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Neurologische Diagnostik Nervenbiopsie 1 Seite 357 Zur Fortbildung Aktuelle Medizin ÜBERSICHTSAUFSATZ Die Lichtmikroskopie als morpholo- gische Untersuchungsmethode er- fährt trotz ihrer nach wie vor essen- tiellen Bedeutung für wissenschaft- liche und diagnostische Fragestel- lungen durch das begrenzte Auflö- sungsvermögen des sichtbaren Lichtes gewisse Einschränkungen. Dies gilt in besonderem Maße auch für die Beurteilung von Biopsien pe- ripherer Nerven. Nachdem bereits im vorigen Jahrhundert die grundle- genden Arbeiten auf dem Gebiet der Neuroanatomie geleistet worden waren, schienen die Grenzen der Untersuchungsmöglichkeiten so weit erschöpft, daß mit wesentlichen neuen Erkenntnissen auf dem Ge- biet der Morphologie des Nervensy- stems kaum noch gerechnet wurde. Dies änderte sich jedoch vor etwa 25 Jahren grundlegend mit Einführung der Elektronenmikroskopie in die biologische Forschung. Durch das weit höhere Auflösungsvermögen bis zu wenigen Ängström (1 Ä = 10-7 mm) waren nun die technischen Voraussetzungen gegeben, Struktu- ren bis in die Größenordnung mole- kularer Dimensionen hinein sichtbar zu machen. Die hierdurch wesent- lich erweiterten morphologischen Differenzierungsmöglichkeiten wur- den zur Voraussetzung für unser heute besseres Verständnis der Be- ziehungen zwischen biologischer Ultrastruktur und den biochemi- schen, physiologischen beziehungs- weise pathophysiologischen Vor- gängen der Zelle. So sind speziell hinsichtlich der Ul- trastruktur des peripheren Nerven eine Reihe neuer Fakten bekanntge- worden. Es gelang zum Beispiel, die morphologischen Bauelemente des Axons darzustellen, das heißt unter anderem Neurotubuli und -filamente (Abbildungen 4a—b) als die wesentli- chen Bestandteile zu identifizieren, die für den Axoplasmatransport und damit die Reizleitung beziehungs- weise Reizübertragung des Nerven, zur Aufrechterhaltung seiner trophi- schen Funktionen sowie gewisse Regenerationsvorgänge von Bedeu- tung zu sein scheinen. Diese Struk- turen sind es auch, die bei den ver- schiedensten neuropathisch wirken- den Noxen (zum Beispiel den Mito- seblockern Colchizin oder Vinbla- stin) empfindlich mit sichtbaren morphologischen Veränderungen reagieren. Ferner wurden Aufbau und Bildung der Markscheiden aus Membranen der Schwannschen Zellen erkannt und verfolgt, eine wesentliche Er- kenntnis für die Beurteilung gewis- ser degenerativer und regenerativer Prozesse am erkrankten Nerven. Darüber hinaus konnten u. a. das Organisationsprinzip der für die elektrophysiologischen Vorgänge am Nerven so wichtigen Ranvier- schen Schnürringe (Abbildung • 4b) aufgeklärt, der Feinbau der Synap- sen und motorischen Endplatten dargestellt werden. Schließlich ge- lingt es nun auch, unbemarkte Axone, Schwannzellen (Abbildun- gen 5a—d) sowie die Elemente des neuralen Bindegewebes besser zu beurteilen und in die pathogeneti- schen Überlegungen einzubeziehen. Diese Vielzahl neu erkannter Struk- turen ermöglicht heute eine wesent- lich detailliertere morphologische Einteilung der polyneuropathischen Krankheitsbilder. Die Indikation zur Biopsie wird bei primären oder sekundären (sympto- matischen) Erkrankungen des peri- pheren Nervensystems zu erwägen sein und meist im Rahmen eines sta- tionären Aufenthaltes innerhalb ei- ner Fachklinik gestellt werden, die über geeignete Einrichtungen zur Durchführung der Biopsie ein- schließlich histologischer und elek- Die Biopsie des Nervus suralis in der neurologischen Diagnostik Gottfried Spalke Aus der Universitäts-Nervenklinik Marburg an der Lahn (Kommissarischer Direktor: Professor Dr. Hans Solcher) Die Biopsie peripherer Nerven — meist des Nervus suralis — ist nicht routinemäßig anwendbar. Der in Lokalanästhesie durchgeführte kleine Eingriff bleibt Facheinrichtungen vorbehalten, die über Mög- lichkeiten zu weiteren histologischen und elektronenmikroskopi- schen Untersuchungen verfügen. Die Indikation zur Biopsie kann bei primären oder sekundären Erkrankungen des peripheren Nervensy- stems gestellt werden. Durch die Elektronenmikroskopie haben sich die morphologischen Differenzierungsmöglichkeiten neuropathischer Prozesse wesentlich erweitert. In manchen Fällen sind krankheitsspe- zifische Aussagen möglich. DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 6 vom 10. Februar 1977 357

