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Die Autoren

Prof. em. Dr. Falko Rheinberg leitete bis 2007 die Abteilung Allgemei-ne Psychologie am Institut für Psychologie der Universität Potsdam.

Prof. Dr. Regina Vollmeyer ist Professorin am Arbeitsbereich Pädago-gische Psychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt.

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Falko RheinbergRegina Vollmeyer

Motivation

9., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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Als italienische Lizenzausgabe liegt dieses Werk unter dem Titel »Psi-cologia della Motivazione« vor (2. Auflage 2003; Societa Editrice Il-Mulino, Bologna, Italien).Als kroatische Lizenzausgabe ist das Werk bei Naklada Slap, Jastre-barsko, Kroatien, erschienen (1. Auflage 2004).Als polnische Lizenzausgabe ist das Werk bei Wydawnictwo WAM,Krakau erschienen (1. Auflage 2006).Als chinesische Lizenzausgabe ist das Werk bei Shanghai Academy ofSocial Science Press, Shanghai erschienen (1. Auflage 2012).

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustim-mung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfäl-tigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung undVerarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigenKennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese vonjedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann umeingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln,wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden.Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführtwerden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

9., erweiterte und überarbeitete Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-032954-6

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-032955-3epub: ISBN 978-3-17-032956-0mobi: ISBN 978-3-17-032957-7

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111.1 Fragestellungen der Motivationspsychologie . . . . . . 111.2 Was ist Motivation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141.3 Zwei Analyseperspektiven: Druck und Zug . . . . . . . 171.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

2 Frühe Erklärungskonzepte: Instinkte und Triebe . . . . . . . . . 232.1 Instinkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242.2 Triebe als Erklärungskonzepte: Beispiel S. Freud . . 342.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

3 Motivation als Person-Umwelt-Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423.1 Beiträge des Behaviorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423.2 Bedürfnisspannung und Aufforderungscharakter:

K. Lewin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443.2.1 Gespannte Systeme in der Person . . . . . . . . . . 443.2.2 Feldkräfte in der Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

3.3 Klassifikation von Person-Umwelt-Bezügen . . . . . . . 583.3.1 Individuelle Analyse und allgemeine

Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583.3.2 Person und Situation als need and press:

H. A. Murray . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593.3.3 Der Thematische Apperzeptionstest (TAT)

3.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

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4 Leistungsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644.1 Das Phänomen leistungsmotivierten Verhaltens . . . 644.2 Motiv und Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

4.2.1 Konzeption und Erfassung desLeistungsmotivs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

4.2.2 Leistungsmotivation auf gesellschaftlicherEbene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

4.2.3 Das Risikowahl-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774.3 Die »kognitive Wende« und das Selbstbewertungs-

modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894.3.1 Ursachenerklärungen von Erfolg und

Misserfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 904.3.2 Das Selbstbewertungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . 944.3.3 Motivtrainingsprogramme und Unterricht 964.3.4 Bezugsnorm-Orientierung im Unterricht . . . 98

4.4 Verwandte Theoriekonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1014.4.1 Motivationale Orientierungen . . . . . . . . . . . . . 1024.4.2 Selbstkonzept der Begabung . . . . . . . . . . . . . . . 1054.4.3 Erlernte Hilflosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

4.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

5 Machtmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1165.1 Machtthematik als soziale Grundsituation . . . . . . . . 1165.2 Die Struktur des Machthandelns . . . . . . . . . . . . . . . . . 1175.3 Die Suche nach dem Machtmotiv . . . . . . . . . . . . . . . . . 1195.4 Entwicklungsstadien der Machtorientierung . . . . . . 1315.5 Motivstruktur von Führungskräften . . . . . . . . . . . . . . 1415.6 Zum Stand der Machtmotivationsforschung . . . . . . 1475.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

6 Die Analyse komplexer Motivationsstrukturen . . . . . . . . . . 1516.1 Die Anreizvielfalt des Alltagshandelns . . . . . . . . . . . . 1516.2 Instrumentalitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1526.3 Das Erweiterte Kognitive Motivationsmodell . . . . . 1556.4 Die Unterscheidung von Selbstwirksamkeits-

und Ergebniserwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

Inhalt

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6.5 Eigenanreize von Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1656.6 Ziele im Dienst motivspezifischer Tätigkeits-

vorlieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1726.7 Ein schillernder Begriff: extrinsische vs.

intrinsische Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1766.7.1 Verschiedene Verständnisse von

intrinsischer Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1766.7.2 Interesse und intrinsische Motivation . . . . . . 179

6.8 Flow-Erleben als universeller Tätigkeitsanreiz . . . . . 1826.9 Freude an riskanten Aktivitäten und Erlebnissuche 1966.10 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

7 Motivation und Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2127.1 Merkmale von Willensprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2127.2 Handlungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2187.3 Das Rubikonmodell des Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . 2217.4 Grit – Durchhaltevermögen als simplifizierendes

Praxiskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2317.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

8 Aktuelle Entwicklungen: Motive, Ziele und Wohlbefinden 2368.1 Zur Notwendigkeit von Willensprozessen . . . . . . . . . 2368.2 Basale Motive und motivationale Selbstbilder . . . . . 2388.3 Motivpassende Ziele und Wohlbefinden . . . . . . . . . . 2498.4 Motivationale Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

8.4.1 Das theoretische Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2558.4.2 Erste Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

8.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

9 Wie misst man Motivation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2619.1 Besonderheiten der Motivationsdiagnose . . . . . . . . . . 2619.2 Ein Diagnoseschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2639.3 Zur Anwendung des Diagnoseschemas . . . . . . . . . . . . 2689.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

Inhalt

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271Vertiefende Literatur zu speziellen Bereichen . . . . . . . . . . . . 272Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Inhalt

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Vorwort

Dieses Buch gibt eine Einführung in die Motivationspsychologie. Eswendet sich an Studierende im Bachelorstudium der Psychologie undan »interessierte Laien«, also etwa an Erziehungs-, Sozial-, Wirt-schaftswissenschaftler und Lehrkräfte. Voraussetzungsfrei und an-knüpfend an Alltagserfahrungen werden zunächst Fragestellungenund Arbeitsweisen der Motivationspsychologie erläutert. Mit wach-sendem Kenntnisstand werden den Lesern dann nach und nach diffe-renziertere Betrachtungen motivationspsychologischer Ansätze imFortgang des Buches möglich.

