt. Es

gibt viele Arten von Brot: ungesäuertes und gesäuertes, unter der Asche gebackenes, braunes

und lockeres Brot, Kuchen, Fladenbrot, süßes Brot, Weizenbrot, Stärkebrot, Weißbrot und

viele andere mehr. Zubrot ist das, was man zusammen mit dem Brot ißt, wir können dies auch

ganz allgemein als Speise bezeichnen. Auch davon gibt es viele Arten: Fleischsorten,

Fleischtöpfe, Breie, Gemüse und Früchte. Von den Fleischspeisen sind manche geröstet,

manche gebraten, manche gekocht, roh oder gesalzen. Andere Arten sind die Speckseite,

Rauchspeck und verschiedene Schinken, Schmer, Fett, Schmalz und Talg. Auch von den

Fleischtöpfen gibt es verschiedene Arten: lukanische Wurst, Hackfleisch, Pastete, galatische

Torte und all die anderen, die nur ein wahrer Fürst der Küchenmeister erfinden konnte. Die

Breie enthalten Milch, Kolostrum, Butter, Käse und Molke. Und wer könnte die Namen all

der Gemüse und Früchte aufzählen?

Von den Delikatessen sind manche heiß, andere kalt, manche bitter, andere süß, manche

trocken, andere feucht.

Von den Getränken sind manche nur Getränk, das heißt, sie befeuchten, ohne zu nähren,

wie zum Beispiel Wasser; andere sind sowohl Getränk als auch Speise, denn sie befeuchten

und nähren, wie der Wein. Von den nährenden Getränken sind wiederum einige von Natur

aus nahrhaft wie Wein und jedes andere gegorene Getränk, andere nur nebenbei wie das Bier

und die verschiedenen Metsorten. (201)

Die „Jagd“ umfaßt also alle Aufgaben der Bäcker, Metzger, Köche und Schankwirte.

Kapitel 26: Sechstens: Die Medizin

„Die Medizin wird in zwei Teile eingeteilt“: Die Ursachen und die

Behandlungsmaßnahmen. Von den Ursachen gibt es sechs: Luft, Bewegung und Ruhe,

Entleerung und Füllung, Speise und Trank, Schlafen und Wachen und die Befindlichkeit des

Seelenlebens. Man nennt diese die „Ursachen“, weil sie die Gesundheit herstellen und

bewahren, wenn sie im richtigen Maß gebraucht werden, und Krankheit verursachen, wenn

dies nicht geschieht. Die Seelenbefindlichkeiten werden deshalb als Ursachen für Gesundheit

oder Krankheit bezeichnet, weil sie mitunter zur Erhitzung führen, entweder auf stürmische

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Weise, wie beim Zorn, oder auch sanft, wie bei Freude, und weil sie auch andererseits die

Körperwärme an sich ziehen und geradezu verschwinden lassen, wiederum entweder

stürmisch, wie bei Schrecken und Furcht, oder eher sanft, wie bei Besorgnis. Andere

Seelenregungen beeinflussen die natürliche Lebenskraft sowohl auf innerliche wie auch auf

äußerliche Weise, wie zum Beispiel die Traurigkeit.

Jede medizinische Behandlung ist entweder innerlich oder äußerlich. Innerlich sind

diejenigen, die durch den Mund, die Nasenlöcher, die Ohren oder den After eingeführt

werden, wie zum Beispiel Heiltränke, Brechmittel, Pulver und ähnliche Dinge, die durch

Trinken, Kauen oder Aufsaugen eingenommen werden. Äußerliche Behandlungen sind etwa

Binden, Umschläge, Pflaster und die Chirurgie, die zweigeteilt ist: die am Fleisch arbeitende,

wie Schneiden, Nähen und Brennen, und die am Knochen arbeitende, wie Einrichten und

Zusammenfügen.

Es soll sich nun aber niemand wundern, daß ich Speise und Trank unter die Merkmale

der Medizin zähle, obwohl (203) ich sie doch oben der Jagd zugeschrieben habe. Dies ist

nämlich unter jeweils verschiedenen Gesichtspunkten geschehen. Der Wein etwa gehört in der

Traube zum Bereich der Landwirtschaft, im Faß zum Gebiet des Kellermeisters und im

Genuß zu dem des Arztes. In ähnlicher Weise gehört die Zubereitung von Speisen zu

Bäckerei, Metzgerei und Küche, die Auswirkungen ihres Verzehrs aber sind Gegenstand der

Medizin.

Kapitel 27: Siebtens: Die Theaterkunst

Die Wissenschaft von der Unterhaltung nennt man „Theaterkunst“, und sie hat ihren

Namen vom Theater, wo das Volk gewöhnlich zu unterhaltsamen Vorführungen

zusammenkam. Dies geschah nicht, weil das Theater der einzige Platz war, wo solche

Vorführungen stattfanden, sondern weil es der beliebteste Ort dafür war. Manche

Vorführungen fanden in Theatern statt, andere in Vorhallen von Häusern, in Gymnasien,

Amphitheatern, Kampfplätzen, bei Gastmählern und an Heiligtümern. Im Theater wurden

die großen Tatenberichte rezitiert, in Form von vorgetragenen Dichtungen oder in

dramatischer Darstellung oder durch Masken oder Puppen. In den Vorhallen führte man

Chöre und Tänze auf; in den Gymnasien wurde gerungen; in den Amphitheatern fanden

Wettrennen zu Fuß, zu Pferd und mit Wagen statt; auf den Kampfplätzen traten die

Faustkämpfer auf. Bei den Gastmählern machte man Musik mit Liedern, Instrumenten und

Gesängen und spielte Würfel; in den Heiligtümern sang man zu den Festzeiten den Göttern

Lobgesänge. Man zählte diese Unterhaltsamkeiten aber deshalb zu den erlaubten

Handlungen, weil durch maßvolle Bewegung die natürliche Wärme des Körpers erhalten und

durch Frohsinn der Geist erfrischt wird. Ein anderer, noch wahrscheinlicherer Grund war

dies: Da es notwendig war, daß das Volk gelegentlich zu Vergnügungen zusammenkam, wollte

man, daß bestimmte (205) Plätze für diese Vergnügungen vorhanden seien, damit die Menschen

sich nicht in Wirtshäusern versammelten und irgendwelche Schändlichkeiten oder

Verbrechen begingen.

Kapitel 28: Die Logik als der viere Teil der Philosophie

Die Logik wird eingeteilt in Grammatik und Argumentationslehre. Das griechische Wort

gramma bedeutet auf lateinisch littera („Buchstabe“), und daher spricht man von Grammatik,

also der „Lehre von den Buchstaben“ (litteralis scientia). Buchstabe im eigentlichen Sinne

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meint das geschriebene Zeichen, der Begriff „Element“ dagegen steht für den gesprochenen

Laut. Hier allerdings muß „Buchstabe“ im weiteren Sinne verstanden werden, in der

Bedeutung „Laut“ ebenso wie in der von „Schriftzeichen“, denn beides gehört zur Grammatik.

Einige sagen, die Grammatik sei kein Bestandteil, sondern sozusagen nur ein Anhängsel

oder ein Hilfsmittel der Philosophie. Über die Argumentationslehre aber sagt Boethius, diese

könne sowohl Bestanteil als auch Hilfsmittel der Philosophie sein, ebenso wie der Fuß, die

Hand, die Zunge, die Augen und ähnliches sowohl Bestandteile als auch Hilfsmittel des

Körpers sind.

Einfach gesagt, handelt die Grammatik von den Wörtern, das heißt von ihrer Erfindung,

Bildung, Zusammensetzung, (207) Beugung, Aussprache und anderem mehr, das sich auf die

lautliche Äußerung bezieht. Die Argumentationslehre aber handelt von den Wörtern im

Hinblick auf ihren begrifflichen Inhalt.

Kapitel 29: Die Grammatik

Die Grammatik wird eingeteilt in die Lehre von den Buchstaben, von den Silben, den

Wörtern und den Sätzen. Auf eine andere Weise wird sie eingeteilt in Buchstaben, also das,

was man schreibt, und Wörter, also das, was man ausspricht. Wiederum anders wird die

Grammatik eingeteilt in Substantiv, Verb, Partizip, Pronomen, Adverb, Präposition,

Konjunktion, Interjektion, in das gesprochene Wort, den Buchstaben, die Silbe, Versfuß,

Betonung und Länge, Interpunktion, Rechtschreibung, Analogie, Etymologie, Glossen,

Abweichungen, Barbarismus, Solözismus, Fehler, Metaplasma, Redewendungen, Tropen,

Prosa, Versdichtung, Fabeln, Geschichten. Die Erklärung all dieser Begriffe übergehe ich

aber hier, weil das viel mehr Platz erfordern würde, als es die Kürze dieses Büchleins erlaubt,

und weil ich es in diesem kleinen Werk lediglich unternommen habe, den Einteilungen und

den Namen der Dinge nachzuspüren, um so für den Leser eine gewisse Grundlage der Bildung

bereitzustellen. Wer aber all diese Dinge wissen möchte der soll den Donat und den Servius

lesen, von Piscian die Werke „Über die Akzente“ und „Über zwölf Verse des Vergil“, außerdem

„Der Barbarismus“ und von Isidor die „Etymologien“. (209)

Kapitel 30: Die Argumentationslehre

Die Argumentationslehre umfaßt als integrale Bestandteile die Erfindung und die

Beurteilung, als separate Unterabteilungen aber die Beweisführung, die Überzeugung und die

Überredung. Die Beweisführung besteht aus zwingenden Argumenten und obliegt den

Philosophen; die Überzeugung ist Sache der Dialektiker und Rhetoriker; die Überredung aber

die der Sophisten und Schwätzer. Die Überzeugung gliedert sich in Dialektik und Rhetorik,

die beide als integraler Bestandteile die Erfindung und die Beurteilung enthalten. Denn da

diese beiden für die ganze Gattung der Argumentationslehre konstitutiv sind, finden sie sich

notwendigerweise in allen ihren Unterarten. Die Erfindung lehrt das Ermitteln von

Argumenten und das Ausarbeiten von Argumentationslinien. Die Wissenschaft von der

Beurteilung lehrt das Beurteilen von Argumenten und Argumentationslinien.

Man könnte nun die Frage stellen, ob Erfindung und Beurteilung wirklich zur

Philosophie gehören, denn sie scheinen weder in der Theorik noch in der Praktik oder der

Mechanik enthalten zu sein und auch nicht in der Logik, wo man sie doch am ehesten

erwarten sollte. Sie sind in der Logik nicht enthalten, da sie weder ein Bereich der

Grammatik noch der argumentierenden Logik sind. Sie sind aber kein Bereich der

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29

argumentierenden Logik, weil sie diese insgesamt umfassen; und nichts kann ja gleichzeitig

integraler und separater Teil ein und derselben Gattung sein. So gesehen scheint also die

Philosophie nicht das gesamte Wissen zu umfassen.

Man muß jedoch wissen, daß das Wort scientia („Wissen[schaft]“) üblicherweise in

zweierlei Bedeutung gebraucht wird, nämlich einerseits für eine bestimmte

Wissenschaftsdisziplin, wie wenn ich sage, daß die Dialektik (211) ein „Wissen“ ist, also eine

Kunst oder Wissenschaft, und andererseits für eine beliebige Art von Kenntnis, wie wenn ich

sage, daß einer, der etwas weiß, Wissen hat. Wenn ich also zum Beispiel etwas von der

Dialektik weiß, habe ich wissen; wenn ich zu schwimmen weiß, habe ich Wissen; wenn ich

weiß, daß Sokrates der Sohn des Sophroniskus war, habe ich Wissen. Und so kann man ganz

allgemein von jemand, der etwas weiß, sagen, er habe Wissen. Aber es ist eine Sache, wenn ich

sage: „Die Dialektik ist ein Wissen, also eine Kunst oder Wissenschaft“, und eine andere,

wenn ich sage: „Zu wissen, daß Sokrates der Sohn des Sophroniskus war, ist Wissen, also eine

Kenntnis von etwas.“ Von jedem Wissen, das eine Kunst oder Wissenschaft ist, läßt sich mit

Recht sagen, daß es eine separate Abteilung der Philosophie darstellt; aber es kann nicht

generell gesagt werden, daß jedes Wissen, das eine Kenntnis von etwas ist, eine separate

Abteilung der Philosophie darstellt. Jedoch ist durchaus jedes Wissen ob es nun eine

Wissenschaftsdisziplin oder irgendeine Kenntnis von etwas ist, Teil der Philosophie, entweder

als ihr integraler Bestandteil oder als eine separate Unterabteilung.

Eine Wissenschaft aber ist ein Wissen, das einen eigenständigen Endzweck hat, in

welchem sich das Vorhaben dieses Wissensbereiches vollständig verwirklicht. Bei dem Wissen

von der Erfindung und der Beurteilung trifft dies jedoch nicht zu, denn keines von diesen

beiden existiert selbständig in sich. Deshalb können sie nicht „Wissenschaften“ genannt

werden, sondern sind (integrale) Teile einer Wissenschaft, nämlich der argumentierenden

Logik.

Weiterhin stellt sich die Frage, ob Erfindung und Beurteilung zugleich Teile der

Dialektik und der Rhetorik sind. Dies scheint nicht möglich zu sein, da ja dann zwei

unterschiedliche Gattungen aus identischen Teilen bestünden. Es kann jedoch gesagt werden,

daß diese zwei Wörter gleichlautend für die Teile der Dialektik und der Rhetorik gebraucht

werden. Oder vielleicht kann man noch zutreffender (213) sagen, daß Erfindung und

Beurteilung eigentlich Teile der argumentierenden Logik sind und unter diesen

Bezeichnungen mit jeweils einem Namen benannt werden können, daß sie aber in den

Unterabteilungen dieser Gattung durch bestimmte Eigenschaften voneinander unterschieden

sind. Diese Unterschiede werden durch die Benennungen „Erfindung“ und „Beurteilung“

jedoch nicht zum Ausdruck gebracht, weil diese Namen sie nicht in ihrer Eigenschaft als

separate Arten bezeichnen, sondern nur in ihrer Eigenschaft als Teile einer Gattung.

Grammatik ist die Wissenschaft vom fehlerfreien Sprechen; Dialektik ist die

scharfsinnige Untersuchung, die das Wahre vom Falschen unterscheidet; Rhetorik ist die

Wissenschaft, von allem Rechten zu überzeugen. (215)

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30

DRITTES BUCH

Kapitel 1: Ordnung und Methode in Studium und Wissenschaft

Die Philosophie ist eingeteilt in Theorik, Praktik, Mechanik und Logik. Die Theorik ist

eingeteilt in Theologie, Physik und Mathematik; die Mathematik wiederum in Arithmetik,

Musik, Geometrie und Astronomie. Die Praktik ist eingeteilt in die persönliche, die private

und die öffentliche. Die Mechanik ist eingeteilt in Tuchherstellung, Waffenschmiedekunst,

Handelsschiffahrt, Landwirtschaft, Jagd, Medizin und Theaterkunst. Die Logik ist eingeteilt

in Grammatik und Argumentation; die Argumentation wiederum in Beweisführung,

Überzeugung und Überredung; die Überzeugung ist eingeteilt in Dialektik und Rhetorik.

In dieser Einteilung sind nur die separaten Abteilungen der Philosophie enthalten; es

gibt noch weitere Unterteilungen dieser Abteilungen, aber die obigen können für jetzt

genügen. Wenn man nur die Anzahl der einzelnen Wissenschaften nimmt, kommt man auf

einundzwanzig; will man aber jeden erwähnten Bereich zählen, so erhält man

achtundzwanzig.

Verschiedene Männer sind nach der Überlieferung die Urheber dieser Wissenschaften

gewesen. Sie haben die Wissenschaften entwickelt, die einen durch Begründen, die anderen

durch Erweitern, wieder andere durch Vervollkommnen. Deshalb werden oft für ein und

dieselbe Wissenschaft mehrere Urheber angegeben. Im folgenden werde ich die Namen einiger

von diesen aufzählen.

Kapitel 2: Die Urheber der Wissenschaften

Ein Theologe bei den Griechen war Linus, bei den Lateiner Varro und in unserer Zeit

Johannes Scotus, mit seinen (217) „Zehn Kategorien im Verhältnis zu Gott“. Die Natur-Physik

wurde bei den Griechen von Thales von Milet, einem der sieben Weisen, erfunden, während

bei den Lateinern Plinius darüber geschrieben hat. Pythagoras von Samos erfand die

Arithmetik, und Nikomachus verfaßte ein Werk darüber. „Dies haben bei den Lateinern erst

Apuleius und dann Boethius übersetzt.“ Eben dieser Pythagoras schrieb auch Matentetradem,

ein Buch über die Unterweisung im Quadrivium, und fand heraus, daß der Buchstabe Y eine

Ähnlichkeit mit dem menschlichen Leben darstellt. Der Erfinder der Musik war, wie Mose

sagt (vgl. Gen 4,21), Jubal, der aus dem Geschlecht Kains stammte; die Griechen allerdings

sagen, es sei Pythagoras gewesen, andere nennen Merkur, der als erster das Tetrachord

einführte; wieder andere nennen Linus, Zethos oder Amphion. Von der Geometrie heißt es,

sie sei zuerst in Ägypten erfunden worden; bei den Griechen war Euklid ihr bedeutendster

Vertreter; sein Werk hat Boethius übersetzt. (219) Auch Eratosthenes war außerordentlich

fähig auf dem Gebiet der Geometrie, er berechnete als erster den Erdumfang. Manche sagen,

daß Ham, der Sohn des Noach, der Erfinder der Astronomie war. Die Chaldäer lehrten als

erste die Astrologie, wobei sie besonders den Zeitpunkt der Geburt beachteten; Josephus

versichert allerdings, Abraham habe als erster die Ägypter in der Astrologie unterwiesen. „Die

Astronomie hat Ptolemäus, der König von Ägypten, wiederhergestellt, er stellte auch die

Richttafeln auf, nach denen man den Lauf der Sterne berechnet.“ Manche sagen, daß Nimrod

der Riese der größte Astrologe gewesen sei, auch die Begründung der Astronomie wird ihm

zugeschrieben. „Die Griechen sagen, diese Wissenschaft sei zuerst von Atlas erdacht worden,

und deshalb sagt man auch, daß er den Himmel getragen habe.“

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Der Erfinder der Ethik war Sokrates, er schrieb darüber vierundzwanzig Bücher unter

dem Aspekt des positiven Rechts. Dann schrieb sein Schüler Plato zahlreiche Bücher Über

den Staat, unter dem Aspekt sowohl des natürlichen wie auch des positiven Rechts. Später hat

Cicero in lateinischer Sprache Bücher Über den Staat verfaßt. Und weiterhin schrieb der

Philosoph Fronto das Buch Strategematon, das heißt „Kriegslisten“.

Die Mechanik hat verschiedene Urheber gehabt. Hesiod von Askra war bei den Griechen

der erste, der sich der Beschreibung ländlicher Verhältnisse widmete, und „nach (221) ihm

Demokrit. Auch ein großer Karthager schrieb Studien zur Landwirtschaft in

achtundzwanzig Bänden. Bei den Römern schrieb Cato als erster ein Werk Über die

Landwirtschaft, das später Marcus Terentius Varro noch verbessert hat. In diesen Bereich

gehören auch Vergil mit seinen Georgica, dann Cornelius und Julius Atticus, Ämilianus oder

auch Columella, der berühmte Redner, der den gesamten Bereich dieser Wissenschaft

umfaßte.“ Weiterhin schrieb Vitruv ein Buch Über die Architektur, Palladius ein Buch Über

die Landwirtschaft.

Die Praxis der Tuchherstellung soll den Griechen zuerst Minerva gezeigt haben, und man

glaubt auch, daß sie als erste einen Webstuhl einrichtete, Wolle färbte sowie den Olivenanbau

und das Handwerk erfand. Von ihr lernte Dädalus, und er soll nach ihr das Handwerk

betrieben haben. In Ägypten erfand jedoch Isis, die Tochter des Inachus, die Praxis des

Leinewebens und zeigte, wie man daraus Kleidung herstellt. Außerdem führte sie dort den

Gebrauch der Wolle ein. In Libyen entwickelte sich der Gebrauch des Leinens zuerst am

Tempel des Ammon.

Ninus, der König der Assyrer, war der erste, der Kriege auslöste. Vulkan soll der erste

Schmied gewesen sein, nach der Heiligen Schrift aber war es Tubal. (Gen 4,22) Prometheus

preßte als erster einen Stein in einen Eisenreifen und erfand so den Gebrauch des

Fingerrings.

Die Pelasger erfanden als erste die Schifffahrt. In Griechenland erfand Ceres bei Eleusis

zuerst den Gebrauch des Getreides, in Ägypten Isis. In Italien erfand Pilumnus den Gebrauch

von Weizen und Dinkel und die Weise des Mahlens und Stampfens, während Tagus in

Spanien das Säen (223) erfand. Osiris führte bei den Ägyptern den Weinanbau ein, Liber bei

den Indern. „Dädalus verfertigte als erster einen Tisch und einen Stuhl. Ein gewisser Apicius

stellte als erster das ganze Zubehör für die Küche zusammen, und eben dort starb er

schließlich nachdem er all sein Gut verbraucht hatte, eines freiwilligen Todes.“

Der Urheber der Medizin war bei den Griechen Apollo, und sein Sohn Äskulap erhöhte

sie noch in ihrem Ruhm und in ihrer Wirksamkeit; später starb er durch einen Blitz. Danach

verfiel die Heilkunde und blieb fast fünfhundert Jahre lang unbekannt, bis in die Zeit des

Königs Artaxerxes. Dann brachte sie Hippokrates wieder zurück ans Licht, der als Sohn des

Asklepius auf der Insel Kos geboren worden war.

Die Spiele sollen von den Lydern ihren Ausgang genommen haben, die, aus Asien

kommend, sich unter ihrem Führer Tyrrhenus in Etrurien niederließen und dort, unter all

den anderen Riten ihres Aberglaubens, Schauspiele aufführten. Diesen Brauch imitierten die

Römer und holten sich von dort die Künstler; und deshalb haben die Spiele (ludi) von den

Lydern ihren Namen erhalten.

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Die Buchstaben der Hebräer sollen von Mose und seinem Gesetz ihren Anfang genommen

haben, die der Chaldäer und Syrer von Abraham. Die Buchstaben der Ägypter erfand Isis, die

der Griechen erfanden die Phönizier, Kadmus brachte sie von Phönizien nach Griechenland.

Carmentis, die Mutter des Evander, die mit ihrem eigentlichen Namen Nikostrata hieß,

erfand die lateinischen Buchstaben.

„Die heilige Geschichte hat als erster Mose geschrieben. Bei den Heiden hat zuerst Dares

der Phrygier die Geschichte Trojas herausgegeben, sie soll auf Palmblättern geschrieben

worden sein. Nach Dares galt Herodot als der (225) erste Geschichtsschreiber in Griechenland,

und nach ihm glänzte Pherekydes, zu der Zeit, als Esra das Gesetz schrieb.“ Die Fabeln soll

als erster Alkman aus Kroton erfunden haben.

Ägypten ist die Mutter der Wissenschaften, von dort kamen sie nach Griechenland und

dann nach Italien. In Ägypten wurde die Grammatik erfunden zur Zeit des Osiris, des

Gemahls der Isis. Und auch die Dialektik wurde dort erfunden, und zwar von Parmenides,

der die Städte und die Gesellschaft der Menschen floh und sich lange Zeit auf einem Felsen

aufhielt und so die Dialektik ersann, seitdem wird dieser Felsen der Fels des Parmenides

genannt. „Auch Plato emigrierte nach dem Tod seines Lehrers Sokrates nach Ägypten, und

nachdem er dort die freien Künste kennengelernt hatte, kehrte er nach Athen zurück,

versammelte Schüler um sich an der Akademie, seinem Hause, und widmete sich dort

philosophischen Studien.“ Er lehrte als erster die Griechen die wissenschaftliche Logik, die

später sein Schüler Aristoteles erweiterte, vervollkommnete und zu einer Wissenschaft

ausarbeitete. Marcus Terentius Varro übertrug als erster die Dialektik ins Lateinische. Später

fügte Cicero die Topik hinzu. Demosthenes, (227) der Sohn eines Handwerkers, gilt als

Erfinder der Rhetorik bei den Griechen, Tisias bei den Lateinern, Corax bei den

Syrakusanern. Die Rhetorik wurde in griechischer Sprache behandelt durch Aristoteles,

Gorgias und Hermagoras und ins Lateinische übertragen durch Cicero, Quintilian und Titian.

Kapitel 3: Welche Wissenschaften vornehmlich zu studieren sind

Aus all den Wissenschaften, die oben aufgezählt wurden, haben die Alten in ihren

Studien sieben in besonderer Weise für den Unterricht ausgewählt. In diesen sahen sie eine

im Vergleich zu allen anderen Wissenschaften so überragende Nützlichkeit, daß jeder, der

darin gründlich ausgebildet würde, die Kenntnis der anderen Fächer später eher durch

eigenes Forschen und Üben als durch das Hören von Vorlesungen erlangen könne. Denn diese

Wissenschaften sind sozusagen die besten Werkzeuge und die besten Grundlagen, durch

welche dem Geist der Weg bereitet wird zur vollständigen Erkenntnis der philosophischen

Wahrheit. Deshalb haben sie die Namen Trivium und Quadrivium erhalten, weil der

lebendige Geist durch sie, wie auf bestimmten Wegen (viae), zu den Geheimnissen der

Weisheit gelangt.

Zu dieser Zeit wurde niemand für würdig gehalten, den Namen eines Lehrers zu führen,

der nicht öffentlich die Kenntnis dieser Wissenschaften für sich beanspruchen konnte. Und

auch von Pythagoras heißt es, er sei bei seinem Unterricht so verfahren, daß während der

ersten sieben Jahre in Analogie zur Zahl der sieben freien Künste, keiner seiner Schüler eine

Erklärung über das zu fordern wagte, was von Pythagoras gelehrt wurde; statt dessen glaubte

man den Worten des Lehrers, bis man alles zu Ende gehört hatte und so schließlich selbst die

Begründung für das Gelehrte finden konnte. Manche sollen diese sieben Wissenschaften mit

solchem Eifer gelernt haben, daß sie dieselben (229) vollständig im Gedächtnis hatten. Auf

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diese Weise brauchten sie nie, welche Fragen auch immer sie zur Lösung oder zur Bestätigung

sich vorlegten, in den Büchern hin und her zu blättern um nach den Regeln und Gründen zur

Erklärung des umstrittenen Themas zu suchen, sondern hatten jeden einzelnen Punkt sofort

auswendig bereit. Daher kommt es offensichtlich, daß es in jener Zeit so viele Gelehrte gab,

daß allein diese mehr schrieben, als wir heute lesen können. Die Studenten unserer Zeit aber

können oder wollen keine rechte Methode im Studium einhalten, und deshalb finden wir

viele, die studieren, aber wenige, die weise sind. Mir aber scheint es, der Student sollte nicht

weniger darauf achten, seine Mühe nicht für nutzlose Studien zu verschwenden, als darauf,

bei guten und nützlichen Vorhaben nicht gleichgültig zu bleiben. Es ist schlecht, etwas Gutes

nur nachlässig zu betreiben; schlimmer aber ist es, viel Mühe auf etwas Nichtiges zu

verwenden. Da jedoch nicht alle genügend Urteilskraft besitzen können, um einzusehen, was

ihnen nützt, werde ich nun für den Studenten in knapper Form darlegen, welche Schriften

meiner Meinung nach die nützlicheren sind, und anschließend werde ich noch einige Wort

über die Methode beim Studieren hinzufügen.

