Die Neue Weltwirtschaftskrise

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     Paul Krugman, geboren 1953, lehrt an der Princeton University

    und ist einer der bedeutendsten und bekanntesten Wirtschats-

    wissenschatler der Welt. 2008 erhielt er den Wirtschatsnobel-

    preis. Er gilt als der wichtigste politische Kolumnist Amerikas und

    als sprachgewaltigster Ökonom unserer Zeit.

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    Paul Krugman

    Die neueWeltwirtschaftskrise

    Mit einem Nachwort von Irwin L. Collier

    Aus dem Englischen von Herbert Allgeier und Friedrich Griese

    Campus VerlagFrankurt/New York

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    Bibliografische Inormation der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Datensind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufar.ISBN 978-3-593-38933-2

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das giltinsbesondere ür Vervielältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungenund die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Copyright © 1999, 2009. Alle deutschsprachigen Rechte beiCampus Verlag GmbH, Frankurt/Main.Umschlaggestaltung: Kathrin Steigerwald, HamburgSatz: Fotosatz L. Huhn, LinsengerichtDruck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, UlmGedruckt au säurereiem und chlorrei gebleichtem Papier.Printed in Germany

    Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

    Dieses Buch ist die aktualisierte und um drei Kapitel erweiterte Neuaulagedes 1999 im Campus Verlag unter dem Titel Die große Rezession erschienenenBuches. Die amerikanische Originalausgabe erschien 1999 bei W. W. Norton &Company, New York, unter dem Titel The Return of Depression Economics. DieNeuaulage erschien 2008 bei W. W. Norton & Company, New York, unter demTitel The Return of Depression Economics and the Crisis of 2008.  Copyright © 1999, 2008 Paul Krugman. This translation is published by ar-rangement with W. W. Norton & Company, Inc.

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    Inhalt

    Vorwort ür die deutsche Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

      . Der große Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

      . Warnung überhört: Lateinamerikas Krisen . . . . . . . . . .

      . Japans Falle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

      . Die Asienkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

      . Politik der Unvernunt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

      . Masters o the Universe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

      . Greenspans Blasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

      . Die Schattenwirtschat des Bankwesens . . . . . . . . . . . .

      . Das Echo aller Furcht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    . Keynes kehrt zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    Über den Autor  von Irwin L. Collier . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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    Vorwort für die deutsche Ausgabe

    Gegen Ende dieses Buches erkläre ich, dass die eigentliche Knapp-

    heit in der Welt von heute, anders als in den dreißiger Jahren des

    vorigen Jahrhunderts, keine Knappheit »der Ressourcen oder gar

    der Tugend, sondern der Erkenntnis« ist. Besonders akut scheint

    diese Knappheit derzeit in der deutschen Regierung zu sein, was

    nicht nur ür Deutschland, sondern ür ganz Europa ein Problem

    auwirt.

    Zum Hintergrund: Gegenwärtig hat die Finanz- und Wirt-

    schatskrise, die in den Vereinigten Staaten begann, ein zweites

    Epizentrum entwickelt, diesmal in der Peripherie Europas. Die

    Schwierigkeiten der austrebenden Volkswirtschaten Europas

    erinnern stark an rühere Probleme in Asien und Lateinamerika –

    Lettland ist das neue Argentinien, die Ukraine das neue Indone-

    sien. Nimmt man noch die geplatzten Häuserblasen in einigen

    höherentwickelten Volkswirtschaten Europas wie Spanien und

    Großbritannien hinzu, so ist dadurch ein europaweiter Konjunk-

    tureinbruch entstanden, der durchaus so ernst sein könnte wie

    der in Amerika. Deutschland ist auch ohne eine Häuserblase nicht

    immun: Der Export ist merklich zurückgegangen, und unabhän-

    gige Forschungsinstitute sagen die schlimmste Rezession seit dem

    Ende des Zweiten Weltkrieges.

    Europa braucht wie die Vereinigten Staaten unbedingt einen

    iskalischen Stimulus, um den Einbruch der privaten Ausgaben

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    wettzumachen. Doch im Unterschied zu den Vereinigten Staaten

    besitzt Europa keine gemeinsame Regierung. Deshalb ist es darau

    angewiesen, dass die Regierungen der größeren EU-Mitgliedslän-

    der zu einer koordinierten Anstrengung bereit sind. Und damit

    sind wir beim deutschen Problem.

    Aus unerindlichen Gründen scheinen deutsche Spitzenpoliti-

    ker das ungeheure Ausmaß der Krise oder die Notwendigkeit einer

    energischen Reaktion einach nicht zu begreien. Kanzlerin Merkel

    erklärte, an einem »sinnlosen Wettbewerb um Milliarden« werde

    sie sich nicht beteiligen. Peer Steinbrück, ihr Finanzminister, ging

    noch weiter: Nicht genug damit, dass er es ablehnte, selbst einen

    ernstzunehmenden Plan zur Stimulierung der Wirtschat vorzu-

    legen, gri er die Pläne anderer europäischer Regierungen an und

    war insbesondere Großbritannien vor, einem »krassen Keynesia-

    nismus« zu huldigen. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist der

    Keynesianismus, wie in diesem Buch erläutert wird, alles andere

    als krass – er ist der Schlüssel, um die derzeitige Lage zu begreien

    und mit ihr ertig zu werden.

    Dass die deutsche Regierung es »nicht kapiert«, hat weiter rei-

    chende Folgen, als man vielleicht denkt. Die Europäische Union

    ist eine hochgradig integrierte Volkswirtschat, und das bedeutet,

    dass es ür ein einzelnes Land sehr schwierig ist, eine iskalische

    Expansion im Alleingang zu schaen. Wenn Frankreich beispiels-

    weise ein unilaterales Programm der iskalischen Stimulierung

    betreibt, um Arbeitsplätze zu schaen, werden viele der neuen

    Arbeitsplätze nicht in Frankreich entstehen, sondern in anderen

    europäischen Ländern – aber die zusätzliche Verschuldung wird

    allein Frankreich tragen. Es bedar wirklich einer koordinierten

    Expansion, weil sonst ür alle einzelnen Länder ein Anreiz besteht,

    zu wenig zu tun – und damit bliebe die gesamteuropäische Ant-

    wort au die Krise weit hinter dem zurück, was jetzt nötig ist.

    Eine koordinierte europäische Antwort wird es jedoch nicht

    geben, wenn die größte Volkswirtschat Europas nicht erkennt,

    dass jetzt gehandelt werden muss.

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      Vorwort ür die deutsche Ausgabe  9

    Frau Merkel und ihre Beamten glauben anscheinend noch

    immer, hier herrschten die normalen Regeln der Wirtschat, jene

    Regeln, die dann gültig sind, wenn man mit Geldpolitik noch etwas

    ausrichten kann. Sie haben nicht begrien, dass in Europa genau

    wie in den Vereinigten Staaten mittlerweile ein Depressionsklima

    eingezogen ist, in dem die normalen Regeln nicht mehr gelten. So-

    bald wir wieder normale Verhältnisse haben, werde ich jenen, die

    wie Herr Steinbrück iskalische Disziplin predigen, gern die ihnen

    gebührende Ehre erweisen. Sich jetzt aber an die Orthodoxie zu

    klammern, ist hochgradig destruktiv – ür Deutschland, Europa

    und die Welt.

     Paul Krugman

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    Einleitung

    Die meisten Ökonomen – soern sie sich überhaupt mit dem Thema

    beschätigen – halten die Weltwirtschatskrise der dreißiger Jahre

    ür eine unnötige, vermeidbare Tragödie. Wenn nur der Präsident

    der Vereinigten Staaten von Amerika Herbert Hoover angesichts

    des Konjunkturrückgangs weniger Haushaltsdisziplin geübt hätte;

    wenn nur die Notenbank (Federal Reserve) nicht au Gedeih und

    Verderb zulasten der heimischen Wirtschat am Goldstandard

    estgehalten hätte; wenn nur der Staat den bedrohten Banken mit

    Liquidität zu Hile geeilt wäre, um dem Bankenansturm, der sich

    1930/31 anbahnte, rühzeitig zu wehren – dann hätte der Börsen-

    krach des Jahres 1929 nie solche Konsequenzen zeitigen können.