Dieser Darstellungslogik ließ sich recht zwanglos auch die histori-sche Entwicklung der Motivationsforschung zuordnen. In den An-fangsteilen geht das Buch auf die eher einfachen und historisch frühentwickelten Instinkt- und Triebkonzepte ein. Es folgen dann differen-ziertere Ansätze, in denen motiviertes Verhalten aus der Wechselwir-kung von Person und Situation verstanden wird. Auf dieser Grundlageentwickelte sich die »klassische« Motivationspsychologie, die hier imMittelteil des Buches am Beispiel der Leistungs- und Machtmotivationdargestellt wird. In den letzten Kapiteln werden dann komplexere An-sätze behandelt. Hier geht es um handlungstheoretische Motivations-modelle, um Anreizanalysen des Alltagshandelns, um willensgesteuerteHandlungskontrolle, um Motivationale Kompetenz und Flow und an-deres mehr. Da diese Ansätze den aktuellen Forschungsstand und seinenoch offenen Fragen wiedergeben, werden sie etwas ausführlicher be-handelt. Abschließend werden diese verschiedenen Motivationskompo-nenten in einem Diagnoseschema so aufeinander bezogen, dass sie eineEinzelfallanalyse der aktuellen Motivation einer bestimmten Personerlauben.

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Natürlich muss ein Einführungsbuch aus didaktischen Gründen ver-einfachen und vor allem: sich inhaltlich beschränken. Manches hätteviel ausführlicher diskutiert werden können. Einige Forschungsfeldersind gar nicht behandelt. Diese Beschränkung fiel jedoch relativ leicht,weil es eine sehr gute weiterführende Literatur gibt, auf die man beiden hier erworbenen Vorkenntnissen dann zurückgreifen kann. Hin-weise auf diese Literatur werden nach dem letzten Kapitel 9 gegeben.

Gladbeck und Frankfurt am Main, im Sommer 2018Falko Rheinberg und Regina Vollmeyer

Vorwort

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1 Einführung

1.1 Fragestellungen derMotivationspsychologie

Wie kommt es dazu, dass Sie gerade jetzt diese Zeilen lesen, statt ir-gendetwas anderes – vielleicht viel Schöneres – zu tun? Die Antwortenhierauf werden höchst verschieden ausfallen. Vielleicht erhoffen Siesich eine leichte Einführung in ein Gebiet, zu dem Sie ein Referat hal-ten, eine Arbeit anfertigen oder später eine Prüfung ablegen wollen;vielleicht interessieren Sie sich generell für Psychologie und wollen des-halb auch etwas zum Teilbereich Motivation wissen; vielleicht lesenSie einfach gerne, und dieses Buch fiel Ihnen gerade in die Hände; viel-leicht wollen Sie sich im Moment auch nur irgendwie beschäftigen,weil es Ihnen sonst schrecklich langweilig würde oder anderes mehr.Wie auch immer die Antwort in Ihrem speziellen Fall ausfallen mag,Sie betreiben gerade aktiv Motivationspsychologie. Immerhin tun Sieja nichts Geringeres, als ein bestimmtes Verhalten (Ihr Lesen) zu erklä-ren. »Erklären« meint hier, dass Sie bestimmte Gründe für Ihr Verhal-ten ausfindig machen. »Gründe« wiederum sind das, was Sie sich alspositive Folge bzw. Begleiterscheinung Ihrer Aktivität versprechen.

So gesehen wäre Motivationspsychologie im Prinzip ja eine rechteinfache Sache: Suche und finde die Gründe, um derentwillen jemandhandelt. Abgesehen davon, dass dies lediglich eine (wichtige) Teilauf-gabe der Motivationspsychologie wäre, werden die Dinge bei genauerBetrachtung doch schnell schwieriger und komplexer. Eine nur schein-bare Schwierigkeit ist die, dass wir mitunter vergeblich nach ange-strebten Zielzuständen unseres Verhaltens suchen würden. So etwas ist

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häufig bei reflexhaftem Verhalten oder bei Routinehandlungen derFall. Hier vollziehen sich Aktivitäten quasi automatisch, ohne dass wirdie Anziehungskraft eines bestimmten Zielzustandes spüren und ohnedas Erlebnis, etwas Bestimmtes zu wollen. Solche Verhaltensweisensind üblicherweise nicht Gegenstand motivationspsychologischer Be-trachtung, wenngleich in ihrer zurückliegenden Entstehungsgeschichtemotivationale Prozesse durchaus wichtig gewesen sein können.

Ein anderer Fall ist der, dass wir sehr genau ein spezifisches Zielnennen können, das wir mit unserer Aktivität zurzeit verfolgen. Trotzder möglichen Präzision bei der Angabe des Handlungsziels sind wiruns oft aber weit weniger klar darüber, was denn genau das Anziehen-de, also der eigentliche Grund (Fachterminus: der Anreiz) der Zieler-reichung ist. Sicherlich, man kann mitunter ein weiteres Ziel nennen,für das die jetzige Zielerreichung hilfreich wäre. Aber was genau istdann der Anreiz dieses weiteren Ziels? Sind es innere Zustände derZufriedenheit, des Glücklichseins, der Entspannung, der angenehmenErregung etc. – Dinge also, die den Bereich der affektiv/emotionalenBefindlichkeit betreffen? Oder sind es eher Gedankenketten (Kognitio-nen), die das jetzige Ziel mit höchsten/letzten Werten unseres Selbst-und Weltverständnisses verbinden oder vielleicht sogar beides: Kogni-tionen und Affekte? Um das Eingangsbeispiel aufzugreifen: Was imEinzelnen macht das Ziel »Von Psychologie mehr zu wissen« oder»Ein gutes Referat zu halten« so attraktiv, dass es in diesem MomentIhr Verhalten lenkt? Vielleicht spielen Sie die beiden gerade skizziertenErklärungsstrategien der kognitiven und/oder affektiven Folgen für Ih-ren Fall einmal durch.

Insbesondere wenn man Aussagen nicht nur über einzelne Personen,sondern über viele machen will, kommt ein zusätzlicher Gesichtspunktins Spiel. Schon aus ökonomischen Gründen kommt es darauf an, mög-lichst allgemeine Klassen von Anreizen zu bilden. Anreizklassen sollenso definiert sein, dass sie bei vielen Personen den Anreiz vieler spezifi-scher Einzelziele abdecken. Welche Qualität, welche Struktur und wel-che Breite solche Anreizklassen haben sollen und wie man sie erfasst,das sind schon schwierigere Fragen der Motivationspsychologie.

Noch komplexer werden die Dinge, wenn wir zur Erklärung vonVerhaltensunterschieden kommen. Solche Unterschiede sind es ja, die

1 Einführung

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in besonderer Weise zu motivationsbezogenen Überlegungen anregen.Wie kommt es beispielsweise, dass Sie immer noch aufmerksam lesen,während jemand anderes bereits unruhig oder gelangweilt im Buchvor- und zurückblättert, ein Zweiter es schon weggelegt hat, währendein Dritter beschließt, es aus der Bibliothek mit nach Hause zu neh-men, um es dort gründlich durcharbeiten zu können? Am Buch selbstkönnen diese Unterschiede ja kaum liegen. Es muss etwas mit der je-weiligen Person zu tun haben und ihrem momentanen Zustand (ak-tuelle Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Handlungsmöglichkeiten etc.). Wiegut sich der momentane Zustand seinerseits auf überdauernde Person-merkmale und/oder auf die jeweilige Lebenssituation des Einzelnen zu-rückführen lässt und wie weit beides zusammenhängt, das ist eine derzentralen Fragen der Motivationspsychologie.