Die Biopsie des Nervus suralis in der neurologischen ... · Kern einer Schwannzelle, K - kol-lagenes Bindegewebe. Normalbe-fund (x 6000) b): Axonale Degeneration einer marklosen Nervenfaser

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Neurologische Diagnostik

Nervenbiopsie 1 Seite 357

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ÜBERSICHTSAUFSATZ

Die Lichtmikroskopie als morpholo-gische Untersuchungsmethode er-fährt trotz ihrer nach wie vor essen-tiellen Bedeutung für wissenschaft-liche und diagnostische Fragestel-lungen durch das begrenzte Auflö-sungsvermögen des sichtbaren Lichtes gewisse Einschränkungen. Dies gilt in besonderem Maße auch für die Beurteilung von Biopsien pe-ripherer Nerven. Nachdem bereits im vorigen Jahrhundert die grundle-genden Arbeiten auf dem Gebiet der Neuroanatomie geleistet worden waren, schienen die Grenzen der Untersuchungsmöglichkeiten so weit erschöpft, daß mit wesentlichen neuen Erkenntnissen auf dem Ge-biet der Morphologie des Nervensy-stems kaum noch gerechnet wurde.

Dies änderte sich jedoch vor etwa 25 Jahren grundlegend mit Einführung der Elektronenmikroskopie in die biologische Forschung. Durch das weit höhere Auflösungsvermögen bis zu wenigen Ängström (1 Ä = 10-7mm) waren nun die technischen Voraussetzungen gegeben, Struktu-ren bis in die Größenordnung mole-kularer Dimensionen hinein sichtbar

zu machen. Die hierdurch wesent-lich erweiterten morphologischen Differenzierungsmöglichkeiten wur-den zur Voraussetzung für unser heute besseres Verständnis der Be-ziehungen zwischen biologischer Ultrastruktur und den biochemi-schen, physiologischen beziehungs-weise pathophysiologischen Vor-gängen der Zelle.

So sind speziell hinsichtlich der Ul-trastruktur des peripheren Nerven eine Reihe neuer Fakten bekanntge-worden. Es gelang zum Beispiel, die morphologischen Bauelemente des Axons darzustellen, das heißt unter anderem Neurotubuli und -filamente (Abbildungen 4a—b) als die wesentli-chen Bestandteile zu identifizieren, die für den Axoplasmatransport und damit die Reizleitung beziehungs-weise Reizübertragung des Nerven, zur Aufrechterhaltung seiner trophi-schen Funktionen sowie gewisse Regenerationsvorgänge von Bedeu-tung zu sein scheinen. Diese Struk-turen sind es auch, die bei den ver-schiedensten neuropathisch wirken-den Noxen (zum Beispiel den Mito-seblockern Colchizin oder Vinbla-

stin) empfindlich mit sichtbaren morphologischen Veränderungen reagieren.

