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Die Entwicklung und die Unterschiede von Pflegemodellen! Im Besonderen das Selbstpflegemodell nach Dorothea Orem und die Transkulturelle Pflege von Madeleine Leininger und Dagmar Domenig Bachelorarbeit Gesundheits- und Pflegewissenschaften Medizinische Universität Graz Nadya Stöckl Matrikelnummer: 0733138 Lehrveranstaltung: Modelle und Theorien der Pflege Betreuerin: Dr. Evelin Burns MN. DGKS Piettegasse 26 3013 Pressbaum Graz, 02.03.2010

Die Entwicklung und die Unterschiede von Pflegemodellen

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Die Entwicklung und die Unterschiede von

Pflegemodellen!

Im Besonderen das Selbstpflegemodell nach Dorothea

Orem und die Transkulturelle Pflege

von Madeleine Leininger

und Dagmar Domenig

Bachelorarbeit

Gesundheits- und Pflegewissenschaften

Medizinische Universität Graz

Nadya Stöckl

Matrikelnummer: 0733138

Lehrveranstaltung:

Modelle und Theorien der Pflege

Betreuerin: Dr. Evelin Burns MN. DGKS

Piettegasse 26 3013 Pressbaum

Graz, 02.03.2010

Ehrenwörtliche Erklärung:

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Bachelorarbeit selbstständig und ohne

Hilfe verfasst habe, andere als die angegebenen Quellen nicht verwendet habe und die

benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht

habe. Weiters erkläre ich, dass ich diese Arbeit in gleicher oder in ähnlicher Form noch keiner

anderen Prüfungsbehörde vorgelegt habe.

Graz, am 02.03.2010 Unterschrift

Seite 2

Inhaltsverzeichnis Einleitung ................................................................................................................................................ 5

Selbstpflege- und Selbstpflegedefizit-Theorie von Dorothea Orem ....................................................... 7

Hintergründe der Theorien .................................................................................................................. 7

Theorie der Selbstpflege und Dependenzpflege .................................................................................. 8

Charakteristika der Selbstpflege...................................................................................................... 8

Allgemeine und Entwicklungsbedingte Selbstpflegeerfordernisse ................................................. 9

Theorie des Selbstpflegedefizits........................................................................................................ 10

Theorie des Pflegesystems ................................................................................................................ 11

Kulturelle Dimensionen der menschlichen Pflege von Madeleine M. Leininger ................................. 12

Anfänge der Theorienentwicklung .................................................................................................... 12

Begriffsbestimmung und Entwicklung der Theorie .......................................................................... 13

Das Sunrise Modell ........................................................................................................................... 16

Hauptmerkmale der Pflegeethnographie ........................................................................................... 19

Grundlagen zur Erforschung der menschlichen Fürsorge ................................................................. 20

Das Modell „Vom Fremden zum Freund“ .................................................................................... 20

Das Beobachtungs-Teilnahme-Überlegungs-Modell..................................................................... 21

Die Transkulturelle Kompetenz von Dagmar Domenig........................................................................ 22

Einleitung zum Thema Gesundheit und Migration ........................................................................... 22

Zusammenhänge von Migration und Gesundheit.............................................................................. 23

Das Konzept der transkulturellen Kompetenz................................................................................... 24

Der Begriff der Transkulturalität................................................................................................... 25

Die Vermittlung transkultureller Kompetenz ................................................................................ 27

Die Verankerung transkultureller Kompetenz in der Aus- und Weiterbildung............................. 28

Das ACCESS-Modell und LEARN-Modell.................................................................................. 29

Die Bedeutung der leiblichen Kommunikation in Kontext transkultureller Pflege .......................... 30

Kanäle der leiblichen Kommunikation.......................................................................................... 31

Seite 3

Die Einleibung als Beispiel leiblicher Kommunikation ................................................................ 32

MigrantInnen in der Altenpflege ....................................................................................................... 33

Die Situation der Pflegenden......................................................................................................... 33

MigrantInnen im Pflegeheim......................................................................................................... 34

Zusammenfassung ................................................................................................................................. 35

Literaturverzeichnis............................................................................................................................... 36

Seite 4

Einleitung

Pflege besteht hauptsächlich aus praktischen Tätigkeiten. Da stellt sich natürlich die Frage, ob

theoretische Grundlagen, wie Pflegemodelle überhaupt sinnvoll sind.

Doch diese Frage ist mit einem klaren „JA“ zu beantworten. Denn, dass die Pflege heute als

eigenständiger Beruf anerkannt ist, ist zu einem großen Teil den Pflegetheorien zu verdanken.

Sie sind Grundlage für ein professionelles Arbeiten und dienen als Darstellung für

wissenschaftliche Erkenntnisse in der Pflege.

Pflegemodelle galten lange Zeit nur dann als qualitativ hochwertig, wenn sie sowohl

vorhersagend als auch kontrollierend waren. Es wurde vorgegeben wie man sich in einer

bestimmten Situation zu verhalten hat. Heutzutage misst man die Qualität einer Theorie aber

an ihrem Inhalt und Praxistheorien finden immer mehr Anklang, da sie die Methode und das

Ziel immer wieder gegeneinander abwiegen und auf die gegebene Situation abstimmen. Aus

diesen Gründen unterscheiden sie sich auch erheblich von den anderen Modellarten.

Durch die Modelle wird die tägliche Arbeit in der Pflege vereinfacht und das wichtigste auf

den Punkt gebracht. Aus diesen Modellen können Theorien abgeleitet werden, die dann

konzeptionelle Modelle genannt werden. Bezogen auf die Pflege, werden hier die

Zusammenhänge zwischen Mensch und Umgebung, aber auch Gesundheit und Krankheit

beschrieben.

In „Professionelle Pflege“ von Joe Arets et al. werden die Modelle unterschieden in:

• Interaktionsmodelle

Hier spielt vor allem die Beziehung zwischen Pflegenden und Patienten eine wichtige

Rolle. Der Schwerpunkt liegt bei diesem Modell auf der Frage: „Wie wird gepflegt?“

• Pflegeergebnismodell

Die Hauptaspekte liegen hier auf den Resultaten der Pflege. Man beschäftigt sich mit

der Frage: „Warum wird gepflegt?“

• Bedürfnismodelle

Alle pflegerelevanten Bedürfnisse des Patienten sollen befriedigt werden, daher gilt es

die Defizite der Patienten zu erkennen und diese unter Anwendung der Ressourcen der

Patienten auszugleichen. Hierbei stellt sich die Frage:

„Was ist Pflege?“

Seite 5

Seite 6

Es ist jedoch von großer Bedeutung, dass keine Methode oder kein Modell das andere

ausschließt und dass es kein „entweder oder“ sondern ein „sowohl als auch“ gibt. Die

momentane Situation der Patienten, als auch die Gefühle und die Einstellung zum Leben

müssen immer miteinbezogen werden. 1

1 vgl. http://www.bibliomed.de/cps/rde/xbcr/SID-3E01936C-CB799C34/bibliomed/sp_old-2000_06_B.Braun_Preis_Pflegetheorien_Pflegemodelle_anwendbar_oder_nur_graue_Theorie.pdf, S.1-2

Seite 7

Selbstpflege- und Selbstpflegedefizit-Theorie von Dorothea Orem

Dorothea E. Orem wurde 1914 in Baltimore, USA, geboren. In den frühen 30er Jahren

besuchte sie eine Krankenpflegeschule in Washington D.C. Nach dem Abschlussexamen

setzte sie ihre Ausbildung fort und erhielt 1939 und 1945 den ersten und zweiten

akademischen Grad im Fach Pädagogik der Krankenpflege. 1980 gründete sie eine eigene

Beratungsfirma, Orem & Shields Inc. in Maryland. Bis dahin verfasste sie verschiedene

Schriften und Bücher und erhielt mehrere Ehrendoktortitel. Die ersten beiden

Studienabschlüsse absolvierte sie in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, was sie in ihrer Arbeit

sicher beeinflusst hat. Zwischen 1957 und 1959 beschäftigte sie sich intensiv mit der Frage:

“Was ist der eigentliche Gegenstand der Krankenpflege?". Dorothea Orem formulierte ihr

Selbstfürsorge-Konzept erst nach jahrelanger Berufserfahrung und veröffentlichte dies 1980

und eine Überarbeitung 1985. Sie erkannte zwar selbst die Ähnlichkeit zwischen der

Pflegedefinition von Henderson und ihrer eigenen, verneinte jedoch die Vermutung, dass sie

ihren theoretischen Rahmen davon abgeleitet hat. Sie sagte, die Zusammenarbeit mit vielen

Pflegenden und die Unterrichtserfahrungen hätten ihr sehr wertvolle Anregungen gegeben. 2

Hintergründe der Theorien

Die Basis für diese allgemeine Pflegetheorie bilden verschiedene Überlegungen und

Bedingungen. Sie setzten ihren Schwerpunkt auf prinzipielle Überzeugungen bezüglich der

Charakteristika von Personen.

• Wenn sich die Menschen selbst versorgen, ist vor allem der Input aus ihrer internen

und externen Umgebung wichtig. Die bewussten Handlungen die durch solch einen

Input erfolgen, sind maßgeblich um das Leben und Wohlbefinden sicherzustellen und

die Integrität zu erhalten.

• Im Leben eines Menschen gibt es Phasen, in denen sie nicht mehr in der Lage sind, für

sich selbst oder für andere angemessen zu sorgen.

• Erst innerhalb von sozialen Gruppen leben, wachsen und reifen die Menschen. Diese

Gruppen definieren die Aufgaben und Rollen, die von Kultur zu Kultur verschieden

sein können, der einzelnen Mitglieder. Jedoch ist auch trotz Unterschieden, die Sorge

um diejenigen die sich nicht mehr selbst versorgen können, in allen Gruppen gleich

groß. 3

2 vgl. http://www.altenpflegeschueler.de/pflege/pflegemodell-nach-d-orem.php 3 vgl. DENNIS, 2001, S. 24-25

Seite 8

Theorie der Selbstpflege und Dependenzpflege

Die erste der drei konstituierenden Theorien, ist die Theorie der Selbstpflege und

Dependenzpflege. Um die anderen Konzepte dieser Theorie zu verstehen sind die

Kernkonzepte der Selbstpflege und Dependenzpflege von erheblicher Bedeutung.

Die Theorie besagt, dass Personen einzelne Handlungen und Handlungsabfolgen ausüben, die

auf sie selbst oder ihre Umgebung (Selbstpflege) oder auf die Pflege und Sorge der von ihnen

abhängigen Personen (Dependenzpflege) gerichtet sind. Die Handlungen werden bewusst

durchgeführt und haben einen regelmäßigen zeitlichen Ablauf, sie sind zielgerichtet und

führen zu einer strukturellen und funktionalen Integrität.