Aber nicht nur Unterschiede zwischen Personen, sondern auch sol-che innerhalb derselben Person wollen erklärt sein. Vielleicht lesen Siejetzt noch aufmerksam und sind gespannt, wie das hier weitergehensoll. Im Verlauf der nächsten Stunden ist es aber doch wahrscheinlich,dass Sie das Buch zur Seite legen und etwas Anderes tun. Vielleichtdrängt sich ein Hungergefühl in Ihr Aufmerksamkeitsfeld und lässt dieMöglichkeit der Nahrungsaufnahme immer attraktiver werden; derUhrzeiger könnte sich einer Position nähern, bei der Sie das Lesen ab-brechen müssen, um einen Termin einzuhalten; Sie können auf Text-passagen stoßen, die – je nach Vorwissen – für Sie langweilig oder zuschwierig sind, so dass »vagabundierende Gedanken« Ihnen andereZiele und Handlungsmöglichkeiten ins Aufmerksamkeitsfeld transpor-tieren und vieles andere mehr. Solche Verhaltensänderungen im zeitli-chen Längsschnitt lassen sich unter motivationspsychologischer Per-spektive analysieren, sofern diese Änderungen etwas mit angestrebtenVerhaltensfolgen zu tun haben.

Motivationspsychologie befasst sich damit, Richtung, Dauer undIntensität von Verhalten zu erklären. Dabei ist der motivationspsy-chologische Zugriff dadurch charakterisiert, dass angestrebteZielzustände und das, was sie attraktiv macht, die erklärenden Grö-ßen sind. Insbesondere Verhaltensunterschiede zwischen verschiede-

1.1 Fragestellungen der Motivationspsychologie

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nen Personen sowie Kontinuität und Wechsel im zeitlichen Längs-schnitt sind typische Anlässe, um aus motivationspsychologischerPerspektive nach Verhaltenserklärungen zu suchen (vgl. Vollmeyer2005).

1.2 Was ist Motivation?

Bislang wurde etwas zur Motivationspsychologie gesagt, aber nochwenig dazu, was unter Motivation selbst zu verstehen ist. Alltags-sprachlich bezieht sich der Motivationsbegriff auf eine Größe, die inihrer Stärke variieren kann: Tennisspieler X ist »hoch motiviert«, dieSpitze der Weltrangliste zu erreichen; Schüler Y ist »wenig motiviert«,die Hausaufgaben zu erledigen. Obwohl in dieser Weise als Einheit be-handelt, kann dieser Motivationsbegriff qualitativ verschiedene Ver-haltens- und Erlebnismerkmale betreffen. »Hoch motiviert zu etwas«kann bedeuten, dass jemand alle Kräfte mobilisiert, um etwas Be-stimmtes zu erreichen, sich durch nichts davon abbringen lässt, nurnoch das eine Ziel vor Augen hat und darauf fixiert ist und nicht eherruht, bis er es erreicht hat. Es geht also darum, dass jemand (1) einZiel hat, dass er (2) sich anstrengt und dass er (3) ablenkungsfrei biszur Zielerreichung bei der Sache bleibt (Ausdauer). Im Selbsterlebenkönnen Zustände des Angezogenseins, ja Gefesseltseins, des Verlan-gens, Wollens und Drängens, der Spannung, Aktivation und Ruhelo-sigkeit gemeint sein. DeCharms hat dieses Begriffsverständnis rechtprägnant damit umschrieben, dass Motivation »so etwas wie eine mil-de Form der Besessenheit« sei (DeCharms 1979, S. 55). Als zugehöri-gen Situationsprototypen kann man sich eine Person vorstellen, diehöchste Begehrlichkeiten unmittelbar vor Augen und in greifbarerNähe hat, gleichwohl noch etwas tun muss, um zugreifen zu können.Bemerkenswerterweise scheint es uns im Alltag nicht zu stören, dass

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wir »Motivation« bei anderen Personen als Gegenstand nie unmittel-bar wahrnehmen können, sondern immer nur über Anzeichen erschlie-ßen. Motivation ist hier eine gedankliche Konstruktion, eine Hilfsgrö-ße (Fachterminus: hypothetisches Konstrukt), die uns bestimmteVerhaltensbesonderheiten erklären soll (Heckhausen & Heckhausen2018; Heider 1958; Thomae 1965a). Aber wie kommt es dann, dassuns Motivation nicht folgerichtig als kognitives Kunstprodukt, son-dern durchaus als reale Gegebenheit erscheint?

Wir vermuten, das liegt daran, dass uns die Binnenzustände deszielgebundenen Strebens, Wollens, Wünschens, Hoffens etc. einschließ-lich ihrer Verhaltensauswirkungen (Anstrengung und Ausdauer) ausdem Selbsterleben wohl vertraut sind. Wenn man einen motiviertenZustand und seine typischen Verhaltensauswirkungen quasi von innenkennt, hat man kaum Zweifel, etwas Ähnliches »hinter« dem Verhal-ten anderer Personen zu vermuten, wenn bestimmte Anzeichen daraufverweisen. Dies erscheint uns auf Dauer um so weniger fragwürdig, jeöfter wir damit zu richtigen Vorhersagen oder sinnmachenden Inter-pretationen fremden Verhaltens gekommen sind.

Allerdings gibt es hier eine wichtige Einschränkung: Die Motivationist uns auch aus dem Selbsterleben nicht gegeben, sondern immer nurbestimmte Motivationsphänomene in bestimmten Kontexten. Wieschon gesagt, kennen wir Zustände, die wir mit Streben, Wollen, Be-mühen, Wünschen, Hoffen etc. bezeichnen. Aber sind das wirklichidentische Phänomene von gleicher Struktur und Qualität? Wohlkaum. Gemeinsam ist ihnen aber die Komponente einer aktivierendenAusrichtung des momentanen Lebensvollzugs auf einen positiv bewer-teten Zielzustand.

Man kann diese gemeinsame Komponente als Rechtfertigung da-für nehmen, auch in der wissenschaftlichen Psychologie die verschie-denen Phänomene unter einen Begriff, nämlich Motivation, zu fas-sen. Wichtig ist allerdings dabei, im Auge zu behalten, dass man estatsächlich nur mit einer Sammelkategorie zu tun hat, in der vieleverschiedene Teilprozesse und Phänomene zusammengefasst sind.Weiterhin ist zu bedenken, dass es neben der aufsuchenden Motiva-tion ja auch eine meidende gibt: Man schreckt vor etwas zurück,man flieht etc. Hier besteht der »positive« Zielzustand darin, etwas

1.2 Was ist Motivation?

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Aversives abgewendet zu haben. Auf diesen komplizierteren Fall ge-hen wir später näher ein.