Kapitel 4: Die zwei Arten von Schriften

Es gibt zwei Arten von Schriften. Die erste Art umfaßt das, was man im engeren Sinne

Wissenschaften nennt; die zweite aber das, was als Anhang zu den Wissenschaften gilt. Die

Wissenschaften sind der Philosophie untergeordnet, das heißt, sie haben einen bestimmten

und in sich abgeschlossenen Teil der Philosophie zum Gegenstand, wie zum Beispiel die

Grammatik, die Dialektik und ähnliches mehr. Den Anhang zu den Wissenschaften bildet

dasjenige, was zur Philosophie lediglich in irgendeiner Beziehung steht, sich also eigentlich

mit einem nicht-philosophischen Gegenstand (231) beschäftigt. Sicher berührt auch manches

davon gelegentlich in einer unklaren und zusammenhanglosen Weise Themen, die den

Wissenschaften entnommen sind, oder bereitet, wenn die Erzählweise schlicht ist, den Weg

zur Philosophie. Von dieser Art sind alle Werke der Dichter wie etwa Tragödien, Komödien,

Satiren, Heldendichtungen und Lyrik, jambische Gedichte, gewisse didaktische Werke, auch

Fabeln und Geschichtserzählungen und ebenso die Schriften jener, die wir heute

üblicherweise „Philosophen“ nennen, nämlich Leute, deren Gewohnheit es ist, einen ganz

geringfügigen Gegenstand durch wortreiche Weitschweifigkeiten auszudehnen und selbst

einen simplen Gedanken durch verworrene Redewendungen zu verdunkeln. Sie werfen sogar

die verschiedensten Dinge in eins zusammen und machen so gewissermaßen aus einer Menge

von Farben und Formen ein einziges Bild. Merk dir die Unterscheidung die ich für dich

gemacht habe: Wissenschaften und Anhang zu den Wissenschaften sind zwei verschiedene

Dinge. Zwischen diesen beiden scheint mir ein ebensolcher Unterschied zu bestehen, wie ihn

der Dichter beschreibt:

„So viel, wie die biegsame Weide hinter der blaßgrünen Olive

zurücksteht oder die bescheidene Narde hinter den purpurnen

Rosenhecken.“

Deshalb würde derjenige, der zur Wissenschaft gelangen will, dabei aber die wahren

wissenschaftlichen Disziplinen beiseite läßt, um sich in die anderen zu vertiefen, enorme, um

nicht zu sagen unendliche Mühe darin finden und nur ein mageres Ergebnis. Und schließlich

können die Wissenschaften auch ohne jeden Anhang den Studenten zur Vollkommenheit (233)

führen, der Anhang aber, nimmt man ihn ohne die Wissenschaften, bringt keine

Vervollkommnung. Dies trifft um so mehr zu, als diese Anhängsel nichts Erstrebenswertes

haben, das den Studenten anziehen könnte, außer dem, was sie von den Wissenschaften

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übernommen und sich angeeignet haben. Man sollte daher nichts bei ihnen suchen außer

dem, was zu den Wissenschaften gehört. Deshalb ist es meine Auffassung, daß man seine

Mühe vor allem auf die Wissenschaften konzentrieren muß, denn in ihnen liegt die

Grundlage für alles, und in ihnen enthüllt sich die reine und einfache Wahrheit. Im

besonderen ist dies der Fall bei den sieben Wissenschaften, die ich oben erwähnt habe, welche

die Werkzeuge für die gesamte Philosophie sind. Nachher dann, wenn noch freie Zeit übrig

sein sollte, mag man diese anderen Dinge lesen, denn manchmal macht es mehr Freude, wenn

man das Ernste mit dem Vergnüglichen mischt, und Seltenheit erhöht ja noch den Wert des

Guten. So halten wir mitunter einen Gedanken mit größerem Interesse fest, wenn wir mitten

in einer Erzählung auf ihn stoßen. Doch die Grundlage aller Bildung liegt in den sieben

freien Künsten. Vor allen anderen sollte man diese sich aneignen, denn ohne sie kann und

wird die philosophische Wissenschaft überhaupt nichts erklären oder definieren. Diese

hängen so miteinander zusammen und sind in ihren Inhalten wechselseitig so aufeinander

angewiesen, daß, wenn auch nur eine fehlen sollte, all die anderen nicht ausreichen, um

jemanden zum Philosophen zu bilden. Deshalb scheinen mir jene im Irrtum zu sein, die

diesen Zusammenhang unter den Künsten nicht beachten, sich nur einige davon aussuchen

und glauben, sie könnten in diesen vollkommen werden, obwohl sie die anderen ganz

unberührt lassen. (235)

Kapitel 5: Jeder Wissenschaft muß man das Ihre zukommen lassen

Es gibt noch einen weiteren Irrtum, der kaum weniger schwerwiegend ist und den man

unbedingt vermeiden sollte. Gewisse Leute nämlich lassen zwar nichts von dem, was man

lesen muß, aus, verstehen es aber nicht, jeder Wissenschaft das Ihre zukommen zu lassen,

sondern behandeln bei jeder einzelnen Wissenschaft alle anderen gleich mit. In der

Grammatik diskutieren sie über die Theorie der logischen Schlüsse, in der Dialektik

erforschen sie die Kasusflektionen, und, was besonders lächerlich ist, bei der Besprechung

eines Buchtitels behandeln sie fast das ganze Buch und werden mit dem Incipit in der dritten

Unterrichtsstunde noch nicht fertig. Auf diese Weise unterrichten sie nicht andere, sondern

demonstrieren lediglich ihre eigene Gelehrtheit. Wenn sie doch nur auf alle so wirkten, wie

sie auf mich wirken! Sieh doch nur, wie widersinnig diese Praxis ist: Je mehr Überflüssiges

du ansammelst, um so weniger Nützliches kannst du aufnehmen und behalten.

In jeder Wissenschaft sind also zwei Dinge vor allem zu unterscheiden und

auseinanderzuhalten: erstens, wie man die Wissenschaft selbst betreiben soll; zweitens, wie

man die Prinzipien dieser Wissenschaft auf andere Bereiche anwenden soll. Denn Handeln

über eine Wissenschaft und Handeln gemäß einer Wissenschaft sind zweierlei. Handeln über

eine Wissenschaft ist beispielsweise das Behandeln der Grammatik, Handeln gemäß einer

Wissenschaft ist eine Sache auf grammatikalische Weise zu behandeln. Unterscheide diese

beiden wohl: „Handeln über die Grammatik“ und „etwas grammatikalisch behandeln“. Über

die Grammatik handelt, wer sich mit den Regeln für die Wörter und mit den dieser

Wissenschaft eigenen Lehrsätzen befaßt. Grammatikalisch aber handelt jeder, der

regelgerecht spricht oder schreibt. Über die Grammatik zu handeln ist also nur Sache

bestimmter Autoren wie (237) Priscian, Donat, Servius; grammatikalisch zu handeln aber ist

Sache aller.

Wenn wir also über irgendeine Wissenschaft handeln – insbesondere in der Lehre, wo

alles auf eine Kurzfassung reduziert werden und zu leichterem Verständnis bestimmt sein

sollte –, dann muß es genügen, den fraglichen Stoff so kurz und deutlich wie möglich zu

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erklären, damit wir nicht durch das Anhäufen sachfremder Überlegungen den Studenten eher

verwirren als ihn bilden. Wir sollten nicht alles sagen, was wir sagen können, damit nicht

das, was wir sagen müssen, mit geringerer Wirkung gesagt wird. Suche also in jeder

Wissenschaft das, was anerkanntermaßen ganz speziell zu dieser Wissenschaft gehört. Später

dann, wenn du die Wissenschaften studiert und durch Diskussion und Vergleich ihren jeweils

spezifischen Inhalt erkannt hast, dann steht es dir auch frei, die jeweiligen Prinzipien

miteinander in Beziehung zu setzen und aus dieser wechselseitig vergleichenden Betrachtung

heraus dem nachzuforschen, was du bisher nicht so recht verstanden hast. Mach nicht so viele

Umwege, bevor du nicht die direkten Wege kennengelernt hast. Du wirst um so sicherer

gehen, wenn du nicht befürchten mußt, dich zu verirren.

Kapitel 6: Was für das Studium nötig ist

Drei Dinge sind für die Studierenden nötig: natürliche Begabung, Übung und sittliche

Disziplin. Unter natürlicher Begabung ist zu verstehen, daß der Student leicht auf nimmt,

was er hört, und verläßlich behält, was er aufgenommen hat; unter Übung ist zu verstehen,

daß er sein natürliches Talent durch Arbeit und Fleiß ausbildet; und mit sittlicher Disziplin

ist gemeint, daß er ein lobenswertes (239) Leben führt, indem er moralisches Verhalten und

Wissenschaftlichkeit vereint. Wir wollen nun über diese drei Dinge im einzelnen noch einige

einführende Bemerkungen machen.

Kapitel 7: Die natürliche Auffassungsgabe

Diejenigen, welche sich um die Wissenschaft bemühen, müssen sowohl über

Auffassungsgabe als auch über Gedächtniskraft verfügen, denn diese beiden sind bei jedem

Studium und in jedem Fach so miteinander verbunden, daß, wenn das eine fehlt, das andere

niemanden zur Vollendung führen kann, ganz so wie alle Reichtümer nichts nützen, wenn die

Bewachung fehlt, und wie derjenige vergeblich den Behälter verschließt, der nichts

aufzubewahren hat. Die Auffassungsgabe findet die Weisheit, das Gedächtnis bewahrt sie.

Die Auffassungsgabe ist ein dem Geist von Natur aus eingepflanztes Vermögen, das aus

sich selbst heraus wirksam wird. Ihren Ursprung hat sie in der Natur, durch Betätigung wird

sie gefördert, durch übermäßige Arbeit stumpft sie ab, durch maßvolle Übung aber wird sie

geschärft. Wie jemand sehr zutreffend gesagt hat: „Ich will, daß du dich endlich schonst. In

den Büchern steckt doch nur Mühsal – lauf hinaus an die frische Luft!“

Durch zwei Dinge wird die Auffassungsgabe geübt: Lesen und Meditation. Lesen bedeutet,

daß wir uns an Regeln und Vorschriften aus geschriebenen Texten bilden. Es gibt drei Arten

des Lesens: das des Lehrenden, das des Lernenden und das des für sich Lesenden. Denn wir

sagen ja „ich lese jenem ein Buch vor“; „ich lese ein Buch unter ihm“ und (241) „ich lese ein

Buch“. Was man beim Lesen aber besonders beachten muß, sind Ordnung und Methode.

Kapitel 8: Die Ordnung beim Lesen

Eine Art der Ordnung bezieht sich auf die Wissenschaftsdisziplinen, wie wenn ich sage,

die Grammatik sei älter als die Dialektik oder die Arithmetik komme vor der Musik. Eine

andere bezieht sich auf die Bücher, wie wenn ich sage, die Catilinarische Verschwörung gehe

dem Jugurthinischen Krieg voran; wieder eine andere auf die Erzählung, wo es eine

kontinuierliche Abfolge gibt; noch eine andere aber auf die Auslegung.

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Die Ordnung bei den Wissenschaftsdisziplinen folgt einfach ihrer Natur. Die bei den

Büchern folgt der Person des jeweiligen Autors oder dem behandelten Stoff; die bei der

Erzählung folgt der Disposition, von der es zweierlei gibt: die natürliche, wenn also Dinge in

der Reihenfolge ihres Vorkommens berichtet werden und die künstliche, wenn also das, was

später geschehen ist, früher erzählt wird, und das, was früher geschah, später. Bei der

Auslegung richtet sich die Ordnung nach der Untersuchung.

Die Auslegung umfaßt drei Elemente: den Wortlaut, den Sinn und die tiefere Bedeutung.

Der Wortlaut ist die angemessene Anordnung der Wörter, die wir auch Konstruktion nennen.

Der Sinn ist eine gewisse leicht faßbare und offensichtliche Bedeutung, welche der Wortlaut

an der Oberfläche zeigt. Die tiefere Bedeutung ist ein tiefgründiges Verständnis, das man nur

durch die Auslegung und Erläuterung erlangen kann. Hierbei ist die Ordnung die, daß zuerst

der Wortlaut, dann der Sinn und schließlich die (243) tiefere Bedeutung untersucht wird.

Wenn dies geschehen ist, ist die Auslegung vollendet.

Kapitel 9: Die Methode beim Lesen

Die Methode beim Lesen besteht in der Aufgliederung. Jede Aufgliederung beginnt mit

dem Begrenzten und schreitet zum Unbegrenzten fort. Alles Begrenzte aber ist uns besser

bekannt und unserem Verständnis leichter zugänglich. So beginnt die Unterweisung mit dem,

was besser bekannt ist, und führt dann durch dessen Kenntnis zum Wissen von dem, was

verborgen liegt. Außerdem forschen wir vermittels unserer Vernunft, deren eigentliche

Funktion das Aufgliedern ist, wenn wir durch die Aufgliederung und die Erforschung der

Naturen der einzelnen Dinge vom Allgemeinen zum Besonderen hinabsteigen. Denn jedes

Allgemeine ist deutlicher definiert als seine Besonderheiten. Wenn wir lernen, sollten wir

also mit dem beginnen, was besser bekannt, deutlicher definiert und umfassender ist, und

sollten dann, in allmählichem Hinabsteigen und aufgliederndem Unterscheiden der einzelnen

Dinge, die Natur dessen erforschen, was in jenem Allgemeinen enthalten ist.

Kapitel 10: Die Meditation

Meditation ist wohlüberlegtes und anhaltendes Nachdenken, das auf verständige Weise

den Grund, den Ursprung, die Art und den Nutzen jeder Sache erforscht. Die Meditation

nimmt ihren Anfang mit dem Lesen, doch bindet sie (245) sich keineswegs an die Regeln und

Vorschriften des Lesens. Vielmehr freut sie sich daran, durch offenen Raum zu eilen, wo sie

nach freiem Ermessen ihren Blick auf die Betrachtung der Wahrheit richtet, sie freut sich,

bald diese, bald jene Ursachen der Dinge zu erforschen, dann aber ins Tiefgründige

vorzudringen und nichts zweifelhaft, nichts unklar zu lassen. Seinen Anfang nimmt das

Studium also im Lesen, seine Vollendung aber liegt in der Meditation. Wenn einer sie erst auf

vertraute Weise lieben gelernt hat und sich ihr häufig genug willig gewidmet hat, dann wird

sie sein Leben wahrhaftig angenehm gestalten und ihm in der Not reichen Trost bieten. Die

Meditation nämlich ist es vor allem, welche die Seele vom Lärm des irdischen Tuns ablöst

und sie schon in diesem Leben eine Art Vorgeschmack von der Süße der ewigen Ruhe spüren

läßt. Und wenn jemand es gelernt hat, durch das, was geschaffen wurde, Ihn, der alles

geschaffen hat, zu suchen und zu erkennen, dann bildet er seinen Geist mit Wissen und füllt

ihn gleichermaßen mit Freude. Daher kommt es, daß in der Meditation die größte

Beglückung zu finden ist.

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Es gibt drei Arten der Meditation: die eine besteht in der Betrachtung des sittlichen

Verhaltens, die zweite in der Ergründung der Gebote, die dritte in der Erforschung der

göttlichen Werke. Das sittliche Verhalten bezieht sich auf Tugenden und Laster. Das

göttliche Gebot ist entweder Weisung oder Versprechung oder Drohung. Das Werk Gottes ist

alles, was seine Allmacht schafft, was seine Weisheit lenkt und seine Gnade bewirkt. Welche

Bewunderung dies alles verdient, wird ein jeder um so mehr erkenne, je intensiver er sich der

Meditation über Gottes Wunderwerke gewidmet hat.

Kapitel 11: Das Gedächtnis

Was das Gedächtnis angeht, so muß ich meiner Auffassung nach an dieser Stelle vor

allem das folgende erwähnen Wie die Auffassungsgabe durch Aufgliedern erforscht und

findet, (247) so bewahrt das Gedächtnis durch Zusammenfassen. Was wir im Verlauf des

Lernprozesses aufgegliedert haben, müssen wir daher zusammenfassen, um es dem Gedächtnis

anzuvertrauen. Zusammenfassen bedeutet, dasjenige, was ausführlicher beschrieben oder

besprochen worden ist, auf einen kurzen und gedrängten Abriß zu reduzieren. Die Alten

nannten einen solchen Abriß „Epilog“, das heißt, eine kurze Rekapitulation des vorher

Gesagten. Denn jede Abhandlung hat einen Grundgedanken, auf dem die ganze Wahrheit des

Anliegens und die Kraft der Argumentation beruht und auf den sich alles andere bezieht.

Diesen Grundgedanken zu suchen und zu prüfen heißt „zusammenfassen“.

Eine Quelle ist es, aber viele Bächlein – warum solltest du den Windungen des Flusses

folgen? Halte dich an die Quelle und du hast das Ganze. Ich sage dies, weil das Gedächtnis des

Menschen schwach ist und die Kürze liebt, und wenn es sich auf vieles verteilt, so bleibt wenig

für das einzelne übrig. Wir sollten deshalb bei jeder Unterweisung etwas kurz und verläßlich

zusammenfassen, um es in dem kleinen Kasten des Gedächtnisses abzulegen, so daß wir

später, wenn es die Sache erfordert, alles Weitere wieder daraus entwickeln können. Man

muß dies auch häufig im Geist hin und her wenden und aus dem Magen des Gedächtnisses

wieder zur Zunge hervorholen, damit es nicht durch lange Unterbrechung verkümmert.

Deshalb fordere ich dich, mein Student, auf, dich nicht so sehr zu freuen, wenn du vieles

gelesen hast, sondern wenn du vieles verstanden, und nicht nur verstanden, sondern auch

behalten hast. Denn sonst nützt das viele Lesen nichts, und auch nicht das Verstehen. Deshalb

wiederhole ich, was ich oben gesagt habe, daß nämlich diejenigen, die sich um die

Wissenschaft bemühen, Auffassungsgabe und Gedächtniskraft brauchen. (249)

Kapitel 12: Die sittliche Disziplin

Ein weiser Mann, über Methode und Form des Lernens befragt, gab zur Antwort:

„Demut im Sinn und eifriges Forschen und ruhiges Leben;

Schweigsam und zäh untersuchen und arm sein, weit in der Fremde;

Diese erhellen für viele das dunkle Gebiet des Studierens.“

Er hatte wohl, denke ich, den Spruch gehört: „Sittliches Verhalten ist eine Zierde der

Wissenschaft.“ Deshalb fügte er den Vorschriften für das Studium auch solche für das Leben

hinzu, damit der Student sowohl die Art und Weise seines Lebens als auch das Wesen seines

Studiums erkenne. Wissenschaft, die durch ein schamloses Leben befleckt wird, verdient

keinerlei Anerkennung. Wer nach der Wissenschaft strebt, muß deshalb vor allem darauf

achten, die sittliche Disziplin nicht zu vernachlässigen.

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Kapitel 13: Die Demut

Der Anfang der sittlichen Disziplin ist die Demut. Deren Lehren sind zahlreich, für den

Studenten aber sind besonders diese drei wichtig: erstens, daß er kein Wissen und kein

Schriftwerk geringschätzen soll; zweitens, daß er sich bei niemandem schämen soll, von ihm

zu lernen; drittens, daß er, wenn er selbst Gelehrtheit erreicht hat, die anderen nicht

verachten soll.

Viele lassen sich dadurch täuschen, daß sie schon vor der Zeit als Weise erscheinen

wollen. Dadurch geraten sie in eine aufgeblasene Selbstüberhebung und fangen an,

vorzutäuschen, was sie nicht sind, und sich dessen zu schämen, (251) was sie sind. Und sie

entfernen sich dadurch um so weiter von der Weisheit, als sie nicht weise sein, sondern für

weise gelten wollen.

Ich kenne viele solche, die, obwohl es ihnen selbst noch an den einfachsten Grundlagen

des Wissens mangelt, sich dennoch nur mit dem Schwierigsten beschäftigen wollen und die

glauben, Geistesgrößen zu werden allein dadurch, daß sie die Schriften der Großen und

Weisen lesen oder ihre Worte hören. „Wir haben sie gesehen!“ sagen sie. „Wir haben bei ihnen

studiert! Sie haben oft mit uns gesprochen! Diese Gewaltigen, diese Berühmten, sie kennen

uns!“ O wenn doch niemand mich kennen, aber ich dafür alles wissen würde! Plato gesehen,

nicht ihn verstanden zu haben, rühmt ihr euch. Dann ist es euer wohl unwürdig, scheint mir,

mich noch weiter zu hören! Ich bin nicht Plato. Ich habe es nicht einmal verdient, ihn zu

sehen. Für euch genügt es offenbar, daß ihr an der Quelle der Philosophie selbst getrunken

habt – aber wenn ihr doch nur weiter durstig wäret! Auch ein König trinkt nach goldenen

Pokalen wieder aus einem irdenen Gefäß. Was schämt ihr euch? Ihr habt Plato gehört –

dann hört auch den Chrysippus! Im Sprichwort heißt es: „Was du nicht weißt, weiß vielleicht

Ofellus.“ Niemandem ist es gegeben, alles zu wissen, aber es gibt auch niemanden, der nicht

von der Natur irgendeine besondere Gabe empfangen hätte. Der kluge Student hört deshalb

alle gern, liest alles und verachtet keine Schrift, keine Person, keine Lehre. Ohne

Unterschiede zu machen, sucht er bei allen das, was ihm selbst fehlt, und er achtet nicht

darauf, wieviel er weiß, sondern darauf, wieviel er nicht weiß. In diesem Sinn wird auch

jener Ausspruch Platos zitiert: „Lieber will ich bescheiden (253) von anderen lernen, als ihnen

unverschämt das Meine aufzudrängen.“

Warum schämst du dich zu lernen, scheust dich aber nicht unwissend zu sein? Das

letztere ist eine größere Schande als das erstere. Oder warum strebst du nach dem Höchsten,

während du noch ganz unten liegst? Bedenke lieber, was deine Kräfte zu leisten vermögen.

Am sichersten schreitet derjenige voran, der nach der Ordnung vorgeht. Manche wollen einen

großen Sprung tun und stürzen so in den Abgrund. Eile also nicht allzusehr, auf diese Weise

gelangst du schneller zur Weisheit. Lerne bereitwillig von allen, was du nicht weißt, denn die

Demut kann dich an dem teilhaben lassen, was die Natur einem jeden zu eigen gegeben hat.

Du wirst weiser als alle sein, wenn du bereit bist, von allen zu lernen. Die von allen

empfangen, sind reicher als alle.

Und schließlich: Schätze kein Wissen gering denn alles Wissen ist gut. Wenigstens

verschmähe es bei keiner Schrift, sie zu lesen, wenn du Zeit hast. Selbst wenn du keinen

Gewinn daraus ziehst, so verlierst du doch auch nichts, zumal es meiner Einschätzung nach

keine Schrift gibt, die nicht irgend etwas der Bemühung Wertes enthielte, sofern sie an der

richtigen Stelle und in der richtigen Weise behandelt wird, oder die nicht sogar etwas ganz

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Besonderes enthielte, welches der aufmerksame Erforscher des Inhalts, da er es nirgends

anders gefunden hat, um so freudiger aufnimmt, je seltener es ist.

Nichts jedoch ist gut, wenn es etwas Besseres beseitigt. Wenn du nicht alles lesen kannst,

so lies das, was nützlicher ist. Aber selbst wenn du in der Lage sein solltest, alles zu lesen, so

solltest du dennoch nicht auf alles dieselbe Mühe verwenden. Vielmehr müssen wir manche

Dinge so lesen, daß wir sie kennen, andere aber nur so, daß wir wenigstens davon gehört

haben. Denn manchmal halten wir Dinge, von denen wir noch nichts gehört haben, für

wertvoller, als sie wirklich sind, und eine Sache, deren Nutzen man kennt, läßt sich leichter

beurteilen. (255)

Du siehst also jetzt, wie notwendig diese Demut für dich ist, damit du kein Wissen

geringschätzt und bereitwillig von allen lernst. Ebenso ist es für dich von Vorteil, daß du,

wenn du begonnen hast, etwas zu wissen, die anderen nicht verachtest. Denn dieser Fehler der

Aufgeblasenheit rührt bei einigen daher, daß sie allzu andächtig ihr eigenes Wissen

betrachten, und sobald sie selbst der Meinung sind, etwas geworden zu sein, glauben sie, daß

andere, die sie nicht einmal kennen, so etwas nicht sein oder auch nur werden könnten. Daher

kommt es auch, daß heutzutage gewisse Kleinigkeitskrämer sich wichtig machen – ich weiß

nicht aus welchem Grund –, die alten Väter der Einfältigkeit beschuldigen und glauben, die

Weisheit sei mit ihnen geboren und werde mit ihnen sterben. Sie behaupten, die

Ausdrucksweise der heiligen Schriften sei so einfach, daß man dafür keine Lehrmeister zu

hören brauche, vielmehr könne jeder durchaus nur mit Hilfe seiner eigenen Geisteskraft zu

den Geheimnissen der Wahrheit vordringen. Sie rümpfen die Nase und verziehen den Mund

über die Lehrer der Theologie und sehen nicht ein, daß sie Gott beleidigen, wenn sie seine

einfachen Worte zwar in brillanten Formulierungen verkünden, dabei aber ihre Bedeutung so

verdrehen, daß sie ganz unsinnig werden. Es ist nicht mein Rat, solchen Leuten

nachzueifern.

Der gute Student sollte also bescheiden und sanftmütig sein, eitlen Beschäftigungen und

begehrlichen Verlockungen gänzlich abgeneigt, aufmerksam und eifrig, auf daß er von allen

bereitwillig lerne, sich nichts auf sein Wissen (257) einbilde, die Verfasser falscher Lehren

meide wie Gift, er sollte lernen, eine Sache lange zu überdenken, bevor er darüber urteilt;

nicht gelehrt zu scheinen, sondern gelehrt zu sein sollte er sich bemühen; die

wohlverstandenen Aussprüche der Weisen sollte er lieben und versuchen, sie sich stets wie

einen Spiegel seiner selbst vor Augen zu halten. Und wenn zufällig einige schwierigere Stellen

sich seinem Verständnis verweigern, soll er nicht gleich in Schimpfreden ausbrechen und

meinen, nur das sei gut, was er selbst verstehen kann. All dies macht die Demut aus, die zur

sittlichen Disziplin der Studierenden gehört.