Ferner wurden Aufbau und Bildung der Markscheiden aus Membranen der Schwannschen Zellen erkannt und verfolgt, eine wesentliche Er-kenntnis für die Beurteilung gewis-ser degenerativer und regenerativer Prozesse am erkrankten Nerven.

Darüber hinaus konnten u. a. das Organisationsprinzip der für die elektrophysiologischen Vorgänge am Nerven so wichtigen Ranvier-schen Schnürringe (Abbildung • 4b) aufgeklärt, der Feinbau der Synap-sen und motorischen Endplatten dargestellt werden. Schließlich ge-lingt es nun auch, unbemarkte Axone, Schwannzellen (Abbildun-gen 5a—d) sowie die Elemente des neuralen Bindegewebes besser zu beurteilen und in die pathogeneti-schen Überlegungen einzubeziehen. Diese Vielzahl neu erkannter Struk-turen ermöglicht heute eine wesent-lich detailliertere morphologische Einteilung der polyneuropathischen Krankheitsbilder.

Die Indikation zur Biopsie wird bei primären oder sekundären (sympto-matischen) Erkrankungen des peri-pheren Nervensystems zu erwägen sein und meist im Rahmen eines sta-tionären Aufenthaltes innerhalb ei-ner Fachklinik gestellt werden, die über geeignete Einrichtungen zur Durchführung der Biopsie ein-schließlich histologischer und elek-

Die Biopsie des Nervus suralis in der neurologischen Diagnostik

Gottfried Spalke

Aus der Universitäts-Nervenklinik Marburg an der Lahn (Kommissarischer Direktor: Professor Dr. Hans Solcher)

Die Biopsie peripherer Nerven — meist des Nervus suralis — ist nicht routinemäßig anwendbar. Der in Lokalanästhesie durchgeführte kleine Eingriff bleibt Facheinrichtungen vorbehalten, die über Mög-lichkeiten zu weiteren histologischen und elektronenmikroskopi-schen Untersuchungen verfügen. Die Indikation zur Biopsie kann bei primären oder sekundären Erkrankungen des peripheren Nervensy-stems gestellt werden. Durch die Elektronenmikroskopie haben sich die morphologischen Differenzierungsmöglichkeiten neuropathischer Prozesse wesentlich erweitert. In manchen Fällen sind krankheitsspe-zifische Aussagen möglich.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 6 vom 10. Februar 1977 357

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Abbildung 1: Nervus suralis

a): Querschnitt durch den ge-samten Nerven mit neun, von den Lamellen des perineuralen Binde-gewebes (P) umgebenen Faszi-keln (F), in denen markscheiden-haltige Nervenfasern erkennbar sind. G — Gefäß, E Epineurium ( x 64)

b): Stärkere Vergrößerung. A —Markfasern, S Schwannsche Zellen mit marklosen Nervenfa-sern, En — endoneurales Bindege-webe ( x 420)

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tronenmikroskopischer Untersu- chungsmöglichkeiten sowie ent-sprechende Erfahrung verfügt.

Wesentliche Vorinformationen über das jeweilige polyneuropathische Syndrom werden durch die klini-schen Untersuchungen gewonnen, die sich auf die bekannten, meist distal betonten Sensibilitätsausfälle mit Kribbelparästhesien und Schmerzen, trophischen Hautverän-derungen, Reflexabschwächung (häufig mit Beginn an den unteren Extremitäten), Paresen und mehr

oder weniger ausgeprägten Muskel-atrophien, eventuell mit Faszikula-tionen, richtet. Zusätzliche elektro-physiologische Untersuchungen wie die Messung der motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindig-keiten sowie das Elektromyogramm geben weitere Hinweise über Aus-maß und Verteilung des neuropathi-schen Prozesses.