Es wird die Erfüllung von drei Arten von Erfordernissen angestrebt:

1. all jene, die allgemein auf die Menschen zutreffen

2. solche, die für menschliche Entwicklungsprozesse wichtig sind

3. gesundheitsbedingte Erfordernisse

Das Ziel, das bei Selbstpflegehandlungen erreicht werden soll, ist es einen Beitrag zu seinem

eigenen Leben zu leisten und die persönliche Gesundheit zu fördern. Die

Dependenzhandlungen verfolgen das Ziel, lebenswichtige und entwicklungsbezogene

Prozesse zu erhalten und die Gesundheit und das Wohlbefinden von abhängigen Personen zu

verbessern. Selbstpflegehandlungen werden von den Menschen im Verlauf von

Entwicklungs- und Reifeprozessen in ihren familiären und soziokulturellen Gruppen erlernt.

Bei den Dependenzpflegehandlungen kommt es darüber hinaus auch zu Lernprozessen.

Beispielsweise verfügen Erwachsene über frühere Lernerfahrungen hinsichtlich der

Rollengestaltung der elterlichen Kompetenzen. 4

Charakteristika der Selbstpflege

Die Selbstpflege setzt sich aus vielen unterschiedlichen Handlungen zu einem großen

Handlungssystem zusammen. Gemeinsam bilden dann die größeren Systeme die gesamte

Selbstpflege. Die Handlungen werden bewusst ergriffen und die Selbstpflege ist weder

wahllos noch willkürlich.

Der Begriff der Selbstpflege ist so impliziert, dass Selbstpflege von einer Person für sich

selbst ausgeführt wird. Das heißt also, dass die kranke Person die Pflege immer an sich selbst

durchführt und damit ist die Selbstpflege Ego-zentriert. Sie ist selbstorientiert, selbstgerichtet

und selbstproduziert. Die Selbstpflege ist ein persönliches Verhalten, da sie zur Erfüllung von

persönlichen Bedürfnissen, in Bezug auf die Selbstpflege, beiträgt. Die körperliche, 4 vgl. DENNIS, 2001, S. 26-29

Seite 9

emotionale und intellektuelle Reife eines Menschen beeinflusst das Benehmen, das als

Selbstpflegehandlung bezeichnet wird. Selbstpflege ist kein Stop-and-go-Prozess, bei dem

man am Morgen aufstehen kann und beschließt, heute keine Selbstpflegehandlungen

durchzuführen. Es gibt Selbstpflegeerfordernisse die täglich in regelmäßigen Mustern

ablaufen, wie zum Beispiel die ausreichende Sauerstoffaufnahme und der Umgang mit Urin-

und Stuhlausscheidung. Liegen Erkrankungen oder Verletzungen vor, so ändern sich auch die

Bedürfnisse der Selbstpflege. Die gewählten Selbstpflegehandlungen sind in manchen Fällen

nicht situativ erforderlich. Hiermit ist gemeint, dass sie nicht immer einen positiven Effekt

erzielen und auch situativ unangemessen sein können. Beispiele wären Menschen, die täglich

mehrere Packungen Zigaretten rauchen oder Diabetiker, die sich nicht an ihren Diätplan

halten. So führen in der Wirklichkeit nicht alle Entscheidungen der Selbstpflege zu positiven

Verhaltensweisen. 5

Allgemeine und Entwicklungsbedingte Selbstpflegeerfordernisse

Um ein optimales Funktionieren, Gesundheit und Wohlbefinden zu erreichen oder besser

gesagt zu erhalten, müssen die allgemeinen Grundbedürfnisse erfüllt werden. Diese

allgemeinen Bedürfnisse sind bei allen Menschen gleichermaßen vorhanden und in jeder

Lebensphase präsent. Jedoch variieren Quantität und Qualität der Bedürfnisse nach

Selbstpflege je nach den Bedingungsfaktoren. Dabei handelt es sich um Alter, Geschlecht,

Gesundheitszustand, Familiensysteme, Umgebung und verfügbare Ressourcen.

Durch eine situativ angemessene und effektive Erfüllung der allgemeinen

Selbstpflegeerfordernisse können diese die Lebensprozesse positiv unterstützen, sowie zu

struktureller und funktioneller Ganzheit, Reife, Gesundheit und Wohlbefinden führen. Die

folgenden 8 Kategorien beziehen sich auf Frauen und Männer aller Altersstufen:

1. Aufrechterhaltung einer ausreichenden Sauerstoffzufuhr

2. Aufrechterhaltung einer ausreichenden Flüssigkeitszufuhr

3. Aufrechterhaltung einer ausreichenden Zufuhr von Nahrungsmitteln

4. Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts zw. Aktivität und Ruhe

5. Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts zw. Alleinsein und soziale Interaktion

6. Gewährleistung einer Versorgung in Verbindung mit Ausscheidungsprozessen

7. Vorbeugung gegen Risiken für das Leben

8. Förderung der menschlichen Funktionen und Entwicklungen innerhalb sozialer

Gruppen (Normalität)

5 vgl. DENNIS, 2001, S. 62-65

Seite 10

Die entwicklungsbedingten Selbstpflegeerfordernisse stehen in Verbindung mit den

Entwicklungsstadien bzw. –phasen eines Menschen. Dorothea Orem stellte fest, dass die

Bedingungen für die Selbstpflegeerfordernisse in folgenden Stadien des Lebenszyklus

entstehen:

• Fötus, einschließlich Geburt

• Neonatales Stadium

• Frühes Kindesalter

• Kindheit und Jugend

• Erwachsenenalter

• Schwangerschaft als Jugendlicher oder Erwachsener

Es gibt in der Kindheit und im Erwachsenenalter jedoch noch mehr Stadien als hier angeführt.

Vor allem das Wachstum und die körperliche Entwicklung, sowie die psychosoziale,

emotionale, kognitive und sprachliche Entwicklung stehen mit den entwicklungsbedingten

Bedürfnissen in Verbindung. Daher werden die Menschen immer wieder mit neuen

entwicklungsbezogenen Aufgaben konfrontiert.

Laut Dorothea Orem gibt es drei Formen von entwicklungsbedingten

Selbstpflegeerfordernissen: die Gewährleistung von Bedingungen, das Engagement in der

Selbstentwicklung und die Entwicklungsstörungen. Wobei der Mensch im ersten Fall auf

andere Personen angewiesen ist und diese zu seinen Gunsten Handlungen ausführen. Im

zweiten Fall können sich die Patienten selbst beteiligen und im dritten Fall wird versucht,

Störungen im Zusammenhang mit Bedingungen, Ereignissen oder Situationen zu mildern,

welche eine schädliche Wirkung auf die Entwicklung haben könnten. 6

Theorie des Selbstpflegedefizits

Die Theorie basiert auf der Vorstellung, dass Menschen in ihrer funktionellen, strukturellen

und entwicklungsbedingten Integrität Veränderungen unterliegen. Diese Veränderungen

können zu ganz neuen Bedürfnissen der Selbstpflege führen und gesundheitsbedingt oder

gesundheitsgeleitet sein. Aber auch Einflüsse der externen Umgebung können neue

Pflegebedürfnisse verursachen. Die Theorie des Selbstpflegedefizits beschäftigt sich mit der

Wechselbeziehung zwischen dem Situativen Selbstpflegebedarf und der

Selbstpflegekompetenz. Sobald der Situative Selbstpflegebedarf eines

Dependenzpflegepatienten die Kompetenzen der Person übersteigt, entwickelt sich daraus ein

Selbstpflegedefizit. Diese Menschen benötigen professionelle Hilfe und unterliegen der 6 vgl. DENNIS, 2001, S. 61-77

Seite 11

besonderen Sorge der Pflegenden, da die Patienten ihre situativ erforderliche Selbstpflege

nicht realisieren können.

Um die Theorie des Selbstpflegedefizits zu unterstreichen, hat Dorothea Orem eine Vielzahl

von Aussagen formuliert.

Zum Beispiel: In Zusammenhang mit der Selbstpflegekompetenz

1. Es sind erlernte Handlungsbefähigungen, über die die Personen, die sich in

Selbstpflege engagieren, verfügen. Die Befähigungen werden von heranreifenden

Menschen entwickelt und sind erlernt.

2. Um die Selbstpflegehandlungen auszuführen werden grundlegende

Bedingungsfaktoren modifiziert, diese sind zum Beispiel Alter, Geschlecht,

Gesundheitszustand, ......

Theorie des Pflegesystems

Die Theorie des Pflegesystems beinhaltet die beiden ersten Theorien und bezieht Dienste mit

ein, die Pflegende in pflegerischen Situationen leisten. Die folgenden Aussagen sind zum

Verständnis der Theorie von besonderer Bedeutung:

• „Die professionelle Pflege ist eine helfende Dienstleistung, die durch die Gesellschaft

sanktioniert und institutionalisiert wird.“

• „Die professionelle Pflege erfolgt durch komplexes, bewusstes Handeln, das von

professionell Pflegenden zur Unterstützung anderer Personen ausgeführt wird.“

Der Schwerpunkt der Theorie liegt auf den Dienstleistungen, die von professionellen

Pflegekräften gewährleistet werden. Ein Pflegesystem ist ein Handlungssystem, dass durch

Pflegende geschaffen und realisiert wird. Die Handlungen, aus denen sich Pflegesysteme

zusammensetzen, sind erlernte, spezialisierte Befähigungen zur Gewährleistung von Pflege

durch professionell Pflegende. Das Ziel der Handlungen besteht darin, eine bestehende

Selbstpflegekompetenz zu schützen oder eine Entwicklung von Selbstpflegekompetenz zu

regulieren und die Patienten dabei zu unterstützen, die situativ erforderliche Selbstpflege zu

ermöglichen. 7

7 vgl. DENNIS, 2001, S. 31 - 36

Seite 12

Kulturelle Dimensionen der menschlichen Pflege von Madeleine M.

Leininger

Madeleine Leininger wurde am 13. Juli 1925 in Sutton, Amerika, geboren. Sie begann ihre

Karriere als Krankenschwester an der St. Anthonys School of Nursing in Denver und erhielt

1950 einen B.S. in Biologie mit den Nebenfächern Philosophie und Humanistik. Madeleine

Leininger eröffnete eine neue psychiatrische Abteilung als Direktorin des Pflegedienstes in

Omaha und erhielt 1954 den Magister für psychiatrische Krankenpflege. Darauf hin rief sie

das erste klinische Ausbildungsprogramm für psychiatrische Pflege ins Leben. Madeleine M.