Kapitel 14: Der Eifer im Forschen

Der Eifer im Forschen gehört in den Bereich der Übung, und darin bedarf der Student

eher der Ermutigung als der Unterweisung. Denn wer ernsthaft betrachten will, was die Alten

aus Liebe zur Weisheit erduldet haben und welch erinnerungswürdige Zeugnisse ihrer

Vortrefflichkeit sie der Nachwelt überlassen haben, der wird erkennen, wie weit seine

Ernsthaftigkeit der ihren unterlegen ist. Manche haben Ehrenstellen ausgeschlagen, andere

haben Reichtümer zurückgewiesen, manche freuten sich über erlittenes Unrecht, andere

verachteten Bedrückungen, wieder andere flohen die Gesellschaft der Menschen und zogen in

die entlegensten Schlupfwinkel, in die Einsamkeit der Wüste, um sich allein der Philosophie

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zu widmen und sich der Kontemplation um so ungestörter hinzugeben, als sie ihren Geist

keiner der Begierden unterwarfen, die sonst immer den Weg zur Tugend verstellen. Von dem

Philosophen Parmenides ist überliefert, daß er fünfzehn Jahre auf einem Felsen in Ägypten

gelebt hat. Und von Prometheus wird erzählt, daß er wegen seiner grenzenlosen Vorliebe für

das Denken im Kaukasusgebirge einem Geier ausgesetzt worden sei. Denn die Alten wußten,

daß das wahre Gute nicht in der Geltung bei den Menschen liegt, sondern in einem reinen

Gewissen verborgen ist, und daß diejenigen nicht (259) wirklich Menschen sind, die ihr Herz

an vergängliche Dinge hängen und ihr wahres Gut nicht erkennen. Deshalb machten sie

durch die räumliche Entfernung deutlich, wie sehr sie sich in Geisteshaltung und Erkenntnis

von den anderen Menschen unterschieden, damit nicht in ein und derselben Wohnstätte Leute

gemeinsam lebten, die nicht durch ein gemeinsames Vorhaben miteinander verbunden seien.

Es sagte jemand einmal zu einem Philosophen: „Siehst du nicht, daß die Leute über dich

lachen?“ Darauf antwortete jener: „Sie lachen über mich, und über sie lachen die Esel.“ Nun

überlege dir, wenn du kannst, wie wenig ihm daran lag, gelobt zu werden von Leuten, von

denen er nicht einmal die Spottreden fürchtete. Von einem anderen Mann wird berichtet, daß

er, nachdem er alle Wissenschaften studiert und die Gipfel aller Künste erreicht hatte, zur

Ausübung des Töpferhandwerks hinabstieg. Und als wiederum einen anderen Lehrer seine

Schüler mit vielen Lobreden erhoben, rühmten sie unter all den anderen Dingen auch die

Tatsache, daß er die Kunst eines Schuhmachers verstehe.

Ich wünschte, unsere Studenten zeigten solche Hingabe, daß die Weisheit in ihnen

niemals altern würde. Den greisen David wärmte allein Abischag, die Schunemiterin, weil die

Liebe zur Weisheit ihren Liebhaber auch bei erschlaffendem Körper nicht verläßt. „Nahezu

alle Kräfte des Körpers wandeln sich bei alten Menschen; dabei wächst nur die Weisheit

allein, alle anderen nehmen ab.“ „Das Alter derjenigen, die ihre Jugend mit ehrenhaften

Tätigkeiten verbracht haben, wird mit den Jahren noch gelehrter, durch Übung noch

erfahrener, im Lauf der Zeit noch weiser und erntet die süßesten Früchte der früheren

Studien. Deshalb soll auch Themistokles, jener weise Mann aus Griechenland, als er sein

einhundertsiebtes Lebensjahr erreicht hatte und den Tod kommen sah, erklärt haben, er sei

traurig, aus dem Leben zu scheiden zu einer Zeit, wo er gerade begonnen habe, weise zu sein.

Plato starb schreibend in seinem (261) 81. Jahr. Sokrates füllte 99 Jahre in Mühsal und Arbeit

mit Lehren und Schreiben. Ich übergehe mit Schweigen all die anderen Philosophen,

Pythagoras, Demokrit, Xenokrates, Zeno und den Eleaten, die sich alle noch in hohem Alter

im Streben nach der Weisheit auszeichneten.

Ich komme nun zu den Dichtern, Homer, Hesiod, Simonides, Tersichorus, die hochbetagt,

im Angesicht des Todes, einen Schwanengesang sangen, ich weiß nicht wie, doch schöner als

je zuvor. Als Sophokles, der ein überaus hohes Alter erreicht hatte und sich nicht mehr um

seine Familienangelegenheiten kümmerte, von seinen Söhnen der Geistesschwäche

beschuldigt wurde, rezitierte er vor dem Richter die Geschichte von Ödipus, die er gerade erst

verfaßt hatte, und erbrachte damit in schon gebrochenem Alter einen solchen Beweis seiner

Weisheit, daß er die Strenge des Gerichtshofes in den Beifall eines Theaters verwandeltet.

Und es ist auch nicht verwunderlich, daß selbst Cato der Zensor, der beredteste der Römer,

noch als alter Mann sich nicht schämte und nicht daran verzweifelte, Griechisch zu lernen.

In der Tat berichtet auch Homer, daß von der Zunge Nestors, auch als dieser schon uralt und

hinfällig war, die Rede noch süßer als Honig floß.“

Beachte also, wie sehr diese die Weisheit liebten, wenn nicht einmal das hohe Alter sie

von deren Erforschung abhalten konnte. Diese so große Liebe zur Weisheit und diese Fülle

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an Klugheit bei alten Menschen kann nun sinnvollerweise auch aus der Erklärung des

Namens hergeleitet werden, der oben genannt wurde. „Denn Abischag bedeutet ‚mein

überströmender Vater‘ oder ‚das Brüllen meines Vater‘, wodurch gezeigt wird, daß in alten

Menschen der gewaltige und die menschliche Stimme übertönende Donner des göttlichen

Wortes fortdauert. Denn das Wort ‚überströmend‘ bedeutet an dieser Stelle ‚Fülle‘, nicht

‚Übermaß‘. Und in der Tat heißt ‚Schunemiterin‘ in unserer Sprache ‚die Scharlachfarbene‘“,

was sehr passend die Glut des Eifers nach Weisheit bezeichnet. (263)

Kapitel 15: Die vier übrigen Vorschriften

Die folgenden vier Vorschriften sind so angeordnet, daß sie sich jeweils immer

abwechselnd auf die sittliche Disziplin und dann wieder auf die Übung beziehen.

Kapitel 16: Ruhe

Die Ruhe des Lebens, sei sie nun eine innerliche, so daß der Geist sich nicht durch

verbotene Wünsche ablenkt, oder eine äußerliche, so daß Muße und Gelegenheit zu

ehrenhaften und nützlichen Studien zur Verfügung stehen, gehört in beiderlei Hinsicht zur

sittlichen Disziplin.

Kapitel 17: Untersuchung

Die Untersuchung aber, das heißt, die Meditation, gehört zum Bereich der Übung. Es

scheint zwar, daß die Untersuchung unter den Forschungseifer gehört, und wenn das der Fall

ist, wäre es eine überflüssige Wiederholung, weil dies ja oben schon erwähnt wurde. Man muß

jedoch wissen, daß es einen Unterschied zwischen diesen beiden gibt. Forschungseifer

bedeutet nämlich Beharrlichkeit bei der Arbeit, Untersuchung meint aber die

Gewissenhaftigkeit beim Nachdenken. Anstrengung und Liebe bringen ein Werk zustande;

Sorge und Wachsamkeit erbringen den guten Rat. Durch die Anstrengung handelst du, durch

die Liebe vollendest du. Durch die Sorge siehst du voraus, durch die Wachsamkeit bist du

aufmerksam. Diese sind die vier Diener, welche die Sänfte der Philologie tragen, denn sie

üben den Geist, welchen die Weisheit beherrscht. Der Lehrstuhl der Philologie ist nämlich

der Sitz der Weisheit, und man sagt von ihr, daß sie von diesen vier als Stützen getragen

werde, weil sie durch deren Ausübung gefördert wird. Und weiter heißt es sehr schön, daß

aufgrund ihrer Stärke zwei Jünglinge die Sänfte an der Stirnseite tragen, dies sind Philos und

Kophos, das heißt Liebe und Anstrengung, denn sie bringen das Werk in äußerlicher

Hinsicht (265) zustande; an der Rückseite sind zwei Mädchen, nämlich Philemia und

Agrimnia, das bedeutet Sorge und Wachsamkeit, weil sie innerlich im geheimen guten Rat

hervorbringen. Manche meinen, mit dem Lehrstuhl der Philologie sei der menschliche

Körper gemeint über den die vernünftige Seele gebietet und den vier Diener tragen, das

bedeutet, die vier Elemente, aus denen er zusammengesetzt ist. Von diesen sind die zwei

oberen, nämlich Feuer und Luft, nach Namen und Wirkung männlich, die zwei unteren aber,

Erde und Wasser, weiblich.

Kapitel 18: Anspruchslosigkeit

Man war stets bestrebt, den Studierenden auch zur Armut zu raten, das heißt, daß sie

nicht überflüssigen Dingen nachjagen. Dies gehört in ganz besonderem Maß zu ihrer

sittlichen Disziplin. „Ein fetter Bauch“, so heißt es, „führt nicht zu scharfem Verstand.“ Aber

was werden die Studenten unserer Zeit dazu sagen können? Verschmähen sie es doch im Lauf

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ihres Studiums nicht nur, in Genügsamkeit zu leben, sondern bemühen sich sogar, reicher zu

erscheinen, als sie es wirklich sind. Jeder prahlt nicht mit dem, was er gelernt sondern mit

dem, was er ausgegeben hat. Aber vielleicht wollen sie ja einfach nur ihren Lehrern

nacheifern – was die betrifft, so weiß ich wirklich nichts über sie zu sagen, was ihnen gerecht

würde. (267)

Kapitel 19: Fremde

Als letztes wurde „ein fremdes Land“ angeführt, denn auch dies ist für den Menschen eine

Übung. Für diejenigen, die philosophieren, ist die ganze Welt eine Fremde. Dennoch, wie ein

Dichter sagt:

„Durch ein eigentümliches Gefühl der Süße zieht der heimatliche

Boden alle an und läßt sie nie seiner vergessen.“

Es ist daher eine wichtige Grundlage für die Tugend, daß der Geist in allmählicher

Übung zunächst lernt, die sichtbaren und vergänglichen Dinge zu vertauschen, um sie dann

später sogar ganz aufgeben zu können. Wem sein Heimatland lieb ist, der ist noch zu

verwöhnt; wem jedes Land Heimat ist, der ist schon stark; wem aber die ganze Welt Fremde

ist, der ist vollkommen. Der erste hat seine Liebe an eine bestimmte Stelle der Welt geheftet,

der zweite hat sie auf die ganze Welt ausgedehnt, der dritte hat sie ganz ausgetilgt. Ich selbst

habe schon seit meiner Kindheit in der Fremde gelebt, und ich weiß, mit welchem Kummer

die Seele mitunter den kärglichen Fleck einer armen Hütte verläßt, ich weiß aber auch, mit

welcher Freiheit sie später die marmornen Wohnsitze und die getäfelten Säle verachtet. (269)

VIERTES BUCH

Kapitel 1: Das Studium der heiligen Schriften

Weder alle noch nur die Schriften, die von Gott oder von den unsichtbaren Gütern

handeln, sind „heilig“ zu nennen. Auch in den Büchern der Heiden finden wir viele durchaus

plausibel verfaßte Texte über die Ewigkeit Gottes und die Unsterblichkeit der Seelen, über

den ewigen Lohn für die Tugenden und die ewigen Strafen für die schlechten Menschen, und

dennoch bezweifelt niemand, daß diese die Bezeichnung „heilig“ nicht verdienen. Und weiter,

wenn wir die Reihe der Schriften des Alten und des Neuen Testamentes durchgehen, so sehen

wir, daß diese Zusammenstellung beinahe zur Gänze vom Zustand des gegenwärtigen Lebens

und den in der Zeit geschehenen Dingen handelt und nur selten aus ihr etwas über die Süße

der ewigen Güter und die Freuden des himmlischen Lebens zu entnehmen ist. Und dennoch

pflegt der katholische Glaube diese die „heiligen Schriften“ zu nennen.

Die Schriften der Philosophen erstrahlen, einer weiß übertünchten Lehmwand

vergleichbar, von außen betrachtet im Glanz ihrer Beredsamkeit; wenn sie aber mitunter den

Anschein von Wahrheit vortäuschen, dann verdecken sie damit nur, da sie Falschheiten

dazumischen, wie durch einen Farbanstrich den Lehm des Irrtums. Die göttlichen Worte

dagegen sind am passendsten mit einer Honigwabe zu vergleichen, denn in der Einfachheit

ihrer Rede erscheinen sie zunächst trocken, doch innen sind sie voller Süße. Deshalb steht es

fest, daß sie die Bezeichnung „heilig“ mit Recht erhalten haben, denn sie allein erweisen sich

als so frei von der Ansteckung mit der Falschheit, daß in ihnen erwiesenermaßen nichts der

Wahrheit Widersprechendes enthalten ist.

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Heilige Schriften sind diejenigen, welche von Verehrern des katholischen Glaubens

verfaßt wurden und welche die Autorität der allgemeinen Kirche, um eben diesen Glauben

(271) zu stärken, zur Einreihung unter die heiligen Bücher aufgenommen und als lesenswert

beibehalten hat. Außerdem gibt es noch eine sehr große Anzahl kleinerer Werke, die von

frommen und weisen Männern zu verschiedenen Zeiten geschrieben worden sind und die,

wenn sie auch von der Autorität der allgemeinen Kirche nicht anerkannt worden sind,

dennoch unter die heiligen Worte gerechnet werden; den sie wichen nicht vom katholischen

Glauben ab und enthalten zahlreiche nützliche Lehren. Doch legen wir dies wohl besser

durch eine Auflistung als durch eine Definition dar.

Kapitel 2: Ordnung und Zahl der Bücher

Die gesamte Heilige Schrift ist in den zwei Testamenten enthalten, dem Alten und dem

Neuen. Jedes der beiden Testamente gliedert sich in drei Teile. Das Alte Testament enthält das

Gesetz, die Propheten und die Hagiographen; das Neue seinerseits enthält das Evangelium,

die Apostel und die Väter.

Die erste Gruppe im Alten Testament, das heißt das Gesetz, welche die Hebräer Thorah

nennen, enthält den Pentateuch, das heißt die fünf Bücher Mose. Das erste in dieser Gruppe

ist Bresith oder Genesis; das zweite ist Hellesmoth oder Exodus; das dritte Vaiecra oder

Levitikus; das vierte Vaiedaber oder Numeri das fünfte Adabarim oder Deuteronomium.

Die zweite Gruppe ist die der Propheten. Sie enthält acht Bücher. Das erste ist Josue ben

Nun, das heißt Sohn des Nun; es wird auch Josua oder Jesus oder Jesus Nave genannt. Das

zweite ist Sophtim, das ist das Buch der Richter; das dritte Samuel, dies ist das erste und das

zweite Buch der (273) Könige; das vierte Malachim, das ist das dritte und das vierte Buch der

Könige; das fünfte Jesaja; das sechste Jeremia; das siebte Ezechiel; das achte Thareasra, das

ist das Buch der zwölf Propheten.

Die dritte Gruppe dann besteht aus neun Büchern. Das erste ist Ijob; das zweite David;

das dritte Masloth, welches auf griechisch Parabolae und auf lateinisch Proverbia

(„Sprichwörter“) heißt; das vierte Coeleth, das ist Ecclesiastes; das fünfte Sira Syrin, das heißt

Canticus canticorum („das Hohelied“); das sechste Daniel; das siebte Dabrehiamin, das heißt

Paralipomenon; das achte Esra; das neunte Ester. Alle zusammen sind 22 an der Zahl.

Außer diesen gibt es noch einige andere Bücher wie die „Weisheit des Salomo“, das Buch

Jesus Sirach, das Buch Judit, das Buch Tobit oder die Bücher der Makkabäer, die alle zwar

gelesen werden, aber nicht in den Kanon aufgenommen worden sind.

Die erste Gruppe des Neuen Testaments besteht aus vier Büchern: Matthäus, Markus,

Lukas, Johannes. Die zweite enthält ebenfalls vier: die vierzehn in einem Buch

zusammengefaßten Briefe des Paulus, die kanonischen Briefe, die Apokalypse und die

Apostelgeschichte. In der dritten Gruppe stehen an erster Stelle die Dekretalien, welche wir

canones, das heißt Regeln, nennen; dann folgen die Schriften der heiligen Kirchenväter und

Kirchenlehrer: des Hieronymus, Augustinus, Gregor, Ambrosius, Isidor, Origenes, Beda und

vieler anderer rechtgläubiger Männer. Diese Schriften sind so endlos zahlreich, daß sie nicht

aufgezählt werden können. Daraus wird ganz offenkundig deutlich, welche Hingabe diese

Männer für den christlichen Glauben aufbrachten, für dessen Bekräftigung sie so viele und so

hervorragende erinnerungswürdige Werke der Nachwelt hinterlassen haben. Im Vergleich

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dazu zeigt sich unsere (275) ganze Trägheit, können wird doch nicht einmal alles lesen, was

diese zu diktieren vermochten.

In diesen Gruppierungen zeigt sich aufs deutlichste die Übereinstimmung zwischen den

beiden Testamenten. Denn wie nach dem Gesetz die Propheten und nach den Propheten die

Hagiographen kommen, so folgen nach dem Evangelium die Apostel, und nach den Aposteln

die Reihe der Kirchenlehrer. Und ein wunderbares Prinzip der göttlichen Anordnung hat

bewirkt, daß, obwohl in jedem einzelnen Buch die Wahrheit vollständig und vollkommen

enthalten ist, dennoch kein Buch überflüssig ist. Dies haben wir in aller Kürze über die

Ordnung und die Zahl der heiligen Bücher zusammengefaßt, damit der Studierende seinen

vorgeschriebenen Lesestoff kennt.

Kapitel 3: Die Verfasser der heiligen Bücher

Die fünf Bücher des Gesetzes hat Mose geschrieben. Der Verfasser des Buches Josua soll

eben jener Josua gewesen sein, dessen Namen das Buch trägt. Das Buch der Richter ist, wie es

heißt, von Samuel herausgegeben worden. „Den ersten Teil des Buches Samuel schrieb Samuel

selbst, das Folgende aber bis zum Ende schrieb David. Das Buch Malachim hat zuerst

Jeremia in einem Band vereinigt; denn vorher stand dieser Text verstreut in den Geschichten

der einzelnen Könige.“ Jesaja, Jeremia und Ezechiel haben alle die Bücher selbst geschrieben,

die ihre Namen tragen. „Das Buch der zwölf Propheten wird mit den Namen seiner Verfasser

bezeichnet, und diese Namen sind Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum,

Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi. Diese werden die ‚kleinen Propheten‘

genannt, weil ihre Texte kurz sind und daher in einem Band zusammengefaßt werden.“ Jesaja

aber und Jeremia und Ezechiel und Daniel sind die vier großen Propheten, jeder von ihnen

füllt einen eigenen Band. (277)

„Das Buch Ijob hat nach Meinung einiger Mose geschrieben, andere nennen einen der

Propheten, wieder andere Ijob selbst.“ Das Buch der Psalmen hat David herausgegeben,

allerdings hat später Esra die Psalmen so angeordnet, wie sie heute vorliegen, und hat die

Titel hinzugefügt. Die Sprichwörter aber und Kohelet und das Hohelied hat Salomo verfaßt.

Daniel war der Verfasser des nach ihm benannten Buches. „Das Buch Esra trägt den Namen

seines Verfassers im Titel; es enthält seinem Inhalt nach die Werke sowohl des Esra wie auch

des Nehemia. Das Buch Ester soll von Esra geschrieben worden sein. Das Buch der Weisheit

findet sich bei den Hebräern nirgends und auch der Titel selbst deutet ja eher auf griechische

Beredsamkeit. Manche Juden versichern, das Buch stamme von Philo. Das Buch Kohelet hat

mit Sicherheit Jesus, der Sohn des Sirach aus Jerusalem, verfaßt, der Neffe des

Hohenpriesters Jesus, den Sacharja erwähnt. Dieses Buch findet sich bei den Hebräern, wird

aber zu den Apokryphen gezählt. Auch wer die Bücher Judit und Tobit und die Bücher der

Makkabäer geschrieben hat, steht keineswegs fest.“ Von den letzteren, wird wie Hieronymus

bezeugt, das zweite eher für ein griechisches Buch gehalten.

Kapitel 4: Was eine Bibliothek ist

„Das Wort Bibliothek kommt aus dem Griechischen, weil in ihr Bücher aufbewahrt

werden. Denn biblio bedeutet ‚von Büchern‘, und teca bedeutet ‚Verwahrungsort‘. Die

Bibliothek des Alten Testamentes hat der Schreiber Esra, nachdem die Chaldäer das Gesetz

verbrannt hatten und die Juden nach Jerusalem zurückgekehrt waren, in göttlicher

Inspiration wiederhergestellt; er hat alle Bücher des Gesetzes und der Propheten, die durch

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die Heiden verfälscht worden waren, wieder berichtigt und das gesamte Alte (279) Testament in

22 Büchern angeordnet, so daß es ebenso viele Bücher des Gesetzes gab wie Buchstaben im

Alphabet.“ „Doch gibt es im hebräischen Alphabet fünf Doppelbuchstaben: Caph, Mem, Nun,

Phe und Sade. Diese werden nämlich am Anfang oder in der Mitte eines Wortes anders

geschrieben als am Ende. Daher gelten bei den meisten auch fünf Bücher als Doppelbücher:

Samuel, Malachim, Dabrehiamin, Esra und Jeremia mit dem Cynoth, das heißt seinen

Klageliedern.“

Kapitel 5: Die Übersetzer

Die Übersetzer des Alten Testaments sind an erster Stelle die 70 Übersetzer, die Ptolemäus

mit dem Beinamen Philadelphus, König von Ägypten, das Alte Testament aus der

hebräischen Sprache ins Griechische übersetzen ließ. Ptolemäus war auf dem gesamten Gebiet

des Schriftwesens außerordentlich scharfsichtig und eiferte in seinem Bemühen um

Bibliotheken Peisistratos, dem Tyrannen der Athener, nach, der als erster bei den Griechen

eine Bibliothek einrichtete, außerdem auch dem Seleukos Nikanor, Alexander und den

anderen Alten, die sich der Weisheit widmeten. „Er trug in seiner Bibliothek nicht nur die

Schriften der Heiden zusammen, sondern auch die heiligen Schriften, so daß zu seiner Zeit in

Alexandria siebzigtausend Bücher vorhanden waren. Die Schriften des Alten Testaments

erbat er sich von dem Hohenpriester Eleasar. Obwohl die Übersetzer alle in Einzelzellen

voneinander getrennt worden waren, haben sie doch auf Einwirkung des Heiligen Geistes so

übersetzt, daß in dem Manuskript keines einzigen von ihnen etwas gefunden wurde, das von

dem Ergebnis der anderen, und sei es auch nur in der Anordnung der Wörter, irgendwie

abwich.“ Ihre Übersetzung ist daher geradezu eine einzige. Hieronymus allerdings sagt, man

solle dieser Geschichte keinen Glauben schenken. (281)

Die zweite, die dritte und die vierte Übersetzung erstellten Aquila, Symmachus und

Theodotion. Der erste von diesen, Aquila, war ein Jude, Symmachus und Theodotion aber

waren ebionitische Häretiker. In den griechischen Kirchen hat sich die Praxis eingebürgert,

die Texte in der Version der 70 Übersetzer zu übernehmen und zu lesen. Die fünfte

Übersetzung ist die allgemein verbreitete, ihr Autor ist unbekannt, deshalb muß sie als

Sonderfall einfach „die fünfte“ genannt werden. Die sechste und die siebte Übersetzung

stammen von Origenes, dessen Bücher von Eusebius und Pamphilus allgemein

bekanntgemacht wurden. Die achte ist die des Hieronymus, „die anderen mit Recht vorgezogen

wird, denn sie hält sich enger an den Wortlaut und ist klarer in ihrer Einsicht in die

Bedeutungen“.

Kapitel 6: Die Verfasser des Neuen Testamentes

Verschiedene Autoren haben Evangelien geschrieben, aber einige davon, die ohne den

Beistand des Heiligen Geistes waren, haben sich eher bemüht, eine Erzählung

zusammenzustellen, als die eigentliche Wahrheit des geschichtlichen Berichtes darzulegen.

Aus diesem Grund haben die heiligen Väter unter der Belehrung des Heiligen Geistes nur vier

Evangelien als maßgebend anerkannt und die anderen zurückgewiesen. Diese vier sind die

Evangelien des Matthäus, des Markus, des Lukas und des Johannes, in Analogie zu den vier

Flüssen des Paradieses (vgl. Gen 2,11-14), den vier Tragestangen der Bundeslade (vgl. Ex

25,12-15) und den vier Tieren bei Ezechiel (vgl. Ez 1,5). Der erste, Matthäus, schrieb sein

Evangelium auf hebräisch, der zweite, Markus, schrieb auf griechisch. „Der dritte, Lukas, der

unter allen Evangelisten die griechische Sprache am besten beherrschte, er war ja Arzt in

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Griechenland, schrieb sein Evangelium für den Bischof Theophilus“, für den er auch die

Apostelgeschichte schrieb. Als vierter und letzter schrieb Johannes sein Evangelium. (283)

Paulus schrieb vierzehn Briefe, zehn an die Kirchengemeinden, vier an einzelne

Personen. Die meisten sagen allerdings, der letzte Brief, der an die Hebräer, stamme nicht

von Paulus, „manche vermuten, Barnabas habe ihn geschrieben, andere denken an Clemens“.

Die kanonischen Briefe sind sieben an der Zahl: einer von Jakobus, zwei von Petrus, drei von

Johannes, einer von Judas. Die Apokalypse schrieb der Apostel Johannes im Exil auf der

Insel Patmos.

Kapitel 7: Die übrigen sind Apokryphen – Was sind Apokryphen?

„Dies sind also die Verfasser der heiligen Bücher, die durch den Heiligen Geist zu unserer

Belehrung gesprochen und Anweisungen und Regeln zum Leben niedergeschrieben haben. Es

gibt neben diesen noch andere Bücher, die Apokryphen genannt werden. Sie werden

‚Apokryphen‘, das heißt ‚geheime‘, genannt, weil sie zweifelhaft sind. Denn ihre Herkunft ist

verborgen und auch den Vätern nicht bekannt, von welchen die Autorität der wahren

Schriften in überaus zuverlässiger und ganz offenkundiger Sukzession bis auf uns überliefert

worden ist. Wenn sich auch in diesen Apokryphen manche Wahrheit findet, so verdienen sie

dennoch wegen der zahlreichen Irrtümer keine kanonische Gültigkeit; und man hält sie mit

Recht nicht für Werke derer, denen sie zugeschrieben werden. Denn vieles ist von Häretikern

unter den Namen der Propheten, bei Neuerem unter den Namen der Apostel vorgebracht

worden. All diesem, zusammengefaßt unter dem Namen ‚Apokryphen‘, ist nach sorgfältiger

Prüfung die kanonische Gültigkeit abgesprochen worden.“ (285)

Kapitel 8: Die Bedeutung der Namen der heiligen Bücher

„Der Pentateuch hat seinen Namen von seinen fünf Büchern, denn penta heißt auf

griechisch ‚fünf‘, und teucus ‚Buch‘. Das Buch Genesis hat seinen Namen daher, daß in ihm

die Erschaffung (generatio) der Welt behandelt wird; das Buch Exodus hat seinen Namen von

dem Auszug der Söhne Israels aus Ägypten; das Buch Levitikus heißt so, weil es den Dienst

der Leviten und die Verschiedenheit der Opfer beschreibt. Das Buch Numeri wird so genannt,

weil in ihm die aus Ägypten ausgezogenen Stämme aufgezählt werden (enumerantur) und

auch die 42 Lagerplätze in der Wüste.“ Deutrus ist ein griechisches Wort von zwei Silben und

bedeutet „der zweite“, nomia aber bedeutet „Gesetz“. Das Buch heißt deshalb Deuteronomium,

also „zweites Gesetz“, weil in ihm das wiederholt wird, was in den vorangehenden drei

Büchern ausführlicher gesagt worden ist.