Der Begriff Motivation spiegelt nicht eine homogene Einheit wider,von der man mal mehr oder weniger hat. Es gibt also nicht so etwaswie einen einheitlichen »Motivationsmuskel«, für den sich im Organis-mus ein spezieller Zellverband finden ließe. Der Motivationsbegriff istvielmehr eine Abstraktionsleistung, mit der von vielen verschiedenenProzessen des Lebensvollzuges jeweils diejenigen Komponenten oderTeilaspekte herausgegriffen und behandelt werden, die mit der aus-dauernden Zielausrichtung unseres Verhaltens zu tun haben (Heckhau-sen & Heckhausen 2018; Thomae 1965a). Aufgabe der wissenschaftli-chen Motivationspsychologie ist es, diese verschiedenen Komponentenund Teilprozesse in ihrem Zusammenspiel zu beschreiben und zu erfas-sen, ihre Abhängigkeiten und Beeinflussbarkeiten zu bestimmen undihre Auswirkungen im Erleben und nachfolgendem Verhalten näheraufzuklären.

Bezogen auf das Einführungsbeispiel müssten wir also diejenigen Pro-zesse und Größen ausfindig machen und spezifizieren, die dafür sorgen,dass Sie trotz des momentan eher langweiligen Allgemeinheitsgrades derDarstellung immer noch lesen. Weiterhin sollten wir herausfinden, wo-von diese Prozesse ihrerseits abhängig sind und was man machen könn-te, um sie zu beeinflussen. Also was genau müsste man tun, um etwaeine Person, die lediglich zur Abwehr von Langeweile in diesem Buchliest, in den Zustand zu bringen, dass sie von Motivationspsychologiebegierig mehr wissen will? (Mit langatmigen Definitionsdarlegungen ge-lingt das sicher nicht.) Schließlich sollten wir auch noch sagen können,wie sich verschiedene Motivationszustände und die sie ausmachendenTeilprozesse z. B. auf die Art des Lesens, die Verarbeitung des Inhaltsund nachfolgende Gedächtnisleistungen auswirken. Um keine unrealis-tischen Erwartungen zu wecken: Diese Leistungen kann die heutige Mo-tivationspsychologie noch nicht zur vollen Zufriedenheit erbringen,gleichwohl sind Teilbereiche hierzu recht gut erforscht (s. u.).

Zusammenfassend lässt sich zum Motivationsbegriff also sagen,dass er sich nicht auf eine fest umrissene und naturalistisch gegebeneErlebens- oder Verhaltenseinheit bezieht, sondern in gewisser Weiseeine Abstraktion ist.

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Genauer bezeichnen wir mit Motivation die aktivierende Ausrich-tung des momentanen Lebensvollzuges auf einen positiv bewertetenZielzustand bzw. auf das Vermeiden eines negativ bewerteten Zu-standes.

An dieser Ausrichtung sind unterschiedlichste Prozesse im Verhaltenund Erleben beteiligt, die in ihrem Zusammenwirken und ihrer Beein-flussbarkeit wissenschaftlich näher aufgeklärt werden sollen.

1.3 Zwei Analyseperspektiven: Druck und Zug

Versucht man, Motivation in der eben definierten Weise näher zu fas-sen und zu verstehen, so kann man unterschiedliche Strategien verfol-gen und entsprechend verschiedene Vorstellungen entwickeln. Je nachtheoretischen Grundpositionen und Menschenbildern finden sich inder Psychologie und ihren Nachbarfächern ganz verschiedene Versu-che, die aktivierende Zielausrichtung zu beschreiben und zu erklären.Die vielleicht augenfälligste Unterscheidung, die man hier treffenkann, ist die, ob man sich motiviertes Verhalten eher als angetrieben/»gedrückt« oder als angezogen vorstellt.

Im ersten Fall werden Triebe oder Instinkte für die Ausführung vonAktivitäten verantwortlich gemacht. Man stellt sich vor, dass solcheinnerorganismischen Größen in einer Art Eigenleben über die ZeitSpannungen oder Energien aufbauen, die nach befriedigender Entla-dung verlangen. Dabei muss erklärt werden, warum es in der Regelnicht zu diffusen Aktivitätsäußerungen kommt, sondern der Organis-mus zu ganz bestimmten Aktionen gedrängt wird. Anders formuliert:Woher ›weiß‹ der drängende Trieb, was ihn befriedigt? Hierzu kannman entweder eine angeborene Koppelung von Trieb und Befriedi-gungshandlungen annehmen (z. B. Hunger drängt zur Nahrungsauf-nahme) oder eine Koppelung aufgrund zurückliegender Lernprozesse.

1.3 Zwei Analyseperspektiven: Druck und Zug

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In letzterem Fall hat der Organismus wiederholt erfahren, dass be-stimmte Triebreize durch bestimmte Aktivitäten in befriedigender Wei-se reduziert werden. Das Denkmodell eines getriebenen/gedrängtenVerhaltens findet sich in höchst unterschiedlichen Konzepten – so indem psychoanalytischen Ansatz von Freud (1905, 1915), dem etholo-gischen Ansatz von Lorenz (1942, 1963) oder in bestimmten behavio-ristischen Ansätzen (z. B. Hull 1943, 1952). In Kapitel 2 werden dieseKonzepte teilweise genauer dargestellt.

Das Denkmodell von verhaltenswirksamen Kräften, die sich im Or-ganismus periodisch entwickeln, passt wohl am besten auf körpernaheBedürfnisse, deren Befriedigung den Lebenserhalt sichert – also Hun-ger, Durst, Bedürfnis nach Atemluft etc. Man charakterisiert solcheBedürfnisse auch als Mangelbedürfnisse (z. B. Maslow 1954). Damitwird der Tatsache Rechnung getragen, dass diese Bedürfnisse in derRegel erst dann in die Ausrichtung des Verhaltensstroms eingreifen,wenn bestimmte innerorganismische Defizite signalisiert werden. DieseMangelzustände drängen sich in meist unlustgetönter Empfindungs-qualität in unser Wahrnehmungsfeld und können – wenn stark genug– andere Aktivitäten unterbrechen, abändern oder verschieben.

Ohne Frage lässt sich die momentane Stärke solcher Bedürfnisseweitgehend aus zurückliegenden Ereignissen erklären. So ist Durst ab-hängig davon, wann, wie viel und was man zuletzt getrunken hat, wel-che Speisen man zu sich genommen hat (Salzgehalt), von Klimafakto-ren (Temperatur, Luftfeuchtigkeit), von körperlichen Anstrengungen(Transpiration) und anderen Dingen mehr. Bekannt sind auch die we-sentlichen innerorganismischen Besonderheiten und die zugehörigenRezeptoren, die Durstsignale aussenden (s. Schmalt & Langens 2009).Wir haben es hier also in fast perfekter Weise mit einem innerorganis-misch verankerten Motivationssystem zu tun, bei dem aufgrund zu-rückliegender Geschehnisse aktuelle Mangelzustände entstehen, diehier und jetzt zu Trinkaktivitäten drängen.