Leininger promovierte 1959 mit dem Schwerpunkt auf kultureller und psychologischer

Anthropologie. An der Universität von Colorado hielt sie 1966 als Professorin für

Krankenpflege und Anthropologie die erste Vorlesung zum Thema transkulturelle

Krankenpflege. 1968 führte sie das Committee on Nursing and Anthropology (CONNA) bei

der Amerikanischen Anthropologischen Vereinigung ein und seit 1974 gibt es auf Grund ihrer

Initiative an den Universitäten Magister- und Doktorandenprogramme.8

Anfänge der Theorienentwicklung

Am Anfang der 60er Jahre waren viele Pflegepersonen von der Idee, eine Theorie der

kulturspezifischen Fürsorge zu entwickeln, vor den Kopf gestoßen. An den theoretischen

Grundlagen hatten nur wenige der leitenden Pflegekräfte Interesse, denn man sprach generell

nur sehr ungern über Pflegetheorien. Viele bezeichneten sie als unpraktisch, nutzlos,

unwichtig oder als Zeitverschwendung. Die Pflege in den 50er und 60er Jahren war vor allem

auf praktische, einfache und konkret medizinische Aktivitäten ausgerichtet und es wurde

meist kein Interesse für Theorien gezeigt. Den Pflegekräften war wichtig den Studierenden

medizinisch beschriebene Erkrankungen, Symptome und Behandlungen näherzubringen und

bei allem praktisch zu bleiben. Auf fast allen staatlichen, nationalen und internationalen

Kongressen dieser Zeit, war das Interesse für Pflegetheorien sehr begrenzt. Es fanden kaum

Diskussionen zum Thema statt und darum war es auch sehr schwierig, Pflegende zu

motivieren, über Pflegetheorien nachzudenken, ganz zu schweigen über eine kulturbezogene

Theorie der Pflege. Mitte der 60er Jahre wurden wissenschaftlich fundierte Studiengänge für

Pflegende eingeführt, und rückblickend kann man sagen, dass einige dieser Programme nicht

nur für Pflegewissenschaftler und für die Entwicklung formeller und informeller Theorien

wichtig waren, sondern auch für die systematische Forschung. Die Entwicklung der 8 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Madeleine_Leininger

Seite 13

Pflegetheorien wurde aber auch dadurch beeinflusst, dass die Ausbildung nun an Hochschulen

erfolgte. Vor allem Kurse in den Fächern Philosophie oder Sozialwissenschaften führten zu

einem Umdenken in der Pflege. Die Kurse waren aber auch wichtig, um den

Pflegetheoretikern zu ermöglichen ihre Ideen zu verbreiten und ein eigenes philosophisches

und theoretisches Verständnis von professioneller Pflege zu entwickeln. So wurden die

wichtigsten Pflegephänomene bestimmt und reflektiert, und die Disziplin Pflege und die

Entwicklung von Wissen lassen sich dadurch legitimieren. 9

Begriffsbestimmung und Entwicklung der Theorie

Madeleine Leininger verwendete, um den theoretischen Rahmen ihrer Theorie zu

beschreiben, ausgewählte Konstrukte aus der Anthropologie und die Fürsorge betreffend, aus

der professionellen Pflege. Diese zwei Konstrukte hat sie zu einer richtigen Einheit verwoben,

zu einem untrennbaren Ganzen oder auch zu einer Art Gestalt des Lebens. Sie stellte dabei

fest, dass sich die Fürsorge in jeder Kultur aus anderen Komponenten zusammensetzt. Die

Pflegenden können mit Hilfe von den verschiedenen Kulturspezifischen Formen, Strukturen,

Ausdrucksweisen und Mustern der Fürsorge, das Wohlbefinden sowie Gesundheit und

Krankheit der Menschen erkennen und erklären. Laut Madeleine Leininger war es nicht

richtig, die Pflege als eine isolierte Tätigkeit oder Handlung zu sehen, vielmehr war sie ein

abstraktes, intellektuell fassbares Phänomen, das über einzelne Tätigkeiten hinausragt. Es war

also unumgänglich die Dimensionen der Laien- und der professionellen Pflege in die

Konzipierung einer Wissenschaft der Fürsorge mit einzubeziehen. Es musste ein begrifflicher

Rahmen der kulturspezifischen Fürsorge erforscht werden, wobei jedoch das umfassende

pflegespezifische Wissen im Mittelpunkt stehen sollte. Es musste aber auch die Reichweite

der unzähligen Aspekte einbezogen, die Kultur-Perspektive verändert und die Definitionen

der Anthropologie neu erfasst werden, um eine sinnvolle und verständliche Formel zu

erlangen, die auch noch an spätere Generationen der Pflegekräfte weitergegeben werden kann.

Die Kultur und die Fürsorge wurden zu einem einzigen Konstrukt zusammengefügt, damit die

Pflegephänomene erklärt, gedeutet und zu Prognosen gemacht werden konnten. So konnte ein

neues Grundwissen der professionellen Pflege geschaffen werden.

Madeleine Leininger hat sich die Theorie der kulturspezifischen Fürsorge aber keineswegs

von der Anthropologie ausgeborgt, sie hat die Theorie neu entwickelt. Die Voraussetzung

hierfür war eine gründliche Analyse der Pflege, insbesonders die erkenntnistheoretischen und

9 vgl. LEINIGER, 1998, S. 40-42

ontologischen Dimensionen des Pflegewissens und dessen Einfluss auf das Wohlbefinden der

Menschen. Es gab also einen neuen Weg die Pflege zu studieren.

Will man die Wurzeln der Kultur erkennen, so benötigt man die Anthropologie, ist der

gewünschte Erkenntnisgegenstand die Fürsorge, wendet man sich an die Pflegewissenschaft.

Um für die Disziplin Pflege zu einem fundierten Wissen zu gelangen, entstand durch das

Konstrukt „Fürsorge und Kultur“, eine neue theoretische Möglichkeit.

Madeleine Leininger interessierte sich bei der Entwicklung ihrer Theorie aber auch dafür, wie

die kulturspezifische Fürsorge aus humanistischer Sicht begründet werden kann. Für sie

besteht Fürsorge darin, mit anderen Menschen zusammen zu sein, um ihnen bei Bedarf

beizustehen und um ihnen bei der Erhaltung des Wohlbefindens und der Gesundheit zu

helfen. Ausdrucksweisen wie Mitgefühl, Berührung, Trost, Unterstützung und viele andere

Fürsorgekonstrukte mussten vollständig neu erforscht und für die Umwelt verständlich

gemacht werden. Es bestand jedoch die Sorge, dass diese humanistischen Fürsorgebegriffe

übersehen, abgewertet oder falsch interpretiert werden könnten. Die Gefahr war groß, dass

diese Kennzeichen von Fürsorge zu leeren Worthülsen verkommen, wenn sie zum

Gegenstand der Forschung und der Theorie werden. Leininger unterstützt Aussagen wie zum

Beispiel, „Man muss nicht alles messen, um es zu verstehen“ oder „ Man muss nicht alles aus

einer logisch positivistischen Sicht studieren“. Die Grundsätze der Ethnopflege und der

Phänomenologie waren für Madeleine Leininger oft eine Unterstützung bei der Entwicklung

und Anwendung der Forschungsmethoden. Gleichzeitig war Leininger daran interessiert, was

der Begriff – wissenschaftlich fundierte Fürsorge – bedeutet und welche Art von Fürsorge

daraus resultiert. Beide Richtungen, sowohl die Humanistische als auch die

Wissenschaftliche, dienten ihr bei der Entwicklung ihrer Theorie. Und auf dieser Grundlage

formulierte sie folgende Definitionen:

„Mit dem Begriff humanistische Fürsorge bezeichnet sie das – möglichst natürliche oder

menschliche – Verständnis bzw. Wissen über die Menschen sowie die Bemühungen, ihnen

auf unterstützende, helfende, führende oder befähigende Weise beizustehen, damit sie

bestimmte Ziele realisieren, gesunde Lebensbedingungen erhalten und schädliche

Lebensweisen verändern, mit Pflegebedürftigkeit und dem Sterben besser umgehen können.

Ziel einer entsprechenden Theorie humanistischer Fürsorge ist es, die Menschen oder das,

was Menschen ausmacht, vorwiegend durch induktive Forschung zu verstehen. Im Gegensatz

dazu versteht sie unter dem Begriff „wissenschaftlich fundierte Fürsorge“ die präzise

Beschreibung, deduktiv hergeleiteter und logisch konsistenter Definitionen und empirische

Seite 14

Seite 15

Untersuchung der Faktoren, die Menschen helfen können, unter kontrollierten Bedingungen

eindeutig und klar Begriffe im Zusammenhang mit der Fürsorge zu überprüfen“. [LEININGER, 1998, S.54, Abs.1]

Madeleine Leininger stellte bei ihren Untersuchungen zu ihrer Theorie fest, dass die Begriffe

Fürsorge und Fürsorgen zum Teil unterschiedlich, aber auch synonym verwendet wurden. Für

sie war es jedoch wichtig, dass die professionelle Pflege sowie die Laienpflege die Bedeutung

der Begriffe, wenn auch nur begrenzt, berücksichtigen. Die Fürsorge wird in Sätzen wie: „Ich

leiste oder erbringe Fürsorge“ oder „Der Patient benötigt Fürsorge“, verwendet. In solchen

Sätzen wird der Begriff aber eher rhetorisch und als Klischee verwendet.

Der Begriff Fürsorgen bezeichnet meist Handlungen und wird in folgenden Formulierungen

verwendet: „Ich leiste den Patienten Pflegetätigkeiten“. Wie man sieht waren die

Bedeutungen und Verwendungen dieser Begriffe in der Pflege mehrdeutig und unklar und

mussten gründlich studiert werden. Es gab aber auch noch Verhaltensweisen wie „mangelhaft

fürsorglich“, „nicht fürsorglich“ oder „ nicht fürsorgend“ und auch die Bedeutung dieser

Begriffe mussten ebenso erkundet werden wie die der „menschlichen Fürsorge“ bzw. der

„guten Fürsorge“.

Nach der Theorie von Madeleine Leininger muss kulturspezifische Fürsorge in den

verschiedenen Kulturen unterschiedlich bezeichnet werden, aber auch verschiedene Inhalte,

Muster, Ausdrucksweisen, Funktionen und strukturelle Charakteristika aufweisen. Gerade

diese Unterschiede galt es zu beschreiben und zu untersuchen.