Die Wahl des zu untersuchenden Nerven richtet sich nach physiologi-schen and anatomischen Vorausset-zungen. Für die meisten klinischen

Fragestellungen hat sich die Biopsie des Nervus suralis, der als rein sen-sibler Endast den lateralen Fußrand versorgt, als zweckmäßig erwiesen. Dieser am besten untersuchte Nerv bietet gegenüber anderen folgende Vorteile:

• ist er als distaler Nerv der unte-ren Extremitäten an den meisten po-lyneuropathischen Prozessen betei- ligt,

• liegt er geschützt zwischen Au- ßenknöchel und Achillessehne— we-

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sentlich zur Vermeidung von Fehlin-terpretationen druckbedingter Lä-sionen.

€) ist er durch seine konstante Lo- kalisation für Biopsie und Messun- gen der sensiblen Nervenleitge- schwindigkeit gut zugänglich,

• werden Sensibilitätsstörungen als Biopsiefolge im Versorgungsbe-reich dieses Nerven später allge-mein gut toleriert.

Vorbereitung der Untersuchung

Die Biopsie erfolgt in Lokalanästhe-sie oberhalb des Malleolus lateralis. Akute oder postoperative Kompli-kationen sind nicht zu erwarten; der Fuß kann bereits am folgenden Tag wieder belastet werden. Als Spätfol-ge ist jedoch mit einer, wenn auch klinisch bedeutungslosen Hypästhe-sie im Versorgungsbereich dieses Nerven am äußeren Fußrand zu rechnen.

Nach spezieller Fixierung und Auf-bereitung erfolgt die Einbettung der Gewebsproben, speziell im Hinblick auf die elektronenmikroskopische Untersuchung, in Kunstharz. Etwa 4 Tage nach der Biopsie steht das Ma-terial für die weitere Verarbeitung zur Verfügung.

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Abbildung 2: Nervus suralis. Ausgedehnte Markfaserzerstörung mit massiven Myelinabbauprodukten (Ovoiden 0) in Schwannzellen und Makrophagen, zum Teil mit Abbau zu Neutralfett (F). (a — quer, b — längs); Vincristinpolyneuro-pathie ( x 600)

Untersuchungsmethoden

Im folgenden seien 3 Untersu-chungsmethoden und deren qualita-tive und quantitative Aussagemög-lichkeiten hinsichtlich der Beurtei-lung des Krankheitsprozesses auf-gezeigt:

Lichtmikroskopische Untersuchung

Bei der orientierenden lichtmikro-skopischen Untersuchung stellt sich der Nerv als komplexe Struktur, be-stehend aus Nervenfasern — unbe-markten und Markfasern, endoneu-ralem, perineuralem und epineura-lem Bindegewebe sowie den Gefä-ßen dar (Abbildung 1). Eine klinisch manifeste Polyneuropathie läßt in der Mehrzahl der Fälle bereits bei

dieser Übersichtsbetrachtung eine Reduktion der Markfasern erken-nen. Dabei lassen sich zwei Läsions-typen abgrenzen:

a) Die primär neuronalen (axona-len) Erkrankungen (axonale Poly-neuropathie),

b) die demyelinisierenden Neuropa-thien mit primärem Markscheiden-zerfall (Demyelinisieru ngspolyneu-ropath ie).

Axon und Markscheide bilden eine funktionelle Einheit.

Primäre Läsionen des Axons gehen demnach zwangsläufig mit sekun-dären Veränderungen der Mark-scheide und Demyelinisierungspro-zesse mit axonalen Läsionen einher.

Beiden Gruppen sind parallel dem Ausmaß der Nervenfaserdegenera-tion und abhängig von der Entwick-lungsdynamik des pathogenen Pro-zesses Sekundärreaktionen der Schwannschen Zellen gemeinsam: Neben Regenerationsvorgängen, die sich in Zellproliferationen (zu so-genannten Büngnerschen Bändern oder Zwiebelschalenbildungen) äu-

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Bern, lassen sich die von ihnen aus-gehenden Remyelinisierungsvor-gänge beobachten. Darüber hinaus werden zerstörte Markscheidenfrag-mente in Form sogenannter Myelin-ballen oder Ovoide im Zytoplasma der Schwannzellen (wie der Makro-phagen) gespeichert, um später zu Neutralfetten weiter abgebaut zu werden (Abbildung 2).