Aber selbst dieses körpernahe und höchst überlebenswichtige Mo-tivationssystem ist nur ein fast perfektes Beispiel für die Vorstellungrein innerorganismisch gedrängter Aktivitäten. Es lässt sich nämlichleicht zeigen, dass auch hier Anreize aus der Umwelt, also von außenherangetragene Größen, mit wirksam sind. So kann an einem heißen

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Sommertag der Anblick eines kühlen Getränkes den Drang zur Trink-aktivität deutlich stärker werden lassen, als es ohne diesen Anblick ge-wesen wäre.

Neben solchen Mangelbedürfnissen passen vielleicht auch noch all-gemeine Antriebsphänomene zur Modellvorstellung des Gedrängten/Getriebenen. Unsere Alltagspsychologie hat hier einige Begriffe paratwie den »Tatendrang« oder den »Erlebnishunger«. Gemeint sind starkausgeprägte Aktivitätsbereitschaften, denen aber noch das konkreteZiel fehlt, um aus Bereitschaft Aktivität werden zu lassen. Gerade we-gen der fehlenden Richtungskomponente würden wir diese Zuständeaber (noch) nicht als Motivation im engeren Sinne auffassen. Genauge-nommen ist hier nur eine Teilkomponente des Motivationsgeschehensbetroffen, nämlich die der Aktivation und Energetisierung.

Schwieriger wird es, die Modellvorstellung des angetriebenen Ver-haltens auf komplexere Verhaltensbereiche zu übertragen – alsoetwa auf das Lesen einer Studentin, die dieses Buch durcharbeitet,weil sie eine Prüfung machen will. Hier müsste man einen Lese-trieb/-instinkt postulieren, der sich von Zeit zu Zeit aufbaut undnach Befriedigung verlangt, oder aber zeigen, wie basalere Triebe/Instinkte durch zurückliegende Lernprozesse mit den jetzigen Lese-aktivitäten fest verknüpft sind. Ersteres dürfte wenig Plausibilitätbesitzen, Letzteres würde wohl recht spekulativ, aber vor allem um-ständlich werden, ohne für die Besonderheiten der gegenwärtigenLesemotivation Erklärungsgewinn zu besitzen. Aktivierende Ziel-ausrichtung der jetzigen Art lässt sich weitaus besser nach der Mo-dellvorstellung des Anziehens und nicht des Antreibens von Verhal-ten analysieren. Hier fragt man nach dem zukünftigen Zustand, dendie Person herbeiführen will. Nicht zurückliegende Ereignisse trei-ben und drängen, sondern Erwartetes zieht und richtet aus.

Im jetzigen Fall wäre der Zielzustand eine möglichst gut bestandenePrüfung. Die Zuordnung von Ziel und Aktivität ist dabei nicht (odernur zu geringen Teilen) starr programmiert, sondern abhängig von Er-wartungen und Zweckmäßigkeitseinschätzungen. So wird unsere prü-fungsmotivierte Leserin jetzt immer noch dem Text folgen, weil sie er-

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wartet, dass die nächsten Seiten Dinge klären oder Informationen lie-fern, die sie bei der anstehenden Prüfung braucht. Bestimmte Abschnit-te wird sie dann überschlagen, wenn sie vermutet, dass der Prüfer dazukaum fragen wird. Natürlich beschränkt sich die aktivierende Zielaus-richtung bei ihr nicht nur auf das Lesen, sondern auch auf andere Din-ge, wie das Anfertigen von Notizen und Skripten, das Wiederholen vonGelesenem, auf Diskussionen mit anderen Studierenden, auf das probe-weise Beantworten vermuteter Prüferfragen und vieles mehr.

All diese verschiedenen Aktivitäten sind auf einen Zielzustand ge-richtet (Fachausdruck: Äquifinalität des Verhaltens, Brunswik 1952)und werden über ihn sehr viel besser verständlich, als würde man ver-suchen, für jede einzelne Aktivität spezifische innerorganismischeAntriebsstrukturen zu rekonstruieren, die aufgrund einer bestimmtenVerkoppelungsmechanik dafür sorgen, dass unsere Kandidatin geradedieses Kapitel noch liest, das nächste überschlägt, mit anderen überdas Gelesene diskutiert, bei Unklarheiten ein anderes Buch zu Ratezieht und anderes mehr. Ohne die Motivationsrekonstruktion über ei-nen angestrebten Zielzustand wäre auch schwer erklärlich, warum alldiese Aktivitäten plötzlich enden, wenn die Prüfung bestanden ist, undwarum das Lesen vielleicht ganz anders verlaufen wäre, wenn unsereStudentin nur aus einem eher unspezifischen Interesse an Motivations-psychologie mit diesem Einführungstext begonnen hätte.

Die Frage nach dem Wozu, also die Suche nach angestrebtenZielzuständen, ist die typische Analyseperspektive der Motivationspsy-chologie, wenn sie komplexer organisierte Handlungsstrukturen erklä-ren will.

Damit wird keineswegs negiert, dass sich Teile unseres Verhaltensdurchaus nach der Vorstellung des Antreibens verstehen lassen. Diesgilt besonders für physiologisch basierte Aktivitäten mit lebenserhal-tendem Funktionscharakter oder für vitale Antriebserlebnisse. Es wirdnur der Tatsache Rechnung getragen, dass sich bei komplexeren undhöher organisierten Handlungsweisen die aktivierende Zielausrichtungvon Verhalten besser aus der Perspektive anziehender Zukunftsereig-nisse erklären lässt.

Natürlich kommt man auch bei einer solchen Erklärungsperspektivenicht ohne Annahmen zu Besonderheiten der Person aus. Vordringlich

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ist zu klären, warum denn ein bestimmter Zielzustand überhaupterstrebenswert ist, also Anreiz besitzt. So etwas geht nicht ohne Rück-bezug zur Person. Ein Stück trockenes Brot wird sich erheblich in sei-nem Anreiz unterscheiden, je nachdem, wie hungrig vs. übersättigteine Person gerade ist. Ein zu mähender Rasen kann von einer Person,die voller Tatendrang steckt, ganz anders erlebt werden als von jeman-dem, der sich erschöpft und überfordert fühlt. Bei den höher organi-sierten Handlungen, die vorzugsweise Untersuchungsgegenstand derMotivationspsychologie sind, operiert man hierbei mit eher zeitüber-dauernden Vorlieben für bestimmte Klassen von Zuständen. So ist esfür manche Person über Jahrzehnte hinweg besonders anziehend, ge-nussvoll und wichtig, sich im Lösen herausfordernder Aufgaben alskompetent und tüchtig erleben zu können (Leistungsmotiv), währendes für andere besonders attraktiv ist, sich in der Beeinflussung andererMenschen groß, mächtig, stark und wichtig zu fühlen (Machtmotiv).Solche und ähnliche überdauernden Vorlieben der Person werden Mo-tive genannt.