Trotz anfänglicher Zweifel ist die Theorie der kulturspezifischen Pflege inzwischen jedoch

weltweit anerkannt als eine Vorgabe zur Erforschung der erkenntnistheoretischen Grundlagen

für das pflegewissenschaftliche Wissen, das als Orientierung zur Erarbeitung zukünftiger

Pflegemethoden gilt. 10

10 vgl. LEININGER, 1998, S.46-57

Das Sunrise Modell

Das Sunrise Modell gibt einen Gesamtüberblick über die verschiedenen, aber doch eng

verbundenen Dimensionen der Theorie. Es soll dem Leser helfen die Dimensionen besser zu

verstehen. Viele Theoretiker verstehen den Begriff Modell, als ein abstraktes und allgemeines

System, beim Sunrise Modell ist das jedoch nicht der Fall. Es lässt sich viel mehr für sozial-

und naturwissenschaftliche Fragestellungen als Wegweiser nutzen und dabei werden auch

noch die Zusammenhänge, Bestandteile, Aspekte und wichtigsten Begriffe der Theorie auf

einen Blick erfasst. Madeleine Leininger möchte damit aufzeigen, dass dieser mit dem Modell

skizzierte Rahmen sowohl abstrakte als auch konkrete theoretische Aspekte enthält. Somit

verfolgt sie das Ziel, kulturspezifisches Fürsorgewissen und dessen Zusammenhänge induktiv

zu erforschen, zu erklären, zu interpretieren und dazu Prognosen zu machen. Dabei sollte die

Möglichkeit einer kulturkongruenten Pflege verstanden und entwickelt werden, um diese

Pflege auch zu gewährleisten. Verwendet man das Sunrise Modell um die Fürsorge zu

beschreiben, so müssen alle Einflüsse, die in der Abbildung dargestellt sind, beachtet werden.

Diese Dimensionen und Zusammenhänge der kulturspezifischen Fürsorge sind mit dem

menschlichen Organismus oder der Gesamtheit einer Kultur zu vergleichen - sie dürfen auf

keinen Fall isoliert, vereinzelt oder ohne Zusammenhänge betrachtet werden.

Der wichtigste Aspekt des Modells besteht jedoch darin, dem Forscher zu helfen, die

kulturelle Welt mit seinen unterschiedlichen Lebensäußerungen und Einflüssen auf die

menschlichen Lebensbedingungen zu verstehen.

Wenn jemand das Modell von Madeleine Leininger verwendet, ist es wichtig mit dem zu

beginnen, was einen interessiert und was man untersuchen möchte. Ein Forschungsprozess

kann also zu jedem beliebigen Zeitpunkt beginnen. Die meisten Forscher beginnen, für

gewöhnlich, mit der Dimension „Welt- und Wirklichkeitsverständnis“ und arbeiten sich vom

oberen zum unteren Teil des Sunrise Modells durch. Es ist aber auch möglich im unteren Teil

zu beginne, hier beginnt man mit der Erforschung, wie Pflegende einzelne Menschen und

Gruppen zu Hause oder im Krankenhaus pflegen, um dann langsam das Welt- und

Wirklichkeitsverständnis, die kulturspezifischen und soziokulturellen Dimensionen unter

Berücksichtigung der verwandtschaftlichen Verhältnisse, der religiösen Aspekte und anderen

Bereichen zu bearbeiten. Der Forscher sollte sich aber gleichzeitig auch auf seinen

eigentlichen Forschungsgegenstand konzentrieren, wofür er einen Forschungsplan

ausgearbeitet hat.

Wie schon erwähnt beginnen viele im oberen Teil des Sunrise Modells und untersuchen erst

nach und nach die professionellen und von den Laien organisierten

Seite 16

Gesundheitspflegesysteme. Es kann für den Pflegenden bzw. den Forscher beispielsweise sehr

interessant sein, welche Bedeutung eine mexikanisch-amerikanische Familie der Fürsorge

zuschreibt und welche Methoden der Pflege sie wertschätzen und praktizieren. In einem

solchen Fall konzentriert sich der Forscher zunächst auf die Familienmitglieder und in einem

zweiten Schritt wird er untersuchen inwieweit die Religion und spezielle kulturelle Werte und

Methoden möglicherweise die Gesundheit und das Wohlbefinden der Familienmitglieder

beeinflusst. Der Forschungsprozess ist solange fortzuführen, bis auch alle übrigen Faktoren

untersucht wurden.

Das Sunrise Modell ist aber auch dann nützlich, wenn man interessante abstrakte Phänomene,

wie zum Beispiel die Frage, welche Kontakte diese mexikanisch-amerikanische Familie

möglicherweise zu spirituelle Kräften aufnimmt und welche diesbezüglichen Überzeugungen

sich verfestigt haben, erforschen möchte. Der Forscher kann das Modell bei seinen

Untersuchungen flexibel anwenden und kreativ einsetzen und dabei aber für den

Untersuchungsgegenstand sensibel bleiben. Es muss sicher gestellt sein, dass sich der

Forscher auf seinen Untersuchungsbereich konzentriert und sich fortwährend an die

vorgefundenen natürlichen Situationen und an die mit Fürsorge, Gesundheit und anderen

Aspekten in Verbindung stehenden Vorstellungen der Informanten anpasst. Es bedarf aber

auch vorausgehender Informationen, denn ohne diese lassen sich Phänomene wie eine Kultur

oder eine Gemeinschaft nicht untersuchen. Dieses passive Wissen darf den jeweils neu in

Angriff genommenen Forschungsprozess nicht beeinflussen. Es kann durchaus vorkommen,

dass ein Forscher Ergebnisse aus der Literaturrecherche zu seinem Untersuchungsgegenstand

weglassen muss, da diese seinem Untersuchungsansatz wiedersprechen. Allerdings sind

Wissensbestände aus der Anthropologie hilfreich, wenn man schnell wissen muss, was

spezielle kulturspezifische Begriffe oder Gebräuche bedeuten.

Das von Madeleine Leininger entwickelte Sunrise Modell soll als einprägsamer Wegweiser

fungieren, der dem Forscher hilft, einen vollständigen und richtigen Zugang zu dem Wissen

zu erhalten, das die Menschen oder Informationen in Bezug auf die kulturspezifische Fürsorge

haben. Die Pfeile im Modell bezeichnen keine kausalen oder linearen Beziehungen und

sollen anzeigen, wo Einflüsse wirken oder zu vermuten sind. Sie zeigen die verschiedenen

Bereiche, die zu beachten sind und symbolisieren Querverbindungen, die zwischen den

Faktoren bestehen. Die gestrichelten Linien sollen angeben, dass es sich um offene Bereiche

oder lebendige Systeme handelt. Der obere Teil des Modelles ist besonders wichtig, jedoch

stellt er für die Pflegenden oft gewaltige Schwierigkeiten dar. Und zwar aus folgendem

Seite 17

Seite 18

Grund: Dieser Teil legt nahe zu untersuchen, was an Unterschwelligem, Weitreichendem und

Bedeutsamen hinsichtlich der menschlichen Fürsorge gegeben ist. Es genügt dem Forscher

nicht mehr nur über Wissen professioneller Pflege zu verfügen, sondern er muss auch zeigen,

welche sozial-, geistes- und humanwissenschaftlichen Kenntnisse er hat. Heutzutage werden

zum Glück viele der Pflegenden an Hochschulen ausgebildet und verfügen über ein breites

Allgemeinwissen, das sie auch in entsprechenden Forschungsvorhaben verwenden können.11

11 vgl. LEININGER, 1998, S.76-82

Abb.1: Sunrise Modell

Seite 19

Hauptmerkmale der Pflegeethnographie

Um darauf hinzuweisen, dass es bei dieser Methode um die Menschen bzw. um eine

bestimmte Kultur geht und dabei das Welt- und Wirklichkeitsverständnis, die Vorstellung und

die kulturellen Praktiken im Blickpunkt stehen, wählte Madeleine Leininger den

Wortbestandteil „ethno“. Die Methode wurde entwickelt damit die Pflegenden besser

verstehen, welche Bedeutung die alltäglichen Erfahrungen der Menschen bezüglich der

Fürsorge, der Gesundheit und des Wohlbefindens in unterschiedlichen Umweltkontexten

haben. Madeleine Leininger hatte in den 60er Jahren die Möglichkeit durch die Ethnographie

bzw. Ethnologie tiefe Einblicke in die verschiedenen Möglichkeiten des Studiums und der

Untersuchung von Menschen zu erlangen. Diese Einblicke dienten als Grundlage für die

Entwicklung der Pflegethnographie zu einer Forschungsmethode. Einer der Gründe zur

Entwicklung der pflegeethnographischen Forschungsmethode war die Klärung, was

menschliche Fürsorge ausmacht, was das Wohlbefinden und was die Gesundheit von

Menschen kennzeichnet und was schlechte Fürsorgepraktiken sind. Das biopsychisch und

psychokulturell ausgerichtete Fürsorgeverständnis besagte, dass neue Einsichten in die

verschiedenen Kulturen gewonnen werden mussten. Die professionelle Pflege sollte damit

eine Disziplin mit humanistischem und zugleich wissenschaftlichem Verständnis werden.

Zur Erarbeitung der Methode war ein Ansatz erforderlich, der sich drastisch und radikal von

den traditionellen Paradigmen unterschied. Es sollte aufgezeigt werden, wie die Dinge

wirklich waren und wie Menschen ihre Welt verstehen und in ihr leben. Der Forscher muss

unmittelbar und unverfälscht-natürlich beobachten, als Teilnehmer selbst Erfahrungen

machen, diese reflektieren und zusammen mit den betreffenden Menschen Beobachtungen

und Mitteilungen überprüfen. Hierbei muss sich der Forscher jedoch für einen gewissen

Zeitraum in eine, für ihn unbekannte Welt begeben und mit den jeweiligen Menschen „leben“,

um aus erster Hand und unverfälscht den Kontext und die Umwelt zu erlernen.

Zentral geht es bei diesem Ansatz darum, die Welt der Informationen zu entdecken, um auf

diesem Weg kaum oder gar nicht bekannte Vorstellungen von menschlicher Fürsorge zu

erforschen. Die Vorstellungen der Befragten Personen sollten sensibel und

verantwortungsvoll behandelt werden und ihre Ideen müssen interpretiert werden. Dabei soll

geklärt werden, warum der Informant solche Ansichten hat und diese entsprechend lebt und

welche Faktoren auf die Phänomene Einfluss haben. 12

12 vgl. LEININGER, 1998, S. 105-109

Grundlagen zur Erforschung der menschlichen Fürsorge

Madeleine Leininger spricht von Grundlagen, weil sie den Begriff Instrumente nicht mag, da

er für sie zu unpersönlich und zu mechanisch ist. Sie lehnt aber auch die Vorstellung ab, die

den Forscher als Instrument darstellt, denn auch dies klingt nach einem kalten, distanzierten

Ermittler. Die in den folgenden Modellen erwähnten Grundlagen sind kongruent mit dem

qualitativen Paradigma des pflegeethnographischen Forschungsansatzes, mit dem sich die

kulturspezifische Fürsorge erklären lässt.