Im Buch Josua, das die Hebräer Josue ben Nun nennen, wird das Land der Verheißung

unter dem Volk verteilt. Das Buch der Richter hat seinen Namen von den Führern, die im

Volk Israel Recht sprachen, bevor es Könige bei diesem Volk gab. Dieses Buch fügen einige

mit der Geschichte von Rut zu einem einzigen Band zusammen. „Das Buch Samuel wird so

genannt, weil es dessen Geburt, sein Priestertum und seine Taten beschreibt. Es enthält

allerdings auch die Geschichte von Saul und von David; beide stehen ja mit Samuel in

Zusammenhang, da er sie beide gesalbt hat. Das hebräische malach bedeutet auf lateinisch

regum, (‚von Königen‘). Daher wird das Buch Malachim genannt, denn es berichtet der

Reihenfolge nach von den Königen von Juda und von Israel und ihren Taten.“

„Jesaja, eher ein Evangelist als ein Prophet, verfaßte selbst das nach ihm benannte Buch,

dessen gesamter Text in beredsamer Prosa einherschreitet. Seine Lieder aber bewegen sich im

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Versmaß von Hexameter und Pentameter. Auch Jeremia verfaßte selbst das ihm

zugeschriebene Buch, (287) zusammen mit den Threni die wir ‚Klagelieder‘ nennen, weil sie bei

traurigen Gelegenheiten und bei Leichenbegängnissen gesungen werden. Er hat diese Lieder

in wechselndem Versmaß geschrieben, viermal dem Alphabet folgend: Die ersten zwei

Alphabetlieder sind in einer Art sapphischem Vers geschrieben, weil je drei kleinere Verse,

die untereinander verbunden sind und mit demselben Buchstaben beginnen, in einen

heroischen Abschluß münden. Das dritte Alphabetlied ist in Trimetern geschrieben, in ihm

beginnen jeweils drei Verse mit demselben Buchstaben. Das vierte Alphabetlied verläuft

ähnlich wie das erste und zweite.“ Im Buch Ezechiel sind der Anfang und das Ende besonders

schwer verständlich. Die Schriften der zwölf Propheten bilden ein einziges Buch.

„Die Anfangs- und Endpartien des Buches Ijob sind im Hebräischen in Prosaform

geschrieben, der Mittelteil aber, beginnend mit der Stelle ‚Nieder mit dem Tag, an dem ich

geboren wurde‘ (Ijob 3,3) bis hin zu ‚Deshalb tadele ich mich selbst und tue Buße‘ (Ijob 42,6),

bewegt sich ganz in heroischem Versmaß. Das Buch der Psalmen heißt auf griechisch

Psalterium, auf hebräisch Nabla, auf lateinisch Organum (‚Musikinstrument‘). Psalterium

wird es aber genannt, weil ein Prophet zum Psalterspiel zu singen pflegte, worauf dann der

Chor einstimmig antwortete.“ „Man teilt dieses Buch in fünf Abschnitte ein, faßt es aber in

einem Buch der Psalmen zusammen.“ Die Psalmen hat David geschrieben, doch Esra hat

ihnen später ihre Anordnung gegeben. „Alle Psalmen und die Klagelieder des Jeremia und

fast alle Lieder der Schriften sind im Hebräischen in Versmaß verfaßt, wie Hieronymus,

Origenes, Josephus und Eusebius von Cäsarea bezeugen. Denn ähnlich wie bei dem Römer

Horaz und bei dem Griechen Pindar verlaufen sie einmal im Jambus und erglänzen dann im

sapphischen Versmaß, im Wechsel zwischen Trimeter und Tetrameter.“ (289)

„Die Schrift lehrt uns ganz eindeutig, daß Salomo mit drei Namen bezeichnet worden ist:

Idida, das heißt Geliebter des Herrn, weil der Herr ihn liebte; sodann Coeleth, das heißt

Ecclesiastes. Ecclesiastes wird in griechischer Sprache jemand genannt, der eine

Versammlung oder Gemeinde (ecclesia) einberuft, jemand, den wir einen ‚Prediger‘ nennen

können, der also nicht speziell zu einer einzelnen Person, sondern zu einer ganzen

Versammlung von Leuten spricht. Und zuletzt wird Salomo schließlich ‚der

Friedenschaffende‘ genannt, weil in seinem Reich Frieden herrschte (vgl. 1 Chr 22,9). Gemäß

der Anzahl seiner Namen hat er drei Bücher verfaßt. Das erste heißt auf hebräisch Masloth,

auf griechisch Proverbia (‚Sprichwörter‘), denn in ihm stellt er durch den Vergleich der

Ähnlichkeiten die Sinnbilder der Wörter und die Abbilder der Wahrheit dar. Diese

Parabolae sind am Ende, ab der Stelle, wo es heißt ‚Wer wird eine starke Frau finden?‘ (Spr

31,10), nach dem Alphabet verfaßt, ebenso wie die Klagelieder des Jeremia und einige andere

Lieder der Schrift. Das zweite Buch wird auf hebräisch Coeleth, auf griechisch Ecclesiastes,

auf Lateinisch Contionator (‚Prediger‘) genannt, weil seine Rede sich nicht speziell an eine

Person richtet, wie es in den Sprichwörtern der Fall ist, sondern ganz allgemein an alle,

gleichsam an eine ganze Versammlung oder Gemeinde. Das dritte Buch ist das Sira Syrin, das

heißt Cantica canticorum (‚das Hohelied‘). Dies ist gewissermaßen das Epithalamium oder

Hochzeitslied auf Christus und die Kirche. In den Sprichwörtern belehrt Salomo ein Kind

und unterweist es sozusagen durch Spruchweisheiten in seinen Pflichten; die Lehre wird

deshalb auch öfter wiederholt, als spräche er zu einem Sohn. Im Ecclesiastes aber lehrt er

einen Mann reifen Alters, daß er nichts in der Welt für beständig halten soll, daß vielmehr

alles, was wir sehen hinfällig und von kurzer Dauer ist. Im Hohenlied schließlich führt er

einen schon zur Vollendung gelangten und durch die Verachtung der Welt bereiten Mann in

die Umarmungen der himmlischen (291) Braut. Von dieser Anordnung des Lehrens sind auch

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die Philosophen, die ihren Schülern Unterricht erteilen, nicht weit entfernt, wenn sie zuerst

die Ethik unterrichten, dann die Physik erklären und schließlich diejenigen, bei denen sie

Fortschritte in diesen Fächern erkannt haben, bis zur Theologie führen.“

Daniel wird bei den Hebräern nicht zu den Propheten, sondern zu den Hagiographen

gezählt. Sein Buch liest die katholische Kirche nicht in der Fassung der 70 Übersetzer, weil

diese Fassung erheblich von der Wahrheit abweicht. Das Buch Daniel ist zum größten Teil,

das Buch des Propheten Esra ganz und das Buch Jeremia zum Teil in chaldäischer Sprache

geschrieben, wenn auch in hebräischen Buchstaben. Das Buch Ijob zeigt eine deutliche

Verwandtschaft mit der arabischen Sprache. Im hebräischen Text enthält das Buch Daniel

weder die Geschichte von Susanna noch das Lied der drei Jünglinge, noch die Erzählungen

von Bel und dem Drachen.

„Paralipomenon heißt im Griechischen, was wir ‚vom Übergangenen‘ oder ‚vom

Übriggebliebenen‘ nennen würden. Denn was im Gesetz oder in den Büchern der Könige

übergangen oder nicht vollständig geschildert worden ist, wird in diesem Buch summarisch

und in Kürze dargestellt.“ „Auf hebräisch heißt es Dabrehiamin, was übersetzt heißt ‚Worte

der Tage‘ oder, wie man sinnvoller sagen würde, ‚Chronik der gesamten heiligen Geschichte‘.“

Es gibt nur ein Buch Esra, und es enthält in einem Band die Schriften eben dieses Esra

und des Nehemia. Das zweite, dritte und vierte Buch Esra sind Apokryphen.

Das Buch mit dem Titel „Weisheit des Salomo“ wird „Weisheit“ genannt, „weil in ihm

offensichtlich die Ankunft und das Leiden Christi, welcher die Weisheit des Vaters ist,

dargestellt werden“. Das Buch Jesus Sirach wird Ecclesiasticus genannt, „weil es über die

Disziplin der gesamten (293) Kirche handelt und sich mit großer Fürsorge und Klugheit der

gottgefälligen Lebensführung widmet“.

Von diesen beiden Büchern sagt Hieronymus: „Es gibt auch das Buch Panaretus oder

Jesus Sirach und ein anderes unechtes Buch mit dem Titel ‚Weisheit des Salomo‘. Von dem

ersteren habe ich einen hebräischen Text gefunden, mit der Bezeichnung Parabolae, nicht

Ecclesiasticus, wie es bei den Lateinern heißt. Diesem waren das Buch Kohelet und das

Hohelied hinzugefügt worden, um die Angleichung an Salomo nicht nur durch die Anzahl

der Bücher, sondern auch durch die Art des behandelten Stoffes herzustellen. Das zweite aber

findet sich bei den Hebräern nirgends, wie ja auch der Stil griechische Beredsamkeit spüren

läßt. Einige der alten Schriftkundigen versichern, es sei ein Werk des Juden Philo. Wie nun

die Kirche die Bücher Judit, Tobit und die Makkabäerbücher zwar durchaus liest, sie aber

nicht unter die kanonischen Schriften aufnimmt, so mag sie auch diese beiden Bücher lesen

zur Erbauung des Volkes, nicht jedoch zur Bestätigung der Autorität der kirchlichen

Dogmen.“

„Wie es zweiundzwanzig Grundzeichen gibt, mit welchen wir im Hebräischen alles

schreiben, was wir sagen wollen, und deren Anfangslaute den Bereich der menschlichen

Stimme ausmachen, so zählt man auch zweiundzwanzig Bücher, durch die, als seien sie

Buchstaben und Anfänge der Lehre Gottes, die zarte Säuglingskindheit des gerechten Mannes

ihre Bildung erhält.“

Manche zählen die Geschichte von Rut und die Klagelieder des Jeremia als eigene Bücher

unter die Hagiographen. Indem sie diese beiden zu den erwähnten 22 Büchern hinzurechnen,

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kommen sie auf 24 Bücher des Alten Gesetzes, nach dem Sinnbild und der Zahl der 24

Ältesten, die in der Apokalypse das Lamm anbeten (vgl. Offb 4,4). (295)

Kapitel 9: Das Neue Testament

Wie die gesamte Schrift des Alten Testamentes im weiteren Sinne „das Gesetz“ genannt

werden kann, obwohl im engeren Sinne die fünf Bücher Mose „Gesetz“ heißen, so kann das

gesamte Neue Testament, allgemein gesprochen, „Evangelium“ genannt werden, doch im

besonderen verdienen diese Bezeichnung jene vier Bücher – nämlich Matthäus, Markus,

Lukas und Johannes –, in denen ausdrücklich die Taten und Worte des Erlösers dargestellt

werden. „Evangelium“ bedeutet „gute Nachricht“, weil es ewige Güter verheißt, nicht irdisches

Glück wie das Alte Testament, jedenfalls in seiner wörtlichen Bedeutung.

Kapitel 10: Die Kanontafeln

„Ammonius von Alexandria hat als erster Kanontafeln erstellt; ihm ist später Eusebius

von Cäsarea gefolgt und hat sie vollständiger ausgearbeitet. Diese Tafeln sind zu dem Zweck

aufgestellt worden, damit wir anhand ihrer ausfindig machen und wissen können, welche der

jeweils anderen Evangelisten etwas Ähnliches oder etwas ganz Eigenes gesagt haben. Es gibt

zehn solcher Tafeln: die erste enthält die Stellen, in denen die vier dasselbe gesagt haben, also

Matthäus, Markus, Lukas und Johannes; die zweite enthält die Stellen, wo drei, und zwar

Matthäus, Markus und Lukas, dasselbe gesagt haben; die dritte, wo drei, und zwar Matthäus,

Lukas und Johannes; die vierte, wo drei, und zwar Matthäus, Markus und Johannes; die

fünfte, wo zwei, und zwar Markus und Lukas; die sechste, wo zwei, und zwar Matthäus und

Markus; die siebte, wo zwei, und zwar Matthäus und Johannes; die achte, wo zwei, und zwar

Lukas und Markus; die neunte, wo zwei, und zwar Lukas und Johannes, dasselbe gesagt

haben; die zehnte schließlich enthält die Stellen, wo die einzelnen Evangelisten jeweils etwas

Eigenes gesagt haben. (297)

Die Anordnung dieser Tabellen ist die folgende: bei jedem Evangelisten ist den einzelnen

Abschnitten am Rand eine Nummer beigegeben und unter diesen Nummern befindet sich ein

rot markiertes Feld, das anzeigt, in welcher Tafel die Nummer eingetragen ist, unter der das

Feld sich befindet. Wenn zum Beispiel das Feld das erste ist, findet die Nummer sich in der

ersten Tafel; wenn es das zweite ist, in der zweiten; wenn es das dritte ist, in der dritten, und

so weiter der Reihe nach bis man zur zehn gelangt. Wenn man also ein Evangelium

aufschlägt und wissen will, welcher der anderen Evangelisten etwas Ähnliches gesagt hat, so

nimmt man die dem Abschnitt beigefügte Zahl und sucht diese Zahl auf der angezeigten

Kanontafel; dort findet man dann, welcher Evangelist was gesagt hat. Und im Text selbst

schließlich findet man auf diese Weise, daß die gesuchten und durch die Tafelnummern

angezeigten Stellen in jedem einzelnen Evangelium dieselbe Begebenheit behandeln.“

Kapitel 11: Die Kanones der Konzilien

„Das griechische Wort canon heißt auf lateinisch regula (‚Regel‘). Die Regel heißt so,

weil sie ganz geradeaus (recte) führt, ohne jemals in andere Richtungen zu ziehen. Andere

sagen, die Regel heiße so, weil sie leite (regat) oder weil sie eine Norm für das rechte Leben

(recte vivendi) biete oder weil sie das Verdrehte und Verkehrte berichtige (corrigat).

Die Kanones der allgemeinen Konzilien jedoch nahmen ihren Anfang in den Zeiten

Konstantins. Denn in den Jahren zuvor, in der Hitze der Verfolgung, gab es kaum einmal die

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Möglichkeit, das Volk zu lehren. Deshalb war die Christenheit in verschiedene Häresien

zerrissen, weil es den Bischöfen nicht erlaubt war, sich zu einer Versammlung

zusammenzufinden, bis zu der Zeit des eben erwähnten Kaisers. Dieser nämlich gab den

Christen die Möglichkeit, sich ungehindert zu versammeln. Unter ihm kamen (299) auch die

heiligen Väter aus allen Ländern der Erde zu dem Konzil von Nizäa zusammen und

formulierten ein mit dem evangelischen und apostolischen Glauben übereinstimmendes

Glaubensbekenntnis, das zweite Glaubensbekenntnis nach dem der Apostel.“

Kapitel 12: Es gibt vier Hauptsynoden

„Unter all den andern Konzilien aber gibt es vier ehrwürdige Synoden, welche den

gesamten Glauben in besonderer Weise umfassen, vier wie die Evangelien oder die Flüsse des

Paradieses. Das erste dieser Konzilien, die Synode von Nizäa mit dreihundertachtzehn

Bischöfen, wurde zur Zeit der Herrschaft des Kaisers Konstantin abgehalten. Auf diesem

Konzil wurde die Blasphemie der arianischen Häresie verurteilt, die eben jener Arius über

die Ungleichheit in der heiligen Trinität aufgestellt hat. Dieselbe heilige Synode definierte

durch das Glaubensbekenntnis die Wesensgleichheit zwischen Gottvater und Gottsohn.

Die zweite Synode von 150 Vätern wurde unter Theodosius dem Älteren nach

Konstantinopel einberufen. Indem sie den Macedonius verdammte, der die Gottheit des

Heiligen Geistes geleugnet hatte, legte sie die Wesensgleichheit des Heiligen Geistes mit dem

Vater und dem Sohn dar und gab dem Glaubensbekenntnis die Gestalt, welche die gesamte

Christenheit von Griechen und Lateinern in den Kirchen verkündet.

Die dritte Synode, die erste von Ephesus, fand mit 200 Bischöfen unter Kaiser Theodosius

dem Jüngeren statt. Sie verdammte mit gerechtem Bahn Nestorius, der behauptet hatte, daß

in Christus zwei Personen existiert hätten, und legte dar, daß in der einen Person des Herrn

Jesus Christus zwei Naturen bestanden.

Die vierte Synode, die von Chalcedon, wurde mit 630 Priestern unter dem Kaiser Markian

abgehalten. Auf dieser Synode verdammte das einstimmige Urteil der Väter den Abt Eutyches

aus Konstantinopel, der lehrte, daß das Wort (301) Gottes und das Fleisch eine Natur gebildet

hätten, und ebenso dessen Verteidiger, einen gewissen Dioscorus, Bischof von Alexandria, und

auch noch einmal jenen Nestorius mit all den andern Häretikern. Diese selbe Synode erklärte

auch, daß Christus als Gott von der Jungfrau in einer solchen Weise geboren wurde, daß wir

in ihm eine Substanz von sowohl göttlicher wie auch menschlicher Natur bekennen.

Dies sind die vier Hauptsynoden, welche die Lehre des Glaubens aufs vollständigste

verkünden. Wenn es noch weitere Konzilien gibt, welche die heiligen Väter, vom Geiste Gottes

erfüllt, anerkannt haben, so erhalten sie all ihren überdauernden Wert doch aus der Autorität

jener vier, deren Beschlüsse im vorliegenden Werk festgehalten sind.

Das Wort ‚Synode‘ aber stammt aus dem Griechischen und bedeutet ‚Begleitung‘ oder

‚Versammlung‘. Der Name ‚Konzil‘ ist aus einem römischen Gebrauch übernommen. Denn zu

der Zeit des Jahres, wo Gerichtsverhandlungen geführt wurden, pflegten alle

zusammenzukommen, um in gemeinsamer Absicht Beratungen anzustellen. Ausgehend von

diesem Gedanken der gemeinsam Absicht sprechen wir von Konzil (concilium) gleichsam als

von einer Beratung (consilium), denn cilia, Lider, sind etwas, das zu den Augen gehört. Dem

consilium verwandt ist auch, considium, ‚Sitzung‘, wobei das d sich zum l wandelt. Coetus

(‚Zusammentreffen‘) ist eine Zusammenkunft oder eine Versammlung, es leitet sich ab von

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dem Verb coire (‚zusammengehen‘), das meint ‚an einem Ort zusammenkommen‘. Deshalb

heißt es auch conventus (‚Zusammenkunft‘) – ‚Zusammenkunft‘, ‚Versammlung‘ und

‚Beratung‘ leiten sich also alle ab von der Vereinigung vieler zu einer Gesamtheit.“

Das griechische Wort epistola („Brief“) heißt auf lateinisch übersetzt missa („Botschaft“).

Die kanonischen, das heißt die regelgemäßen, Briefe werden auch „die katholischen“, (303) das

heißt „die allgemeinen“ genannt, „weil sie nicht nur an ein bestimmtes Volk oder an eine

bestimmte Stadt, sondern an alle Völker insgesamt gerichtet sind“. „Die Apostelgeschichte

schildert die Anfänge des christlichen Glaubens bei dem Völkern und die Geschichte der

entstehenden Kirche, und sie erzählt die Taten der Apostel, weshalb sie auch

‚Apostelgeschichte‘ genannt wird. Apocalypse bedeutet, aus dem Griechischen ins Lateinische

übersetzt, revelatio (‚Offenbarung‘), nach den Worten des Johannes selbst: ‚Die Apokalypse

Jesu Christi, welche Gott ihm gegeben hat, um sie seinem Diener Johannes kundzutun‘ (vgl.

Offb 1,1).“

Kapitel 13: Die Begründer von Bibliotheken

„Bei uns hat Pamphilus der Märtyrer, dessen Lebensgeschichte Eusebius von Cäsarea

geschrieben hat, Anstrengungen unternommen, um es in dem Bemühen um eine heilige

Bibliothek dem Peisistratos gleichzutun. Pamphilus hatte nämlich in seiner Bibliothek fast

dreißigtausend Bände. Auch Hieronymus und Gennadius haben auf der ganzen Welt nach

Kirchenschriftstellern gesucht, methodische Nachforschungen angestellt und deren Werke

schließlich in einem einbändigen Verzeichnis aufgeführt.“

Kapitel 14: Welche Schriften authentisch sind

„Von unseren Mitchristen bei den Griechen hat Origenes in seiner schriftstellerischen

Arbeit sowohl die Griechen wie auch die Lateiner in der Zahl seiner Werke übertroffen. Es

genügt wohl zu erwähnen, daß Hieronymus erklärt, er habe sechstausend seiner Bücher

gelesen. Und doch hat Augustinus die Bemühungen all dieser durch seine geistige Begabung

und durch sein Wissen noch überboten. Er hat so viel geschrieben, daß niemand genug Tage

und Nächte (305) hat, um seine Bücher abzuschreiben oder auch nur zu lesen.“ Auch andere

katholische Männer haben zahlreiche und ausgezeichnete Werke geschrieben: Athanasius,

Bischof von Alexandria; Hilarius, Bischof von Poitiers; Basilius, Bischof von Kappadokien;

Gregor der Theologe; Gregor, Bischof von Nazianz; Ambrosius, Bischof von Mailand;

Theophilus, Bischof von Alexandria; Johannes, Bischof von Konstantinopel; Kyrillus von

Alexandria, Papst Leo; Proculus; Isidor von Spanien; Beda; Cyprian, Märtyrer und Bischof

von Karthago; Hieronymus der Priester; Prosper; Origenes, dessen Schriften die Kirche weder

gänzlich verwirft noch zur Gänze anerkennt; Orosius; Sedulius; Prudentius; Juvencus; Arator.

Auch Rufinus veröffentlichte viele Bücher und übersetzte einige Schriften, „weil aber der

heilige Hieronymus ihn in einigen Punkten bezüglich der Freiheit des Willens getadelt hat,

sollten wir uns darin der Lehre des Hieronymus anschließen“. „Auch Gelasius verfaßte fünf

Bücher gegen Nestorius und Eutyches und Abhandlungen nach der Weise des Ambrosius. Er

schrieb auch zwei Bücher gegen Arius sowie liturgische Präfationen, Reden und Briefe über

den Glauben.“ Dionysius Areopagita, ordinierter Bischof von Korinth, hat zahlreiche Bände

als Ergebnis seiner geistigen Begabung hinterlassen. „Was nun die Chronik des Eusebius von

Cäsarea angeht und die Bücher seiner Kirchengeschichte, obwohl er sich im ersten Buch

seiner Erzählung eher lauwarm gezeigt hat und später ein Buch zum Lob und zur

Verteidigung des Schismatikers Origenes schrieb, so verwirft die katholische Kirche dennoch

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sein Werk nicht vollkommen, und zwar aufgrund der einzigartigen Kenntnisse, die er auf

dem Gebiet der Bildung besitzt.“ Auch Cassiodor ist noch (307) zu nennen, der ein durchaus

nützliches Werk zur Erklärung der Psalmen geschrieben hat. Es gibt darüber hinaus auch

noch andere, deren Namen ich hier aber nicht mehr erwähne.

Kapitel 15: Welche Schriften apokryph sind

„Das Itinerar unter dem Namen des Apostels Petrus, das dem heiligen Clemens

zugeschrieben wird, in acht Büchern: apokryph.

Die Geschichte unter dem Namen des Apostels Andreas: apokryph.

Die Geschichte unter dem Namen des Thomas: apokryph.

Das Evangelium unter dem Namen des Thaddäus: apokryph.

Das Evangelium unter dem Namen des Apostels Barnabas: apokryph.

Das Evangelium unter dem Namen des Apostels Thomas: apokryph.

Das Evangelium unter dem Namen des Apostels Andreas: apokryph.

Das Evangelium, das Lucianus fälschte: apokryph.

Das Evangelium, das Ytius fälschte: apokryph.

Das Buch über die Kindheit des Erlösers: apokryph.

Das Buch über die Geburt des Erlösers und die heilige Maria oder Über die

Hebamme des Erlösers: apokryph.

Das Buch, welches ‚Buch des Hirten‘ genannt wird: apokryph.

Alle Bücher, die Leucius, der Schüler des Teufels, geschrieben hat: apokryph.

Die Bücher, die ‚Die Grundlage‘ genannt werden: apokryph.

Das Buch, das ‚Der Schatz‘ genannt wird: apokryph.

Das Buch, das ‚Von den Töchtern Adams oder Genesis‘ genannt wird: apokryph.

(309)

Das hundertzeilige Gedicht über Christus, zusammengestellt aus Versen Vergils:

apokryph.

Das Buch, das ‚Die Geschichte von Thekla und Paulus‘ genannt wird: apokryph.

Das Buch, welches ‚Buch des Neffen‘ genannt wird: apokryph.

Das Buch der Sprichwörter, das von Häretikern geschrieben wurde und den

Namen des heiligen Sixtus trägt: apokryph.

Die Offenbarung, welche die des Paulus genannt wird: apokryph.

Die Offenbarung, welche die des Apostels Thomas genannt wird: apokryph.

Die Offenbarung, welche die des Stephanus genannt wird: apokryph.

Das Buch, das ‚Der Tod der heiligen Maria‘ genannt wird: apokryph.

Das Buch, das ‚Die Buße Adams‘ genannt wird: apokryph.

Das Buch des Diogias, genannt der Riese, der laut den Häretikern nach der

Sintflut mit dem Drachen gekämpft hat: apokryph.

Das Buch, das ‚Testament des Ijob‘ genannt wird: apokryph.

Das Buch, das ‚Die Buße des Origenes‘ genannt wird: apokryph.

Das Buch, das ‚Die Buße des Cyprian‘ genannt wird: apokryph.

Das Buch, das ‚Iamne und Mambre‘ genannt wird: apokryph.

Das Buch, das ‚Das Schicksal der Apostel‘ genannt wird: apokryph.

Das Buch Lusan: apokryph.

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Das Buch der Kanones der Apostel: apokryph.

Das Buch ‚Physiologus‘, das von Häretikern geschrieben wurde und den Namen

des heiligen Ambrosius trägt: apokryph. (311)

Die Geschichte des Eusebius Pamphilus: apokryph.

Die Werke des Tertullian oder Africanus: apokryph.

Die Werke des Posthumianus und des Gallus: apokryph.

Die Werke des Montanus, der Priscilla und der Maximilla: apokryph.

Alle Werke des Manichäers Faustus: apokryph.

Die Werke Clemens‘ des Zweiten von Alexandria: apokryph.

Die Werke des Cassianus, des Priesters der Gallier: apokryph.

Die Werke des Viktorinus von Poitiers: apokryph.

Die Werke des Faustus von Reji in Gallien: apokryph.

Die Werke des Frumentus: apokryph.

Der Brief Jesu an Abgar: apokryph.

Die Passion des Cyricus und der Julitta: apokryph.

Die Passion Georgs: apokryph.

Die Schriften, die ‚Der Widerspruch des Salomo‘ genannt werden: apokryph.

Alle Talismanzettel ,welche nicht, wie manche behaupten, von einem Engel,

sondern eher von einem Dämon geschrieben wurden: apokryph.