In der Motivationspsychologie bezieht sich der Begriff Motiv aufdie relativ zeitstabile Bevorzugung einer Person für eine bestimmteInhaltsklasse von Anreizen (z. B. Leistung, Macht, freundschaftlicheBeziehungen etc.).

Natürlich sind auch Motive nicht direkt beobachtbar, sondern hilfrei-che Gedankenkonstruktionen (hypothetische Konstrukte), die uns dasHandeln von Personen besser verständlich machen. Wir werden späterdarauf noch sehr genau eingehen. Zum jetzigen Zeitpunkt soll es genü-gen, klarzustellen, dass der verhaltenslenkende Anreiz angestrebterZielzustände mit abhängig ist von Bewertungsvorlieben (Motiven) derPerson. Gleichwohl ist er ein Bestandteil einer künftigen Situation, aufdie man durch eigenes Handeln zielförderlich Einfluss nehmen will.

Fällt mit diesem Rückbezug zur Person der Unterschied zwischendruck- und zugmotivierter Verhaltensmodellierung letztendlich zusam-men? Das nicht. Im ersteren Fall müssten die allein über Triebe/In-stinkte herausgebrachten Aktivitäten in mehr oder weniger fixierter

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Form abgespeichert und auslösbar sein. Sie müssen ihre spezifischeZielausrichtung in schematischer Version schon in sich haben. Imzweiten Fall besorgt die Personvariable (Motiv) zunächst lediglich dieBewertung und Akzentuierung eines Zustandes, der sich im künftigenLebensvollzug der Person durch eigenes Eingreifen ergeben könnte.Ob und wann daraus welche Handlung wird und welche richtungge-benden Teilprozesse auftreten, das ist als relativ flexibel, insbesondereals situationsangemessen reguliert gedacht.

1.4 Zusammenfassung

Im ersten Kapitel haben wir uns gefragt, womit sich Motivationspsy-chologie beschäftigt, und auf welche Weise sie versucht, Motivations-phänomene zu analysieren. Dazu haben wir zwei zentrale Konzepte,nämlich »Motivation« und »Motiv« näher bestimmt, sowie zwei un-terschiedliche Erklärungsstrategien, nämlich »Druck« und »Zug« skiz-ziert.

Übungsfragen

1. Wie lässt sich Motivation definieren?2. In welcher Beziehung stehen Motiv und Motivation zueinander?3. Wie unterscheiden sich die beiden Analyseperspektiven »Zug« und

»Druck«?

Leseempfehlung: In den beiden nachfolgenden Kapiteln werden frühetheoretische Konzepte beschrieben, auf deren Fundament sich die heuti-ge Motivationspsychologie entwickelt hat. Wer sich für solche Grund-lagen nicht interessiert, kann gleich bei Kapitel 4 zur Leistungsmotiva-tion weiterlesen.

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2 Frühe Erklärungskonzepte: Instinkteund Triebe

Wie schon angesprochen, gibt es Anteile unseres Verhaltensrepertoires,die in ihrer motivationalen Grundstruktur angeboren sind. Dasschließt nicht aus, dass auch erworbenes Wissen/Kognitionen und Ge-wohnheiten Einfluss nehmen. Gleichwohl ist hier die Kopplung vonAnregungsbedingungen und Verhaltenstendenz schon vor der Lerner-fahrung und dem Wissensaufbau gegeben. Trivialerweise gilt dies fürunmittelbar lebenserhaltende Aktivitäten wie Essen oder Trinken. Or-ganismen ohne einen genetisch gesicherten Antrieb zu solchen Verhal-tensweisen hätten kaum eine Chance, mehr als einige Tage zu überle-ben.

Sieht man einmal vom Einfluss erlernter, situativer Anreize (»Appe-titanregung«) und kognitiver Bewertungsprozesse ab, so ist etwa derHunger abhängig von innerorganismischen Zuständen (z. B. dem Glu-kosegehalt an Rezeptoren in der Leber oder dem Druck auf die Ma-genwände; s. im Einzelnen Schmalt & Langens, 2009, S. 120 – 137).Der erlebte Drang zur Nahrungsaufnahme nimmt im Allgemeinen mitder Dauer der Fastenzeit zu und kann alle anderen Wünsche, Vorstel-lungen und Zielsetzungen dominieren. Die Tatsache, dass der sog.Mundraub straffrei bleibt, zeigt, dass die gebieterische Kraft solcherMangelzustände auch der »naiven« Psychologie in der Gesetzgebungbekannt ist. Hinreichend großer Hunger kann kognitive Bewertungs-prozesse bei der Nahrungsauswahl soweit relativieren, dass Hungern-de Ratten, Mäuse, Insekten und andere ekelerregende Dinge essen.Auch wenn es in Einzelfällen Abweichungen gibt (z. B. lebensgefähr-dende Hungerstreiks von Inhaftierten zur Durchsetzung bestimmterZiele), haben wir es im Regelfall also mit einem mächtigen Motiva-tionssystem zu tun, das angeborenermaßen unser Verhalten in aktivie-

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render Weise auf bestimmte Ziele lenkt und so das Überleben sichert.Solche Systeme haben wir offenkundig mit anderen Lebewesen ge-mein.

2.1 Instinkte

Nun gibt es bei Tieren noch eine Vielzahl weiterer, auf bestimmteEndzustände zulaufende Verhaltenssysteme, etwa im Sexual-, Brut-und Aufzuchtverhalten oder im innerartlichen Sozialverhalten, für dieeine genetische Basis anzunehmen ist. Für Letzteres spricht die Stereo-typie der Ausführung sowie die systematische innerartliche Verbrei-tung und vor allem die Lernunabhängigkeit bestimmter Verhaltensse-quenzen.

So beginnen isoliert aufgezogene und erstgebärende Rattenweibchenein bis zwei Tage bevor sie gebären, Papierschnitzel in ihrem Käfigzusammenzutragen und eine Art Nest zu bauen, obwohl sie es niebei anderen Tieren beobachtet haben oder sonstwie erfahren habenkonnten. Auch das Reinigen des Nestes, Wärmen und Säugen derJungen erfolgt ohne vorherige Lerngelegenheiten (Hebb 1975).