Die Beurteilung der Gefäße spielt in-sofern eine untergeordnete Rolle, als ischämische Nekrosen des peri-pheren Nerven seltener vorkommen. Lediglich Intimafibrosen werden ge-legentlich bei älteren Patienten be-obachtet.

Entzündliche perivaskuläre Infiltra- te oder Gefäßwandveränderungen

können bei der arteriitischen Neuro-pathie im Rahmen von Kollagen-krankheiten nachweisbar sein.

Weitere Einzelheiten hinsichtlich der Feinstruktur der Axone, insbe-sondere der unbemarkten Fasern oder der Markscheiden, lassen sich lichtmikroskopisch nicht eindeutig beurteilen.

O Quantitativ analytische Zählverfahren

In Ergänzung zur Lichtmikroskopie werden quantitativ analytische Zähl-verfahren nach folgenden Parame-tern durchgeführt:

a) Bestimmung der Gesamtfaser- dichte, bezogen auf mm 2 Faszikel-

fläche; die Faserdichte schwankt je nach Lebensalter zwischen 4000 und 11 000 Nervenfasern pro mm 2 .

b) Aufstellung eines Markfaser-spektrums in dem sämtliche Nerven-fasern entsprechend ihrem Durch-messer in !Im-Gruppen von 2-16 [km eingeteilt und in ihrer prozentualen Dichte angegeben werden. Dabei er-gibt sich normalerweise ein charak-teristisches bimodales Verteilungs-spektrum mit einem Gipfel bei 3-4 i..tm und einem zweiten Gipfel bei etwa 9-10 p,m (Abbildung 3a).

Wie sich anhand dieser Histogram-me ableiten läßt, werden bei poly-neu ropath ischen Prozessen nicht immer sämtliche Nervenfasern gleichzeitig, sondern unterschied-

Nervenfasern (S)

30

20

10

Nervenfasern (%1

30

20

10

2 5

10 15 ,um

2 5

10 15 /um

Gesamtdurchmesser

Gesamtdurchmesser

Abbildung 3 a: Nervus suralis — Oben: Repräsentativer Querschnitt eines Faszikels — Unten: Histogramm der Markfasern (äußerer Durchmesser). Faserdichte/mm 2

Faszikelfläche 7690. Normales bimodales Verteilungs-spektrum

Abbildung 3 b: Nervus suralis — Oben: Repräsentativer Querschnitt eines Faszikels — Unten: Histogramm der Markfasern (äußerer Durchmesser). Faserdichte/mm 2

Faszikelfläche auf 2900 reduziert. Pathologisches Ver-teilungsmuster mit Schwund der großkalibrigen Nerven-fasern. Diabetische Polyneuropathie

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Abbildung 4: Nervus suralis (elektronenmikroskopische Auf­nahmen)

a) : Intakte Nervenfaser. Lamellen der Mark-(Myelin-)scheide im Bild unten rechts erkennbar (Aus­schnittsvergrößerung x 30 000). Axon (Ax) mit Neurotubuli , Neuro­filamenten und Mitochondrien (Mi). S - Schwannsche Zellen

b): Schnürringregion mit längs­verlaufenden intakten Neurotubu­li (N). Mi Mitochondrien ( X 20 000)

c) : Axonale Degeneration mit pa­thologischer Aggregation von Mitochondrien (Mi), vesikulären Elementen und Lipidkörpern (L) . Ax- Axon, M- Markscheide, My­Markscheidendegenerationspro­dukt Neurale Muskelatrophie

d): Axonale Degeneration mit fortgeschrittener, vollständiger Zerstörung der axonalen Struktu­ren (Ax); daneben noch zwei er­haltene Markfasern (A) . Ax -Axon, M - Markscheide, My -Markscheidenabbau . Neurale Muskelatrophie ( x 3500)

e) : Markscheidendegeneration (Marködem) mit AufsplitterunQ der Myelintamellen (M). Chroni­sche Bleipolyneuropathie

f) : Markscheidendegeneration mit Einlagerung lamellärer Struk­turen. Alkoholische Polyneuropa­thie

lieh befallen. So sind zum Beispiel initial häufig am stärksten die groß­kalibrigen Nervenfasern betroffen (Abbildung 3b), wohingegen die mittleren und kleinen vollzählig sind oder infolge von Regenerationsvor­gängen zahlenmäßig sogar oberhalb der Normwerte liegen können. Zu dieser Gruppe zählen die meisten axonalen Polyneuropathien:

Sowohl diejenigen vom

~ distalen Befallstyp (zum Beispiel Intoxikationen mit Tri-ortho-kresyl­phosphat, INH, bei zytostatischer Behandlung: u. a. Vinblastin oder Cyclophosphamid , urämische, alko­holische und diabetische Polyneu­ropathien) wie auch jene vom

~ neuronalen (proximalen) Befalls­muster, das heißt mit primärer Pro­zeßlokalisation in den sensiblen Spi­nalgang Iien-, den Hinterwurzel­ader den motorischen Vorderhorn­ganglienzellen (zum Beispiel para­neoplastische Polyneuropathie, pe­roneale Muskelatrophie).

Demgegenüber steht ein Läsionstyp mit Beginn der Erkrankung an den kleinkalibrigen Nervenfasern mit entsprechend ihrer Funktion beson­ders trophischen Störungen oder stärkerer Beeinträchtigung der Tem­peratur- und Schmerzempfindung.

Ein diskontinuierlicher Befall so­wohl der groß- wie auch der kleinka­librigen Nervenfasern wird vorwie-

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gend bei Demyelinisierungsneuro­pathien beobachtet (zum Beispiel Diphtherie, Bleiintoxikation oder bei Störungen des Lipidstoffwechsels [Leukodystrophie]). Aus der propor­tionalen Verschiebung des Spek­trums zwischen groß- und kleinkali­brigen Fasern resultieren letztlich auch infolge einer Störung des Gleichgewichts der im Rückenmark eintreffenden sensiblen Impulse die Symptome der Hyperpathie und der sensiblen Reizerscheinungen wie der Parästhesien.

8 Elektronenmikroskopische Untersuchung

Die elektronenmikroskopische Un­tersuchung ermöglicht es als einzi-

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Abbildung 5: Nervus suralis (elektronenmikroskopische Auf-nahmen)

a): Marklose Nervenfasern (R) umhüllt von Schwannzellen. N -Kern einer Schwannzelle, K - kol-lagenes Bindegewebe. Normalbe-fund (x 6000)

b): Axonale Degeneration einer marklosen Nervenfaser in Form lokaler Anhäufung degenerierter Mitochondrien und vesikulärer Strukturen. Chronische sensori-sche Neuropathie

c): Degeneration einer marklosen Nervenfaser (D) mit vollständigem Verlust der axonalen Strukturen. Daneben intakte Nervenfasern (A). Neurodermitis ( x 9000)

d): Reaktive Schwannzellverän-derungen mit Proliferation der Zeilfortsätze zu plattenartigen Formationen. K Kollagen. Neu-rale Muskelatrophie ( x 10.000)

e): Speicherung metachromati-scher Granula (mG) im Schwann-zellplasma einer bemarkten Ner-venfaser. Ax - Axon, En - endo-neurales Bindegewebe. Meta-chromatische Leukodystrophie ( x 18.000)

f): Stärkere Vergrößerung aus e). Spezifische Ultrastruktur mit cha-rakteristischer Periodik der Spei-cherprodukte (S); hier Sulfatide ( x 90 000)

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Nervenbiopsie

ge, die Gewebselemente im Detail zu beurteilen und zu einer weiterge-henden morphologischen Differen-zierung der genannten Läsionsty-pen, das heißt der axonalen wie der Demyelinisierungspolyneuropathien, zu kommen. So sind Angaben mög-lich über Art und Ausmaß axonaler Veränderungen, Aufbau und Struk-turauffälligkeiten der Markscheide u. a. Remyelinisierungsvorgänge und andere reaktive Schwannzell-veränderungen, insbesondere hin-

sichtlich der Ultrastruktur von Lipid-einlagerungen im Zytoplasma, wo-bei sich unspezifisches Lipofuscin von spezifischen Lipidkörpern diffe-renzieren läßt (Abbildungen 4-5).