Diese Werke und alle, die ihnen ähnlich sind – von Simon Magus, Nikolaus, Cerinthus,

Marcion, Basilides, Ebion, auch von Paulus von Samosata, von Photinus und Bonosus, die in

denselben Irrtum verfielen, ebenso von Montanus und seinen maßlos abscheulichen

Gefolgsleuten, von Apollinaris, Valentinus oder Manichäus, Faustus, Sabellius, Arius,

Macedonius, Eunomius, Novatus, Sabbatius, Calixtus, Donat und Eustachius, Nibianus,

Pelagius, Julianus und Laciensis, Coelestinus, Maximianus, Priscillianus von Spanien,

Lampedius, Dioscorius, Euticius, von Petrus und einem zweiten Petrus, von denen der eine

Alexandria, der andere Antiochia befleckte, von Achatius von Konstantinopel und seinen

Genossen –, und in der Tat auch alle Häresien, die eben diese Leute und ihre Schüler oder

Schismatiker (313) gelehrt oder geschrieben haben, Leute, deren Namen wir keinesfalls

festhalten wollen – all diese erklären wir nicht nur für zurückgewiesen, sondern auch für von

der gesamten katholischen und römischen Kirche ausgeschlossen und zusammen mit ihren

Urhebern durch einen in Ewigkeit unauflöslichen Bannfluch verdammt.“

Kapitel 16: Einige Worterklärungen, die sich auf das Lesen beziehen

„Ein ‚Codex‘ umfaßt viele Bücher, ein Buch umfaßt einen Band. Man spricht von ‚Codex‘,

indem man die Bezeichnung übernimmt von den ‚Stämmen‘ (codicibus) der Bäume oder der

Weinreben, als sei er gleichsam ein caudex (‚Stamm‘), denn er umfaßt ja eine Menge von

Büchern, wie Äste, die aus ihm herauskommen. Die Bezeichnung volumen (‚Band‘) kommt

von volvere (‚rollen‘). Liber (‚Buch‘) bezeichnet die innere Rinde des Baumes, auf welche die

Alten vor dem Gebrauch des Papyrus oder Pergaments zu schreiben pflegten. Deshalb nannten

sie die Schreiber librarii und das Buch liber.“

Scheda („Papyrusblatt“), dessen Verkleinerungsform schedula lautet, „ist ein griechisches

Wort. Scheda nennt man im eigentlichen Sinne etwas, an dem noch Verbesserungen

angebracht werden und das noch nicht in Bücher zusammengefaßt worden ist.“ „Der

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Gebrauch des Papyrus ist zuerst in Memphis, einer Stadt in Ägypten, erfunden worden.

Papyrus (charta) hat daher seinen Namen, daß man die Faser der Papyruspflanze abzieht

(decerptum) und sie stückweise (carptim) zusammenklebt. Auf diese Weise wird Papyrus

hergestellt, von dem es viele Sorten gibt.

Pergament hat seinen Namen von der Stadt Pergamon, wo es erfunden wurde. Man

spricht auch von ‚Häuten‘ (membrana), weil man sie von den Gliedern (membra) des Viehs

nimmt. Die Häute wurden zunächst in gelblicher Farbe hergestellt, erst später in Rom erfand

man die Erzeugung weißer Häute.“ (315)

„Das Wort ‚Homilie‘ (homilia) bedeutet gleichsam eine Volkspredigt, wobei das Wort an

das Volk gerichtet wird. Eine ‚Abhandlung‘ (tractatus) ist die Darlegung eines einzigen

Themas in seinen verschiedenen Aspekten. ‚Dialog‘ (dialogus) ist das Gespräch zwischen zwei

oder mehreren Personen, was die Lateiner sermo nennen. Sermo (‚Gespräch‘) hat seinen

Namen daher, weil es zwischen den einzelnen Gesprächsteilnehmern geknüpft wird (seritur).

‚Kommentare‘ (commentaria) leiten sich ab von cum mente (‚mit dem Geist‘) oder von

comminiscor (‚ich ersinne‘), denn Kommentare sind Interpretationen, wie zum Beispiel

Kommentare zum Recht oder zu den Evangelien.“ Manche sagen, das Wort „Kommentare“

solle nur bei Büchern der Heiden verwendet werden, bei heiligen Schriften dagegen solle man

von „Auslegungen“ (expositiones) sprechen. „Glosse“ (glossa) ist ein griechisches Wort und

heißt übersetzt lingua („Zunge“), weil die Glosse gewissermaßen die Bedeutung des

betreffenden Wortes ausspricht (loquitur). „Die Philosophen nennen dies ein adverbium (‚zum

Wort‘), weil es mit einem einzige Wort den in Frage stehenden Ausdruck erklärt, wie wenn

beispielsweise gesagt wird: conticescere (‚verstummen‘) ist gleichbedeutend mit tacere

(‚schweigen‘).“ (317)

FÜNFTES BUCH

Kapitel 1: Einige Besonderheiten der Schrift – Die Art, sie zu lesen

Für den eifrigen Leser sollte es keine Last sein, daß wir in so mannigfaltiger und

vielseitiger Weise die Zahl, die Anordnung und die Namen der heiligen Bücher behandeln,

denn es geschieht oft, daß die mangelnde Kenntnis in diesen geringen Dingen die Erkenntnis

der großen und wichtigen Dinge beeinträchtigt. Deshalb soll sich der Student ein für allemal

bereit machen, damit er, nachdem er gleich zu Beginn sozusagen bestimmte Schlösser geöffnet

hat, sodann freien Schrittes den geplanten Weg zurücklegen kann und nicht immer neu nach

elementaren Wissensstoff suchen muß, sobald er zu einzelnen Büchern gelangt. Nachdem

diese Fragen also abgehandelt sind, werden wir nun anschließend das übrige behandeln, was

für unsere Aufgabe von Bedeutung zu sein scheint.

Kapitel 2: Der dreifache Wortsinn

In erster Linie muß man wissen, daß die Heilige Schrift auf dreierlei Weise verstanden

werden kann: historisch, allegorisch und tropologisch. Natürlich muß nicht alles, was sich in

der Heiligen Schrift findet, so zur Erklärung gedreht werden, daß man den Eindruck erhält,

jede Stelle enthalte gleichzeitig den historischen, den allegorischen und den tropologischen

Sinn. Zwar kann man diese dreifache Bedeutung an vielen Stellen nachweisen, doch sie

überall zu sehen ist schwer oder sogar unmöglich. „So klingen ja auch bei der Zither und

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ähnlichen Musikinstrumenten nicht alle Bereiche, die man berührt, sondern nur die Saiten.

Alles (319) andere am gesamten Bau der Zither ist nur zu dem Zweck gemacht worden, daß die

Saiten, welche der Künstler spielt, um die Süße des Liedes hervorzubringen, gehalten und

gespannt werden.“ Ebenso finden sich auch in den göttlichen Worten solche Stellen, die nur

im spirituellen Sinne zu erstehen sind, andere wiederum verweisen auf den Wert sittlichen

Verhaltens, und wieder andere sind im einfachen historischen Sinn ausgesprochen worden.

Einige Stellen jedoch können sinnvollerweise sowohl im historischen wie auch im

allegorischen und tropologischen Sinn erklärt werden. Daher ist die gesamte Heilige Schrift

in wunderbarer Weise durch Gottes Weisheit in ihren einzelnen Teilen so passend angeordnet

worden, daß alles, was in ihr enthalten ist, entweder nach Art der Saiten in der Süße des

spirituellen Sinns ertönt oder aber die hier und da in den Verlauf der geschichtlichen

Darstellung und in die Beständigkeit des Buchstabens eingestreuten geheimnisvollen

Aussprüche festhält, sie gewissermaßen zu einem Ganzen zusammenfaßt und so nach Art des

gewölbten Holzes die darüber gespannten Saiten miteinander verbindet, ihren Klang in sich

aufnimmt und ihn unseren Ohren noch wohlklingender wiedergibt, einen Klang, den dann

nicht nur die Saite erzeugt hat, sondern den auch das Holz je nach der Form seines Baues

mitgebildet hat.

Ebenso verhält es sich auch mit dem Honig, der süßer ist, wenn er noch in der Wabe

steckt, und was man mit größerer Anstrengung sucht, das findet man auch mit größerer

Sehnsucht. Die Heilige Schrift ist deshalb so zu behandeln, daß wir nicht überall den

historischen Sinn suchen, nicht überall den allegorischen und nicht überall den

tropologischen, sondern daß wir vielmehr den einzelnen Stellen entsprechend die jeweilige

Deutung zuweisen, wie die Vernunft es erfordert. Allerdings können sich auch oft alle

Deutungen gleichzeitig in ein und demselben Wortlaut finden, wie wenn die Wahrheit des

geschichtlichen Sinns, durch die allegorische Deutung, auf einen mystischen (321) Sinn

hinweist und ebenso durch die tropologische Deutung, aufzeigt, wie wir handeln sollen.

Kapitel 3: Auch Dinge haben in der Heiligen Schrift eine Bedeutung

Man muß weiterhin wissen, daß in der Rede Gottes nicht nur die Wörter, sondern auch

die Dinge eine Bedeutung haben, eine Besonderheit, die man in anderen Schriften nicht in

dieser Weise findet. Der Philosoph kennt lediglich die Bedeutung der Wörter, doch ist die

Bedeutung der Dinge weit wichtiger als die der Wörter, denn während diese durch den

Gebrauch bestimmt wird, ist jene durch die Natur festgesetzt worden. Diese ist die Stimme von

Menschen, jene ist die Stimme Gottes, der zu den Menschen spricht. Diese verschwindet,

nachdem sie ausgesprochen worden ist, jene aber, einmal geschaffen, besteht fort. Das Wort ist

eine schwache Andeutung der Sinne; das Ding aber ist ein Abbild der göttlichen Idee. Was

also der Laut des Mundes, der in einem einzigen Moment entsteht und vergeht, im Vergleich

zur Idee des Geistes ist, das ist jedes Zeitmaß im Vergleich zur Ewigkeit. Die Idee des Geistes

ist ein innerliches Wort, welches sich äußert durch den Laut der Stimme, also das äußerliche

Wort. Und die göttliche Weisheit, welche der Vater aus seinem Herzen hervorströmen ließ,

wird, obwohl in sich selbst unsichtbar, durch die Geschöpfe und in den Geschöpfen erkannt.

Hieraus ergibt sich eindeutig, welch tiefe Deutung in den heiligen Schriften zu suchen ist, wo

wir durch das Wort zum Verständnis gelangen, durch das Verständnis zum Ding, durch das

Ding zur Idee und durch die Idee zur Wahrheit. Weil einige weniger Gebildete dies nicht

beachten, so glauben sie, in diesen Schriften gebe es nichts Subtiles, an dem sie ihren

Scharfsinn üben könnten, und sie wenden sich deshalb den Schriften der Philosophen zu,

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weil sie eben die Kraft der Wahrheit verkennen und in der Heiligen Schrift nichts als die

bloße Oberfläche des Wortlauts sehen. (323)

Daß aber die Heilige Schrift sich der Bedeutung der Dinge bedient, wollen wir anhand

eines kurzen und eindeutigen Beispiels demonstrieren. Die Schrift sagt: „Wachet, denn euer

Widersacher, der Teufel, geht wie ein brüllender Löwe umher“ (1 Petr 5,8). Wenn wir hier

also sagen, daß der Löwe für den Teufel steht, so müssen wir damit nicht das Wort, sondern

das Ding „Löwe“ meinen. Wenn nämlich die beiden Wörter, also „Teufel“ und „Löwe“, für ein

und dieselbe Sache stünden, dann ergäbe dies eine logisch unzulässige Beziehung zwischen

einem Ding und sich selbst. Es bleibt also dabei, daß das Wort „Löwe“ das Tier bezeichnet,

das Tier wiederum aber den Teufel. Und in derselben Weise muß man es auch bei allem

anderen verstehen, wie wenn wir sagen, daß der Wurm, das Kalb, der Stein, die Schlange und

ähnliches mehr Christus bezeichnen.

Kapitel 4: Die sieben Regeln

Sorgfältig zu beachten ist auch, daß „einige weise Männer unter all den anderen Regeln

über die Redeweise der Heiligen Schrift sieben besonders herausgestellt haben.“

Die erste Regel betrifft den Herrn und seinen Leib, insofern das eine von beiden durch

das andere ausgedrückt wird und in ein und derselben Person bald das Haupt, bald der Leib

angedeutet wird. So sagt Jesaja: ‚Der Herr hat mir die Kleider des Heils angelegt wie einem

kranzgeschmückten Bräutigam und wie einer juwelengezierten Braut‘ (Jes 61,10). Denn in

der einen Person, die mit zwei Namen benannt wird, hat er sowohl das Haupt, nämlich den

Bräutigam, als auch die Kirche, nämlich die Braut, dargestellt. Man muß deshalb in den

heiligen Schriften genau darauf achten, wann speziell das Haupt gemeint ist, wann sowohl

Haupt als auch Leib, wann ein wechselseitiger Austausch zwischen beiden Begriffen vorliegt

und wann nur ein Wechsel vom einen zum anderen. Auf diese Weise erkennt der verständige

Leser, was sich auf das Haupt bezieht und was auf den Leib. (325)

Die zweite Regel betrifft den wahren und den gemischten Leib des Herrn. Denn es

scheinen sich Aussagen auf einzelne Personen zu beziehen, die gar nicht auf Einzelpersonen

passen, wie etwa in dem folgenden Beispiel: ‚Du bist mein Knecht Israel; siehe, ich habe deine

Missetaten weggefegt wie eine Wolke und deine Sünden wie einen Nebel. Kehre um zu mir,

und ich werde dich erlösen‘ (vgl. Jes 44,21 f). Diese Aussage kann sich nicht auf ein Einzelnes

beziehen, denn der erste Teil gilt demjenigen, dessen Sünden Gott weggefegt hat und zu dem er

sagt: ‚Du bist mein‘; der zweite Teil gilt dem, zu dem er sagt: ‚Kehre um zu mir, und ich werde

dich erlösen.‘ Nur wenn diese umkehren, werden ihre Sünden ausgelöscht. Nach dieser Regel

wendet sich die Schrift also in einer solchen Weise an alle, daß die Guten mit den Schlechten

beschuldigt und die Schlechten mit den Guten gelobt werden. Wer aber auf verständige Weise

liest, der wird erkennen, was sich auf welche bezieht.

Die dritte Regel betrifft den Buchstaben und den Geist, das heißt das Gesetz und die

Gnade: das Gesetz, durch welches wir ermahnt werden, Weisungen zu befolgen; die Gnade,

welche uns hilft zu handeln. Anders gesagt, sollte das Gesetz nicht ausschließlich im

historischen, sondern auch im spirituellen Sinn verstanden werden, denn es ist beides

notwendig, sowohl treu am historischen Sinn festzuhalten als auch das Gesetz im spirituellen

Sinn zu verstehen.

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Die vierte Regel betrifft ‚Art‘ und ‚Gattung‘, wenn also der Teil für das Ganze und das

Ganze für den Teil genommen wird. Zum Beispiel spricht der Herr mitunter zu einem Volk

oder zu einer Stadt, doch muß man dies so verstehen, daß er sich an die ganze Welt richtet.

Denn zwar bedroht der Herr durch den Propheten Jesaja nur die eine Stadt Babylon, doch

indem er gegen diese redet, geht er von der ‚Art‘ zur ‚Gattung‘ über und richtet seine Rede

gegen die ganze Welt. Denn hätte er nicht gegen die ganze Welt gesprochen, so hätte er gewiß

nicht später den allgemeinen (327) Zusatz gemacht: ‚Und ich werde die ganze Erde verwüsten

und den Erdkreis für seine Verbrechen bestrafen‘ (vgl. Jes 13,5.11) und die anderen noch

folgenden Äußerungen über die Zerstörung der Welt. Aus diesem Grund fügt er auch hinzu:

‚Dies ist das Urteil, das ich über die ganze Erde beschlossen haben, und dies ist die Hand, die

über alle Völker ausgestreckt ist‘ (Jes 14,26). Und nachdem er in der Person Babylons die

ganze Welt angeklagt hat, kehrt er in der gleichen Weise wieder zu dieser Stadt zurück, also

gleichsam von der Gattung wieder zur Art, und sagt etwas, das speziell auf diese Stadt bezogen

ist: ‚Siehe, ich werde die Meder gegen sie aufstacheln‘ (Jes 13,17). Denn unter der Herrschaft

des Baltasar wurde Babylon von den Medern eingenommen. Und in der gleichen Weise soll

unter der Person des einen Ägypten die ganze Welt verstanden werden, wenn er sagt: ‚Und ich

werde Ägypter gegen Ägypter kämpfen lassen, Königreich gegen Königreich‘ (vgl. Jes 19,2),

denn laut der Beschreibung bestand Ägypten nicht aus mehreren sondern nur aus einem

Königreich.

Die fünfte Regel betrifft die Zeitabschnitte: Ihr zufolge steht entweder der kleinere

Zeitabschnitt für den besonders großen, oder aber unter dem größeren ist der besonders kleine

zu verstehen. So verhält es sich mit den drei Tagen der Grabesruhe des Herrn, denn obwohl er

nicht drei volle Tage und Nächte im Grab lag, versteht man dennoch unter dem kleineren Teil

das Ganze von drei Tagen. Und ebenso verhält es sich damit, daß Gott vorhergesagt hatte, die

Söhne Israels würden vierhundert Jahre lang in Ägypten geknechtet und dann von dort

ausziehen. Doch unter der Führung des Josef hatten die Israeliten die Macht in Ägypten, und

sie zogen auch nicht nach vierhundert Jahren von dort aus, wie es verheißen worden war,

sondern erst nachdem vierhundertdreißig Jahre vergangen waren, sind sie aus Ägypten

ausgezogen.

In bezug auf Zeitangaben gibt es auch noch eine andere übertragene Redeweise, durch

welche zukünftige Ereignisse (329) so dargestellt werden, als seien sie bereits geschehen. Zum

Beispiel: ‚Sie haben meine Hände und meine Füße durchbohrt, sie haben alle meine Knochen

gezählt und haben meine Kleider unter sich aufgeteilt‘ (vgl. Ps 22,17-19: Vg. Ps 21,17-19 G),

und ähnliche Stellen, in denen von Zukünftigem gesprochen wird wie von bereits

Geschehenem. Aber warum wird von etwas, das noch geschehen soll, gesprochen, als sei es

bereits geschehen? Weil das, was für uns der Zukunft angehört, für Gott in seiner Ewigkeit

bereits geschehen ist. Wenn also etwas als ‚künftig zu geschehen‘ angekündigt wird, wird dies

von unserem Standpunkt aus gesagt. Wenn aber von Zukünftigem als von schon Geschehenem

gesprochen wird, so ist dies vom Standpunkt der Ewigkeit Gottes aus zu sehen, bei welchem

alles Zukünftige als bereits geschehen gilt.

Die sechste Regel betrifft die Wiederholung. Eine Wiederholung liegt vor, wenn die

Schrift zu etwas zurückkehrt, dessen Darstellung bereits vorher erfolgt ist. Zum Beispiel sagt

die Schrift, nachdem sie die Söhne der Söhne Noachs erwähnt hat, daß diese sich aufteilten je

nach ihren Sprachen und Stämmen (vgl. Gen 10,20.31), und dennoch heißt es später so als

fände sich dies in derselben Zeitfolge: ‚Es gab auf der ganzen Erde nur eine Sprache und nur

eine Rede bei allen‘ (Gen 11,1). Aber wie konnten dann jene sich je nach ihren Stämmen und

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Sprachen aufteilen, wenn es doch nur eine Sprache für alle gab? Doch wohl nur wenn man

voraussetzt, daß hier die Darstellung durch Wiederholung zu dem bereits Erwähnten

zurückkehrt.

Die siebte Regel betrifft den Teufel und seinen Leib, und ihr zufolge wird oft über dessen

Haupt gesagt, was sich eher auf seinen Leib bezieht. Umgekehrt scheinen oft Äußerungen, die

über seine Glieder gemacht werden, ausschließlich auf sein Haupt zuzutreffen. Unter dem

Namen des Leibes ist in der Tat das Haupt zu verstehen, wenn etwa in dem Evangelium vom

Unkraut unter dem Weizen der Herr sagt: ‚Das hat ein feindlicher Mensch getan‘ (Mt 13,28).

(331) Damit nennt er den Teufel selbst einen Menschen und bezeichnet so unter dem Namen des

Leibes das Haupt. Ebenso wird unter dem Namen des Hauptes der Leib bezeichnet, wenn es

im Evangelium heißt: ‚Euch zwölf habe ich erwählt, und doch ist einer von euch der Teufel‘

(Joh 6,70). Damit war Judas gemeint, denn er gehörte zum Körper des Teufels. Der

abgefallene Engel ist nämlich das Haupt aller Ungerechten, und alle Ungerechten sind der

Leib dieses Hauptes. Er ist in einer solchen Weise eins mit seinen Gliedern, daß oft das, was

von seinem Leib gesagt wird, sich eher auf ihn selbst bezieht, und umgekehrt, was von ihm

gesagt wird, sich eher auf ihn selbst bezieht und umgekehrt, was von ihm gesagt wird, ebenso

auf seine Glieder zu beziehen ist. So ist es bei Jesaja, wo, nachdem die prophetische Rede

vieles gegen Babylon gesagt hat, also gegen den Leib des Teufels, sich anschließend der Sinn

der Prophezeiung wieder gegen das Haupt, also den Teufel, wendet und sagt: ‚Wie bist du vom

Himmel gefallen, Luzifer, der du am Morgen aufgingst‘ (Jes 14,12) und ähnliches mehr.“

Kapitel 5: Was das Studium behindert

Nachdem wir nun dem Studierenden einen fest umrissenen Stoff vorgegeben und die

Schriften, welche in besonderer Weise zur geistlichen Lektüre gehören, durch die Nennung

ihrer Namen festgelegt haben, scheint es folgerichtig, auch etwas über die Methode und den

Fortgang der Lektüre zu sagen. Somit soll aus dem bereits Gesagten zu erkennen sein,

welchem Gegenstand man seine Studien zu widmen hat, während aus dem künftig noch zu

Sagenden die Methode und der Plan des Studiums zu erschließen sein soll. Weil wir aber

leichter einsehen, was wir tun sollen, wenn wir vorher erkennen, was wir nicht tun sollen, so

sollte der Student erst darüber unterrichtet werden, was er vermeiden (333) soll, und dann darin

unterwiesen werden, wie er das, was er tun soll, zur Vollendung bringen kann.

Außerdem muß auch gesagt werden, woran es liegt, daß unter einer solch großen Menge

von Studierenden, von denen sich viele sowohl durch Veranlagung als auch durch Fleiß

auszeichnen, sich nur so wenige finden – leicht sind sie zu zählen –, denen es wirklich

gelingt, Wissen zu erlangen. Um gar nicht von denjenigen zu sprechen, die von Natur aus

stumpf und schwer von Begriff sind, so bleibt doch vor allem dieser Punkt wichtig und der

Nachfrage wert, wie es kommt, daß zwei Leute, die sich mit gleich großer Begabung und

gleich großem Fleiß dem gleichen Studium widmen, dennoch nicht in gleichem Grade zur

Erkenntnis in diesem Wissensgebiet gelangen. Der eine durchschaut die Sache schnell und

erfaßt sogleich, wonach er sucht; der andere müht sich lange ab und erreicht wenig. Man muß

dazu aber wissen, daß bei jeder Art von Betätigung zwei Dinge notwendig sind, nämlich die

Arbeit selbst und die Methode bei dieser Arbeit. Diese beiden sind so miteinander verbunden,

daß das eine ohne das andere entweder nutzlos oder jedenfalls weniger wirksam ist. Doch

heißt es ja: „Klugheit ist besser als Kraft“ (vgl. Weish 6,1 Vg.), denn Gewichte, die wir mit

unseren Körperkräften nicht einmal verschieben können, vermögen wir mitunter durch

Einsatz unserer Kenntnisse sogar zu heben. Genau so ist es auch bei jedem Studium. Wer

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ohne kluge Unterscheidung arbeitet, der arbeitet zwar, aber er macht keine Fortschritte, und

er vergeudet sinnlos seine Kräfte, als würde er die Luft schlagen. Stell dir zwei Leute vor, die

beide einen Wald durchqueren; der eine müht sich auf Umwegen ab, der andere wählt die

Abkürzungen des geraden Weges: Beide schreiten mit dem gleichen Aufwand an Bewegung

fort, aber sie erreichen nicht zu gleicher Zeit das Ziel. Wie soll ich aber die Schrift anders als

einen „Wald“ nennen? Im Lesen pflücken wir ihre Inhalte wie die süßesten Früchte, und im

Überdenken käuen wir sie gleichsam (335) wieder. Wer also beim Lesen einer solchen Menge

von Büchern nicht auf Methode und Ordnung achtet, der verliert die Spur des geraden Weges,

als verirrte er sich im Dickicht eines Waldes, und er gehört zu denen, die, wie es heißt,

„immerzu lernen, aber niemals Wissen erlangen“ (2 Tim 3,7). Denn die kluge Unterscheidung

ist von solcher Bedeutung, daß ohne sie jede Muße verwerflich und jede Arbeit nutzlos ist.

Daß wir dies doch ganz und gar begreifen würden!

Drei Dinge sind es vor allem, die den Studien der Studierenden im Wege stehen: die

Nachlässigkeit, die Unbedachtheit und die Laune des Schicksals. Nachlässigkeit ist es, wenn

wir das, was wir lernen müssen, entweder ganz auslassen oder aber wenig sorgfältig lernen.

Unbedachtheit ist es, wenn wir uns beim Lernen nicht an die entsprechende Methode und

Ordnung halten. Die Schicksalslaune macht sich bemerkbar durch ein Ereignis, durch Zufall

oder durch etwas, das natürlicherweise passiert, so zum Beispiel, wenn wir durch Armut,

Krankheit oder eine ungewöhnliche Verzögerung von unserem Vorhaben ferngehalten

werden, oder auch durch Mangel an Lehrern, wenn niemand zu finden ist, der uns lehren,

oder jedenfalls niemand, der uns gut lehren kann. Was diese drei Dinge angeht, so muß man

beim ersten, der Nachlässigkeit, den Studenten ermahnen, beim zweiten, der Unbedachtheit,

ihn belehren, beim dritten, der Laune des Schicksals, muß man ihm helfen.

Kapitel 6: Die Früchte der geistlichen Lektüre

Wer immer es unternimmt, sich in der geistlichen Lektüre zu bilden, sollte als erstes

wissen, welche Frucht dies bringen kann. Denn man sollte nichts ohne Grund anstreben; und

was keinen Nutzen verspricht, zieht nicht unsere Wünsche auf sich. Zweifach ist die Frucht

des geistlichen Lesens, denn entweder bildet es den Geist durch Wissen, oder es erfüllt ihn mit

sittlicher Gesinnung. Es lehrt, was (337) man sich freut zu wissen und was nachzuahmen

vorteilhaft ist. Von dem Erwähnten hat das eine, nämlich das Wissen, mehr Bezug zur

historischen und allegorischen Deutung, das andere, die Unterrichtung im sittlichen

Verhalten, bezieht sich eher auf den tropologischen Sinn. Die gesamte Heilige Schrift ist auf

dieses Ziel gerichtet. Obwohl gerecht zu sein sicherlich wichtiger ist als weise zu sein, weiß

ich dennoch, daß viele im Studium der Heiligen Schrift eher Wissen als Tugend suchen. Da

ich selbst aber der Meinung bin, daß keines von beiden mißbilligt werden sollte, vielmehr

beide für notwendig und lobenswert halte, will ich kurz darlegen, was der Absicht jedes der

beiden entspricht. Und als erstes werde ich von demjenigen handeln, der die „Gnade der

Sittlichkeit“ umarmt.