Solche Zweckmäßigkeitsstrukturen wirken auf uns verblüffend, weilklar ist, dass das fragliche Lebewesen den jeweiligen Zweck nicht vor-hersehen kann. So wird den Ameisen das System ihres Zusammenle-bens schon aus Kapazitätsgründen kognitiv kaum repräsentiert seinkönnen – gleichwohl agieren sie in einer Art, als wäre es so. Ein geradegeschlüpfter Kuckuck wirft die anderen Jungvögel aus dem fremdenNest, ganz so, als ob er wüsste, dass er mehr Nahrung braucht, als dieversorgenden und körperlich kleineren Elternvögel für alle liefernkönnten, und ganz so, als ob er wüsste, dass diese Elternvögel auf-grund ihrer eigenen genetischen Festlegung nicht anders können, alsihn (statt ihres eigenen eliminierten Nachwuchses) aufzuziehen.

2 Frühe Erklärungskonzepte: Instinkte und Triebe

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Solche zweckgerichteten Verhaltensketten wurden in großer Zahl be-schrieben und zum Teil detailliert analysiert (Eibl-Eibesfeldt 1978; Lo-renz 1937; Tinbergen 1951). Sie sind uns als Instinkt (Instinctus natu-rae = naturgegebener Antrieb) geläufig. Schon Darwin (1859) hattesich mit dem Instinktkonzept beschäftigt. Für ihn folgen diese erblichbedingten Verhaltenssequenzen den gleichen Gesetzen wie körperlicheMerkmale, nämlich der Zufallsvariation des genetischen Materialsund der natürlichen Auslese. Letztere ergibt sich daraus, dass die über-lebenserforderlichen Ressourcen in der Umwelt nicht unbegrenzt zurVerfügung stehen.

Wenn man sich einen bestimmten Instinkt vorstellt als eine Zusam-mensetzung vieler einzelner angeborener Reflexeinheiten, die jede fürsich dem Prinzip der genetischen Zufallsvariation folgt, so kann eineVielzahl von Reflexsequenzen entstehen. Diejenigen Reflexsequenzen,die unter gegebenen Bedingungen (Umwelt, Körperbau etc.) einen An-passungsvorteil bewirken, begünstigen Lebewesen mit der entsprechen-den genetischen Ausstattung. Das wiederum führt zu einer Ausbrei-tung des jeweiligen Instinktes in der Art.

Wegen der feinen Anpassung an komplexe Bedingungskonstellatio-nen wirken die Verhaltensweisen scheinbar beabsichtigt, ja manchmalfast trickreich und raffiniert – wie oben beim Beispiel des frisch ge-schlüpften Kuckucks. Gleichwohl sind es starre Verhaltenssequenzen,die mitunter nicht einmal bis zum Erreichen des nützlichen Effektesdurchgehalten werden (Lorenz 1937). Trotz oberflächlicher Ähnlich-keit ist solch instinktgelenktes Verhalten qualitativ höchst verschiedenvon einer Handlungsstruktur, bei der ein künftiger Zustand als Zielkognitiv vorweggenommen und wegen seiner positiven Bewertung aufjeweils situationsangepasste Weise angestrebt wird.

Auch wenn Menschen mit Hilfe ihrer kognitiven MöglichkeitenZielzustände vorwegnehmen, bewerten und flexibel anstreben können,so schließt das ja nicht aus, dass auch wir aus unserer Evolutionsge-schichte genetisch basierte Verhaltenstendenzen besitzen, die sich aus(früheren) Instinkten herleiten. Insbesondere nachdem Darwin die ge-meinsame Systematik in der Entwicklung der Arten (inklusive desMenschen) überzeugend dargelegt hatte, sprach im Prinzip nichts da-gegen, auch bei Menschen instinktive Verhaltensanteile oder Instinkt-

2.1 Instinkte

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rudimente zu vermuten. Diese Vermutung lag umso näher, als es Ver-haltensweisen gibt, die bei vielen Menschen in ähnlicher Form beob-achtbar sind – also eine hohe innerartliche Verbreitung haben.

Das betrifft etwa das Ausdrucksverhalten. So ist der mimische Aus-druck von Gefühlen für unterschiedlichste Völker in gleicher Weiseverstehbar: Ureinwohner Neuguineas konnten auf Portraitfotos dieausgedrückte Emotion richtig zuordnen, obwohl die Fotos von Men-schen aus gänzlich fremden Kulturkreisen stammten. Umgekehrt konn-ten amerikanische Studenten den Emotionsausdruck dieser Ureinwoh-ner richtig zuordnen, obwohl auch sie nie Kontakt zu diesemKulturkreis hatten (Ekman 1972).

Universell sind auch bestimmte Grundtendenzen wie Flucht, An-griff, Orientierung etc., die im Verhalten schon auftreten können, be-vor wir in der jeweiligen Situation detaillierte Zielbewertungen undMittelabwägungen vorgenommen haben. So wundert es nicht, dassschon recht früh in der wissenschaftlichen Psychologie mit dem Ins-tinktkonzept gearbeitet wurde.

Bereits 1890 benutzte William James den Begriff Instinkt undcharakterisierte damit die Möglichkeit von Lebewesen, ohne vorhe-riges Anlernen und ohne Voraussicht bestimmte Endzustände zubewirken (James 1890, S. 383).

Den größten Einfluss bekam das Instinktkonzept in der Psychologieaber etwas später durch McDougall (1908). McDougall ging von ei-nem relativ komplexen Instinktkonzept aus. Als angeborene Struktursollte der Instinkt (1) eine Akzentuierung der Wahrnehmung besorgen:man wird bevorzugt auf bestimmte Gegenstände oder Ereignisse auf-merksam und beobachtet sie. Die so wahrgenommenen Objekte füh-ren dann (2) zu ganz bestimmten Qualitäten emotionaler Erregung,die wiederum (3) die Tendenz erzeugen, in einer bestimmten Weise ge-genüber diesem Wahrnehmungsobjekt zu handeln – zumindest liefertsie den Impuls dazu. Nach McDougall gehört also zu jedem Auftreteninstinktiven Verhaltens ein Erkennen von etwas, ein Gefühl ihm ge-genüber und ein Streben hin oder weg von ihm (1908, S. 26).

2 Frühe Erklärungskonzepte: Instinkte und Triebe

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Als unveränderlichen Kern des jeweiligen Instinkts sah McDougall diespezifische Emotion an. Die Klassen von Objekten/Ereignissen, die die-se instinkttypische Emotion auslösen, können in Abhängigkeit von Er-fahrung ebenso modifiziert werden wie die motorische Aktivität, zuder die Emotion drängt. Auf diese Weise konnte McDougall der unab-weislichen Plastizität menschlichen Verhaltens Rechnung tragen undgleichzeitig annehmen, dass sich eine breite Variation unseres Verhal-tens auf eine begrenzte Zahl von Instinkten zurückführen lässt. Aller-dings hatte er sich mit diesem Konzept deutlich entfernt von dem eherstarren Instinktbegriff, wie er von Darwin oder James und vor allemin der Ethologie verwandt wird (s. u.). Genau genommen bleibt vomInstinkt nur noch das Rudiment einer angeborenen Möglichkeit zu be-stimmten Emotionen in vitalen Grundsituationen. So war es dannauch folgerichtig, wenn er später statt von Instinkten von »Propensi-ties« (Neigungen) als Disposition zu bestimmten Verhaltenstendenzenoder Impulsen sprach (McDougall 1932).