Auf diese Weise kann zum Beispiel durch den Nachweis sogenannter metachromatischer Sulfatidgranula im Schwannzellplasma die Ver-dachtsdiagnose einer metachroma-tischen Leukodystrophie (eine zu den Lipidosen zählende Erkrankung

mit Beteiligung des zentralen und peripheren Nervensystems) bestä-tigt werden (Abbildungen 5e-f).

Neben dieser Erkrankungsgruppe lassen sich bestimmte Läsionsmu-ster differenzieren, die durch eine Kombination aus Markfaserdegene-ration mit ausgeprägten proliferati-ven Schwannzellreaktionen charak-terisiert sind. Diese findet man ty-pisch bei Krankheitsbildern aus der Gruppe der Systemdegenerationen

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Typhus abdominalis

Zu einem Beitrag von Dr. med. Anemone (wand in Heft 46/1976, Seite 2947 ff.

In dem Erfahrungsbericht über die Typhus-Epidemie 1974 in Baden-Württemberg wird von der Autorin, A. (wand, zur Chemotherapie des Ty-phus abdominalis die folgende Auf-fassung vertreten:

„Da Chloramphenicol trotz seiner Nebenwirkungen auch heute noch das Mittel der Wahl für die Behand-lung typhöser Erkrankungen ist, wurde der überwiegende Teil der Patienten mit Chloramphenicol be-handelt." Diese Auffassung kann nach den heutigen Erkenntnissen nicht unwidersprochen bleiben. Nach den vorliegenden Publikatio-nen muß Trimethoprim-Sulfameth-oxazol bei der Behandlung des Typhus abdominalis im Vergleich mit Chloramphenicol als gleichwer-tiges Chemotherapeutikum angese-hen werden. Von Kamat wird in einer Vergleichsstudie an 220 Typhusfäl-len sogar eine Überlegenheit des Trimethoprim-Sulfamethoxazols ge-genüber Chloramphenicol heraus-gestellt.

Wir selbst haben unter alleiniger Therapie mit Trimethoprim-Sulfa-methoxazol. bei 23 Patienten (Ty-phus abdominalis (18), Paratyphus B (4), Paratyphus A, keine Therapie-versager oder Dauerausscheidung beobachtet. Bei der potentiell kno-chenmarkschädigenden Wirkung des Chloramphenicols möchten wir z. Z. das Kombinationspräparat Tri-methoprim-Sulfamethoxazol als Mittel der Wahl für die Behandlung typhös-paratyphöser Erkrankungen herausstellen.

Literatur

Kamat, S. A.: Evaluation of Therapeutic Effica-cy of Trimethoprim-Sulfamethoxazol and Chloramphenicol in Enteric Fever. Brit. med. J. 3 (1970), 320. — Lübcke, P., Freitag, V., Sziego-leit, M.: Aktueller Stand der Therapie mit Sal-monellen-Infektionen. Therapiewoche 26

AUSSPRACHE

(1976), 5394. — Skrandies, 0., Hausmann, K.: Knochenmarkschäden nach Chloramphenicol in Hamburg und Umgebung. Med. Klinik 67 (1972), 569.