Kapitel 7: Wie man die Heilige Schrift studieren soll, um sein sittliches

Verhalten zu verbessern

Wer in der Heiligen Schrift die Kenntnis der Tugenden und eine Lebensregel sucht, der

sollte vor allem diejenigen Bücher lesen, die zur Abkehr von dieser Welt raten und die den

Geist mit der Liebe zu seinem Schöpfer entflammen, Bücher, die den rechen Lebensweg

finden lehren und die zeigen, wie Tugenden erworben und Laster abgewehrt werden können.

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„Zuerst suchet das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit!“ (vgl. Mt 6,33), heißt es in der

Schrift, so als wenn sie offen sagen würde: „Verlangt nach den Freuden des himmlischen

Vaterlandes, aber erkundet auch möglichst geschickt, durch welche Verdienste der

Gerechtigkeit man zu diesen Freuden gelangt. Liebt und sucht alles Gute, alles Notwendige.

Wenn die Liebe dabei ist, kann keiner untätig bleiben. Verlangt ihr danach, das Ziel zu

erreichen? So lernt, wie ihr erreichen könnt, wonach ihr strebt!“

Dieses Wissen jedoch erlangt man auf zweierlei Weise, nämlich durch Beispiel und

durch Belehrung: durch Beispiel, wenn wir die Taten der Heiligen lesen; durch Belehrung,

wenn wir lernen, was diese bezüglich unserer sittlichen (339) Disziplin gesagt haben. Unter

diesen Taten und Aussprüchen der Heiligen soll man sich meines Erachtens vor allem die

Schriften des heiligen Gregor vornehmen, die ich hier nicht mit Schweigen übergehen wollte,

denn diese erschienen mir vor allen anderen süß und voll der Liebe zum ewigen Leben.

Es ist aber vonnöten, daß derjenige, der diesen Weg eingeschlagen hat, lernt, sich beim

Lesen der Bücher nicht nur durch den farbigen Glanz des Stils anregen zu lassen, sondern

auch durch den Wunsch, die dort dargestellten Tugenden nachzuahmen, so daß er sich nicht

so sehr an der Pracht oder der Komposition der Sprache freut, sondern vielmehr an der

Schönheit der Wahrheit. Er soll auch wissen, daß es seinem Vorhaben nicht förderlich ist,

wenn er sich vom leeren Verlangen nach Wissen fortreißen läßt und unverständliche oder

tiefschürfende Werke liest, die den Geist eher anstrengen als ihn erbauen, damit nicht das

bloße Studieren ihn so fesselt, daß er sich gezwungen sieht, die Ausübung guter Werke zu

unterlassen. Für den christlichen Philosophen sollte das Lesen eine Ermunterung sein, keine

ausfüllende Beschäftigung; es sollte seine sinnvollen Anliegen nähren, nicht sie töten. Ich

erinnere mich, daß mir einmal von einem Mann von wirklich lobenswertem Lebenswandel

erzählt wurde, der so sehr in Liebe zu den heiligen Schriften entbrannt war, daß er sie

ununterbrochen studierte. Und als Tag für Tag sein Wissen wuchs, ebenso aber auch sein

Verlangen nach Wissen, begann er schließlich, voll unbedachten Eifers nach der Weisheit,

die einfacheren Schriften zu verachten und alles Tiefsinnige und Unklare zu durchforschen,

und er drang mit allem Nachdruck darauf, die Rätselsprüche der Propheten und die

mystischen Bedeutungen der Sakramente aufzuschlüsseln. (341) Aber der menschliche Geist ist

nicht in der Lage, eine solche Last zu tragen; bald begann er, unter der Gewaltigkeit dieser

Aufgabe und der andauernden Anspannung zu erlahmen und durch die Sorge um diese

unangemessene Beschäftigung so verwirrt zu werden, daß er am Ende nicht nur die

nützlichen, sondern auch die notwendigen Tätigkeiten gänzlich einstellte. Nachdem sich die

Sache so in ihr Gegenteil verkehrt hatte, waren die heiligen Schriften für den Mann, der ihre

Lektüre um der Erbauung seines Lebens willen begonnen hatte, der aber den mäßigenden

Einfluß der klugen Unterscheidung nicht zu gebrauchen wußte, nun zu einer Quelle des

Irrtums geworden. Aber dank des göttlichen Erbarmens wurde er in einer Offenbarung

ermahnt, sich nicht weiter dem Studium dieser Schriften hinzugeben, sondern es sich zur

Gewohnheit zu machen, die Lebensbeschreibungen der heiligen Väter, die Triumphe der

Märtyrer und ähnliche in einfachem Stil verfaßte Schriften häufig zu lesen. Auf diese Weise

fand er in kurzer Zeit zu seinem früheren Zustand zurück und wurde der Gnade innerer Ruhe

in einem solchen Maße für würdig befunden, daß man in ihm wahrhaftig das Wort des

Herrn erfüllt sehen konnte, das Wort, mit welchem er, eingedenk unserer Mühe und unseres

Schmerzes, uns gütig trösten wollte: „Kommt zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid;

ich will euch erquicken“, und dann: „Ihr werdet für eure Seele Ruhe finden“ (Mt 11,28 f).

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Ich habe dieses Beispiel angeführt, um denjenigen, die sich in den Dienst nicht der

Bücher, sondern der Tugend gestellt haben, vor Augen zu halten, daß ihr Studium ihnen

nicht Überdruß, sondern Freude bereiten sollte. Denn selbst der Prophet sagt ja „Ich kenne

keine Bücherweisheit“, das heißt keine Geschäfte; „ich werde eingehen in die Macht des

Herrn; Herr, deiner Gerechtigkeit allein will ich gedenken. Gott, von Jugend auf hast du

mich gelehrt“ (Vg. Ps 70,15-17 G). Denn wer die Schriften studiert, um seinen Geist zu

beschäftigen oder gar sozusagen in Betrübnis zu (343) versetzen, der treibt nicht Philosophie,

sondern Geschäfte; und ein solch heftiges und unbedachtes Vorhaben entgeht nicht leicht dem

Übel des Hochmuts. Was soll ich aber von der Studierweise Paulus‘ des Einfältigen sagen,

dem es wichtiger war, das Gesetz zu erfüllen als es zu erlernen? Dies kann gewiß ein gutes

Beispiel für uns sein, nicht Hörer oder Studierer, sondern vielmehr gerechte Verwirklicher

des Gesetzes (vgl. Jak 1,22; Röm 2,13) zu sein vor Gott.

Es ist weiterhin zu berücksichtigen, daß das Studium üblicherweise auf zweierlei Art das

Gemüt mit Unmut erfüllt und dem Geist zur Last wird, nämlich durch seine Beschaffenheit

wenn also die Materie zu unverständlich und durch seine Menge, wenn der Stoff zu

umfangreich gewesen ist. In beiden Fällen ist große Mäßigung angebracht, damit nicht, was

zu unserer Speisung dienen sollte, beim Genuß zur Erstickung führt. Es gibt Leute die alles

lesen wollen; mit diesen solltest du dich nicht messen. Für dich laß es genug sein. Es ist nicht

wichtig für dich, ob du alle Bücher liest oder nicht. Die Zahl der Bücher ist unbegrenzt;

trachte nicht nach Unbegrenztem! Wo kein Ende ist, da kann es keine Ruhe geben; wo keine

Ruhe ist, da gibt es keinen Frieden; wo kein Friede ist, da kann Gott nicht wohnen. „Im

Frieden“, sagt der Prophet, „ist ihm sein Platz bereitet worden und seine Wohnung auf Zion“

(Vg. Ps 75,3 G). „Auf Zion“, aber „im Frieden“; Zion muß es geben aber ohne den Frieden zu

verlieren. Du sollst Betrachtungen anstellen, nicht dich Beschäftigungen hingeben. Sei nicht

geizig, sonst wirst du vielleicht immer Mangel leiden. Höre auf Salomo, höre auf den Weisen

und lerne Klugheit. „Mein Sohn“, so sagt er, „verlange nicht mehr als diese. Des vielen

Bücherschreibens ist kein Ende, und das andauernde Nachdenken ist eine Belastung für den

Körper“ (Koh 12,12). Wo ist also das Ende? „Laßt uns alle zusammen das Ende der Rede

hören: Fürchte Gott, und befolge seine Gebote; das allein macht den Menschen vollkommen“

(Koh 12,13). (345)

Kapitel 8: Studieren ist die Sache der Anfänger, Handeln Sache der

Vollkommenen

Es möge aber nun niemand aus dem, was ich oben gesagt habe, schließen, ich wolle es

verurteilen, wenn Studierende Gründlichkeit an den Tag legen. Meine Absicht ist es vielmehr

im Gegenteil die gründlichen Studenten zu ihrem Vorhaben zu ermuntern und diejenigen, die

gerne lernen, als lobenswert vor Augen zu stellen. Oben habe ich nämlich mit Bezug auf die

Gelehrten gesprochen, jetzt jedoch meine ich die, die noch belehrt werden müssen und noch

am Anfang der Unterweisung stehen, welche die Grundlage der sittlichen Disziplin ist. Ziel

der Fortgeschrittenen ist das Bemühen um Tugend, Ziel der Anfänger aber zunächst noch die

Ausübung ihres Studiums. Beides jedoch sollte so betrieben werden, daß weder die ersteren

das Studium vernachlässigen noch die letzteren die Tugend außer acht lassen. Denn oft

erweist sich ein Handeln, dem kein Studium vorausgegangen ist, als wenig vorbedacht, und

umgekehrt eine Belehrung, der keine gute Praxisanwendung folgt, als wenig nützlich.

Unbedingt notwendig ist es jedoch, daß die Fortgeschrittenen sich hüten, auf das, was hinter

ihnen liegt, zurückzublicken, und daß andererseits die Anfänger sich zu trösten wissen, wenn

sie sich manchmal danach sehen, dorthin zu gelangen, wo die Fortgeschrittenen bereits sind.

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Beide Gruppen müssen sich weiter übern, beide Gruppen müssen weiter voranschreiten.

Niemand darf sich wieder nach rückwärts wenden; nur aufwärts zu steigen ist erlaubt, nicht

abwärts. Wenn du aber noch nicht in der Lage bist hinaufzusteigen, dann bleib auf deinem

Platz.

Wer die Aufgabe eines anderen für sich selbst übernimmt, ist nicht frei von Schuld.

Wenn du ein Mönch bist, was machst du dann in der Menge? Wenn du die Stille liebst,

warum freust du dich daran, ständig in der Gesellschaft von Redekünstlern zu sein? Du

solltest dich beständig dem (347) Fasten und Beten widmen, und willst doch als Philosoph

auftreten? Die Philosophie des Mönchs ist die Einfachheit. „Aber ich will doch andere

lehren“, sagst du. Nicht das Lehren ist deine Aufgabe, sondern das Trauern. Wenn du dennoch

ein Lehrer sein willst, so höre, was du tun sollst. Die Dürftigkeit deines Kleides und die

Bescheidenheit in deinem Gesichtsausdruck, die Lauterkeit deiner Lebensführung und die

Heiligkeit in deinem Verhalten sollen es sein, die die Menschen lehren. Du bist ein besserer

Lehrer, wenn du die Welt fliehst, als wenn du ihr nachfolgst. Vielleicht bleibst du aber weiter

hartnäckig und sagst: „Ist es mir denn nicht wenigstens erlaubt zu lernen, wenn ich es doch

gerne möchte?“ Ich habe oben schon gesagt „Studiere, doch laß dich nicht gänzlich dadurch

ausfüllen.“ Studium kann eine Übung für dich sein, nicht aber ein Endzweck. Belehrung ist

gut, aber sie ist für Anfänger. Du jedoch hast versprochen, vollkommen zu werden, und

deshalb ist es für dich nicht ausreichend auf gleicher Ebene mit Anfängern zu sein. Du mußt

mehr zuwege bringen! Überlege dir also, wo du stehst, und du wirst ohne Mühe erkennen, was

du zu tun hast.

Kapitel 9: Vier Stufen

Vier Dinge sind es, durch die nun das Leben der Gerechten zur Ausübung gelangt und

sich gleichsam auf vier Stufen zur zukünftigen Vollkommenheit erhebt, nämlich das Studium

oder die Belehrung, die Meditation, das Gebet und das Handeln. Darauf folgt noch eine

fünfte Stufe, die Kontemplation, in welcher man, gewissermaßen als Frucht der

vorangehenden vier, schon in diesem Leben einen Vorgeschmack dessen hat, was im

zukünftigen Leben der Lohn des guten Werkes sein wird. Daher fügt auch der Psalmist, (349)

als er von den Ratschlüssen Gottes spricht, sogleich zu ihrem Lob hinzu: „Wenn man jene

beachtet, ist der Lohn reichlich“ (Ps 19,12: Vg. Ps 18,12 G).

Von diesen fünf Stufen ist die erste, das Studium, Sache der Anfänger, die letzte Stufe, die

Kontemplation, Sache der Vollkommenen. Und was die mittleren Stufen betrifft, so ist man

um so vollkommener je mehr Stufen man hinaufgeschritten ist. Zum Beispiel: Die erste Stufe,

das Studium, verleiht Erkenntnis; die zweite, die Meditation, gewährt Rat; die dritte, das

Gebet, erbittet; die vierte, das Handeln, sucht; die fünfte, die Kontemplation, findet. Wenn du

also studierst und du hast Erkenntnis erlangt und weißt bereits, was zu tun ist, dann ist dies

der Anfang des Guten, aber es ist noch nicht genug für dich, du bist noch nicht vollkommen.

Ersteige also die Höhe der Überlegung, und denk darüber nach, wie du das erreichen kannst,

von dem du gelernt hast, daß es getan werden muß. Es gibt nämlich viele, die Wissen

besitzen, aber nur wenige, die erkannt haben, wie man mit diesem Wissen umgehen muß. Und

da außerdem die menschliche Überlegung ohne göttliche Hilfe schwach und wirkungslos ist,

so erhebe dich zum Gebet und bitte um den Beistand desjenigen, ohne den du nichts Gutes zu

tun vermagst, so daß seine Gnade, die durch ihr Vorangehen dich erleuchtet hat, auch durch

ihre Begleitung deine Füße auf den Weg des Friedens lenke und das, was bisher nur im

Vorsatz existierte, zur Verwirklichung guten Handelns führe. Was dir dann noch bleibt, ist,

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dich zur Ausführung des guten Werkes zu rüsten, damit du würdig bist, durch dein Handeln

zu erreichen, was du durch dein Gebet erbeten hast. Gott will zusammen mit dir wirken; nicht

gezwungen wirst du, sondern unterstützt. Wenn du alleine handelst, erreichst du nichts; wenn

Gott alleine handelt, hast du kein Verdienst. Es möge also Gott handeln, damit du in die Lage

versetzt wirst zu handeln; und du mögest handeln, damit du dir Verdienst erwirbst. Das gute

Handeln ist die Straße, auf der man zum Leben (351) gelangt. Wer auf dieser Straße geht, der

sucht das Leben. „Sei nur mutig, und handle wie ein Mann!“ (Jos 1,18; 1 Chr 22,13; vgl. 1 Kor

16,13). Diese Straße hat ihren Lohn. Sooft wir auch durch die Mühen dieses Weges ermatten,

wir werden durch die Gnade des göttlichen Erbarmens erleuchtet, und wir „kosten und sehen,

wie süß der Herr ist“ (Ps 34,9: Vg. Ps 33,9). Und so geschieht was oben gesagt wurde: was das

Handeln sucht, findet die Kontemplation.

Du siehst also, wie diejenigen Vollkommenheit erlangen, die auf diesen Stufen

emporsteigen, so daß derjenige, der unten verbleibt, nicht vollkommen sein kann. Unser Ziel

sollte es deshalb sein, immer emporzusteigen; da aber die Wechselhaftigkeit unseres Lebens so

groß ist, daß wir nicht beständig auf einem Punkte bleiben können, sind wir oft gezwungen,

uns noch einmal dem bereits Behandelten zuzuwenden, und um nicht den erreichten Stand

wieder zu verlieren, wiederholen wir bisweilen, was wir schon hinter uns gelassen haben. Um

ein Beispiel zu geben: Wer stark im Handeln ist, der betet, damit er nicht in seiner Stärke

nachläßt; wer beständig im Beten ist, der meditiert darüber, worum man beten soll, damit er

nicht in seinem Beten Anstoß erregt; und wer mitunter wenig Vertrauen in sein eigenes Urteil

hat, der sucht Rat im Studieren. Und so geschieht es, daß wir, obwohl es unser Wille ist, stets

emporzusteigen, dennoch mitunter durch Notwendigkeit gezwungen werden hinabzusteigen;

doch liegt unser Ziel in diesem Willen, nicht in der Notwendigkeit. Daß wir emporsteigen, ist

unser Ziel; daß wir hinabsteigen, geschieht um unseres Zieles willen. Nicht das letztere,

sondern das erstere also sollte für uns die Hauptsache sein. (353)

Kapitel 10: Die drei Arten von Studierenden

Ich meine, es ist deutlich genug dargelegt worden, daß Fortgeschrittene und solche, die

etwas mehr versprechen, nicht dieselbe Aufgabe haben wie die, die gerade erst anfangen. Aber

so wie den ersteren etwas erlaubt wird, das die letzteren keineswegs tun dürfen, ohne einen

schweren Fehler zu begehen, so wird auch von den letzteren etwas gefordert, zu dem die

ersteren nicht länger mehr verpflichtet sind. Ich komme daher jetzt zu der Einlösung meines

Versprechens, nämlich zu zeigen, wie die Heilige Schrift von denjenigen gelesen werden soll,

die in ihr ausschließlich Wissen suchen.

Es gibt einige, die aus der Heiligen Schrift Wissen zu erlangen suchen, um Reichtümer

anzusammeln oder Ehrungen zu erhalten oder Reputation zu erwerben. Die Absicht dieser

Leute ist ebenso widersinnig wie bemitleidenswert. Es gibt außerdem andere, die sich daran

freuen, die Worte Gottes zu hören und Wissen über seine Werke zu erwerben, nicht weil diese

heilbringend, sondern weil sie voller Wunder sind. Geheimnisvolles wollen sie erforschen und

Unerhörtes kennenlernen; vieles wollen sie wissen, tun aber wollen sie nichts. Sie bestaunen

vergeblich die Macht Gottes, wenn sie nicht auch sein Erbarmen lieben. Wie könnte ich ihr

Verhalten anders nennen, als daß sie göttliche Verkündigungen in bloße Fabelgeschichten

verkehren? Für solche Zwecke pflegen wir Theatervorführungen und szenische Darstellungen

zu besuchen, nämlich um unser Ohr zu nähren, nicht unseren Geist. Doch glaube ich, daß

Leute solcher Art nicht so sehr in Verlegenheit gebracht als vielmehr durch Hilfe unterstützt

werden sollten, denn ihr Wille ist nicht schlecht, sondern nur unbedacht. Wieder andere

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jedoch studieren die Heilige Schrift, um gemäß der Weisung des Apostels bereit zu sein

„jedem Fragenden Rechenschaft über ihren Glauben zu geben“, so daß sie die Feinde der

Wahrheit machtvoll zerstören, die Ungebildeten (355) belehren, für sich selbst den Weg der

Wahrheit besser erkennen und durch ihr tieferes Verständnis die Geheimnisse Gottes

inständiger lieben können. Die Hingabe dieser Leute ist wahrhaft lobenswert und verdient,

nachgeahmt zu werden.

Es gibt also drei Arten von Menschen, die die Heilige Schrift studieren, und von diesen

sind die ersten zu bedauern, den zweiten muß man helfen, die dritten kann man rühmen. Wir

aber, da wir ja für alle Rat geben wollen, haben den Wunsch, daß bei allen das gute vermehrt

und das Verkehrte berichtigt werden möge. Was wir wollen, ist, daß alle einsehen, was wir

sagen, und daß alle tun, wozu wir mahnen. (357)

SECHSTES BUCH

Kapitel 1: Wie diejenigen die Heilige Schrift studieren sollen, die darin Wissen

suchen

Zwei Dinge empfehle ich dir mein Student, nämlich Ordnung und Methode. Wenn du

diese gewissenhaft beachtest, wird dir der Weg des Studierens ohne große Mühe offenstehen.

Bei der Erwägung dieser beiden Dinge werde ich aber weder alles deiner eigenen Geisteskraft

überlassen, noch werde ich versprechen, daß meine Gewissenhaftigkeit alles für dich

erledigen wird. Statt dessen werde ich, um dir eine Art Vorgeschmack zu geben, einiges kurz

berühren, so daß du manches ausgeführt finden wirst, an dem du dich bilden kannst, und

manches übergangen findest, das deiner eigenen Übung überlassen bleibt.

Ich habe oben schon erwähnt, daß Ordnung im Studium eine vierfache Angelegenheit ist:

es gibt eine Ordnung in bezug auf die Wissenschaftsdisziplinen, eine bei den Büchern, eine

bei der Erzählweise und eine bei der Auslegung. Wie diese Ordnungsbegriffe jedoch auf die

Heilige Schrift anzuwenden sind, habe ich noch nicht gezeigt.

Kapitel 2: Die Ordnung bei den Wissenschaftsdisziplinen

Bezüglich der gesuchten Ordnung unter den Wissenschaftsdisziplinen sollte der

Studierende der Heiligen Schrift als erstes die historische, die allegorische und die

tropologische Deutung beachten; das heißt, welche von ihnen den anderen in der Ordnung des

Studierens vorangeht. Dabei ist es nicht ohne Nutzen, sich ins Gedächtnis zu rufen, was man

bei der Errichtung von Gebäuden sehen kann, wo erst das Fundament gelegt wird, dann der

Bau darüber aufgeführt und schließlich, wenn dies Werk vollendet (359) ist, das Haus durch

einen Farbanstrich bekleidet wird.

Kapitel 3: Geschichte

Auf eben diese Weise muß man auch bei der Unterweisung vorgehen. Als erstes lernst du

die Geschichte und prägst deinem Gedächtnis sorgfältig die Wahrheit der Ereignisse ein, vom

Anbeginn anfangend bis hin zum Ende, was geschehen ist, wann es geschehen ist, wo es

geschehen ist und durch wen es geschehen ist. Denn dies sind die vier Dinge, die in der

Geschichte vor allem festzustellen sind: die Person, die Handlung, die Zeit und der Ort. Ich

glaube nämlich nicht, daß du in der allegorischen Deutung wirklich feinsinnig werden

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kannst, wenn du nicht vorher die Grundlage in der Geschichte gelegt hast. Du solltest diese

minderen Dinge nicht geringschätzen. Wer das Mindere geringschätzt, der gleitet nach und

nach abwärts. Wenn du es zu Beginn verschmäht hättest, das Alphabet zu lernen, würdest du

dich heute nicht einmal dem Namen nach unter den Studierenden der Grammatik erwähnt

finden. Ich weiß, daß es Leute gibt, die sogleich als Philosophen auftreten wollen. Sie sagen,

daß man die Geschichten den Pseudo-Aposteln überlassen sollte. Die Wissenschaft dieser

Personen ist der Gestalt eines Esels ähnlich. Ahme solche Leute nicht nach.

„Bist du einmal mit Kleinem vertraut, so wirst du auch Großes

erfolgreich anstreben.“ (361)

Was mich selbst betrifft, so kann ich dir versichern, daß ich nichts von all dem, was zur

Bildung gehört, je geringgeschätzt habe; vielmehr habe ich oft Dinge gelernt, die für andere

eine Art Scherz oder Unsinn zu sein schienen. Ich erinnere mich, daß ich als Schuljunge

angestrengt bemüht war, von allen Dingen, die mir zufällig unter die Augen oder in die

Hände kamen, die Namen zu lernen, denn ich dachte bei mir, daß man wohl kaum ohne

weiteres das Wesen der Dinge erfassen könne, wenn man nicht einmal ihre Namen kenne.

Und was meine kleinen Lehrsätze angeht, die ich mir der Kürze wegen mit ein oder zwei

Worten auf einem Blatt notiert hatte, wie oft habe ich nicht damit die mir selbst täglich

auferlegte Arbeitsschuld beglichen, um so schließlich von fast allen gelernten Behauptungen,

Fragen und Einwendungen die Lösungen und sogar die Anzahl meinem Gedächtnis

einzuprägen. Oft habe ich mir Rechtsstreitigkeiten ausgedacht, die widerstreitenden

Argumente einander gegenübergestellt und dann sorgsam unterschieden, welches die Aufgabe

des Rhetorikers, welches die des Redners und welches die des Sophisten wäre. Mit Steinchen

habe ich Zahlen dargestellt mit schwarzer Kohle habe ich auf dem Fußboden Zeichnungen

gemacht, und nachdem ich mir so ein Modell vor Augen geführt hatte, habe ich ganz

offenkundig den Unterschied zwischen einem stumpfen Winkel, einem rechten Winkel und

einem spitzen Winkel demonstriert. Ob man den Flächeninhalt eines Quadrates erhält, wenn

man zwei seiner Seiten miteinander multipliziert habe ich gelernt, indem ich es nach beiden

Seiten hin abschritt. Oft habe ich bei der Beobachtung der Sterne die Winternächte im Freien

durchwacht. Oft habe ich nach bestimmtem Zahlenmaß Saiten über einen Holzrahmen

gespannt und auf der dadurch hergestellten Magadis gespielt, sowohl um den Unterschied der

Töne mit dem Ohr wahrzunehmen, als auch um mich an der Süße des Liedes zu erfreuen.

Natürlich waren dies Kindereien, aber doch nicht ohne Nutzen, und daß ich (363) mich heute

in diesen Dingen auskenne, bedeutet auch keine Last für meinen Magen. Das alles erzähle ich

dir aber nicht, um mit meinem Wissen zu prahlen, das ohnehin ein Nichts oder nur sehr

bescheiden ist, sondern um dir zu zeigen, daß derjenige am besten voranschreitet, der planvoll

vorgeht, nicht wie jene, die einen großen Sprung tun wollen und dann jäh in den Abgrund

stürzen.

Wie bei den Tugenden so gibt es auch in den Wissenschaften bestimmte Stufen. Doch

sagst du: „In den Geschichtswerken finde ich vieles, das ganz ohne Nutzen zu sein scheint;

warum soll ich mich mit so etwas beschäftigen?“ Das sagst du durchaus mit Recht. Es gibt

wirklich viele Stellen in den Schriften, die für sich betrachtet nichts Erstrebenswertes zu

enthalten scheinen. Doch wenn du diese mit anderen Stellen, auf die sie Bezug nehmen, in

Zusammenhang bringst, und wenn du anfängst, sie in ihrem gesamten Kontext zu erwägen,

dann wist du sehen, daß sie ebenso notwendig wie sinnvoll sind. Manche Dinge muß man um

ihrer selbst willen wissen, andere aber, wenn sie auch für sich genommen kaum unserer

Bemühung wert erscheinen, dürfen keinesfalls mit Nichtachtung übergangen werden, denn

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ohne sie können jene ersten Dinge nicht vollständig verstanden werden. Lerne alles, du wirst

später sehen, daß nichts überflüssig ist. Verkürztes Wissen ist jedenfalls nicht erfreulich.

Nun fragst du, ob ich eine bestimmte Ansicht habe hinsichtlich der Bücher, die für dieses

Studium nützlich sind. Meiner Meinung nach sollten vor allem diese Bücher studiert werden:

Genesis, Exodus, Josua, das Buch der Richter, das der Könige und die Chronik; aus dem

Neuen Testament zuerst die vier Evangelien, dann die Apostelgeschichte. Diese elf scheinen

mir den meisten Bezug zur Geschichte zu haben, abgesehen von denjenigen, welche wir im

eigentlichen Sinn „Geschichtswerke“ nennen.