    Alles wäre bei einer ganz normalen, schon bald vergessenen Re-

    zession geblieben. Und da ja Ökonomen wie Politiker ihre Lektion

    anscheinend gelernt haben, wird sich eine Depression dieses Kali-

    bers bestimmt niemals wiederholen. Kein heutiger Finanzminis-

    ter würde Andrew Mellons berühmtem Ratschlag olgen und mit

    einer Radikalkur alles vor die Hunde gehen lassen (alles »liquidie-

    ren« – Arbeitsplätze, Börse, Farmer, Immobilien et cetera), um das

    System gleichsam von Grund au zu sanieren.

    Aber ist diese Zuversicht wirklich gerechtertigt? Ende der neun-

    ziger Jahre geriet eine Gruppe asiatischer Volkswirtschaten – die

    zusammengenommen immerhin ür ein Viertel der Weltproduk-

    tion sorgten und eine Bevölkerung von rund 700 Millionen au-

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    wiesen – in eine Wirtschatskrise, die in geradezu beängstigender

    Weise an die große Depression der dreißiger Jahre erinnerte. Wie

    in den Dreißigern schlug die Krise gleich einem Blitz aus heiterem

    Himmel zu, wobei die meisten Kommentatoren noch eine Fort-

    setzung des Booms prognostizierten, als der Abschwung längst

    an Dynamik gewonnen hatte; und wie in den Dreißigern erwie-

    sen sich die gängigen wirtschatlichen Rezepte als unwirksam,

    vielleicht sogar als kontraproduktiv. Die Tatsache, dass so etwas in

    unserer modernen Welt überhaupt noch geschehen konnte, hätte

    jedem, der einen Sinn ür Geschichte hat, einen Schauer über den

    Rücken jagen sollen.

    Mir jedenalls erging es so. Die erste Aulage dieses Buches ent-

    stand als Reaktion au die Asienkrise der neunziger Jahre. Wäh-

    rend manche Beobachter diese Krise als speziisch asiatisches

    Phänomen betrachteten, sah ich sie als ein schlechtes Omen ür

    uns alle – als Warnung, dass die Probleme nachhaltiger Konjunk-

    tureinbrüche keineswegs aus der modernen Welt verschwunden

    sind. Es stimmt mich durchaus nicht röhlich, dass ich mit meinen

    Beürchtungen Recht behalten habe: Während diese Neuaulage

    in Druck geht, kämpt ein Großteil der Welt – und zuvörderst die

    Vereinigten Staaten – mit einer Finanz- und Wirtschatskrise, die

    der großen Depression der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts

    eher noch stärker ähnelt, als dies bei der Asienkrise der neunziger

    Jahre der Fall war.

    Dabei glaubten wir, wirtschatliche Schwierigkeiten der Art,

    wie Asien sie vor gut zehn Jahren erlebte und wie sie die Welt heute

    erneut bedrohen, inzwischen im Gri zu haben und somit ver-

    hindern zu können. Mochten in den schlechten alten Zeiten auch

    große, ortgeschrittene Länder mit stabilen Regierungen – wie

    Großbritannien in den zwanziger Jahren – mit längeren Stagna-

    tions- und Delationsperioden ihre Probleme gehabt haben: An-

    gesichts der wissenschatlichen Erkenntnisortschritte von John

    Maynard Keynes bis Milton Friedman, dachten wir, sollte es kün-

    tig kein Problem mehr sein, derlei Entwicklungen zu unterbinden.

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      Einleitung  13

    Mochten kleinere Länder – etwa Österreich 1931 – rüher einmal

    den internationalen Kapitalströmen machtlos gegenübergestan-

    den haben: Heute dürte es angesichts des Sachverstands von

    Banken und Regierungen (ganz zu schweigen vom Internationa-

    len Währungsonds) keine Schwierigkeit mehr sein, rasch ein ge-

    eignetes Maßnahmenpaket zu schnüren, um solche Krisen recht-

    zeitig zu managen. Früher mochten Regierungen – wie 1930/31 die

    amerikanische – hillos zugesehen haben, wie ihr Bankensystem

    zusammenbrach; doch in der modernen Welt gibt es ja schließlich

    die Einlagengarantie und außerdem eine mächtige Zentralbank,

    die solche Entwicklungen zu verhindern weiß, indem sie die be-

    drohten Einrichtungen rechtzeitig mit Liquidität versorgt. Zwar

    war kein vernüntiger Mensch so vermessen zu glauben, nun

    seien alle wirtschatlichen Probleme ein ür alle Mal vom Tisch;

    aber wir hatten schon das Geühl, dass es so dick wie in den zwan-

    ziger und dreißiger Jahren nie mehr kommen könne.

    Eigentlich aber hätten wir bereits vor zehn Jahren sehen müs-

    sen, dass unser Selbstbewusstsein arg überzogen war. Japan

    steckte ast die gesamten neunziger Jahre über in einer ökono-

    mischen Falle, die Keynes und seinen Zeitgenossen vollkommen

    vertraut vorgekommen wäre. Die kleineren asiatischen Volkswirt-

    schaten wiederum stürzten praktisch über Nacht vom Boom in

    die Baisse – doch auch das Drehbuch ihres Niedergangs könnte ge-

    radewegs einem Werk der Wirtschats- und Finanzgeschichte der

    dreißiger Jahre entstammen.

    Ich verglich das Ganze damals mit ehedem hoch inektiösen,

    dank der modernen Medizin aber längst als besiegt geltenden Bak-

    terien, die sozusagen in einer neuen Variante augetaucht waren,

    gegen welche die üblichen Antibiotika nichts ausrichten konn-

    ten. Hier ein kurzer Auszug aus der Einleitung zur ersten Aulage:

    »Noch reilich ist die Zahl der Oper gering. Dies kann jedoch ür

    alle anderen nur heißen, alles daranzusetzen, um möglichst rasch

    neue Gegenmittel und prophylaktische Maßnahmen zu entwi-

    ckeln, damit weitere Oper vermieden werden.«

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    Nun, wir waren dumm genug, den Rat nicht zu beolgen. Und

    jetzt hat es uns erwischt.

    Ein Großteil dieser neuen Aulage beschätigt sich mit der Asien-

    krise der neunziger Jahre, die sich als eine Art Vorläuer der globa-

    len Krise herausstellt, mit der wir es gegenwärtig zu tun haben.

    Ergänzend indet sich jedoch auch umangreiches neues Material,

    das Licht au die Frage weren soll, wie es dazu kommen konnte,

    dass die Vereinigten Staaten sich in einer ähnlichen Situation wie-

    deranden wie Japan ein Jahrzehnt zuvor, dass es Island nicht viel

    anders erging als damals Thailand und dass die ursprünglichen

    Krisenländer der neunziger Jahre sich mit Schrecken erneut am

    Rande des Abgrunds sahen.

    Über dieses Buch

    Ich will es vorweg sagen: Es handelt sich im Kern um eine analyti-

    sche Abhandlung. Es geht mir also weniger um das Was, sondern

    um das Warum. Das Ziel ist, einige zentrale Zusammenhänge zu

    verstehen: Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Wie

    können sich die betroenen Länder aus ihrer Misere bereien? Wie

    können wir Ähnliches in Zukunt verhindern? Letztlich geht es

    also darum, die Theorie des Falles zu entwickeln (wie man an den

    Business Schools sagen würde). Wir müssen versuchen, System in

    die Sache zu bekommen.

    Gleichzeitig kam es mir jedoch darau an, ein allzu trockenes

    und theorielastiges Vorgehen zu vermeiden. Der Leser wird also

    nicht mit mathematischen Gleichungen belästigt, so wenig wie

    mit schwer verständlichen Diagrammen. Und ich habe mich auch

    bemüht, Fachjargon möglichst beiseite zu lassen. Als an akade-

    mische Verhältnisse gewöhnter Ökonom würde es mir bestimmt

    nicht schwer allen, ein Buch mit sieben Siegeln zu schreiben.