Das Modell „Vom Fremden zum Freund“

Madeleine Leininger hat dieses Modell aus philosophischer Überzeugung entwickelt. Denn

der Forscher sollte immer zu aller erst seine persönliche Einstellung zu den Menschen, die er

untersuchen möchte, beurteilen und abwägen, um so eine Beziehung zu der Situation

aufbauen zu können. Man ist damals davon ausgegangen, dass der Forscher, um für seinen

Untersuchungsgegenstand Daten zu erhalten, die Rolle eines Fremden gegen die Rolle einer

vertrauten Person eintauschen muss. Madeleine Leininger vertrat die Meinung, dass der

Forscher zu erst Vertrauen schaffen muss, bevor er in der Lage ist glaubwürdige und genaue

Daten zu erhalten. Denn die betroffenen Personen sehen den Forscher am Anfang noch als

ethisch Fremden, als Außenseiter, den sie hinsichtlich seiner Handlungen, Motive und

Verhaltensweisen beobachten müssen. Solange er für die bertoffenen Menschen ein

unvertrauter Fremder ist, sind sie sehr unwillig, ihre Vorstellungen mitzuteilen, denn die

kulturellen Informanten müssen sich selbst und ihr Volk schützen.

Das Modell „Vom Fremden zum Freund“ verfolgt das Ziel, dem Forscher

Beurteilungskriterien und Orientierungshilfen zu geben, um sich der eigenen Gefühle,

Verhaltensweisen und Antworten bewusst zu werden, wenn er mit der Datensammlung

beginnt. Es kann aber auch als Maßstab für den Fortschritt verwendete werden, den der

Forscher bei seinen Bemühungen, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, ansetzt. Denn

der eine gewinnt das Vertrauen schneller als der andere.

Dort wo Pflegende Pflegephänomene erforschen, seien es stationäre Einrichtungen, als auch

ambulante Pflegedienste oder andere Stellen, hat sich das Modell als überaus nützlich

erwiesen. Es ist jedoch wichtig, dass sich der Forscher sein eigenes Verhalten bewusst macht

und die Menschen, die er untersucht, genau beobachtet.

Vor allem wenn Pflegende das Verhältnis „Pflegender-Klient“, „Pflegender-soziale Gruppen“

oder „Pflegender-Familie“ im stationären oder ambulanten Bereich untersuchen wollen, dient

das Modell „Vom Fremden zum Freund“ als sinnvolle Grundlage.

Seite 20

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Dem Forscher werden hier die verschiedenen Indikatoren bewusst gemacht, die sich für diese

Zusammenhänge als bedeutsam erwiesen haben und er lernt mit diesem Modell

einzuschätzen, welchen Fortschritt er bezüglich dem Vertrauen der Menschen gemacht hat.

Dazu muss er aber für das verbale Feedback und für die Antworten der betroffenen Personen

sensibel bleiben. Dieser Teil der Grundlagen kann in allen humanistischen und qualitativen

Studien Anklang finden und deshalb verwenden auch viele andere Forscher das Modell, wenn

sie Untersuchungen durchführen. Das Modell erleichtert also den Forschungsprozess, indem

er den Forschern hilft, ein besseres Verhältnis zu den Menschen aufzubauen.

Das Beobachtungs-Teilnahme-Überlegungs-Modell

Das Modell stammt aus dem traditionellen Teilnahme-Beobachtungsmodell der

Anthropologie, nur hat Madeleine Leininger zusätzlich noch den Aspekt der Überlegung

hinzugefügt, damit das Modell der Philosophie, dem Zweck und dem Ziel der

Pflegeethnographie gerecht wird. Dadurch, dass das B-T-Ü-Modell den Prozess umkehrt,

unterscheidet es sich grundlegend vom konventionellen Ansatz. Der Forscher soll hier für

eine gewisse Zeit nur der Beobachter sein und erst später zum aktiven Teilnehmer werden.

Die Phase der Überlegung dient dem Forscher dazu, Daten zu erhalten, die gleichermaßen

wichtig und relevant sind. Diese Reflexion findet zwar während des gesamten

Forschungsprozesses statt, doch ist diese in der letzten Phase besonders wichtig. Der Forscher

wird mit diesem Modell dabei unterstützt Menschen näher zu kommen, deren gesamten

Kontext zu studieren und von ihnen neue Daten zu erhalten. Die Phase der Beobachtung ist

für die meisten Pflegeforscher die schwierigste des Modells. Denn für viele ist es schwer,

zuerst zu beobachten, da sie dies als aktiv Tätige nie gelernt haben und handeln möchten.

Die beobachteten Phänomene oder wahrgenommenen Vorstellungen zu reflektieren, hilft den

Pflegenden, die kontextuellen Aspekte der Forschung zu überdenken bevor sie eine Idee

erklären. Zum Abschluss der Studie soll der Forscher gemeinsam mit den

Schlüsselinformanten die Ergebnisse überprüfen und sie von ihnen bestätigen lassen.

Die drei Phasen des B-T-Ü-Modells gewährleisten die exakte Beobachtung und Interpretation

der Ergebnisse und sind so wichtige Merkmale der pflegeethnographischen

Forschungsmethode. 13

13 vgl. LEININGER, 1998, S. 120-125

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Die Transkulturelle Kompetenz von Dagmar Domenig

Dagmar Domenig absolvierte an der Universität Bern das Studium der Jurisprudenz und

machte an der Lindenhof Schule, ebenfalls in Bern, die Ausbildung zur dipl. Pflegefachfrau.

Als Zweitstudium wählte sie Ethnologie mit anschließender Promotion und Dagmar Domenig

absolvierte weiters eine Ausbildung zur dipl. Nonprofit-Managerin. Seit 1997 veröffentlichte

sie diverse Publikationen und hatte immer wieder Lehraufträge zu transkultureller

Kompetenz, Migration und Gesundheit sowie Medizinethnologie. Von 1998 bis 2000 leitete

sie das Forschungsprojekt „Migration und Drogen“ am Institut für Sozialanthropologie der

Universität Bern. In den Jahren 2001 bis 2006 war sie Leiterin des Fachbereiches Bildung und

Gesundheitsförderung des Zentrums für Migration und Gesundheit des Schweizerischen

Roten Kreuzes in Bern und in dieser Funktion verantwortlich für diverse Projekte im Bereich

Migration und Gesundheit. Seit 2007 leitet sie das Department Gesundheit und Integration des

Schweizerischen Roten Kreuzes. 14

Einleitung zum Thema Gesundheit und Migration In den vergangenen Jahren haben die Themen Migration und Gesundheit immer mehr an

Bedeutung gewonnen. Dabei spielt vor allem der Wandel der Wahrnehmung der

Zusammenhänge eine wichtige Rolle. So wurden in den 1990er Jahren vor allem die

mitgebrachten gesundheitlichen Belastungen der Migranten und die dafür fehlenden

Behandlungsmöglichkeiten in den Aufnahmeländern fokussiert. Heute jedoch liegt das

Hauptaugenmerk auf einer differenzierten Betrachtung der strukturellen Rahmenbedingungen,

mit denen die MigrantInnen vor, während und nach der Migration konfrontiert sind. Es wurde

hierbei festgestellt, dass die Menschen, die in die westlichen Industriestaaten migrieren, in

besserer gesundheitlicher Verfassung sind, als ihre Landsleute, die zurückbleiben.

Gleichzeitig ist der Gesundheitszustand von MigrantInnen in den Aufnahmeländern von

größerer Belastung geprägt als derjenige der einheimischen Bevölkerung. Vor allem die

häufig schlechten Lebensbedingungen der MigrantInnen und die Migrationserfahrung sind

hier ausschlaggebend. Es muss also ein vertieftes Verständnis ihrer Biographien und

Lebenswelten gegeben sein, um den Kontext von Gesundheit und Krankheit auch wirklich

adäquat erfassen und Rückschlüsse auf gesundheitliche Belastungen ziehen zu können. 15

14 vgl. DOMENIG, 2007, S.560 15 vgl. DOMENIG, 2007, S. 140

Zusammenhänge von Migration und Gesundheit Für die Weltgesundheitsorganisation WHO ist Gesundheit nicht alleine die Abwesenheit von

Krankheit, sondern auch «.... ein positives Konzept, das die Bedeutung sozialer und

individueller Ressourcen für die Gesundheit ebenso betont wie die körperlichen Fähigkeiten»

[WHO, 1986:1]. Darüberhinaus werden folgende Bereiche als wesentliche Voraussetzungen

erachtet: «Grundlegende Bedingungen und konstruierende Momente von Gesundheit und

Wohlbefinden sind Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, ein

stabiles Ökosystem, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen, soziale

Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Jede Verbesserung des Gesundheitszustandes ist

zwangsläufig fest an diese Grundvoraussetzungen gebunden» [WHO, 1986:1]. Dies bedeutet,

dass sich, sobald eine oder mehrere Voraussetzungen fehlen, der Gesundheitszustand der

Menschen verschlechtert. Werden die Lebensbedingungen und –welten von MigrantInnen

betrachtet so stellt man fest, dass diese Menschen an einem Mangel wesentlicher Merkmale

eines gesunden Lebens leiden. Schon seit Jahren zeigen internationale Forschungen, dass sich

der Gesundheitszustand der MigrantInnen von dem der einheimischen Bevölkerung

unterscheidet.

In einer Studie für die Schweiz wird dargestellt, in welchen Bereichen sich die Unterschiede

besonders deutlich zeigen.

• Allgemeines Wohlbefinden: Im Gegensatz zu den Schweizern klagen MigrantInnen

häufiger über Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Müdigkeit sowie Rückenprobleme.

Jedoch ist über das psychische Befinden kaum etwas bekannt.

• Frauen: Migrantinnen fühlen sich kränker als die Schweizer Frauen und ihre

eingewanderten männlichen Landsleute.

• Kinder: Vor allem bei Kindern von Frauen die sich nur kurz in einem anderen Land

aufgehalten haben, ist die perinatale Mortalität überdurchschnittlich hoch.

• Psychosoziales Wohlbefinden: Flüchtlinge und Asylanten leiden oft weniger an

körperlichen Erkrankungen, als an den Folgen der Traumatisierung.

• Tuberkulose: Besonders bei Asylsuchenden sind Tuberkuloseerkrankungen sehr

häufig.

• Unfälle: MigrantInnen haben ein sehr stark erhöhtes Unfallrisiko und eine

dementsprechend erhöhte Invaliditätsrate.

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Im Laufe der Zeit verändert sich jedoch der Gesundheitszustand der MigrantInnen. Hierbei

werden drei wesentlichen Faktoren unterschieden, welche die Gesundheitsverfassung von

MigrantInnen prägen:

1. Die Lebenserfahrung und die damit verbundenen gesundheitlichen Verfassungen, die

MigrantInnen mitbringen.

2. Die sogenannten „Übergangswelten“, während der Migration und in der ersten Zeit

nach der Ankunft in dem Aufnahmeland.