Dr. Freitag Bakteriologische Abtlg. des AK Altona Paul-Ehrlich-Straße 1 2000 Hamburg 50

Dr. Lübcke III. Medizinische Abtlg. des AK Altona Paul-Ehrlich-Straße 1 2000 Hamburg 50

Schlußwort

Die Behandlung des Typhus abdo-minalis mit Chloramphenicol, Cotri-moxazol oder Ampicillin wurde in den letzten Jahren wiederholt disku-tiert. Zweifellos können die genann-ten Antibiotika in der Therapie ein-gesetzt werden, sofern ein in vitro sensibler Salmonella-typhi-Stamm vorliegt. Die Vorteile der Chloram-phenicolbehandlung sind in schnel-lerer Entfieberung und Verkürzung der Ausscheidungsdauer der Erre-ger im Stuhl zu sehen. Darüber hin-aus muß bei der Co-trimoxazol-Be-handlung mit einer Versagerquote um 10 Prozent gerechnet werden. Snyder und Mitarbeiterteilten diese Ergebnisse aus zwei in Chile durch-geführten Vergleichsstudien mit, die sie ;1973 an 67 und 1976 an 122 Pa-tienten erhoben. Wegen der bekann-ten Nebenwirkungen sollte die Be-handlung mit Chloramphenicol den Erkrankungen an Typhus abdomina-lis, Paratyphus, eitrigen Meningiti-den und Infektionen, die durch sonst resistente Erreger verursacht sind, vorbehalten bleiben.

Literatur

Snyder, M. J., u. a.: Trimethoprim-sulfameth-oxazole in the treatment of typhoid and paraty-phoid'fevers. J. Infectious Dis. 128 (1973), 734-737. — Snyder u. a.: Comparative efficacy of chloramphenicol, ampicillin, and Co-trimoxa-zole in the treatment of typhoid fever. Lancet 1976/11, 1155-1157.

Dr. med. Anemone (wand Medizinische Universitätsklinik Bergheimer Straße 58 6900 Heidelberg

Nervenbiopsie

wie der neuralen Muskelatrophie (Charcot-Marie-Tooth), der hyper-trophischen Neuritis (Döjd rine-Sot-tas) oder bei Syndromen aus dem Formenkreis der Friedreichschen Ataxie.

Zusammenfassung

Zusammengefaßt ergibt sich, daß die Biopsie peripherer Nerven in den meisten Fällen die Möglichkeit bie-tet, die Verdachtsdiagnose einer Po-lyneuropathie auch in subklinischen Krankheitsstadien zu objektivieren, das morphologische Syndrom zu klassifizieren und gegebenenfalls —wie bei einigen Lipidspeicherkrank-heiten und kombinierten Systemde-gene -rationen — näher zu spezifizie-ren; wesentlich ist ferner, daß be-sonders in bezug auf die große Gruppe der ätiologisch ungeklärten Polyneuropathien durch die ge-nannten standardisierten morpholo-gischen und histometrischen Me-thoden weitere Einblicke in Ort und Art der Primärläsion, der Prozeßqua-lität und -dynamik sowie in pathoge-netische Zusammenhänge gewon-nen werden können mit dem Ziel, weitere und bessere Möglibhkeiten einer kausalen Therapie ausfindig zu machen.

Literatur

Babel, J., Bischoff, A., Spoendlin, Ultra- structure of the Peripheral Nervous System and Sense Organs. G. Thieme Verl. Stuttgart 1970 — Boyd, I. A., Davey, M. R.: Composition of Peripheral Nerves. E. u. S. Livingstone Ltd. Edinburgh and London 1968 — Dyck, P. J., Thomas, P. K., Lambert, E. H.: Peripheral Neu-ropathy Vol. I und 11. Saunders Company Phil-adelphia, London, Toronto 1975 — Sluga, E.: Polyneuropathien, Schriftenreihe Neurologie Band 14, Springer Verlag Berlin, Heidelberg, New-York 1974 — Wechsler, W.: The Develop-ment and Structure of Peripheral Nerves in Vertebrates. In: Handbook of Clinical Neurolo-gy: Diseases of Nerves Bd. 7, 1-39, Amsterdam: North Holland Publ. Comp. 1970

Anschrift des Verfassers: Dozent Dr. Gottfried Spalke Universitäts-Nervenklinik Ortenbergstraße 8 3550 Marburg

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