    Solche Fachpublikationen haben ja auch durchaus ihren Sinn

    und spielten eine wichtige Rolle im Erkenntnisprozess, dessen

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      Einleitung  15

    Ergebnisse ich hier präsentiere. Doch worau es jetzt ankommt,

    sind sachgerechte politische Maßnahmen. Und um diese zu er-

    möglichen, müssen die gewonnenen Ideen und Einsichten einem

    breiteren Publikum – und nicht nur Fachkollegen – au möglichst

    verständliche Weise dargeboten werden. Im Übrigen sind die Glei-

    chungen und Diagramme der Volkswirtschatslehre sowieso nur

    das Gerüst, mit dessen Hile das intellektuelle Gebäude errichtet

    wird. Sobald Letzteres steht, kann man das Gerüst wieder enter-

    nen. Übrig bleiben sollte nur klarer, verständlicher Text.

    Der Leser wird auch eststellen, dass ungeachtet des analyti-

    schen Grundanliegens viel Erzählerisches im Spiel ist. Dies hat

    zum einen damit zu tun, dass der Erzähladen – die Entwicklung

    der Ereignisse – häuig wichtige Anhaltspunkte daür lieert, wel-

    che Theorie des Falles denn sinnvoll ist. (Beispiel: Eine undamen-

    talistische Sicht der Wirtschatskrise – die gleichsam annimmt,

    dass eine Volkswirtschat immer nur die Strae bekomme, die sie

    verdient – muss den sonderbaren Zuall erklären können, warum

    so viele oenkundig ganz verschiedene Volkswirtschaten bin-

    nen weniger Monate so tie in den Schlamassel gerieten.) Als wei-

    terer Punkt kommt hinzu, dass der Erzähladen erst den nötigen

    Kontext ür die Erklärungsversuche schat, zumal die wenigsten

    Leser mit der Entwicklung und den Geschehnissen der letzten ein-

    einhalb Jahre hinreichend vertraut sein dürten. Nicht jeder wird

    zum Beispiel wissen, was Mohamad Mahathir im August 1997 in

    Kuala Lumpur von sich gab, und kaum jemand wird die Verbin-

    dungslinien zu dem ziehen können, was Donald Tsang ein Jahr

    später in Hongkong tat. Nun, dieses Buch soll dem Gedächtnis des

    Lesers au die Sprünge helen.

    Eine Anmerkung zum Thema »intellektueller Stil«: Wirtschats-

    autoren sind ot versucht, sich prätentiös zu geben, vor allem bei so

    ernsten Themen. Natürlich geht es um sehr wichtige Dinge, nicht

    selten um Leben und Tod. Doch viele von ihnen scheinen zu glau-

    ben, dass ein ernstes Thema einen gespreizten Stil erordere, dass

    große Fragen große Worte verlangten, dass Inormelles und Locke-

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    res da keinen Platz habe. Tatsache ist aber, dass man neuen und

    unverstandenen Phänomenen au spielerische Weise viel eher au

    den Grund kommt. Das Wort »spielerisch« benutze ich hier übri-

    gens in voller Absicht. Denn den Salbungsvollen und Hochtraben-

    den, die alles Lockere grundsätzlich ür unter ihrer Würde halten,

    gelingt es selten, ür rischen Wind zu sorgen – in der Ökonomie so

    wenig wie anderswo. Nehmen wir olgende Aussage als relativ ty-

    pisches Beispiel: »Japan leidet derzeit an undamentalen Abstim-

    mungsdeiziten, weil sein staatsorientiertes Wachstumsmodell zu

    struktureller Inlexibilität ührt.« Das hört sich gelehrt an, doch

    der Inormationswert geht gegen Null. Bestenalls bringt der Satz

    zum Ausdruck, dass die Probleme groß und die Lösungen schwie-

    rig sind – und Letzteres ist möglicherweise auch noch alsch. Neh-

    men wir demgegenüber an, ich illustriere Japans Schwierigkeiten

    anhand eines unterhaltsamen Beispiels, etwa dem Au und Ab in

    einer Babysitting-Kooperative (dieses Beispiel wird in der Tat noch

    mehrach autauchen). Manchem Leser mag so etwas zu läppisch

    erscheinen, manch einen mag es gar beremden. Doch dieses

    spielerisch-lockere Vorgehen verolgt einen wichtigen Zweck: Es

    erönet nämlich eine neue Sicht au die Sache und legt in unse-

    rem Fall den Schluss nahe, dass es ür Japan vielleicht tatsächlich

    einen überraschend einachen Weg aus der Krise gibt (jedenalls

    partiell). Erwarten Sie also kein hochgestochenes Buch! So ernst

    es mir mit meinem Anliegen ist, so locker und unprätentiös soll

    es – im Interesse der Sache – bei der Darstellung zugehen.

    Und damit beginnen wir nun unsere Reise, ausgehend von jener

    Welt, wie sie sich uns vor wenigen Jahren noch darbot.

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    Kapitel

    Der große Irrtum

    2003 war es, als Robert Lucas, Proessor an der Universität von Chi-

    cago und Wirtschatsnobelpreisträger des Jahres 1995, in seiner

    präsidialen Ansprache zur Erönung der Jahrestagung der Ame-

    rican Economic Association einen bemerkenswerten Satz von sich

    gab. Nachdem er zunächst über die Entstehung der Makroökono-

    mik als Antwort au die Weltwirtschatskrise der dreißiger Jahre

    reeriert hatte, erklärte er, dass es ür diese Disziplin nun an der

    Zeit sei, einen Schritt nach vorne zu machen: »Das zentrale Pro-

    blem der Depressionsvermeidung«, sagte er, »ist in jeder prakti-

    schen Hinsicht gelöst.«

    Damit wollte Lucas natürlich nicht zum Ausdruck bringen,

    dass der Konjunkturzyklus – das Au und Ab des unregelmäßi-

    gen Wechsels zwischen Schrumpung (Rezession) und Wachstum

    (Expansion), das uns über gut eineinhalb Jahrhunderte begleitet

    hat – nunmehr gänzlich der Vergangenheit angehöre. Wohl aber

    behauptete er, dass der Zyklus so weit gezähmt, mithin unter Kon-

    trolle sei, dass der Nutzen weiterer Bemühungen au diesem Ge-

    biet trivial erscheine: Die Glättung der kleineren Schwankungen

    im Wirtschatswachstum, so Lucas, brächte nur unbedeutende

    Steigerungen des Gemeinwohls. Daher sei es an der Zeit, Themen

    wie das langristige Wirtschatswachstum ins Zentrum der Au-

    merksamkeit zu rücken.

    Lucas war mit seiner Meinung, die Vermeidung ausgedehnter

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    und tie greiender Rezessionen sei als Problem vom Tisch, kei-

    neswegs allein. Ein Jahr später hielt auch Ben Bernanke, ehemals

    Proessor in Princeton, bevor er zur Fed ging und bald darau ihr

    Vorsitzender wurde, unter dem Titel The Great Moderation  (rei

    übersetzt: Die gelungene Zähmung) eine bemerkenswert opti-

    mistische Rede. Darin vertrat er ganz ähnlich wie Lucas die Au-

    assung, dass die moderne makroökonomische Politik die Kon-

    junktur inzwischen im Gri habe – oder genauer: das Problem

    zumindest so weit unter Kontrolle, dass es allenalls noch kleinere

    Unpässlichkeiten, aber keine schweren Krisen mehr verursachen

    könne.

    Blickt man heute, nur wenige Jahre später, au diese orschen

    Aussagen zurück, wirkt ihre Naivität angesichts einer weltweit wü-

    tenden, nur allzu sehr an die dreißiger Jahre erinnernden Finanz-

    und Wirtschatskrise geradezu erschütternd. Was diesen Optimis-

    mus noch seltsamer macht, ist die Tatsache, dass ökonomische

    Probleme gravierender, an die Große Depression erinnernder Art

    auch in den neunziger Jahren keineswegs aus der Welt waren. Im

    Gegenteil. Es gab sie in einer Reihe von Ländern – darunter Japan,

    der zweitgrößten Volkswirtschat der Welt.