3. Die langfristigen Risikofaktoren, denen die MigrantInnen in den Aufnahmeländern

ausgesetzt sind.

Das Gesundheitspersonal wird häufig vor große Herausforderungen gestellt, da die

MigrantInnen oft nicht nur an einzelnen konkreten somatischen Erkrankungen leiden, sondern

auch zahlreiche diffuse Symptomkomplexe angeben. Die zentralen somatischen Beschwerden

lassen sich zwar gut diagnostizieren und behandeln, aber für die darum herum gruppierten

und zusammenhängenden Symptome, als Ausdrucksform für ganzheitliches soziales Leiden,

fehlt meist der Zugang zu den Lebenszusammenhängen.

Die körperliche Ausdrucksform des Leidens ist für die MigrantInnen jedoch oft die einzig

mögliche Kommunikationsform. Daraus resultiert eine beidseitige Sprachlosigkeit, die auf

ein sprachliches und kulturelles Verständigungsproblem reduziert wird. Die strukturellen,

sozial- und gesellschaftspoltischen Bedingungen, die die Begegnungen von Pflegepersonen

und MigrantInnen maßgeblich mitbestimmen, bleiben dabei im Hintergrund. 16

Das Konzept der transkulturellen Kompetenz

Auf den Stationen, in den Polikliniken und auch in den ambulanten Diensten und Praxen

werden Fachpersonen im Gesundheitswesen mit MigrantInnen konfrontiert, deren soziale

Praxis und Wertvorstellungen oft als fremd empfunden werden und die Pflegenden in Folge

dessen verunsichern. Routinehandlungen werden zu neuen Herausforderungen und Bekanntes

wird in Frage gestellt. Die Entwicklung von alternativen Herangehensweisen wird durch

Zeitnot, Arbeitsbelastung und mangelnde transkulturelle Kenntnisse erschwert. Als zentrale

Probleme werden von den Pflegenden folgende angegeben:

° Sprachbarrieren,

° das Frau-Mann-Verhältnis,

° Ausdrucksformen für Schmerz,

° der „viele“ Besuch.

16 vgl. DOMENIG, 2007, S. 153 - 155

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Diese Probleme betreffen vor allem die Pflegeperson selbst bzw. die Durchführung ihrer

Arbeit. Was jedoch anscheinend wenig im Vordergrund steht, ist wie MigrantInnen den

Spitalaufenthalt erleben, wie sie sich aufgenommen und sie sich von den Pflegefachkräften

ernstgenommen fühlen.

Es ist meist nicht die Migrationsgeschichte, die den gewohnten Handlungsablauf im

Berufsalltag stören, sondern die sichtbaren Sprachbarrieren. Mit dem beherrschen der lokalen

Sprache wird der Grad der Integration beurteilt. Das bedeutet, je mehr Sprachkenntnisse

MigrantInnen haben, umso besser sind sie vermeintlich integriert und desto weniger muss

migrationsspezifisch auf sie eingegangen werden. Vor allem Migrationskinder, die die lokale

Sprache beherrschen, werden meist nicht mehr als Migranten mit besonderen Bedürfnissen

gesehen. Sprachbarrieren stellen in manchen Fällen eine unüberbrückbare Hürde da, doch

sollte immer darauf geachtet werden, dass MigrantInnen und besonders Migrationskinder

Anspruch auf migrationsspezifisch angepasste und situationsgerechte Behandlungen haben.

Auf Grund der mangelnden Sprachkenntnisse wird diesem in der Praxis oft nicht

entsprochen. 17

Der Begriff der Transkulturalität

Nach wie vor ist es kein einheitlicher Begriff: Es wird von multikultureller, transkultureller

oder interkultureller Pflege gesprochen.

Multikulturalität basiert auf der Multikulturalitätsdebatte, welche von einem friedlichen

Nebeneinander verschiedener Kulturen ausgeht.

Interkulturalität betont die Begegnung einzelner Kulturen miteinander und zeigt mögliche

Reibungsflächen auf.

Transkulturalität stellt das Grenzenüberschreitende und Gemeinsame in den Vordergrund. Es

ist jedoch ein sehr widersprüchliches Konzept, da man einerseits die Einzelkulturen kritisiert

und andererseits trotzdem auf dem Begriff Transkulturalität beharrt, der die Existenz von

Kulturen aber voraussetzt. Transkulturalität soll die fortdauernde Existenz der Einzelkulturen

und auch den Übergang zu neuen, transkulturellen Formen der Kulturen symbolisieren.

Bei der Transkulturalität sollte nicht nur auf Unterschiede sondern auch auf Gemeinsamkeiten

geachtet werden und ein gegenseitiges aufeinander Zugehen und Verstehen ist unumgänglich.

Das Konzept entsteht zwischen Menschen und so enthält es auch Aspekte der

Interaktionsdynamik. Transkulturalität kennt keine festen Grenzen, keine absolut gültige

universale und keine allgemein gültige kognitive Rationalität und entsteht somit in einem

17 vgl. DOMENIG, 2007, S. 166

Seite 26

narrative Empathie

gegebenen Zeitabschnitt und in bestimmten Situationen immer wieder neu. Im Kern besteht

Transkulturelle Kompetenz aus einer transkulturell kompetenten Interaktionsfähigkeit im

Migrationskontext. Die Interaktionsfähigkeit stützt sich hier auf drei Säulen:

• Selbstreflexion

• Hintergrundwissen und Erfahrung

• Narrative Empathie

Zu aller erst müssen Pflegekräfte lernen ihre eigenen Lebenswelten in einem selbstreflexiven

Prozess wahrzunehmen und erst danach sind sie in der Lage die Lebenswelten der

MigrantInnen zu verstehen. Aber auch das Sammeln von Erfahrungen und ein fundiertes

Hintergrundwissen helfen die Geschichten der MigrantInnen besser nachvollziehen zu

können. Narrative Empathie achtet auf eine wertschätzende, respektvolle Haltung gegenüber

MigrantInnen und stellt Narrationen in den Mittelpunkt der Behandlung und Pflege. Die

Selbstreflexion auf der einen Seite und narrative Empathie auf der Anderen ermöglichen eine

gute Beziehungsgestaltung und den Einbezug individueller Lebenswelten. Das

Hintergrundwissen und die Erfahrungen tragen bei Pflegepersonen nicht nur zu einer

Sensibilisierung bei, sondern auch zu einer erhöhten Selbst-Bewusstheit. In Verbindung mit

narrativer Empathie bewirken sie aber auch eine Ausweitung der Anamnese auf Illness-

Erklärungsmodelle und die daraus resultierenden Aushandlungsprozesse über Diagnose und

Bezeichnung, sowie Ursache und Behandlung einer Krankheit. 18

Illness-Erklärungsmodelle, Aushandlungsprozesse

18 vgl. DOMENIG, 2007, S. 172-175

Inter-aktion

SelbstreflexionHintergrundwissen, Erfahrung

Individuelle Lebenswelten, Beziehungsgestaltung

Sensibilisierung, Selbst-Bewusstsein Abb.2: Transkulturelle Kompetenz

Die Vermittlung transkultureller Kompetenz

Gesundheitsberufe sind vorwiegend eine praxisorientierte Disziplin und keine rein

akademisch-wissenschaftliche. Daher interessiert der theoretische Hintergrund die

Fachpersonen oft wenig, vielmehr aber die praktische Handlungsebene. Pflegetheorien haben

generell eine praktisch ausgerichtete Ebene, die sich zum Ziel setzt, Handlungsvorschläge für

ein vorhersehbares Verhalten aufzuzeigen. Um bestimmte, generell gültige Pflegehandlungen

abzuleiten, kreieren Pflegetheorien Modelle, die das Verhalten der Menschen identifizieren.

Der deskriptive Ansatz der Ethnologie sagt das Verhalten nicht voraus, er versucht die Sicht

der Betroffenen zu beschreiben, dies führt jedoch häufig zu Vermittlungsschwierigkeiten. Die

Ethnologie hat das Problem, das sie auf Fragen der Fachperson nicht generell antworten kann,

wodurch es zu Frustrationen kommen kann. Für die Ethnologie besteht also die Gefahr, als

Randdisziplin in den Ausbildungen marginalisiert zu werden. Die unterschiedlichen

Herangehensweisen und Paradigmen müssen von der Ethnologie berücksichtigt werden, denn

gerade wegen der verschiedenen Denkweisen besteht in der Vermittlung ethnologischer

Inhalte immer die Gefahr, anstatt den ethnologischen Blick zu schulen, Stereotypisierungen

und Kulturalisierungen Vorschub zu gewähren. Wie das theoretische Wissen der Ethnologie

weitervermittelt werden kann, ohne als Randgebiet zu gelten oder auf Kochrezepte reduziert

zu werden, und wie Pflege- bzw. Fachpersonen individuelle migrationsbedingte und

soziokulturelle Hintergründe entdecken und angemessen darauf reagieren können, ist eine

grundlegende Frage die sich der Ethnologie stellt und deren Antwort wohl nur in dem

Kontext der Pflege und anderer Gesundheitsberufe gefunden werden kann.

Doch vor allem im Bereich Bildung in der Pflege, ist in den letzten Jahren in der Schweiz

einiges initiiert worden. Zum Beispiel unterrichtet das Schweizerische Rote Kreuz schon seit

Jahren das Thema transkulturelle Kompetenz für Gesundheitsberufe und orientiert sich dabei

am Konzept der transkulturellen Kompetenz. Es gibt bereits viele methodisch-didaktische

Ansätze und Empfehlungen zur Vermittlung der transkulturellen Kompetenz. Sue et al. Haben

zum Beispiel das Tripartite-Modell entwickelt.

Dieses Modell umfasst folgende Bereiche:

° Kognitive Ebene (Wissen),

° Affektive Ebene (Haltung, Wertvorstellung),

° Verhaltensebene (Fähigkeiten, Fertigkeiten, Instrumente).

Etwas später wurde aber auch noch eine vierte Ebene hinzugefügt,

• die Ebene der Macht und Machtbeziehungen.