McDougalls allgemeines Instinktkonzept ist durchaus mit Vorstellun-gen aus der jüngeren Emotions- und Motivationspsychologie vereinbar(s. u.). Die Resultate der dadurch angeregten Forschung waren aller-dings weniger hilfreich. Sie bestanden in unterschiedlich langen Listenvon Instinkten. Verhaltensweisen, die man häufiger bei sich und anderenin ähnlicher Weise beobachtete, wurden mehr oder weniger scharf alsKategorien gefasst, mit Begriffen belegt, und ihnen dann der Status vonInstinkten verliehen. Die theoretisch interessante Zuordnung zu Emo-tionen als Kern des Instinktes konnte dabei leider nicht mehr durchgän-gig geleistet werden. Die folgende Tabelle gibt als Beispiel die letzte Ins-tinktsammlung von McDougall (u Tab. 2.1; der Begriff Propensitywird hier mit Instinkt, Trieb, Streben, Impuls, Bedürfnis etc. übersetzt.)

Die Systematik der Kategorienbildung ist wenig überzeugend. ImUnterschied zur theoretisch klar gefassten dreigliedrigen Instinktdefini-tion bietet McDougall hier eine bunte Sammlung an, die zum Teil ausdirekten Bezeichnungen von Emotionen/Affekten besteht (z. B. Ekel,Angst), zum Teil aus Verhaltenstendenzen mit emotionalem Kern (z. B.Sexualität, Elterninstinkt) sowie aus Verhaltenstendenzen, bei deneneine Emotionszuordnung kaum möglich erscheint (z. B. Herstellungs-bedürfnis, Besitzstreben).

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Tab. 2.1: Instinktive Tendenzen (sog. Propensities) im Verhalten von Menschen(nach McDougall 1932)

1. Nahrungssuche (Nahrung suchen und gegebenenfalls Vorräte anlegen).

2. Ekelimpuls (bestimmte schädliche Substanzen abweisen und vermeiden).

3. Sexualtrieb (werben und sich paaren).

4. Angst/Furcht (bei drohendem Schmerz oder Verletzung fliehen oder sichverstecken).

5. Neugier (fremde Gegenden oder Objekte erkunden).

6. Elterninstinkt (den Nachwuchs nähren und beschützen, Fürsorge üben).

7. Geselligkeitsstreben (mit anderen zusammen sein, nach Gesellschaft su-chen).

8. Selbstbehauptungsstreben (dominieren und führen, sich selbst vor oderüber andere stellen).

9. Unterordnungsbereitschaft (sich Personen fügen, die überlegene Machtzeigen, ihnen gehorchen und folgen).

10. Ärger/Zorn (grollen und mit Gewalt Widerstände brechen, die den eige-nen Wünschen im Wege stehen).

11. Hilfesuchen (laut nach Hilfe rufen, wenn die eigenen Bemühungen letzt-endlich gescheitert sind).

12. Herstellungsbedürfnis (sich ein Obdach, Gebrauchsgegenstände undWerkzeuge schaffen).

13. Besitzstreben (nützliche oder attraktive Dinge erwerben, behalten undverteidigen).

14. Drang zu lachen (über Unzulänglichkeiten und Fehler unserer Mitmen-schen lachen).

15. Komfortbedürfnis (durch Lageveränderung oder Kratzen das abstellen,was Unbehagen schafft).

16. Ruhe, Schlafbedürfnis (sich bei Ermüdung hinlegen, ausruhen oder schla-fen).

17. Migrationsbedürfnis (Herumziehen und neue Lebensräume suchen).

18. Einfache, körperliche Verhaltensäußerungen (husten, niesen, atmen, aus-scheiden).

Gleichwohl findet sich in dieser Aufstellung viel »allgemein Menschli-ches«, das zum Teil in ähnlicher Weise auch bei uns näher verwandten

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Tierarten beobachtbar sein dürfte. Und das ist zweifellos ein gewisserErkenntnisgewinn. Man könnte mit solchen Katalogen vielleicht einemBesucher eines fernen Planeten sagen, womit man bei diesen aufrechtgehenden Lebewesen von Zeit zu Zeit rechnen muss. Aber wie hilf-reich sind solche kategorisierenden Bestandsaufnahmen häufig auftre-tender Verhaltensweisen? Sind sie nicht (a) zu allgemein und (b) un-vollständig?

In der Folge wurde versucht, diesen scheinbaren Mangel dadurchzu beheben, dass man immer mehr höchst spezifische Verhaltenswei-sen beschrieb, die man bei vielen Menschen häufiger beobachtete. DerSoziologe Bernard behauptete 1924, nach einer Inspektion der ein-schlägigen Literatur auf mehr als 14 000 Instinktnennungen gestoßenzu sein. So kam es dann zu solchen Kategorien wie »Trieb, möglichstnicht innerhalb der eigenen Plantage einen Apfel zu essen« (nach Tho-mae 1965b, S. 433).

Hierbei wird deutlich, dass bei solchen Entwicklungen das theoreti-sche Konzept seinen Erklärungswert verloren hat. Das, was zu erklärenwäre (hier: das unterlassene Apfelessen innerhalb der eigenen Plantage),wird im Kurzschluss mit der Erklärung gleichgesetzt, indem das Wort»Instinkt« oder »Trieb« angehängt wird. Dem ohnehin beobachtetenVerhalten wird also ein Instinkt gleichen Namens zugeordnet, womit esals »erklärt« gilt. Individuelle Lebensvollzüge wandeln sich damit voneiner Sequenz unerklärter Verhaltensweisen zu einer ebensowenig er-klärten Serie von Instinktäußerungen. Das ist sicherlich kein Erkennt-nisfortschritt. Diese Kritik betrifft allerdings weniger McDougall selbst,der durch seine reduzierte Zahl von Instinkten zumindest eine abstra-hierende Ordnungsleistung erbracht hat – selbst, wenn die Systematikder Kategorienbildung verbesserungswürdig erschien (s. o.).

Zudem hat er dem Instinktkonstrukt mit der Trias aus erfahrungs-abhängiger Wahrnehmungsakzentuierung, der instinktspezifischenEmotion und der resultierenden Verhaltenstendenz eine Binnenstruk-tur verliehen, die auch mit jüngeren Konzepten zu basalen Verhaltens-weisen vereinbar ist. So gehen in der heutigen Emotionsforschung ver-schiedene Autoren von sechs bis neun Grundemotionen aus (Ekman1972; Izard 1971; Plutchik 1980; Tomkins 1970). Zu diesen Emotio-nen (die übrigens bereits von Darwin 1872 aufgeführt wurden) zählen:

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