    Freilich waren die Vereinigten Staaten zu Beginn dieses Jahr-

    zehnts noch von depressionsartigen Problemen verschont geblie-

    ben. Gleichzeitig schien die Inlation – die Geißel der siebziger

    Jahre – endlich unter Kontrolle zu sein. Hinzu kam, dass die relativ

    beruhigenden Wirtschatsnachrichten in ein politisches Umeld

    eingelagert waren, das seinerseits den Optimismus stützte: Die

    Welt schien den Marktwirtschaten gewogener zu sein als je zuvor

    in ast neunzig Jahren.

    Der Siegeszug des Kapitalismus

    Dieses Buch dreht sich um wirtschatliche Zusammenhänge; doch

    alles Wirtschatliche spielt sich in einem politischen Rahmen ab.

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      Der große Irrtum  19

    Die Welt, wie sie sich uns noch vor ein paar Jahren darstellte, lässt

    sich daher nur richtig deuten, wenn wir das grundlegende politi-

    sche Faktum der neunziger Jahre mit berücksichtigen: den Zusam-

    menbruch des Sozialismus, und zwar nicht nur au politischer,

    sondern auch au intellektueller Ebene.

    Ausgangspunkt dieser Entwicklung war ausgerechnet China.

    Man kann es noch immer nicht ganz begreien, dass Deng Xiao-

    ping sein Land 1978 au einen in der Konsequenz kapitalistischen

    Weg brachte – nur drei Jahre nach dem Sieg der Kommunisten in

    Vietnam und nur zwei Jahre nach der internen Niederlage der ra-

    dikalen Maoisten, die ja eine neue Kulturrevolution anstrebten.

    Es ist allerdings zu vermuten, dass Deng damals nicht völlig klar

    war, wohin dieser Weg letztlich ühren würde. Au jeden Fall aber

    brauchte der Rest der Welt sehr lange, um zu begreien, dass ein

    Milliardenvolk still und leise Abschied vom Maoismus genommen

    hatte. Selbst Anang der neunziger Jahre hatten viele Intellektuelle

    noch immer nicht richtig verstanden, welcher Wandel in China im

    Gange war. Die Bestseller jener Zeit malten noch immer das Bild

    vom Kamp zwischen dem großen Dreigestirn Europa, Amerika

    und Japan. China tauchte allenalls als sekundäre Größe au, mit-

    unter als Teil eines sich entwickelnden Yen-Blocks.

    Eine andere Veränderung jedoch war allen klar. Gemeint ist der

    Zusammenbruch der Sowjetunion.

    Niemand kann so recht erklären, was dem Sowjetregime eigent-

    lich wideruhr. In der Rückschau neigen wir dazu, das ganze Sys-

    tem ür von Grund au unsolide zu halten, weshalb der Zusam-

    menbruch unvermeidlich gewesen sei – irgendwann. Wir sollten

    aber nicht vergessen, dass es ein Herrschatssystem war, das

    Bürgerkrieg und Hungersnot überdauerte, das wider alle Erwar-

    tungen die Nazis besiegte, das durch Mobilisierung seiner wissen-

    schatlichen und industriellen Ressourcen sogar der Atommacht

    Amerika Paroli zu bieten vermochte. Dass es mit diesem System so

    plötzlich zu Ende ging – nicht mit einem Knall, sondern mit einem

    Seuzer! –, ist im Grunde eines der großen Rätsel der politischen

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    Ökonomie. Vielleicht war es ja wirklich nur eine Frage der Zeit –

    möglicherweise lässt sich der revolutionäre Eier (jenseits aller Be-

    reitschat, Andersdenkende im Namen eines höheren Gemein-

    wohls einen Kop kürzer zu machen) tatsächlich nur über zwei,

    vielleicht drei Generationen konservieren. Vielleicht auch lag es

    am Kapitalismus, dem es gar nicht einiel, sich in der ihm zuge-

    schriebenen Dekadenz zu präsentieren, sodass das sozialistische

    System immer stärker unterminiert wurde. Ich persönlich halte

    es ür denkbar (ohne nun empirische Belege anühren zu können),

    dass der wirtschatliche Austieg der kapitalistischen Volkswirt-

    schaten Asiens die Sowjetherrscher au subtile, doch nachhaltige

    Weise demoralisierte, stellte er doch den lebenden Gegenbeweis zu

    der These dar, der Sozialismus habe die Geschichte (beziehungs-

    weise die Zukunt) au seiner Seite. Verstärkend hinzu kam sicher-

    lich der krätezehrende, nicht zu gewinnende Krieg in Aghanis-

    tan, erner die oenkundige Unähigkeit der Sowjetwirtschat,

    Ronald Reagans Aurüstung zu kontern. Doch was auch immer die

    Gründe gewesen sein mögen – 1989 brach die Sowjetherrschat in

    Osteuropa urplötzlich zusammen, und 1991 geschah Gleiches mit

    der Sowjetunion selbst.

    Die Auswirkungen dieses Zusammenbruchs waren überall au

    der Welt spürbar, mal mehr, mal weniger direkt. Gewinner war

    stets der Kapitalismus, dessen politische und ideologische Vor-

    herrschat nun immer deutlicher wurde.

    Erstens natürlich anden sich mehrere hundert Millionen Men-

    schen, die bis dahin unter marxistischer Herrschat gelebt hatten,

    plötzlich als Bürger von Staaten wieder, die sich den Märkten ö-

    neten. Es überrascht allerdings, dass sich dies in gewisser Weise

    als die am wenigsten durchschlagende Konsequenz des Zusam-

    menbruchs des Sowjetreiches erweisen sollte. Entgegen der allge-

    meinen Erwartung nämlich stürmten die »Volkswirtschaten im

    Übergang« nicht ungestüm au die Weltmärkte und entwickelten

    sich nicht zu bevorzugten Investitionsräumen ür internationa-

    les Kapital. Im Gegenteil. Den meisten Ländern iel der Übergang

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      Der große Irrtum  21

    ausgesprochen schwer. Ostdeutschland zum Beispiel wurde zum

    deutschen Mezzogiorno, einem sozial- und inanzpolitischen

    Problemgebiet, dem es schwer iel, au die Beine zu kommen. Erst

    jetzt, ast zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Kommunismus, schä-

    len sich ein paar Länder heraus – Polen, Estland, Tschechien –, in

    denen sich wirtschatlicher Erolg einzustellen scheint. Und Russ-

    land selbst ist ür den Rest der Welt überraschenderweise zu einer

    enormen Quelle inanzieller und politischer Instabilität gewor-

    den. Doch mehr zu diesem Thema in Kapitel 6.

    Eine direkte weitere Auswirkung des Zusammenbruchs des

    Sowjetregimes bestand darin, dass jene Länder, die au die Unter-

    stützung der Sowjetunion vertraut hatten, nun plötzlich au sich

    selbst gestellt waren. Da jedoch einige dieser Länder den Gegnern

    des Kapitalismus als Ideal und Idol gegolten hatten, versetzten die

    plötzliche Armut dieser Staaten – und die Erkenntnis ihrer Ab-

    hängigkeit von der UdSSR – der Legitimität aller dieser Bewegun-

    gen einen schweren Schlag. Solange Kuba die heldenhate Nation

    spielte, die als kleiner Zwerg den starken USA die Zähne zeigte, war

    es den Revolutionären in ganz Lateinamerika ein äußerst will-

    kommenes Symbol des Kampes – weit brauchbarer natürlich als

    die grauen Bürokraten im ernen Moskau. Die Schäbigkeit und

    Tristesse des nachsowjetischen Kuba ist daher nicht nur an sich

    desillusionierend; sie macht auch schmerzlich klar, dass der Hel-

    denstatus der Vergangenheit nur möglich war, weil jene Bürokra-

    ten dem Land stark unter die Arme gegrien hatten. Eine ähnli-

    che Rolle spielte bis in die neunziger Jahre hinein Nordkorea. Trotz

    seiner gespenstischen Verhältnisse übte das Land au viele Radi-

    kale – insbesondere unter den südkoreanischen Studenten – eine

    nicht geringe Faszination aus. Seit aber die Bevölkerung buchstäb-

    lich zu verhungern begann, weil die Unterstützung aus Russland

    ausblieb, ist natürlich auch die Faszination dahin.