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Um die Behandlung von MigrantInnen zu verbessern muss es nicht nur um eine

Verhaltensänderung, sondern auch um eine Verhältnisänderung gehen. Dafür sind, in der

Aus- und Weiterbildung, die Mikroebene (Fachperson/Patient) ebenso wie die Makroebene

(System/Patient) eine grundlegende Voraussetzung.19

Die Verankerung transkultureller Kompetenz in der Aus- und Weiterbildung

Da eine professionelle Pflege auch auf die Bedürfnisse der MigrantInnen angepasst werden,

und eine situationsgerechte Pflege einschließen muss, ist die Transkulturelle Kompetenz ein

Teil der professionellen Pflege. Es ist daher nicht Sinn der Sache für MigrantInnen ein

spezifisches Pflegemodell zu schaffen, sondern vielmehr darum, die transkulturellen

Dimensionen in die bestehenden Konzepte einzubinden. Viele der Konzepte verfügen jedoch

bereits über transkulturelle Dimensionen, wenn auch nicht explizit. Auch in vielen

Schlüsselqualifikationen für Gesundheitsberufe sind implizite Aussagen zur transkulturellen

Kompetenz enthalten. So auch in den Schlüsselqualifikationen für die gültige

Diplomausbildung in Gesundheits- und Krankenpflege des Schweizerischen Roten Kreuzes:

• „Pflegesituationen im gesamten und in ihren Elementen wahr zu nehmen und zu

beurteilen,

• auf Grund von Prinzipien ein breites Repertoire an Methoden und Techniken

einzusetzen,

• sich situationsgerecht, verständlich und differenziert auszudrücken,

• ethische Grundhaltungen zu entwickeln und sie in der konkreten Situation zu

vertreten,

• aus einer Grundhaltung der Wertschätzung heraus mit anderen zusammenarbeiten,

• für Veränderungen und Neuerungen offen sein.“

Um MigrantInnen situationsgerecht zu pflegen und verständlich und differenziert mit ihnen zu

kommunizieren muss man sich die notwendigen Voraussetzungen aneignen. Von der Pflege

wird kein monokulturelles Konzept erwartet, vielmehr eine große Flexibilität und ein, wie

schon erwähnt, breites Repertoire an Methoden und Techniken. Es können aber nicht alle mit

den gleichen Methoden pflegen, schon alleine deshalb, weil Arbeitsinstrumente meist auf

Grund von Studien und Theorien entwickelt wurden, die in unterschiedlichen Ländern gelten.

Da MigrantInnen ständig der Gefahr von Rassismus und Diskriminierungen ausgesetzt sind,

erlangt die Entwicklung von ethischen Grundlagen eine spezielle Bedeutung. Auch wenn

Professionalität transkulturelle Kompetenz mit einschließt, ist es wichtig spezifische

19 vgl. DOMENIG, 2007, S. 184-186

Seite 29

Schlüsselqualifikationen oder Handlungskompetenzen auch explizit zu definieren. In der

Schweiz wurde zum Beispiel im Rahmen eines Projektes des Bundesamtes für Gesundheit

versucht, transkulturelle Handlungskompetenzen zu definieren. Diese Kompetenzen sollen

den Gesundheitsberufen als Grundlage für die Implementierung von transkulturellen

Lerninhalten dienen.

Aber auch im englischsprachigen Raum gibt es einige Modelle mit ähnlichen Grundgerüsten,

ein Beispiel hierfür währe das in England entwickelte ACCESS-Modell oder das in den USA

entwickelte LEARN-Modell. Die Beiden listen die wichtigsten Lerninhalte auf, sollen aber

auch als Anregung für die Entwicklung eigener, transkultureller Kompetenzmodelle dienen.

Das ACCESS-Modell und LEARN-Modell

• Assessement: Hier soll sich der Fokus auf die kulturellen Aspekten der Lebensstile,

Gesundheitsvorstellungen und Gesundheitspraktiken richten.

• Communication: Es soll ein Bewusstsein für Variationen in verbalen Antworten und

nonverbalen Reaktionen geschaffen werden.

• Cultural Negotiation and compromise: Es wird ein Bewusstsein über Kulturen und

Religionen geschaffen, aber auch das Verständnis der Patientensicht und ihrer

Problemerklärungen wird gefördert.

• Establishing respect and rapport: Eine therapeutische Beziehung, die echten Respekt

vor den kulturellen und religiösen Glaubens- und Wertvorstellungen aufweist, wird

etabliert.

• Sensitivity: Hier ist es wichtig den verschiedenen Gruppen eine kulturell sensitive

Behandlung zukommen zu lassen.

• Safety: Die Patienten werden befähigt, ein Gefühl von kultureller Sicherheit

abzuleiten.

Nun zum LEARN-Modell:

Listen: Man sollte mit Sympathie zuhören und die Sichtweise der Patienten für das Problem

verstehen.

Explain: Die eigene Wahrnehmung des Problems muss erklärt werden.

Acknowledge: Es werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten anerkannt und diskutiert.

Recommend: Eine Behandlung wird empfohlen.

Negotiate: Eine Vereinbarung aushandeln. 20

20 vgl. DOMENIG, 2007, S. 181-184

Die Bedeutung der leiblichen Kommunikation in Kontext transkultureller Pflege

So lange der Mensch lebt ist er auch leiblich und natürlich gibt es kulturelle Überformungen

der Leiblichkeit. Durch die sogenannte Sozialisation lernen die Menschen sich in bestimmten

Situationen angemessen zu verhalten. Das die Menschen selbst ihre Leiblichkeit ständig

umformen, lässt sich an ihren Manieren, Benehmen und der Haltung erkennen. Die Menschen

verwenden andere Zeichen und Symbole, essen und trinken Verschiedenes, wählen andere

Kleidung und doch sind sie in ihrer Leiblichkeit weitgehend die Gleichen. Man kennt

unterschiedliche Anlässe um Angst zu haben und ist auf unterschiedliche Weise krank. Trotz

gemeinsamer leiblicher Basis gibt es so vielfältige Unterschiede. Jedoch lassen sich all diese

Phänomene mit der Theorie der Leiblichkeit erhellen.

Um sich zu entspannen gibt es viele Möglichkeiten, die einen hören Mozart oder Vivaldi, die

anderen orientalische Klänge oder den Sprechgesang der Koransuren. Entspannung bedeutet

die Enge aus meinem Leib zu entfernen und Weite zu schaffen, sich innerlich auszudehnen.

Und auch der Schreck ist für jeden Mensch, egal welcher Herkunft und Nationalität eine

engende Erfahrung.

Was heißt es also zum Beispiel, wenn ältere MigrantInnen, die sich bereits in einem

Altenheim befinden, Heimweh haben?

Bei Heimweh handelt sich um eine Sehnsucht nach einem anderen Ort und einer anderen Zeit,

die man leiblich als ein Wegstreben und gleichzeitig Bei-sich-sein-wollen spürt. Es kann

dadurch zu einer Mischung aus Spannung und Schwellung kommen, wobei nicht mehr essen

können, seltsame Leibschmerzen oder Apathie äußere Erscheinungen sein können. Häufig

wird ein Stück Heimat mit Gefühlen wie Vertrauen, Gewohnheit oder Geborgenheit

assoziiert. So kann etwa ein Glas mit süßem Schwarztee, eine heiße Suppe zu Mittag oder ein

orientalisches Gewürz Heimat vermitteln.

Was haben nun die Qualitäten süß, heiß und orientalisch gemeinsam? Die betroffenen

Personen sollen sich wieder Weitung verschaffen können und dadurch ihre leibliche

Ökonomie wieder ins Gleichgewicht bringen. Aber es soll auch der jeweilige Lebensrhythmus

mit dem sie umgebenden in Einklang gebracht werden. Es entstehen dadurch Sensationen des

Geborgenseins, die im transkulturellen Verständigungsprozess von großer Bedeutung sind.

Bei der leiblichen Ökonomie sollten die Qualitäten also im Gleichgewicht bleiben, dass heißt

sie ist labil, ständig in Bewegung und von außen beeinflussbar. Der Leib geht über die

Körpergrenzen hinaus und steht immer in Verbindung mit den ihn umgebenden Medien. Doch

wie funktioniert nun leibliche Kommunikation?

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Kanäle der leiblichen Kommunikation

Um leiblich zu kommunizieren gibt es viele verschiedene Wege und wie wichtig dieses

Thema für die Pflege ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, was in einer

pflegerischen Interaktionssituation eigentlich geschieht:

Es begegnen sich mindestens zwei Menschen, die mit einander sprechen und vielleicht auch

Körperkontakt haben. Der Blick, die Stimme und der Händedruck gelten dabei als Medien für

Mitteilungen auf leiblicher Ebene.

Der Blick kann einen Menschen fesseln, überwältigen, bannen, zum Schweigen bringen oder

fast umbringen. Blicke können fast soviel wie eine bewaffnete Armee. Um ängstliche

Patienten, zum Beispiel auf dem Weg in den Operationssaal, zu beruhigen ist der warme

Blick einer Pflegeperson von großer Bedeutung. Eine Aufklärung über den folgenden Eingriff

wäre in dieser Situation eher unangebracht. „Blicke sagen mehr als tausend Worte“, dieses

alte Sprichwort kann hier durchaus wörtlich genommen werden.

Die Stimme ist neben dem Blick auch eine Anschlussstelle für die leibliche Kommunikation.

Um jemanden aus der Fassung zu bringen, aufzureizen oder zu beruhigen kommt es nicht auf

das Gesagte an, sonder vielmehr auf die Stimme selbst. Dafür gibt es genügend Beispiele: das

Vorlesen von Gutenachtgeschichten, das Singen von Schlafliedern, das gemeinsame

Tischgebet, das in vielen Religionen Brauch ist oder der Fernseher, der einem durch Stimmen

und Bewegungen das Gefühl gibt nicht alleine zu sein. Man kann sich aber auch in einen

Patienten hineinversetzen der sich in einer fremden Umgebung befindet. Fremd in Hinblick

auf die unbekannten Menschen, die Sprache, aber auch den eigen Körper, der einem fremd

geworden ist. In solch einer, im Krankenhaus, fast alltäglichen Situation tut es oft gut, wenn

jemand auf leiblicher Ebene vermittelt: Du bist nicht alleine! Wir kümmern uns um Dich!

Die Hände können als dritter Kanal für leibliche Kommunikation eingesetzt werden. Bei einer

Berührung kann von denn Händen Wärme ausgehen, die nicht nur physiologisch, sondern

auch leiblich wirkt. Man kennt die Beruhigung und Erleichterung, die etwa das Handauflegen

auf den Kopf, Stirn, Bauch oder Rücken bewirken. Gibt man zum Beispiel jemanden die

Hand, so spürt man gleichzeitig die andere Hand und die Eigene. Im pflegerischen Alltag ist

das Beidseitig und Gleichzeitig nur zu gewöhnlich, da man ständig etwas oder jemanden

anfasst. Hierbei kommt es immer zu Berührungen auf leiblichem Niveau – leibliche

Kommunikation.21

21 vgl. DOMENIG, 2007, S. 262-264

Seite 32

Die Einleibung als Beispiel leiblicher Kommunikation

Leiblichkeit ist Kommunikation. « Von leiblicher Kommunikation im Allgemeinen will ich

immer dann sprechen, wenn jemand von etwas in einer für ihn leiblich spürbaren Weise so

betroffen und heimgesucht wird, dass er mehr oder weniger in dessen Bann gerät und

mindestens in Versuchung ist, sich unwillkürlich danach zu richten und sich davon für sein

Befinden und Verhalten in Erleiden und Reaktion Maß geben lässt ». [SCHMITZ, 1989: 31-32]

Laut Schmitz ist die Einleibung die bedeutendste Form der leiblichen Kommunikation. Sie

entsteht dadurch, dass eine oder mehrere Personen in einen so genannten Ad-hoc-Leib

eingebettet sind und zwar durch Bezug auf die Enge des Leibes.