Wenn wir jedoch dies Wort im weiteren Sinne gebrauchen, dann ist es durchaus

angemessen, nicht nur den Bericht (365) von Ereignissen als „Geschichte“ zu bezeichnen,

sondern auch jene erste Bedeutungsebene einer jeden Erzählung, die sich der eigentlichen

Beschaffenheit der Wörter bedient. Und wenn man das Wort so auffaßt, gehören nach meiner

Meinung alle Bücher beider Testamente, in der Anordnung, wie wir sie oben aufgezählt

haben, mit Bezug auf ihre wörtliche Bedeutung zu diesem Studium.

An dieser Stelle sollte ich vielleicht, wenn es nicht kindisch erschiene, einige

Anweisungen über die Art und Weise der Satzkonstruktion einfügen, weil ich weiß, daß die

Heilige Schrift in höherem Maße als alle anderen Werke eine gedrängte Textgestalt aufweist.

Doch will ich davon hier absehen, um mein Vorhaben nicht durch allzu lange Abschweifung

auszudehnen. Es gibt bestimmte Stellen in der Heiligen Schrift, die nicht im wörtlichen Sinn

gelesen werden können und die man mit kluger Unterscheidung sorgfältig untersuchen muß,

damit man nicht einerseits durch Nachlässigkeit etwas übersieht und andererseits nicht durch

unangebrachten Eifer den Text gewaltsam in Richtung einer Deutung dreht, für die er nicht

geschrieben worden ist.

Dies also, mein Student, ist es, was wir dir empfehlen; dies Feld deiner Arbeit wird dir,

sofern du es gründlich mit dem Pflug bearbeitet hast, reiche Frucht bringen. Alles ist nach

einer bestimmten Ordnung geschehen: Geh auch du nach bestimmter Ordnung vor. Wenn man

dem Schatten folgt, gelangt man zum Körper: Lerne das Sinnbild, und du wirst die Wahrheit

finden. Damit meine ich jetzt nicht, daß du dich zuerst bemühen solltest, die Sinnbilder des

Alten Testamentes zu entschlüsseln und dessen geheimnisvolle Wort zu ergründen, bevor du

dazu kommst, von den Wassern des Evangeliums zu trinken. Aber ebenso wie du siehst, daß

kein Gebäude ohne Fundament dauerhaft sein kann, so verhält es sich auch im Studium. Das

Fundament und der Anfang des geistlichen Studiums ist die Geschichte, aus welcher dann,

wie Honig aus der Wabe die Wahrheit (367) der Allegorie gewonnen wird. Wenn du also bauen

willst „so leg erst das Fundament der Geschichte, dann errichte, durch die sinnbildliche

Bedeutung, das Gebäude des Geistes als eine Burg des Glaubens. Als letztes jedoch bemale das

Gebäude, kraft der Gnade der Sittlichkeit, wie mit dem herrlichsten Farbanstrich.“

In der Geschichte findest du Veranlassung die Taten Gottes zu bewundern, in der

Allegorie, an seine Geheimnisse zu glauben, in der Tropologie, seine Vollkommenheit

nachzuahmen. Lies also und lerne dies: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (Gen 1,1).

Lies, daß er am Anfang pflanzte „einen Paradiesgarten der Freude, in welchen er den

Menschen setzte, den er gebildet hatte“ (Gen 2,8). Da dieser sündigte, vertrieb er ihn und warf

ihn hinaus in die Mühsal dieser Welt. Lies, wie von dem einen Menschen der gesamte Sproß

des Menschengeschlechtes abstammte (vgl. Gen 1,27 f); wie dann die Flut die Sünder

vernichtete (vgl. Gen 7,17-24); wie der gerechte Noach mit seinen Söhnen inmitten der Wasser

durch die göttliche Milde gerettet wurde (vgl. Gen 8); wie dann Abraham das Zeichen des

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Glaubens empfing (vgl. Gen 17,10 f), später aber Israel nach Ägypten hinabzog (vgl. Gen 46,6

f); wie dann Gott durch die Hand Moses‘ und Aarons die Söhne Israels aus Ägypten durch das

Rote Meer hinausführte (vgl. Ex 14), wie er sie in der Wüste ernährte (vgl. Ex 16), ihnen das

Gesetz gab (vgl. Ex 19 f), sie ins Land der Verheißung brachte (vgl. Jos 1-12); wie er sie, als

sie immer wieder sündigten, in die Hände der Feinde auslieferte, und wie er sie, als sie wieder

bereuten, befreite (vgl. Jos 7 f); wie er zuerst durch Richter, dann durch Könige das Volk

lenkte (vgl. Ri 1-3; 1 Sam 8 f). Seinen Diener David holte er von den Mutterschafen weg (vgl.

Ps 78,70: Vg. Ps 77,70 G). Salomo erleuchtete er mit Weisheit. Dem weinenden Ezechiel gab

er noch 15 zusätzliche Lebensjahre. Als sich das Volk wieder ungehorsam zeigte, schickte er

es in die Gefangenschaft nach Babylon durch die Hand des Nebukadnezzar. (369) Nach 70

Jahren führte er sie durch Kyrus wieder zurück. Zuletzt aber, als die Zeit sich schon neigte,

ließ er seinen Sohn Fleisch werden, versprach den Reuigen das ewige Leben durch die

Apostel, die er in die ganze Welt hinaussandte. Er sagte voraus daß er am Ende der Zeiten

kommen werde, um uns zu richten, um einem jeden den Lohn für seine Werke zu geben:

ewiges Leben und „das Reich, das kein Ende haben wird“ (Lk 1,33). Siehe nun also, wie vom

Anbeginn der Welt bis ans Ende der Zeiten die Barmherzigkeit Gottes nicht nachläßt.

Kapitel 4: Die Allegorie

Nach dem Studium der Geschichte verbleibt dir noch, die Geheimnisse der Allegorie zu

erforschen. Hierbei, denke ich, bedarf es keiner Ermahnung von meiner Seite, da die Sache

selbst für sich genommen schon bedeutend genug erscheint. Doch möchte ich, daß du, mein

Student, weißt, daß dieses Studium langsame und stumpfe Auffassung nicht erlaubt, sondern

vielmehr ausgereifte geistige Fähigkeiten erfordert, um bei der Untersuchung den Scharfsinn

so im Griff zu haben, daß man nicht etwa dadurch an Klugheit der Beurteilung einbüßt.

Diese Speise ist wirklich kräftig; wenn man sie nicht gründlich kaut, kann man sie nicht

hinunterschlucken. Du solltest also Mäßigung an den Tag legen, so daß du dich zwar im

Forschen als feinsinnig erweist, nicht aber in deinen Hypothesen für unbesonnen befunden

wirst. Bedenke, was der Psalmist sagt: „Er hat seinen Bogen gespannt und ihn hergerichtet; er

hat das Gerät des Todes für ihn vorbereitet“ (Ps 7,13 f).

Du erinnerst dich wohl, glaube ich, daß ich oben die Heilige Schrift mit einem Gebäude

verglichen habe, wo ja zuerst das Fundament gelegt und dann der Aufbau in die Höhe geführt

wird. Die Schrift ist in der Tat mit einem Gebäude zu vergleichen, denn sie hat ebenfalls

einen Aufbau. (371) Wir sollten es uns deshalb nicht verleiden lassen, diesen Vergleich noch

etwas eingehender zu verfolgen.

Schau dir das Werk des Maurers einmal an: Nachdem das Fundament gelegt ist, spannt er

die Richtschnur in gerader Linie, läßt sein Bleilot fallen und legt dann die sorgfältig

behauenen Steine der Reihe nach hin. Dann sucht er sich weitere Steine und noch weitere,

und wenn er etwa welche findet, die seiner anfänglich geplanten Linie nicht entsprechen,

dann nimmt er seine Feile und entfernt die hervorstehenden Stellen, glättet die Unebenheiten,

bringt das Unförmige in die entsprechende Form und fügt schließlich diese Steine den

anderen, bereits der Reihe nach ausgelegten, hinzu. Findet er aber Steine von solcher Gestalt,

daß sie weder verkleinert noch in die passende Form gebracht werden können, dann nimmt er

diese Steine nicht, damit nicht etwa beim Versuch, den Stein zu brechen, seine Feile

zerbricht.

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Nun gib acht! Ich habe dir einen Vorgang vor Augen geführt, der für die bloßen Gaffer

verächtlich erscheinen mag, für Verständige aber durchaus der Nachahmung wert ist. Das

Fundament ist in der Erde, und es besteht nicht zur Gänze aus behauenen Steinen. Das

Gebäude ist über der Erde, und es erfordert ein gleichmäßiges Mauerwerk. In der gleichen

Weise enthält auch die Heilige Schrift in ihrem Wortsinn vieles, was sich gegenseitig zu

widersprechen und manchmal sogar dem Absurden oder Unmöglichen nahe zu sein scheint.

Das geistige Verständnis jedoch erlaubt keinen Widerspruch, in ihm kann wohl vieles

unterschiedlich sein, nichts aber gegensätzlich. Auch die Tatsache, daß, wie du siehst, die

erste Lage von Steinen oberhalb des Fundaments an der gespannten Richtschnur entlang

ausgelegt wird – die Steine also, auf welche der gesamte übrige Bau sich stützt und nach

denen er sich ausrichtet –, ist nicht ohne Bedeutung. Denn diese Lage ist gleichsam ein

zweites Fundament und die Basis des gesamten Aufbaus. Dieses Fundament trägt das, was

über ihm aufgebaut wird, und wird seinerseits getragen von jenem ersten Fundament. Alles

(373) also ruht auf dem ersten Fundament, aber es richtet sich nicht in jeder Beziehung nach

diesem aus. Auf dem zweiten Fundament ruht alles übrige und richtet sich auch nach ihm

aus. Das erste trägt den Aufbau und ist unter dem Aufbau. Das zweite trägt den Aufbau, ist

aber nicht nur unter dem Aufbau, sondern auch Teil des Aufbaus. Das Fundament unter der

Erde, so haben wir gesagt, bedeutet die Geschichte, der Aufbau, der darüber errichtet ist,

bezeichnet die Allegorie. Deshalb muß also auch jene Basis des Aufbaus sich auf die

Allegorie beziehen. In vielen Schichten von Steinen erhebt sich der Aufbau, und jede Schicht

hat ihre eigene Basis. So enthält auch die Heilige Schrift viele Heilszeichen, die jeweils ihre

eigene Grundlage haben. Willst du wissen, welches die Schichten sind? Die erste Schicht ist

das Heilszeichen der Dreieinigkeit, denn auch dies ist in der Schrift enthalten, weil vor jedem

Geschöpf Gott existierte, dreifaltig und einer. Er schuf aus dem Nichts alle Kreatur, die

sichtbare und die unsichtbare: Siehe, das ist die zweite Schicht. Dem vernünftigen Geschöpf

verlieh er den freien Willen und bereitete ihm seine Gnade, auf daß es in der Lage sei, die

ewige Seligkeit zu verdienen. Als sie dann aus eigenem Willen sündigten, strafte er sie, und

als sie weiter sündigten stärkte er sie, damit sie nicht weiter fortfahren konnten zu sündigen.

Was der Ursprung der Sünde, was die Sünde selbst und was die Strafe für die Sünde sei; Dies

ist die dritte Schicht. Welche Heilszeichen er zuerst unter dem natürlichen Gesetz zur

Wiederherstellung des Menschen einrichtete: Das ist die vierte Schicht. Was unter dem Gesetz

geschrieben wurde: Das ist die fünfte Schicht. Das Heilszeichen der Fleischwerdung des

Wortes: Das ist die sechste Schicht. Die Heilszeichen des Neuen Testamentes: Das ist die

siebte Schicht. Schließlich die Heilszeichen seiner Auferstehung: Das ist die achte Schicht.

Dies ist die gesamte Gotteslehre, dies ist jener geistige Aufbau, welcher sich in die Höhe

erhebt, gebaut aus ebenso vielen Schichten von Steinen, wie er Heilszeichen enthält. (375) Nun

willst du auch die Grundlagen selbst kennenlernen. Die Grundlagen der Schichten sind die

Grundlagen der Heilszeichen. Siehe, du hast dich an das Studium begeben, um das geistige

Gebäude zu errichten. Die Fundamente der Geschichte sind schon in dir gelegt: Nun bleibt

noch, daß du die Grundlagen des Aufbaus fertigstellst. Du spannst die Richtschnur, du legst

sie präzise aus, du setzt die Quadersteine in die Reihe, rundherum gehst du und bezeichnest

sozusagen die Spur der zukünftigen Mauern. Die gespannte Richtschnur ist der Weg des

wahren Glaubens. Die Grundlagen des geistigen Bauwerks sind bestimmte Grundsätze des

Glaubens, von denen du ausgehen sollst. Der umsichtige Student freilich sollte dafür Sorge

tragen, daß er, bevor er umfangreiche Bücher durcharbeitet, über die Einzelheiten, die für

sein Vorhaben und für sein Bekenntnis des wahren Glaubens besonders wichtig sind, so gut

unterrichtet ist, daß er alles, was er später vorfindet, mit Sicherheit für seinen Aufbau

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verwerten kann. Denn in einer solchen Flut von Büchern und in einem solchen Gewirr von

Lehrmeinungen, welche sowohl durch ihre Zahl als auch durch ihre Unverständlichkeit oft

den Geist des Studierenden verwirren, kann man kaum auch nur in einem einzelnen Punkt zu

einem Ergebnis kommen, wenn man nicht vorher sozusagen in jeder Kategorie summarisch

ein festes, durch unerschütterlichen Glauben getragenes Prinzip für sich festgehalten hat, das

für alle Punkte Gültigkeit besitzt.

Du willst, daß ich dich lehre, wie man solche Grundlagen legt? Schau noch einmal auf

das zurück, was ich gerade eben für dich aufgezählt habe. Da ist das Heilszeichen der

Dreieinigkeit. Zahlreiche Bücher sind darüber bereits geschrieben, zahlreiche Meinungen

formuliert worden, die schwer zu verstehen und sehr kompliziert aufzulösen sind. Es wäre

eine langwierige und sehr mühevolle Aufgabe für dich, dies alles durchzuarbeiten, zumal du

wohl auf vieles stoßen würdest, das dich eher verwirren als erbauen würde. Versteife dich

nicht darauf, du würdest nie zu einem Ende (377) kommen! Lerne als erstes in Kürze und

Klarheit, was man in bezug auf den Glauben an die Dreieinigkeit festhalten muß, was du

eindeutig bekennen und wahrheitsgetreu glauben sollst. Später aber, wenn du begonnen hast,

Bücher zu lesen, und dabei vieles unverständlich, vieles eindeutig und vieles zweifelhaft

geschrieben findest, so nimm das, was du eindeutig findest, und füge es, sofern es paßt, deiner

Ausgangsbasis hinzu. Das Zweifelhafte interpretiere so, daß es nicht im Widerspruch zu

ersterem steht. Das Unverständliche aber mach erklärlich, wenn du es vermagst. Sollte es dir

jedoch nicht gelingen, dies zu verstehen, so übergehe es, damit du nicht durch den Versuch,

etwas zu unternehmen, dem du nicht gewachsen bist, in die Gefahr des Irrtums gerätst.

Verachte es gleichwohl nicht, sondern sei vielmehr ehrfürchtig, denn du hast gehört, daß

geschrieben steht: „Er hat die Dunkelheit zu seinem Versteck gemacht“ (Ps 18,12: Vg. Ps

17,12). Aber selbst wenn du etwas findest, das im Gegensatz zu dem steht, woran gemäß

deinem bisherigen Wissen in unerschütterlichem Glauben festzuhalten ist, so ist es nicht

sinnvoll, täglich deine Meinung zu ändern, wenn du nicht vorher Leute um Rat gefragt hast,

die gelehrter sind als du selbst, und vor allem, wenn du nicht vorher erkannt hast, was der

allgemeine Glaube, der niemals fehlgehen kann, in dieser Hinsicht zu glauben vorschreibt. So

solltest du es halten in bezug auf das Altarsakrament, das Sakrament der Taufe, der Firmung,

der Ehe und alle anderen Heilszeichen, die ich oben aufgezählt habe. Du siehst, daß viele, die

die Schriften lesen, in verschiedene Irrtümer verfallen, weil sie kein Fundament der

Wahrheit besitzen, und daß sie ihre Meinung beinahe so oft ändern, wie sie sich ans Lesen

begeben. Du siehst aber auch andere, die aufgrund ihrer Kenntnis der Wahrheit, auf die sie

sich in ihrem Innern zuverlässig stützen, in der Lage sind, alle Schriftstellen zu geeigneten

Interpretationen zurechtzulegen, und die beurteilen können, was vom rechten Glauben

abweicht und was mit ihm übereinstimmt. (379)

Bei Ezechiel liest du, daß die Räder den Lebewesen folgen, und nicht die Lebewesen den

Rädern: „Wenn die Lebewesen gingen, so gingen auch die Räder neben ihnen; und wenn sich

die Lebewesen vom Boden erhoben, erhoben sich mit ihnen auch die Räder“ (Ez 1,19). Und in

der Tat, je größere Fortschritte heilige Männer in den Tugenden und im Wissen machen, um

so eher erkennen sie, daß die Geheimnisse der Heiligen Schrift tiefgründig sind, so daß die

Schriftstellen, die für die Einfältigen und noch auf der Stelle Verharrenden sozusagen am

Boden liegen scheinen, für diejenigen, die sich in die Höhe gerichtet haben, auch erhaben

wirken. Denn der Text fährt fort: „Wo auch immer der Geist hinging – ging der Geist dorthin,

so erhoben sich auch die Räder und folgten ihm. Denn der Geist des Lebens war in den

Rädern“ (Ez 1,20). Du siehst, daß die Räder den Lebewesen folgen, und sie folgen dem Geist.

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An einer anderen Stelle heißt es: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2

Kor 3,6), denn es ist sicherlich vonnöten, daß der Leser der Heiligen Schrift fest in der

Wahrheit der geistigen Deutung begründet ist und daß ihn die Züge der Buchstaben, die

ebenfalls mitunter verkehrt gedeutet werden können, nicht auf irgendwelche Seitenwege

ablenken. Warum wurde jenes alte Volk, welches das Gesetz des Lebens empfangen hatte,

verworfen, wenn nicht aus dem Grund, daß es ausschließlich dem todbringenden Buchstaben

folgte und nicht den lebendig machenden Geist besaß? Ich sage dies aber nicht, um jedem

Beliebigen Gelegenheit zu geben, die Schrift nach eigenem Gutdünken auszulegen, sondern

um zu zeigen, daß wer allein dem Buchstaben folgt, nicht lange gehen kann, ohne in Irrtum

zu verfallen. Es ist daher notwendig, daß wir einerseits in gewisser Weise dem Buchstaben

folgen, damit wir nicht unsere Auffassung über die heiligen Autoren stellen, andererseits aber

auch ihm in gewisser Weise nicht folgen, damit wir nicht zu der Ansicht gelangen, das Urteil

(381) über die Wahrheit hänge gänzlich vom Buchstaben ab. Nicht der Schriftkundige,

„sondern der Geistige urteilt über alles“ (1 Kor 2,15).

Damit du also den Buchstaben verläßlich beurteilen kannst, solltest du nicht von deiner

eigenen Auffassung ausgehen, sondern dich erst unterrichten und kundig machen und

sozusagen ein gewisses Fundament unterschütterlicher Wahrheit legen, auf welches der

gesamte Aufbau sich stützt. Du solltest dich auch nicht dazu versteigen, dir alles selbst

beizubringen, damit du nicht etwa, während du meinst, dich in die Materie einzuführen, in

Wahrheit dich auf Abwege führst. Eine solche Einführung muß man bei gelehrten und

weisen Männern suchen, die in der Lage sind, dir die Materie sowohl durch die Autorität der

heiligen Väter als auch durch die Zeugnisse der Schriften, soweit es nötig ist, darzulegen und

zu eröffnen und, wenn du schon eine solche Einführung erhalten hast, die Einzelpunkte, die

sie dich gelehrt haben, durch Lesen der Schriftzeugnisse zu bekräftigen.

Dies ist meine Ansicht dazu. Wem immer es gefällt, mir darin zu folgen, den nehme ich

gerne auf. Wem jedoch all dies nicht in der geschilderten Weise nötig zu sein scheint, der

möge tun, was ihm gefällt; ich werde nicht mit ihm streiten. Denn ich weiß ja, daß viele

Leute der dargestellten Lernmethode nicht folgen. Ich weiß aber auch sehr wohl, wie die

Fortschritte aussehen, die gewisse dieser Leute machen.

Wenn du nun fragst, welche Bücher für dieses Studium am geeignetsten sind so sind dies

meines Erachtens: der Anfang der Genesis über das Werk der sechs Tage, die drei letzten

Bücher Mose über die Heilszeichen des Gesetzes, Jesaja, den Anfang und das Ende von

Ezechiel, Ijob, die Psalmen, das Hohelied, zwei Evangelien insbesondere, nämlich Matthäus

und Johannes, die Briefe des Paulus, die kanonischen Briefe und die Apokalypse; ganz

besonders aber die Briefe des Paulus, die schon durch ihre Anzahl (383) zeigen, daß sie die

Vollkommenheit beider Testamente in sich enthalten.

Kapitel 5: Die Tropologie, das heißt die Moralität

Über die Tropologie werde ich an dieser Stelle nichts weiter sagen als das, was oben bereits

ausgeführt wurde – außer der Tatsache, daß für die Tropologie eher die Bedeutung der Dinge

als die er Wörter wichtig ist. Denn in der Bedeutung der Dinge existiert eine natürliche

Gerechtigkeit, in welcher auch die Norm unseres eigenen Verhaltens, also die positive

Gerechtigkeit, ihren Ursprung hat. Indem wir betrachten, was Gott getan hat, erkennen wir,

was wir selbst tun sollen. Die gesamte Natur spricht von Gott, sie lehrt den Menschen und

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bringt in allen ihren Erscheinungen die ursprüngliche Idee hervor, und nichts im ganzen

Universum ist unfruchtbar.

Kapitel 6: Die Reihenfolge der Bücher

Das geschichtliche und das allegorische Studium erfordern jeweils eine eigene

Reihenfolge der zu lesenden Bücher. Denn die Geschichte folgt dem Ablauf der Zeit; für die

Allegorie ist eher die Ordnung des Wissens von Bedeutung, denn die Belehrung sollte ja, wie

oben schon gesagt, ihren Anfang nicht vom Unklaren, sondern vom Offenkundigen und besser

Bekannten nehmen. Daraus folgt, daß das Neue Testament, in welchem die Wahrheit ganz

offen verkündigt wird, bei diesem Studium vor dem Alten Testament behandelt wird, denn in

diesem kommt ja dieselbe Wahrheit auf eher verborgene, in Sinnbildern verhüllte Weise zum

Ausdruck. Es ist dieselbe Wahrheit in beiden Texten, doch ist sie dort so verborgen, hier aber

offen, dort wird sie verheißen, hier wird sie offenbart. Du hast gehört, daß in der Apokalypse

(385) zu lesen ist, daß das Buch versiegelt war und niemand gefunden werden konnte, um die

Siegel zu lösen, außer dem „Löwen aus dem Stamme Juda“ (Offb 5,5). Das Gesetz war

versiegelt, versiegelt waren die Prophezeiungen, denn die Zeiten der kommenden Erlösung

wurden nur in verborgener Weise angekündigt. Oder scheint dir das Buch nicht versiegelt

gewesen zu sein, in dem es hieß: „Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn

gebären und du wirst ihm den Namen Immanuel geben“ (Jes 7,14)? Und das andere, wo es

heißt: „Du, Betlehem-Efrata, bist zwar klein unter den Tausenden Judas: Doch aus dir soll

mir der hervorgehen, der Herrscher in Israel sei wird. Sein Ursprung liegt am Anbeginn, in

den Tagen der Ewigkeit“ (Mi 5,1: Vg. Mi 5,2)? Und der Psalmist: „Wird Zion nicht sagen:

Dieser und jener Mensch ist in ihr geboren, und der Höchste selbst hat sie gegründet“? (Ps

87,5: Vg. Ps 86,5). Und wiederum heißt es: „Des Herrn, ja des Herrn sind die Auswege von

dem Tode“ (Ps 68,21: Vg. 67,21). Und weiter: „Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setz du dich

zu meiner Rechten“ (Ps 110,1: Vg. Ps 109,1). Und etwas später im gleichen Psalm: „Bei dir ist

die Herrschaft am Tage deiner Kraft; im Glanz der Heiligen, vor dem Morgenstern habe ich

dich aus dem Schoße gezeugt“ (Ps 110,3: Vg. Ps 109,3). Und Daniel sagt: „Ich schaute in

nächtlicher Vision, und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie ein

Menschensohn, und er kam bis zu dem Altbetagten, und er gab ihm Macht und Ehre und die

Herrschaft, und alle Völker, Stämme und Sprachen werden ihm dienen; seine Macht ist

unvergängliche Macht, die ihm niemals genommen werden wird“ (Dan 7,13 f).

Wer, glaubst du, konnte dies verstehen, bevor es erfüllt wurde? Versiegelt war dies, und

niemand konnte die Siegel lösen außer dem „Löwen aus dem Stamme Juda“. Es kam also der

Sohn Gottes und nahm unsere Natur an, wurde geboren von der Jungfrau, wurde gekreuzigt,

begraben, erstand wieder auf, fuhr auf zum Himmel, und indem er (387) erfüllte, was

verheißen worden war, machte er offenkundig, was verborgen gelegen hatte. Ich lese im

Evangelium, daß der Engel Gabriel zu Maria, der Jungfrau gesandt wurde und ihr

ankündigte, daß sie gebären würde (vgl. Lk 1,26-38): Da erinnere ich mich der Prophezeiung,

die lautet: „Siehe, eine Jungfrau wird empfangen“ (Jes 7,14). Ich lese, daß, als Josef mit seiner

schwangeren Frau Maria in Betlehem war, die Zeit herankam, da sie gebären sollte, und sie

gebar ihren erstgeborenen Sohn (vgl. Lk 2,6 f), von dem der Engel prophezeit hatte, er werde

auf dem Throne Davids, seines Vaters, herrschen (vgl. Lk 1,32): Da erinnere ich mich der

Prophezeiung, die lautet: „Betlehem-Efrata, du bist klein unter den Tausenden Judas: Doch

aus dir soll mir der hervorgehen, der Herrscher in Israel sei wird.“ (Mi 5,1: Vg. Mi 5,2). Und

weiter lese ich: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott“

(Joh 1,1): Da erinnere ich mich der Prophezeiung, die lautet: „Sein Ursprung liegt am

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Anbeginn, in den Tagen der Ewigkeit“ (Mi 5,1: Vg. Mi 5,2). Ich lese: „Das Wort ist

Fleischgeworden und hat unter uns gewohnt“ (Joh 1,14): Da erinnere ich mich der

Prophezeiung, die lautet: „Du wirst ihm den Namen Immanuel geben“ (Jes 7,14), das heißt

Gott mit uns. Um dich nicht zu ermüden, will ich hier nicht jeden Punkt einzeln verfolgen:

Wenn du nicht die Geburt Christi, seine Verkündigung, sein Leiden, seine Auferstehung und

Himmelfahrt und alles, was er im Fleisch und durch das Fleisch getan hat, wenn du all das

nicht im voraus kennst, so wirst du die Geheimnisse der alten Sinnbilder nicht ergründen

können.