    Eine weitere mehr oder weniger direkte Folge des sowjetischen

    Zusammenbruchs ist das Verschwinden der vielen radikalen Be-

    wegungen, die – ungeachtet ihrer hohen und reineren revolutio-

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    nären Ansprüche – aktisch von Moskau abhängig waren: Moskau

    lieerte die Waen, sorgte ür die nötige Ausbildung und stellte die

    inanziellen Mittel bereit. In Europa hörte man immer wieder das

    Argument, die radikalen Terroristen der siebziger und achtziger

    Jahre – Baader-Meinho in Deutschland, die Rote-Armee-Brigaden

    in Italien – seien die wahren Marxisten, ohne Verbindung zu den

    korrupten Altkommunisten in Russland. Doch inzwischen ist klar,

    dass sie sogar sehr stark von der Unterstützung aus dem Sowjet-

    block lebten. Als diese Hile ausblieb, waren auch jene Bewegun-

    gen am Ende.

    Vor allem aber zerstörte der demütigende Niedergang der So-

    wjetunion den sozialistischen Traum. Anderthalb Jahrhunderte

    lang ungierte die Idee des Sozialismus – jeder nach seinen Mög-

    lichkeiten, jedem nach seinen Bedürnissen – als intellektuelles

    Sammelbecken ür alle, die von der Hand des Marktes nicht viel

    hielten. Nationalistische Führer berieen sich au sozialistische

    Ideale, um Auslandsinvestitionen einen Riegel vorzuschieben

    oder Auslandsschulden au die elegante Weise loszuwerden; Ge-

    werkschatler bedienten sich sozialistischer Rhetorik, um höhere

    Löhne durchzusetzen; sogar Geschätsleuten waren sozialistische

    Prinzipien mitunter willkommen, wenn es galt, Zölle oder Sub-

    ventionen einzuordern. Jene Staaten, die im Prinzip trotzdem

    au reie Märkte setzten, taten dies vorsichtig und eher verschämt,

    weil sie beürchteten, eine allzu oene und kompromisslose

    Marktorientierung könne ihnen den Vorwur einer brutalen, in-

    humanen, unsozialen Politik einbringen.

    Wer aber vermag heute noch das sozialistische Vokabular zu ver-

    wenden, ohne dabei zu erröten? Als Kind der ünziger und sech-

    ziger Jahre weiß ich aus eigener Erahrung, welchen Glanz die Idee

    der Revolution – die Vorstellung von mutigen Männern im Dienste

    der Geschichte – ausstrahlte. Das alles ist heute dahin. Nach all sei-

    nen Säuberungen und Gulags war Russland so rückständig und

    korrupt wie eh und je. Nach all seinen »großen Sprüngen« und

    Kulturrevolutionen entschied sich China ür den wirtschatlichen

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      Der große Irrtum  23

    Erolg als das höchste Ziel. Freilich gibt es noch immer einige ra-

    dikale Linke, die dickköpig darau beharren, wahrer Sozialismus

    sei doch noch nirgendwo ausprobiert worden. Und da sind erner

    die gemäßigten Linken, die mit nachvollziehbareren Gründen be-

    haupten, dass jemand, der den Marxismus-Leninismus ablehnt,

    deswegen nicht gleich ins Lager von Milton Friedman wechseln

    müsse. Dies ändert aber nichts daran, dass die Sache der Kapitalis-

    musgegner inzwischen ihrer Seele beraubt ist.

    Erstmals seit 1917 leben wir also in einer Welt, in der Eigentums-

    rechte und reie Märkte als Eckpeiler, nicht nur als widerwillig ak-

    zeptierte Hilsinstrumente au Zeit gelten, und in der die unschö-

    nen Seiten einer Marktwirtschat – Ungleichheit, Arbeitslosigkeit,

    Ungerechtigkeit – als schlichte Notwendigkeiten akzeptiert wer-

    den. Wie bereits in der viktorianischen Zeit, so verdankt der Kapi-

    talismus seine Dominanz auch heute weniger seinen Erolgen (die

    jedoch, wie wir gleich sehen werden, durchaus vorhanden sind),

    sondern der Tatsache, dass es keine brauchbare Alternative gibt.

    Dieser Zustand wird allerdings nicht ewig währen. Es werden

    neue Ideologien kommen, neue Träume. Und zwar umso eher,

    je länger die momentane Wirtschatskrise andauert und je ein-

    schneidender sie wirkt. Derzeit jedoch ührt der Kapitalismus

    weltweit unangeochten das Regiment.

    Die Zähmung der Konjunktur

    Die Erzeinde kapitalistischer Stabilität waren schon immer Krieg

    und Krise. Krieg gibt es noch immer, keine Frage. Doch jene Kriege,

    die dem Kapitalismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts ast den

    Exitus bescherten, waren massive Konlikte zwischen Großmäch-

    ten – und es gibt wenig Grund anzunehmen, dass uns ein solcher

    Krieg in absehbarer Zukunt wieder blühen könnte.

    Doch wie steht es mit Wirtschatskrisen? Wir erinnern uns,

    dass die Weltwirtschatskrise der dreißiger Jahre um ein Haar Ka-

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    24 Die neue Weltwirtschatskrise

    pitalismus samt Demokratie zerstört hätte und dass sie mehr oder

    weniger direkt in den Krieg mündete. Danach allerdings olgte in

    den Industrienationen eine Generation lang eine Phase nachhal-

    tigen wirtschatlichen Wachstums. Rezessionen waren in dieser

    Zeit kurz und mild, die darau olgenden Auschwünge krätig

    und ausgedehnt. Ende der sechziger Jahre hatte man in den USA

    schon so lange keine Rezession mehr erlebt, dass wirtschatswis-

    senschatliche Konerenzen sich mit Themen beassten wie: »Ist

    der Konjunkturzyklus ein Phänomen von gestern?«

    Die Frage war voreilig. Die siebziger Jahre waren ein Jahrzehnt

    der Staglation, sprich: rückläuiger Konjunktur gepaart mit In-

    lation. Den beiden Energiekrisen von 1973 und 1979 olgten die

    schlimmsten Rezessionen seit den dreißiger Jahren. Gleichwohl

    tauchte die Frage zu Beginn der neunziger Jahre erneut au. Und

    wie wir gerade sahen, schlugen auch Robert Lucas und Ben Ber-

    nanke vor ein paar Jahren in die gleiche Kerbe, als sie behaupteten,

    dass – ungeachtet gelegentlicher Rücksetzer – die Tage wirklich

    schwerer Rezessionen, geschweige denn weltweiter Depressionen,

    ein ür alle Mal hinter uns lägen.

    Was ist von einer solchen These nun zu halten (einmal davon

    abgesehen, dass eine schwere Rezession in letzter Zeit tatsächlich

    nicht mehr vorkam)? Zur Beantwortung der Frage bedar es eines

    kleinen theoretischen Exkurses. Fragen wir uns zunächst einmal,

    was es mit dem Konjunkturzyklus eigentlich au sich hat. Oder

    noch konkreter: Warum geraten Marktwirtschaten in Rezessio-

    nen?

    Man könnte meinen, die Antwort sei klar – Rezessionen ent-

    stünden aus diesem oder jenem mehr oder weniger einleuchten-

    den Grund. Tatsache aber ist, dass eine Rezession nichts Normales,

    sondern den Ausnahmeall darstellt, wie bei näherem Nachden-

    ken rasch erkennbar ist (denn der Markt schat es ja in der Regel

    ganz gut, Angebot und Nachrage in der Balance zu halten). Ein

    wirtschatlicher Abschwung – und insbesondere ein schwerer – ist

    nun aber gerade dadurch gekennzeichnet, dass das Angebot groß

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      Der große Irrtum  25

    und die Nachrage gering ist. Es gibt olglich Arbeitswillige, doch

    keine Jobs; exzellente Fabriken, doch keine Produktionsauträge;

    oene Läden, doch nicht genügend Kunden. Eine selektive Nach-

    ragelücke (bestimmte Erzeugnisse betreend) lässt sich meist

    leicht erklären: Wenn Produkt A in großen Mengen produziert

    wird, die Verbraucher aber das Konkurrenzprodukt B vorziehen,

    bleibt Produkt A eben liegen. Doch wie kann es dazu kommen,

    dass die Nachrage nach Gütern und Dienstleistungen generell zu

    schwach ist? Müssen die Leute ihr Geld denn nicht ür irgendetwas

    ausgeben?