Die Leiblichkeit tritt über die Körperlichkeit hinaus und vereinigt sich mit anderen Leibern.

Folgendes kann dies herbeiführen:

° ein gemeinsamer Rhythmus, wie zum Beispiel singen oder klatschen

° eine gemeinsame leibliche Richtung, zum Beispiel das gemeinsame aus dem Fenster

schauen

° eine gemeinsame Enge, aber nicht nur räumlich sondern auch metaphorisch.

Bei der Einleibung gibt es verschiedener Arten:

Die einseitige Einleibung geschieht bei der Suggestion. Der Suggestor oder die Suggstorin

übernimmt die Rolle der Enge des übergreifenden Leibes.

Die wechselseitige Einleibung ist die Basis für Sozialkontakte unter Menschen, genauso wie

Tieren. Hier gibt es aber noch zwei Unterformen:

1. Die antagonistische wechselseitige Eileibung:

Dazu gehören zum Beispiel zwei Boxer im Boxkampf oder Torrero und der Stier.

2. Die solidarische wechselseitige Einleibung:

Hierzu gehört, das gemeinsame Lachen, Weinen oder Schreien. Es soll sich ein Ad-

hoc-Leib bilden, der den Einzelnen aus seiner Einsamkeit befreit. Weitere Beispiele

währen aber auch das Gespräch, das singen in einem Chor oder das Tanzen. Es ist vor

allem das Gespür für einander, was die leibliche Kommunikation ausmacht. 22

22 vgl. DOMENIG, 2007, S. 265-266

Seite 33

MigrantInnen in der Altenpflege

Noch vor 25 Jahren konnten wir uns nicht vorstellen, dass MigrantInnen einmal ein Thema in

der Altenpflege sein könnte. Zwar gab es einzelne Gruppen von älteren Menschen anderer

Herkunft, doch nahm man von ihnen kaum Notiz. Nun sind Deutschland und Österreich,

Länder geworden, in das Menschen vieler Nationen einwandern, so zum Beispiel Flüchtlinge,

Aussiedler aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion, Gastarbeiter aus Südeuropa und

Nordafrika, ausländische Ehepartner und ausländische Mitarbeiter, die nicht der

Gastarbeitergeneration angehören. Für manche ist es selbstverständlich im Alter in dem Land

zu bleiben, in dem sie so lange gelebt haben und sind erleichtert, andere jedoch sind

enttäuscht, dass sie nicht in ihrem Heimatland alt werden können. Lange haben die Länder die

Augen davor verschlossen, dass Wanderungen von Menschen aller Altersgruppen, sowohl in

als auch außerhalb von Europa stattfinden und zunehmen. Die Anwesenheit von Menschen

aus anderen Ländern ist in den Krankenhäusern schon ganz normal, doch die Versorgung von

älteren Menschen in der ambulanten und stationären Pflege ist uns noch wenig im

Bewusstsein. Es gibt noch wenig systematisiertes Wissen und keine angemessenen Konzepte. 23 Die Situation der Pflegenden

Auch Pflegende haben oft das Gefühl fremd zu sein, denn die große Diskrepanz zwischen

Vertrautem und Unbekannten kann Stress und Angst auslösen. Oft reagieren die Pflegenden

mit einer starken Normierung der Alltagsabläufe auf diese Gefühle und werden dabei von den

institutionellen Rahmenbedingungen unterstützt. Die Pflegeheime ähneln oft einer

Erziehungseinrichtung, da auf die alten Menschen meist ein starker Anpassungsdruck

ausgeübt wird. Die Angst kann aber auch durch die Begegnung mit Alter, Kranksein,

Schwächen, Behinderung und Sterben wachsen. Die Pflegenden übernehmen große

Anstrengungen bei der Überwindung von Krankheiten und beim Kampf gegen negativ

eingeschätzte Veränderungen und das Sterben. Die Einsicht, dass der Wettlauf gegen den Tod

nicht zu gewinnen ist, führt entweder zu Resignation oder sie motiviert zu größerer

Anstrengung.

Erdmann schreibt, dass Angst durch die Faszination überwunden werden kann. Vor allem die

Lebensgeschichten von einzelnen älteren Menschen, die zum Vorschein kommende Kraft

oder die Zügellosigkeit der Bewohner, können Faszinationen auslösen. Es besteht jedoch die

Gefahr, dass die eigenen Wünsche auf den alten Menschen projiziert werden und für eine

differenzierte Wahrnehmung seiner Lebenssituation kein Raum mehr bleibt.

23 vgl. DOMENIG, 2007, S. 12

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MigrantInnen im Pflegeheim

Es war bestimmt keine ursprünglich vortellbare Perspektive von Migranten, ihre letzte

Lebensphase in einem deutschen Pflegeheim zu verbringen. Um die Migranten und ihre

Situation in den Altenheimen verstehen zu können, ist es notwendig den Blick auf die

Situation der Bewohner unabhängig ihrer Herkunft zu richten.

Denn auch für MigrantInnen ist der Übergang in ein Pflegeheim ein lebensweltlicher

Übergang besonderer Art. Jedoch erfahren MigrantInnen bei der Übersiedelung in ein

Pflegeheim den Grad ihres Fremdheitserlebens noch stärker und weniger bewältigbar, als

einheimische Menschen. Viele der MigrantInnen möchten gar nicht in ein Altenheim siedeln,

denn nur 7,7% der Befragten würden sich dafür entscheiden und dann auch nur, wenn sie sich

das Heim selber aussuchen dürfen. 44% würden in ein Pflegeheim gehen, „wenn es gar nicht

mehr anders geht“. Die Angst vor dem allein sein und vor einem abgeschoben werden sind

wesentliche Gründe für die Ablehnung. Außerdem fürchten die alten Menschen das

Unverständnis des Personals bis hin zu entwürdigender Behandlung. Viele wünschen sich

eine professionelle ausländische Fachkraft, die nicht zwingend der eigenen Nationalität

angehören muss, da es ihnen vorrangig darum geht, in ihrem Ausländersein verstanden zu

werden.

Auch wenn sich viele traditionsgebundene MigrantInnen die Pflege nur von ihren

Familienmitgliedern vorstellen können, so kommen sie meist doch zu der Einsicht, dass ihre

Kinder aufgrund der gesellschaftlichen Einbindung nicht in der Lage sind, die Pflege im

vorgestellten Ausmaß zu bewältigen.

Der Wandel der Einstellungen und Ansichten von MigrantInnen hängt von verschiedenen

Faktoren ab, die mühelos auf den Übergang in ein Pflegeheim übertragen werden können:

• Diskrepanz zwischen den Lebenswelten

• Persönlichkeitsmerkmale

• Wissen und kognitive Verbreitung

• Unterstützung und Begleitung

• Einfluss auf die neue Lebenswelt nehmen können.24

24 vgl. DOMENIG, 2007, S. 416-420

Zusammenfassung Um sich mit den Pflegetheorien vertraut zu machen, habe ich zuerst mit der

Selbstpflegedefizit-Theorie von Dorothea Orem begonnen. Ich habe versucht die Theorie kurz

zusammenzufassen und die drei konstituierten Theorien der Selbstpflege/Dependenzpflege,

des Selbstpflegedefizits und des Pflegesystems zu beschreiben. Die Theorie von Dorothea

Orem nimmt jedoch wenig Rücksicht auf die Kulturellen Unterschiede der zu Pflegenden.

Diese Unterscheidungen und die Berücksichtigung der verschiedenen Nationalitäten und

Gewohnheiten wurden jedoch in den letzten Jahrzehnten immer wichtiger. Da viele Menschen

in die westlichen Industrieländer migrieren und auch sie Anspruch auf die bestmögliche

Pflege haben.

Madeleine M. Leininger und Dagmar Domenig erkannten das Problem der Pflege und

entwickelten beide Theorien zur transkulturellen Pflege bzw. zu den kulturellen Dimensionen

der menschlichen Pfleg.

Sie legen beide großen Wert darauf, dass sich die Pflegekräfte mit der Behandlung, Betreuung

und Pflege in soziokulturellen Kontexten beschäftigen und neu erforschen.

Laut Madeleine Leininger war es nicht richtig, die Pflege als eine isolierte Tätigkeit oder

Handlung zu sehen, vielmehr ist sie ein abstraktes, intellektuell fassbares Phänomen, das über

einzelne Tätigkeiten hinausragt.

Die Kultur und die Fürsorge wurden zu einem einzigen Konstrukt zusammengefügt, damit die

Pflegephänomene erklärt, gedeutet und zu Prognosen gemacht werden konnten. So konnte ein

neues Grundwissen der professionellen Pflege geschaffen werden.

Es war vor allem auch wichtig, die Kommunikation, die Verbale aber viel mehr die

Nonverbale, in die Pflege nicht zu vergessen. In vielen Fällen können sich MigrantInnen über

die Sprache nicht richtig ausdrücken und gerade hier ist es wichtig, die nonverbalen Zeichen

verstehen und deuten zu können.

Madeleine Leininger und Dagmar Domenig waren also beide daran interessiert, die

Gesundheit für alle und somit auch die nachhaltige Chancengleichheit zu fördern und ihre

Theorien in das Gesundheitssystem einzubinden.

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Literaturverzeichnis

Dennis, C. M. (2001). Selbstpflege- und Selbstpflegedefizit-Theorie. Bern:

Verlag Hans Huber.

Domenig, D. (2007). Transkulturelle Kompetenz. Bern: Verlag Hans Huber.

Leininger, M. M. (1998). Kulturelle Dimension menschlicher Pflege. Freiburg

im Breisgau: Lambertus-Verlag.

Organisation, W. H. (1986). Ottawa Charter for Health Promotion. Ottawa.

Schmitz, H. (1998). Seystem der Philosophie Bd.2. Bonn: Bouvier Verlag.

Internetseiten:

http://de.wikipedia.org/wiki/Madeleine_Leininger

http://www.altenpflegeschueler.de/pflege/pflegemodell-nach-d-orem.php

http://www.bibliomed.de/cps/rde/xbcr/SID-3E01936C-CB799C34/bibliomed/sp_old-

2000_06_B.Braun_Preis_Pflegetheorien_Pflegemodelle_anwendbar_oder_nur_graue_Theorie

.pdf, S.1-2