Kapitel 7: Die Reihenfolge der Erzählung

Bezüglich der Reihenfolge der Erzählung ist an dieser Stelle vor allem zu beachten, daß

der Text der Heiligen Schrift weder der natürlichen noch der kontinuierlichen Reihenfolge

durchgängig folgt. Es werden nämlich oft die späteren (389) Ereignisse vor den vorherigen

aufgeführt, wie etwa wenn nach der Auflistung einiger Punkte die Rede plötzlich wieder auf

das Vorangegangene zurückkommt, so als würde von nacheinander Folgendem gesprochen; oft

werden aber auch Geschehnisse, die durch einen langen Zeitraum getrennt sind, miteinander

verbunden, so als würde eins dem anderen unmittelbar folgen, so daß der Anschein entsteht,

Ereignisse die in der Erzählung nicht durch einen Zwischenraum geschieden sind, seien auch

durch keine zeitliche Distanz voneinander getrennt.

Kapitel 8: Die Reihenfolge der Auslegung

Die Auslegung besteht aus drei Elementen: Wortlaut, Sinn und tiefere Bedeutung. Der

Wortlaut kommt in jeder Erzählung vor, denn die Wörter selbst sind ja der Wortlaut; Sinn

und tiefere Bedeutung jedoch finden sich nicht in jeder Erzählung. Manche enthalten nur

Wortlaut und Sinn, manche nur Wortlaut und tiefere Bedeutung, manche enthalten alle drei

Elemente. Jede Erzählung sollte aber wenigstens zwei Elemente enthalten. Die Erzählung, in

der etwas durch die reine Darstellung so eindeutig bezeichnet wird, daß nichts anderes

darunter verstanden werden kann, enthält nur Wortlaut und Sinn. Jene Erzählung aber, bei

der der Hörer aus dem bloßen Vortrag heraus nichts verstehen kann, wenn keine Auslegung

hinzugefügt wird, enthält nur Wortlaut und tiefere Bedeutung. Und diejenige Erzählung

enthält Sinn und tiefere Bedeutung, in welcher einerseits etwas eindeutig bezeichnet wird,

andererseits aber auch etwas bleibt, unter dem noch etwas anderes zu verstehen ist, was dann

durch die Auslegung deutlich gemacht wird. (391)

Kapitel 9: Der Wortlaut

Der Wortlaut ist bisweilen vollkommen, wenn nämlich zur Bezeichnung des Gesagten

nichts weiter hinzugefügt oder weggenommen werden muß als das, was ausdrücklich dargelegt

worden ist, wie wenn es heißt: „Alle Weisheit ist von Gott dem Herrn“ (Sir 1,1). Bisweilen ist

der Wortlaut verkürzt, wenn etwas weggelassen wurde, was zu ergänzen ist, wie bei: „Der

Älteste an die auserwählte Herrin“ (2 Joh 1,1). Bisweilen enthält er Überflüssiges, wenn

entweder um der Einprägsamkeit willen oder wegen eines langen Einschubs dasselbe

wiederholt oder etwas anderes, Unnötiges hinzugefügt wird, wie etwa wenn Paulus am Ende

des Briefes an die Römer sagt: „Ihm aber“, und dann, nach allerlei dazwischengefügten

Worten, hinzufügt: „… ihm sei Ehre und Preis“ (vgl. Röm 16,25-27). Hier scheint eins von

beiden überflüssig zu sein. Ich sage „überflüssig“, das meint: nicht notwendig für die Aussage.

Mitunter ist der Wortlaut so, daß er, sofern er nicht in eine andere Form gebracht wird,

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Unpassendes oder gar nichts zu bezeichnen scheint, wie zum Beispiel im folgenden: „Der Herr

…, im Himmel sein Thron“ (Ps 114: Vg. Ps 10,4 G), das heißt „der Thron des Herrn im

Himmel“, und: „Die Söhne der Menschen, ihr Zähne sind Waffen und Pfeile“ (Ps 57,5: Vg. Ps

56,5 G), das heißt „die Zähne der Söhne der Menschen“, und: „Der Mensch, wie Gras seine

Tage“ (Ps 103,15: Vg. Ps 102,15 G), das heißt „die Tage des Menschen“. Hier sind der

Nominativ des Substantivs und der Genitiv des Pronomens anstelle des Genitivs des

Substantivs gesetzt, und es gibt viele ähnliche Beispiele. Für den Wortlaut sind Satzbau und

Zusammenhang von Belang.

Kapitel 10: Der Sinn

Mancher Sinn ist passend, mancher unpassend. Der unpassende ist manchmal

unglaubhaft, manchmal unmöglich, manchmal absurd, manchmal falsch. Von dieser Art

findest (393) du viele Stellen in den Schriften, wie das folgende: „Sie haben Jakob aufgefressen“

(Ps 79,7: Vg. Ps 78,7); und dies: „Unter ihn beugen sich, die den Erdkreis tragen“ (Vg. Ijob

9,13); und dies: „Meine Seele hat das Erhängen gewählt“ (Ijob 7,15), und viele andere.

Es gibt einige Stellen in der Heiligen Schrift, wo sich obwohl die Bedeutung der Wörter

eindeutig ist, dennoch kein Sinn zu ergeben scheint, entweder wegen einer ungewöhnlichen

Redeweise oder wegen irgendeines besonderen Umstands, der das Verständnis des Lesers

behindert. So ist es zum Beispiel in dem, was Jesaja sagt: „In jener Zeit werden sieben Frauen

einen einzigen Mann ergreifen und sagen: Wir werden unser eigenes Brot essen und uns mit

unseren eigenen Kleidern bedecken, nur laß uns nach deinem Namen heißen, nimm unsere

Schande hinweg“ (Jes 4,1). Die Wörter sind klar und eindeutig. Du verstehst durchaus:

„Sieben Frauen werden einen einzigen Mann ergreifen.“ Du verstehst: „Wir werden unser

eigenes Brot essen.“ Du verstehst: „Wir werden uns mit unseren eigenen Kleidern bedecken.“

Du verstehst: „Nur laß uns nach deinem Namen heißen.“ Du verstehst: „Nimm unsere Schande

hinweg.“ Was dies alles zusammen jedoch heißen soll, kannst du womöglich nicht verstehen.

Du weißt nicht, was der Prophet sagen wollte, ob er Gutes verheißen oder Böses angedroht

hat. So kommt es, daß du der Meinung bist, die Stelle sei nur im geistigen Sinn zu verstehen,

eben weil du nicht siehst, was der Wortlaut besagen könnte. So sagst du also, die sieben

Frauen seien die sieben Gaben des Heiligen Geistes, welche einen einzigen Mann ergreifen,

nämlich Christus, in welchem die ganze Fülle der Gnade wohnte, weil er allein den Heiligen

Geist ohne jedes Maß empfangen hat, er, der allein ihre Schande wegnimmt, so daß sie

jemanden fänden, bei dem sie ruhen könnten, weil kein anderer lebte, als sie um die Gaben

des Heiligen Geistes baten. (395)

Siehst du, nun hast du eine geistige Deutung gegeben, und was die Stelle im Wortlaut

sagt, hast du gar nicht verstanden. Doch könnte der Prophet mit diesen Worten durchaus

auch im buchstäblichen Sinne etwas gemeint haben. Denn da er ja vorher über die

Vernichtung des ungehorsamen Volkes gesprochen hatte, so fügt er nun hinzu, daß das

Unglück dieses Volkes so furchtbar sein werde und das Geschlecht der Männer so ausgetilgt

würde, daß kaum sieben Frauen einen Mann finden könnten, obwohl doch üblicherweise eine

Frau einen Mann zu haben pflegt. Und während heute normalerweise die Frauen von den

Männern gesucht werden, so würden dann im Gegenteil die Frauen die Männer suchen. Und

damit nicht der eine Mann davor zurückschrecke, sieben Frauen gleichzeitig zu heiraten, da

er nicht die Mittel hätte, diese zu ernähren und zu bekleiden, sagen diese zu ihm: „Wir werden

unser eigenes Brot essen und uns mit unseren eigenen Kleidern bedecken.“ Du brauchst dich

nicht um uns zu kümmern, „nur laß uns nach deinem Namen heißen“, so daß du unser Mann

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heißt und bist, damit wir nicht „Verschmähte“ und „Unfruchtbare“ genannt werden und ohne

Nachkommen sterben, denn dies war zu jener Zeit eine große Schande. Und das ist der Grund,

weshalb sie sagen: „Nimm unsere Schande hinweg.“

Von dieser Art findest du vieles in den Schriften, und ganz besonders im Alten Testament,

Formulierungen gemäß den Besonderheiten jener Sprache, welche in dieser Sprache ganz

eindeutig sind, für uns aber nichts zu bedeuten scheinen.

Kapitel 11: Die tiefere Bedeutung

Die göttliche tiefere Bedeutung kann niemals absurd, niemals falsch sein. Selbst wenn

sich im Sinn, wie gesagt, vieles Widersprüchliche findet, so erlaubt doch die tiefere

Bedeutung keinen Gegensatz, ist immer stimmig, immer wahr. Manchmal gibt es eine einzige

tiefere Bedeutung für einen (397) einzigen Ausdruck, dann gibt es mehrere tiefere Bedeutungen

für einen einzigen Ausdruck, dann wieder gibt es für mehrere Ausdrücke eine einzige tiefere

Bedeutung, und manchmal gibt es für mehrere Ausdrücke mehrere tiefere Bedeutungen.

„Wenn wir also die heiligen Bücher lesen, müssen wir aus der gewaltigen Menge von wahren

Deutungen, die aus wenigen Wörtern erschlossen und durch die Rechtmäßigkeit des

katholischen Glaubens bestätigt werden, uns vor allem diejenige Deutung heraussuchen, die

der Autor, den wir lesen, allem Anschein nach gemeint hat. Wenn dies aber nicht eindeutig

ist, sollten wir auf jeden Fall das wählen, was den besonderen Umständen der jeweiligen

Schrift nicht widerspricht und was mit dem rechten Glauben übereinstimmt. Wenn aber auch

die besonderen Umstände der Schrift nicht erforscht und überprüft werden können, sollten

wir wenigstens das wählen, was der rechte Glaube vorschreibt. Denn es ist eine Sache, wenn

man nicht erkennt, was der Autor in erster Linie gemeint hat, eine andere aber, wenn man

von der Richtschnur der Frömmigkeit abweicht. Wenn dies beides vermieden wird, dann ist

die Frucht des Lesers vollkommen. Wenn aber beides nicht vermieden werden kann, dann ist

es, wenn auch die Intention des Autors ungewiß bleiben muß, dennoch nicht ohne Nutzen, zu

einer Deutung gefunden zu haben, die mit dem rechten Glauben übereinstimmt.“ „Ebenso

verhält es sich mit schwer verständlichen und unserem Blick weit entrückten Dingen: Wenn

wir Schriften, auch heilige, lesen, die, ohne dem Glauben zu widersprechen, verschiedene

Deutungen zulassen, sollten wir uns nicht in voreiliger Festlegung auf eine der möglichen

Deutungen stürzen, um nicht im Falle, daß die Wahrheit durch sorgfältigere Erörterung

festgestellt wird und jener Deutung die Grundlage entzieht, selber zusammenzubrechen, denn

wir hätten dann nicht für die Deutung der heiligen Schriften, sondern für unsere eigene

gekämpft, und dies so, daß wir unsere (399) Deutung als die der heiligen Schriften sehen

wollten, während wir doch eher die Deutung der heiligen Schriften als die unsrige

übernehmen sollten.“

Kapitel 12: Die Methode beim Lesen

Die Methode beim Lesen besteht in der Aufgliederung. Das Aufgliedern geschieht durch

Aufteilung und durch Untersuchung. Wir gliedern durch Aufteilen, wenn wir das, was

verworren ist, voneinander unterscheiden. Wir gliedern durch Untersuchen, wenn wir das,

was verborgen ist, zugänglich machen.

Kapitel 13: Die Meditation wird hier nicht behandelt

Nun ist das, was sich auf das Lesen bezieht, in aller uns möglicher Klarheit und Kürze

dargelegt worden. Was den verbleibenden Teil der Unterweisung angeht, die Meditation, so

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will ich an dieser Stelle nicht davon sprechen, denn ein solches Thema erfordert eine eigene

Abhandlung, und es ist angemessener, über einen solchen Gegenstand ganz zu schweigen, als

etwas Unvollständiges darüber zu sagen. Denn es handelt sich dabei um eine außerordentlich

komplexe und zugleich angenehme Sache, welche sowohl die Anfänger bildet als auch die

Fortgeschrittenen übt. Dieses Thema hat bisher noch keine schriftliche Darstellung erfahren,

gerade deshalb verdient es um so größere Aufmerksamkeit.

Bitten wir also nun die Weisheit, daß sie in unsere Herzen scheinen und uns auf ihren

Wegen erleuchten möge und daß sie uns führe „zu dem reinen und fleischlosen Fest“. (401)

APPENDICES

Die folgenden drei Kapitel stammen mit einiger Wahrscheinlichkeit von Hugo selbst und waren vermutlich

als Zusätze oder Nachträge gedacht, die in eine eventuell neu zu erstellende Fassung des Didascalicon wohl noch

sorgfältiger eingearbeitet worden wären. Zuletzt ist allerdings auch die Vermutung geäußert worden, die ersten

beiden dieser Nachtragstexte seien erst nach Hugos Tod von Richard oder einem anderen seiner Schüler dem

Didascalicon hinzugefügt worden. Jedenfalls wurden sie schon um 1150 vielfach als authentische Bestandteile

des Werkes betrachtet. In der Edition Buttimers sind Appendix A und B als Kapitel 14 und 15 des sechsten

Buches geführt, doch da das 13. Kapitel ganz offensichtlich das Ende des gesamten Werkes bilden sollte, folgt

man heute allgemein dem Vorschlag Taylors und reiht beide Kapitel unter die Zusätze ein. Der dritte Zusatz,

Appendix C, gilt auch bei Buttimer als Nachtrag und gehört in eine andere Handschriftenklasse. Der Text

scheint obwohl er in den Handschriften als ein zusätzliches Vorwort am Anfang des Werkes steht, doch eher

eine Erläuterung zum sechsten Kapitel des ersten Buches zu sein.

Appendix A: Einteilung des Inhalts der Philosophie

Drei Dinge sind zu beachten: die Weisheit, die Tugend und die Notwendigkeit. Die

Weisheit besteht darin, die Dinge so zu erkennen, wie sie sind. „Tugend ist eine

Beschaffenheit des Geistes, die sich so in Übereinstimmung mit der Vernunft befindet, als sei

diese ihr eigenes Wesen.“ Notwendigkeit ist etwas, ohne das wir nicht leben können, ohne das

wir aber glücklicher leben würden. Diese drei sind die Heilmittel gegen die drei Übel, denen

das menschliche Leben unterworfen ist: die Weisheit gegen die Unwissenheit, die Tugend

gegen das Laster, die Notwendigkeit gegen die Schwäche. Um die drei Übel zu tilgen, hat man

die drei Heilmittel ausfindig gemacht, und um diese drei Heilmittel zu erfinden, sind alle

Künste und Wissenschaften erfunden worden. (403)

Um der Weisheit willen hat man die Theorik erfunden, um der Tugend willen hat man

die Praktik erfunden, und um der Notwendigkeit willen hat man die Mechanik erfunden.

Diese drei waren zuerst im Gebrauch, später aber wurde um der Beredsamkeit willen die

Logik erfunden. Obwohl sie als letzte erfunden wurde, sollte die Logik in der Unterweisung

dennoch als erste behandelt werden. Vier Hauptwissenschaften gibt es also, von denen alle

anderen sich ableiten: die Theorik, die Praktik, die Mechanik und die Logik.

Die Theorik wird eingeteilt in Theologie, Physik und Mathematik. Die Theologie handelt

über die unsichtbaren Substanzen, die Physik über die unsichtbaren Gründe der sichtbaren

Dinge, die Mathematik über die sichtbaren Formen der sichtbaren Dinge. Und diese

Mathematik wird in vier Einzelwissenschaften eingeteilt. Die erste ist die Arithmetik, die

über die Zahl handelt, das heißt über die getrennte Quantität an sich. Die zweite ist die

Musik, die über die Proportion handelt, das heißt über die getrennte Quantität im Verhältnis

zu etwas anderem. Die dritte ist die Geometrie, die über den Raum handelt, das heißt, über

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die unbewegliche, zusammenhängende Quantität. Die vierte ist die Astronomie, die über die

Bewegung handelt, das heißt über die bewegliche zusammenhängende Quantität. Das

Grundelement der Arithmetik ist die Ein-Zahl; das Grundelement der Musik ist der Ein-

Klang; das Grundelement der Geometrie ist der Punkt; das Grundelement der Astronomie ist

der Augenblick.

Die Praktik wird eingeteilt in die persönliche, die private und die die öffentliche. Die

persönliche Praktik lehrt, wie jeder sein eigenes Leben auf ehrenhaftes Verhalten gründen

und es durch Tugenden zieren soll. Die private Praktik lehrt, auf welche Weise die

Hausgenossen und diejenigen, denen man durch Bande des Fleisches verbunden ist,

anzuleiten sind. Die öffentliche Praktik lehrt, wie die gesamte Bevölkerung und wie ein Volk

von seinen Herrschern regiert werden sollte. Die persönliche Praktik nimmt Bezug auf den

einzelnen, die private auf die Familienoberhäupter, die öffentliche auf die Staatslenker.

Die Mechanik handelt über die handwerklichen Tätigkeiten der Menschen und wird in

sieben Bereiche eingeteilt. Der erste ist die Tuchherstellung, der zweite die

Waffenschmiedekunst, der dritte die Handelsschiffahrt, der vierte die Landwirtschaft, (405)

der fünfte die Jagd, der sechste die Medizin, der siebte die Theaterkunst.

Die Logik wird eingeteilt in Grammatik und Argumentationslehre. Die

Argumentationslehre wird eingeteilt in Überzeugung, Beweisführung und Überredung. Die

Überzeugung gliedert sich in Dialektik und Rhetorik. Die Beweisführung obliegt den

Philosophen, die Überredung den Sophisten.

Hinsichtlich dieser vier Teile der Philosophie sollte bei der Unterweisung eine solche

Reihenfolge eingehalten werden, daß zuerst die Logik, dann die Ethik, als drittes die Theorik

und als viertes die Mechanik an die Reihe kommt. Denn die Beredsamkeit sollte man als

erstes erwerben. Danach muß, wie Sokrates in der Theorik sagt, das Auge des Herzens durch

das Studium der Tugend gereinigt werden, damit er später in der Theorik, scharfsichtig bei

der Erforschung der Wahrheit sein kann. Als letztes folgt dann die Mechanik, welche für sich

allein völlig wirkungslos ist, wenn sie nicht durch den Geist der vorhergehenden

Wissenschaften unterstützt wird.

Appendix B: Die Magie und ihre Teile

Der ertse Erfinder der Magie soll Zoroaster gewesen sein, der König der Baktrier, von

dem manche sagen, er sei niemand anders als Ham, der Sohn des Noach, gewesen, nur unter

verändertem Namen. Er wurde später von Ninus, dem König der Assyrer, getötet, dem er im

Krieg unterlegen war. Auch seine Bücher, die voll von Zauberkünsten waren, ließ Ninus

verbrennen. Aristoteles schreibt über diesen Mann, daß seine Bücher bis zu zwei Millionen

zweihunderttausend von ihm selbst verfaßte Verse über die Kunst der Magie der Erinnerung

der Nachwelt überliefert hätten. Später dann erweiterte Demokrit diese Kunst, zu der Zeit, als

Hippokrates auf dem Gebiet der Medizin in großem Ansehen stand.

Die Magie wird nicht als Teil der Philosophie anerkannt, sondern steht außerhalb dieser.

Betrügerisch in ihren Äußerungen, ist sie die Lehrerin jedweder Schlechtigkeit und Bosheit,

über das Wahre verbreitet sie Lügenreden und fügt dem Geist wirklich Schaden zu, sie

bringen ihn von der wahren Religion ab, (407) überredet ihn zur Dämonenverehrung, drängt

zur Korruption der Sitten, und ihre Gefolgsleute treibt sie zu jeder Art von Verbrechen und

Untat. Nach allgemeiner Auffassung umfaßt sie fünf Arten von Zauberei: die Mantik, was

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Wahrsagerei bedeutet, die falsche Mathematik, die Weissagung, die eigentliche Zauberei

sowie Blendwerk. Die Mantik enthält aber noch fünf Unterarten. Deren erste ist die

Nekromantik, was Wahrsagerei mit Hilfe von Toten bedeutet, denn das griechische Wort

nekros bedeutet auf lateinisch mortuus („tot“), daher der Name Nekromantik: eine

Wahrsagerei, die durch Opferung von menschlichem Blut vollzogen wird, Blut, nach dem die

Dämonen dürsten und an dessen Vergießen sie sich freuen. Die zweite ist die Geomantik, das

heißt Wahrsagerei mit Hilfe von Erde. Die dritte ist die Hydromantik, das heißt

Wahrsagerei mit Hilfe von Wasser. Die vierte ist die Aeromantik, das heißt Wahrsagerei mit

Hilfe von Luft, die fünfte ist die Wahrsagerei mit Hilfe von Feuer, die „Pyromantik“ genannt

wird. Denn Varro hat erklärt, die Wahrsagerei beruhe auf vier Elementen: auf Erde, Wasser,

Feuer und Luft. Die erste Unterart die Nekromantik, scheint demnach zur Hölle Bezug zu

haben, die zweite zur Erde, die dritte zum Wasser, die vierte zur Luft die fünfte zum Feuer.

Die Mathematik wird in drei Arten eingeteilt: in die Kunst der Opferschau, in die der

Auguren und in die des Horoskops. Die Opferschauer (aruspices) werden so genannt, weil sie

gleichsam horuspices, also Stundenbeschauer (horum inspectores), sind, welche die Zeiten

beobachten, in denen Dinge getan werden sollten, oder sie werden aruspices genannt, weil sie

gleichsam Betrachter der Altäre (aras inspicientes) sind und aus den Eingeweiden und

Innereien der Opfertiere die Zukunft ersehen. Die Auguren- oder Auspizienkunst hat

einerseits Bezug auf das Auge und wird auspicium genannt, weil sie gleichsam eine

Vogelschau (avispicium) ist, richtet sie doch ihre Aufmerksamkeit auf die Bewegung und den

Flug der Vögel. Andererseits hat sie auch Bezug auf die Ohren und wird daher augurium

genannt, wegen des Geschreis der Vögel (garritus avium), das mit dem Ohr wahrgenommen

wird. Die Kunst des Horoskops, die auch „Sternenkonstellation“ (constellatio) genannt wird,

besteht darin, aus den Sternen die Schicksale der Menschen zu erforschen, wie es die

Horoskopsteller tun, die (409) Geburtszeitpunkte beobachten; diese waren es, die früher als

„Magier“ im engeren Sinne bezeichnet wurden; von solchen lesen wir ja auch im Evangelium.

Weissager sind solche, welche durch Loseziehen die Zukunft voraussagen. Zauberer sind

solche, die durch dämonische Beschwörungen oder Amulette oder irgendwelche anderen

abscheulichen Arten von Hilfsmittel auf Anstiftung und unter Mitwirkung von Dämonen

schändliche Dinge vollbringen. Blendwerk ist es, wenn die menschlichen Sinne in

dämonischer Kunst durch phantastische Illusionen über Verwandlungen von Dingen

getäuscht werden.

Insgesamt sind es also elf magische Künste: zur Mantik gehören fünf, nämlich

Nekromantik, Geomantik, Hydromantik, Aeromantik und Pyromantik; zur Mathematik

zählen drei, nämlich Opferschau, Auspizienkunst und Horoskop; und dann noch die drei

anderen, nämlich Weissagen, Zauberei und Blendwerk.

Das Blendwerk soll Merkur zuerst erfunden haben. Die Augurenkunst hat Phrygius

erfunden. Die Opferschau hat Tages als erster den Etruskern überliefert. Die Hydromantik ist

zuerst von den Persern gekommen.

Appendix C: Die drei Seinsweisen von Dingen

Auf drei verschiedene Arten können Dinge existieren: in der Wirklichkeit, im Intellekt

und im göttlichen Geist; das heißt: in der göttlichen Idee, in der menschlichen Idee und in

sich selbst. In sich selbst schwinden die Dinge dahin, ohne Bestand zu haben; im

menschlichen Intellekt haben sie zwar Bestand, sind aber nicht unveränderlich; im göttlichen

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Geist bestehen sie ohne jede Veränderung fort. Und so ist das, was in der Wirklichkeit

existiert, ein Abbild dessen, was im menschlichen Geist existiert, und was im menschlichen

Geist existiert, ist ein Abbild dessen, was im göttlichen Geist existiert. Die vernunftbegabte

Kreatur wurde in Entsprechung zum göttlichen Geist geschaffen, und die sichtbare Kreatur

wurde in Entsprechung zur vernunftbegabten Kreatur geschaffen. Die gesamte Bewegung und

Orientierung der vernunftbegabten Kreatur sollte deshalb auf den göttlichen Geist hin

gerichtet (411) sein, ebenso wie die gesamte Bewegung und Orientierung der sichtbaren Kreatur

auf die vernunftbegabte Kreatur hin gerichtet ist.

Ebenso wie der Mensch von einer Vorstellung, die er in seinem Geist entwickelt hat, ein

äußerlich wahrnehmbares Modell zeichnet, um auch anderen zugänglich zu machen, was

vorher nur ihm allein bekannt war, und ebenso wie er später dann, um es noch deutlicher zu

machen, in Worten erklärt, inwiefern das gezeichnete Modell mit der eigentlichen Idee

übereinstimmt, in eben dieser Weise zeichnete auch Gott, da er seine unsichtbare Weisheit zur

Darstellung bringen wollte, ein Modell dieser Weisheit in den Geist der vernunftbegabten

Kreatur und zeigte ihr dann, indem er die leibliche Kreatur schuf, ein äußerliches Modell

dessen, was sie selbst in ihrem Inneren enthielt. Die vernunftbegabte Kreatur wurde also an

erster Stelle, ohne irgendeine vermittelnde Instanz in Ähnlichkeit mit der göttlichen Idee

geschaffen. Die körperliche Kreatur dagegen wurde durch Vermittlung der vernunftbegabten

Kreatur in Ähnlichkeit mit der göttlichen Idee geschaffen.

Deshalb heißt es auch im Buch Genesis von den Engeln, die hier „Licht“ genannt werden:

„Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht“ (Gen 1,3). Bei allen anderen Werken

Gottes heißt es jedoch: „Gott sprach: Es werde. Und so geschah es.“ Und dann wird

hinzugefügt: „Und Gott machte“ (vgl. Gen 1,6 f oder 1,14-16). Denn das Wesen der Engel

existierte zuerst in der göttlichen Idee, als ein Plan, und später erst, durch die Schöpfung,

begann es, in sich selbst zu existieren. Die anderen Kreaturen aber existierten zuerst in der

Idee Gottes, dann wurden sie im Wissen der Engel geschaffen, und schließlich begannen sie,

in sich selbst zu existieren. Denn wenn es heißt: „Gott sprach: Es werde“, so bezieht sich dies

auf den göttlichen Geist; wenn es weiter heißt: „Und so geschah es“, bezieht sich dies auf den

Intellekt der Engel; und die Worte „Und Gott machte“ schließlich beziehen sich auf die

Wirklichkeit der Dinge.