    Das Verständnisproblem besteht zum Teil jedenalls darin,

    dass man sich zumeist schlicht kein Bild davon zu machen ver-

    mag, was bei einem wirtschatlichen Abschwung geschieht. Es

    gibt indes ein sehr schönes Beispiel, mit dem sich nicht nur er-

    klären lässt, wie eine Rezession entsteht, sondern das mir selbst

    auch immer wieder zu neuen Ideen und Einsichten verhilt. (Wer

    meine rüheren Bücher kennt, wird sich an das Beispiel erinnern.)

    Der Hintergrund ist übrigens nicht erunden; die Kooperative be-

    ziehungsweise Interessengemeinschat gab es also wirklich. In

    Kapitel 3 – im Zusammenhang mit der Erklärung der japanischen

    Malaise – wird das Beispiel dann allerdings in erweiterter Form

    eine wichtige Rolle spielen.

    Ursprünglich stammt die Geschichte von Joan und Richard

    Sweeney, die sie in einem 1978 veröentlichten Artikel mit dem

    Titel Monetary Theory and the Great Capitol Hill Baby-sitting Co-op

    Crisis  (Geldtheorie und die große Krise der Babysitting-Koopera-

    tive von Capitol Hill) ür ihre Erläuterungen verwendeten. Auch

    hier wieder gilt: Der Titel mag unernst klingen, doch geht es natür-

    lich um ausgesprochen seriöse Themen.

    In den siebziger Jahren waren die Sweeneys Mitglieder eines

    solchen Babysitting-Kreises, eines Zusammenschlusses junger

    Paare (in diesem Fall hauptsächlich Personen, die im US-Kongress

    beschätigt waren) zum Zweck der wechselseitigen Kinderbe-

    treuung, um so mehr Freizeit zu gewinnen. Der Teilnehmerkreis

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    war ungewöhnlich groß (etwa 150 Paare). Dies bedeutete, dass an

    potenziellen Babysittern kein Mangel herrschte. Allerdings war

    die Größe der Organisation auch Managementprobleme au. Vor

    allem galt es sicherzustellen, dass jedes der beteiligten Paare auch

    seinen airen Arbeitsanteil übernahm.

    Wie bei derartigen Tausch- beziehungsweise Gegenseitigkeits-

    systemen meist der Fall, versuchte auch der Capitol-Hill-Kreis das

    Problem durch die Ausgabe von Berechtigungsscheinen zu lösen:

    Coupons, die dem Besitzer jeweils eine Dienstleistung im Umang

    von einer Stunde Babysitten garantierte. Wer also die Kinder eines

    anderen Paares hütete, erhielt von den die Dienstleistung in An-

    spruch nehmenden Eltern die entsprechende Anzahl Coupons.

    Dieses System war vom Prinzip her narrensicher: Es garantierte

    automatisch, dass im Laue der Zeit jedes Paar genauso viele Stun-

    den ableistete, wie es in Anspruch nahm.

    Ganz so problemlos lief die Sache aber eben doch nicht. Es stellte

    sich nämlich heraus, dass für das reibungslose Funktionieren eines

    solchen Systems eine bestimmte Umlaufmenge an Coupons erfor-

    derlich ist. Hatte ein Paar zum Beispiel mehrere Abende in Folge frei,

    jedoch nichts Besonderes vor, tendierte es dazu, sich für die Zukunft

    eine Couponreserve anzulegen. Diesem Horten stand natürlich ein

    entsprechender Abbau der Couponvorräte anderer Paare gegen-

    über, doch über einen längeren Zeitraum gesehen waren alle Paare

    wohl daran interessiert, hinreichend viele Coupons zu besitzen, um

    zwischen den diversen Babysitting-Runden bei Bedarf mehrmals

    hintereinander ausgehen zu können. Die Ausgabe der Coupons al-

    lerdings war bei dieser Kooperative eine recht komplizierte Angele-

    genheit: Die Paare erhielten bei Eintritt welche und waren gehalten,

    die Coupons bei Austritt zurückzuerstatten; sie entrichteten jedoch

    auch ihre Mitgliedsgebühren in Form von Coupons, welche dann zur

    Entlohnung der Funktionsträger verwendet wurden. Die Details sind

    hier jedoch unwichtig. Der Punkt ist, dass plötzlich die Situation ein-

    trat, dass sich nur relativ wenige Coupons im Umlauf befanden – zu

    wenige jedenfalls für die Bedürfnisse der Kooperative.

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      Der große Irrtum  27

    Die Konsequenzen waren seltsam. Paare, die den Eindruck hat-

    ten, ihre Couponvorräte seien zu gering, gingen ungern aus und

    versuchten verstärkt, Babysitting-Stunden abzuleisten. Doch erst

    die Entscheidung eines Paares, auszugehen, war die Chance eines

    anderen Paares, Stunden abzuleisten und Coupons zu gewinnen.

    Die Gelegenheiten zum Babysitten wurden olglich immer rarer,

    was wiederum die Konsequenz hatte, dass die Paare ihre Coupon-

    reserven immer weniger gern angrien, sie sich vielmehr lieber

    ür besondere Gelegenheiten auhoben, weshalb die Gelegenhei-

    ten zum Babysitten noch rarer wurden ...

    Kurz gesagt: Die Kooperative geriet in eine Rezession.

    So weit, so gut. Doch was halten Sie eigentlich von diesem Bei-

    spiel?

    Falls Sie einigermaßen ratlos sind – weil Sie sich vielleicht sagen:

    Ich dachte, ich erahre hier etwas über die weltwirtschatliche

    Krise. Was soll da Babysitten? –, haben Sie etwas Wichtiges noch

    nicht begrien: Wer komplexe Systeme verstehen will (sei es das

    globale Wetter oder die globale Wirtschat), muss mit Modellen

    arbeiten, das heißt mit vereinachten Darstellungen des jeweiligen

    Systems. Nur so lassen sich die grundlegenden Funktionszusam-

    menhänge verstehen. Diese Modelle können unterschiedliche For-

    men annehmen. Manchmal sind es Gleichungssysteme, manch-

    mal Computerprogramme (denken wir an die Simulationen au

    der Wetterkarte). Mitunter aber handelt es sich dabei um so etwas

    wie die Modelllugzeuge, mit denen die Konstrukteure die Unter-

    suchungen im Windkanal durchühren: kleinmaßstäbliche Aus-

    ührungen, mit denen sich viel besser experimentieren lässt. In

    ähnlicher Weise ist die Capitol-Hill-Kooperative eine Volkswirt-

    schat im Miniormat – vielleicht die denkbar kleinste Wirtschat,

    in der eine Rezession autreten kann. Doch es handelte sich zwei-

    ellos um eine richtige Rezession – genauso real, wie der Autrieb,

    den die Traglächen eines Modelllugzeugs erzeugen, ein echter

    Autrieb ist. Und in gleicher Weise, wie das Verhalten des Modells

    den Konstrukteuren wichtige Hinweise au das Verhalten des Jum-

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    28 Die neue Weltwirtschatskrise

    bos lieert, ermöglicht uns unser Babysitting-Beispiel wichtige

    Einsichten bezüglich der Frage, weshalb Volkswirtschaten gut

    oder schlecht unktionieren.

    Falls Sie aber eher beremdet sind – weil Sie sich vielleicht sagen:

    Es geht hier um wichtige und ernsthate Dinge, was soll da diese

    läppische kleine Parabel von amerikanischen Yuppies! –, muss ich

    Sie ebenalls rügen. Erinnern Sie sich daran, was ich in der Einlei-

    tung sagte? Eine gewisse Lockerheit – die Bereitschat zu Gedan-

    kenspielen – macht die Sache nicht nur unterhaltsam, sondern ist

    gerade heute von zentraler Bedeutung. So wenig man einem Flug-

    zeugkonstrukteur trauen sollte, der nicht mit Modellen arbeitet,

    so wenig sollte man auch einem Wirtschatsexperten trauen, der

    das Spiel mit Modellen ür unter seiner Würde hält.

    Wie wir noch sehen werden, ist unser humoriges Babysitting-

    Beispiel sogar ein ganz hervorragendes Instrument zum besseren

    Verständnis der ganz und gar nicht humorigen Probleme realer

    Volkswirtschaten. Die theoretischen Modelle, die in den Wirt-

    schatswissenschaten in der Regel verwendet werden (hauptsäch-

    lich mathematische Konstrukte), sind demgegenüber natürlich

    weit komplizierter. Gleichwohl lassen sich ihre Hauptergebnisse

    normalerweise in leicht verständliche Parabeln übersetzen, ähn-

    lich wie bei unserem Babysitting-Beispiel. (Falls nicht, ist dies meist

    ein Hinweis darau, dass mit dem Modell etwas nicht stimmt.) Ich

    werde au unseren Babysitter-Club deshalb noch mehrach zu

    sprechen kommen, und zwar in unterschiedlichen Zusammen-

    hängen. Zunächst wollen wir uns aber mit zwei zentralen Fragen

    beschätigen, die sich aus unserem Beispiel ergeben: Wie kommt

    es zu Rezessionen? Was kann man gegen sie tun?

    Erstens also: Warum geriet die Kooperative überhaupt in eine Re-

    zession? Sehen wir uns zunächst an, woran es nicht lag: Der Grund

    lag nicht in einer schlechten Dienstleistungsqualität. Vermutlich

    machten die Babysitter ihre Arbeit ganz gut, vielleicht auch nicht.

    Jedenalls ist das hier nicht das Problem. Auch gab es keine Ver-

    zerrungen, Ungerechtigkeiten oder Vetternwirtschat. Und auch

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      Der große Irrtum  29

    mit »technologischen« Gründen (im Sinne ehlender Anpassung

    an neue Entwicklungen) hatte das Marktversagen nichts zu tun.

    Um es zusammenzuassen: Das Problem lag nicht au der Produk-

    tionsseite. Es herrschte vielmehr einach ein Mangel an »eektiver

    Nachrage«. Es wurde zu wenig ür die angebotenen Dienstleistun-

    gen (Babysitting-Stunden) ausgegeben, weil die Leute ihr Geld (das

    heißt ihre Coupons) lieber horteten. Die entscheidende Schlussol-

    gerung ür das reale Wirtschatsleben lautet: Das konjunkturelle

    Au und Ab hat möglicherweise wenig oder überhaupt nichts mit

    den wirtschatlichen Stärken und Schwächen undamentalerer

    Art zu tun. Anders ausgedrückt: Auch »guten« Volkswirtschaten

    kann Schlimmes widerahren!

    Zweitens: Was kann man gegen eine Rezession tun? Die Swee-

    neys berichten, dass es in ihrem Fall ziemlich schwierig war, den

    »Verwaltungsrat« der Kooperative – in dem hauptsächlich Juris-

    ten saßen – davon zu überzeugen, dass es sich im Kern um ein

    rein technisches Problem handelte, ür das es eine recht einache

    Lösung gab. Die Funktionäre jedoch gingen zunächst so vor, als

    handle es sich um ein strukturelles Problem, au das man direkt

    mit Reglementierungsmaßnahmen reagieren müsse. Es wurde

    also eine Vorschrit erlassen, derzuolge jedes Paar verplichtet

    war, monatlich mindestens zweimal auszugehen. Schließlich aber

    setzten sich doch die Ökonomen durch, und das Couponangebot

    (die umlauende »Geldmenge«) wurde erhöht. Die Wirkung war

    rappant: Angesichts größerer Couponreserven gingen die Paare

    nun wieder häuiger aus; dadurch gab es mehr Möglichkeiten zum

    Babysitten, was die Bereitschat zum Ausgehen noch mehr ver-

    stärkte – und so weiter. Das BBP der Kooperative (das Brutto-Ba-

    bysitting-Produkt, gemessen in Kinderbetreuungseinheiten) stieg

    krätig an. Halten wir uns noch einmal deutlich vor Augen: Diese

    positive Entwicklung hatte weder etwas mit einer qualitativ ver-

    besserten Dienstleistung noch mit irgendwelchen strukturellen

    Reormen zu tun. Ausschlaggebend war allein die Tatsache, dass

    der monetäre Engpass beseitigt wurde. Anders ausgedrückt: Re-

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    30 Die neue Weltwirtschatskrise

    zessionen lassen sich einach dadurch bekämpen, dass man Geld

    druckt – der Rest ergibt sich in der Regel von allein.

    Zurück zum volkswirtschatlichen Konjunkturzyklus.

    Die Wirtschat selbst eines kleinen Landes ist natürlich weit

    komplexer als im Falle unseres Babysitting-Kreises. Zum Beispiel

    dient in einer Volkswirtschat das Geld nicht nur zur Beriedigung

    momentaner Bedürnisse, sondern es wird auch in die Zukunt

    investiert (stellen wir uns analog vor, jemand gibt einen Teil sei-

    ner Coupons nicht zum Babysitten aus, sondern um einen neuen

    Kinderlaustall bauen zu lassen). In der großen Welt gibt es erner

    einen Kapitalmarkt. Er ermöglicht es denen, die reie Mittel besit-

    zen, ihr Kapital gegen Zinsen an jene zu verleihen, die aktuellen

    Bedar haben. Doch die Grundzusammenhänge sind trotzdem die

    gleichen: Eine Rezession ist normalerweise dadurch bedingt, dass

    die Öentlichkeit insgesamt versucht, Geld zu horten (oder – was

    au dasselbe hinausläut – mehr zu sparen als zu investieren). Dem

    kann in der Regel leicht und wirksam begegnet werden, indem

    man einach mehr »Coupons« ausgibt.

    Die Couponbereitsteller der modernen Welt sind bekanntlich

    die Zentralbanken: Federal Reserve, Europäische Zentralbank,

    Bank von Japan und so weiter. Ihre zentrale Augabe besteht darin,

    die Wirtschat gut am Lauen zu halten, indem die zirkulierende

    Geldmenge je nach Bedar vergrößert oder verkleinert wird.

    Wenn aber alles so einach ist – warum kommt es dann über-

    haupt zu konjunkturellen Einbrüchen? Warum drucken die Zen-

    tralbanken nicht einach genug Geld, um die Wirtschat dauerhat

    au Vollbeschätigungsniveau zu halten?

    Was die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg angeht, wussten die

    Verantwortlichen einach nicht, wie sie dem Problem begegnen

    sollten. Heute aber sind sich die Ökonomen – von Milton Fried-

    man bis zu den Linken im Spektrum – praktisch einig, dass die

    Weltwirtschatskrise durch einen Zusammenbruch der eektiven

    Nachrage verursacht wurde und dass die US-Notenbank (Fed) gut

    daran getan hätte, die Geldmenge erheblich auszuweiten, um den

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      Der große Irrtum  31

    Abschwung rechtzeitig zu bremsen. Damals jedoch waren diese

    Zusammenhänge schlicht unbekannt. Tatsächlich herrschte bei

    vielen ührenden Ökonomen eine Art moralistischer Fatalismus,

    der die Depression als unvermeidliche Folge vorausgehender Ex-

    zesse begri – und damit als heilsamen Prozess: Die Erholung, er-

    klärte Schumpeter, »ist nur dann echt, wenn sie sich aus sich selbst

    heraus entwickelt. Jeder künstlich herbeigeührte Auschwung

    bedeutet nur, dass der Heilungsprozess der Krise abgewürgt wird.

    Die unbeseitigten Missverhältnisse werden so durch neue Fehl-

    korrekturen nur noch verstärkt, was die nächste (und vielleicht

    schlimmere) Krise absehbar macht.«

    Diese atalistische Sicht verschwand nach dem Zweiten Welt-

    krieg. Eine Generation lang bemühten sich die meisten Länder um

    aktive Steuerung der Konjunktur, und dies mit beträchtlichem Er-

    olg. Die Rezessionen waren mild, Arbeitsplätze gab es in der Regel

    genug. Ende der sechziger Jahre begannen daher viele zu glauben,

    die Konjunktur habe man nun weitgehend im Gri. Sogar Richard

    Nixon versprach eine »Feinabstimmung« der Volkswirtschat.

    Doch das war Hybris. Die einer jeden Vollbeschätigungspolitik

    immanente Geahr trat in den siebziger Jahren oen zutage. Ist die

    Zentralbank nämlich allzu optimistisch in Bezug au die Zahl der

    möglichen neuen Arbeitsplätze und bringt sie olglich zu viel Geld

    in Umlau, so ührt dies zu Inlation. Hat sich die Inlationserwar-

    tung aber erst einmal tie in den Köpen der Menschen estgesetzt,

    so lässt sie sich nur durch eine Phase hoher Arbeitslosigkeit wie-

    der austreiben. Kommt dann noch ein preissteigerndes externes

    Ereignis hinzu (zum Beispiel eine Verdoppelung des Ölpreises), ist

    die Konstellation ür einen krätigen, wenn nicht gar verheeren-

    den Konjunkturrückgang perekt.

    Bis Mitte der achtziger Jahre jedoch war die Inlation wieder

    au ein akzeptables Niveau gesunken, das Öl sprudelte erneut, und

    die Zentralbanken schienen endlich begrien zu haben, wie man

    die Dinge handhaben muss. Die autretenden wirtschatlichen

    Schocks schienen den allgemeinen Eindruck, dass derlei Probleme

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      Der große Irrtum  33

    bürokratischen, unbeweglichen Großunternehmen wie IBM be-

    herrscht bleiben würden. Gängig war zudem die Vorstellung, auch

    in Zukunt werde alles lauen wie beim Fax, Videogerät und Kas-

    settenrekorder: Piige Amerikaner erinden; gesichtslose japani-

    sche Hersteller machen daraus marktähige Produkte.

    Doch in den neunziger Jahren erkannte man allmählich, dass

    die Inormationsindustrien im Begri waren, die gesamte Wirt-

    schat zu revolutionieren – nach außen wie nach innen.

    Über den letztendlichen wirtschaftlichen Nutzen der Infor-

    mationstechnologie kann man nach wie vor geteilter Meinung

    sein. Unbestreitbar ist jedoch, dass die neuen Technologien

    sichtbarere Auswirkungen auf unsere Arbeitsweise und -organi-

    sation hatten als alles, was in den zwanzig oder dreißig Jahren

    davor die Welt bewegte. Der typische amerikanische Arbeitneh-

    mer sitzt heute ja in einem Büro. Von 1900 bis in die achtziger

    Jahre hatte sich an den Einrichtungen und Abläufen von Büros

    praktisch nichts geändert. Überall ziemlich das gleiche Bild:

    Schreibmaschinen, Aktenschränke, Mitteilungen, Sitzungen.

    (Zugegeben, das Durchschlagpapier wurde durch den Xerox-Ko-

    pierer überflüssig.) Dann aber änderte sich alles binnen kürzes-

    ter Zeit: vernetzte PCs auf allen Schreibtischen, E-Mail, Internet,

    Videokonferenzen, Telearbeit. Dies war ein qualitativer, unver-

    kennbarer Wandel, der in einer Weise das Gefühl des Fortschritts

    vermittelte, wie dies rein quantitative Verbesserungen nicht ver-

    mögen. Und es war nicht zuletzt dieses Fortschrittsgefühl, das

    dem Kapitalismus neues Leben einhauchte und ihn mit neuem

    Optimismus verband.

    Zumal die neuen Industrien auch das Romantische am Ka-

    pitalismus wiederbelebten: die Idee des heroischen Unterneh-

    mers, der eine bessere Mausefalle baut als sein Konkurrent und

    damit verdientermaßen reich wird. Seit den Tagen Fords war es

    mit dieser heldenhaften Gestalt ja immer mehr bergab gegan-

    gen. In der Wirtschaft dominierten die Großunternehmen, in

    denen keineswegs romantische Innovatoren das Sagen hatten,

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    34 Die neue Weltwirtschatskrise

    sondern Bürokraten, die sich in wenig oder nichts von ihren

    staatlichen Pendants unterschieden. 1968 diagnostizierte Ken-

    neth Galbraith:

    »Mit dem Austieg des modernen Unternehmens, dem Au-

    kommen der durch moderne Technologie und Planung benötigten

    Organisation sowie der Trennung zwischen Kapitaleignern und

    Unternehmensührung hat der ›Unternehmer‹ als Einzelperson

    im voll entwickelten Industriebetrieb keinen Platz mehr.«

    Doch wen konnte schon ein Kapitalismus begeistern, der mehr

    oder weniger einem Sozialismus ohne Gerechtigkeit glich?

    Durch die Inormationsindustrien geriet diese industrielle

    Ordnung jedoch ins Wanken. Wie im neunzehnten Jahrhundert,

    so schrieben auch jetzt wieder bemerkenswerte Individuen Ge-

    schichte: Männer und (gelegentlich wenigstens) Frauen, die eine

    piige Idee hatten, sie in der Garage oder am Küchentisch ent-

    wickelten und letztlich reich wurden. Wirtschatsmagazine boten

    wieder interessanten Lesesto, und wirtschatlicher Erolg and

    wieder Bewunderung in einer Weise, wie dies über ein Jahrhun-

    dert lang nicht mehr der Fall gewesen war.

    Dies bereitete den Boden ür marktwirtschatliche Ideen. Vor

    vierzig Jahren hatten die Anhänger der Marktwirtschat – jene,

    die von Wert und Nutzen des reien Unternehmertums überzeugt

    sind – ein Imageproblem: Sagten sie »Privatunternehmen«, dachte

    jeder gleich an General Motors; redeten sie vom »Geschätsmann«,

    hatten die meisten das Bild vom Mann im Nadelstreienanzug vor

    Augen. In den neunziger Jahren aber war plötzlich die Vorstellung

    wieder da, dass Reichtum und Tugendhatigkeit (zumindest aber

    Kreativität) durchaus miteinander vereinbar sind.

    Was aber den Optimismus wirklich anheizte, war der sich weit-

    hin ausbreitende Wohlstand – nicht nur in den Industrienationen

    (tatsächlich gab es dort sogar gehörige Deizite im Hinblick au die

    allgemeine Teilhabe am Wohlstand), sondern auch in vielen Län-

    dern, die man vor nicht allzu langer Zeit noch als honungslose

    Fälle abgeschrieben hatte.

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      Der große Irrtum  35

    Die Früchte der Globalisierung

    Der Terminus »Dritte Welt« war ursprünglich ein stolzes Etikett.

    Jawaharlal Nehru prägte ihn, und gemeint waren die blockreien

    Länder, jene also, die sich ihre Unabhängigkeit bewahrten und

    sich weder dem Westen noch der Sowjetunion anschlossen. Bald

    jedoch wurde die politische Absicht von den ökonomischen Reali-

    täten verdrängt: »Dritte Welt« wurde zum Synonym ür rückstän-

    dig, arm, unterentwickelt. Nicht gerechte Forderungen verband

    man ortan mit dem Begri, sondern Honungslosigkeit.

    Dies änderte sich mit der Globalisierung, das heißt mit dem

    Technologie- und Kapitaltranser von den Hochlohnländern in die

    Niedriglohnländer und der daraus resultierenden Zunahme lohn-

    intensiver Exporterzeugnisse aus der Dritten Welt.

    Wir können uns schon gar nicht mehr so recht vorstellen, wie die

    Welt vor der Globalisierung eigentlich aussah. Drehen wir die Uhr

    also für einen Moment zurück und werfen wir einen Blick auf die

    Dritte Welt, wie sie sich vor einer Generation präsentierte (und heute

    in vielen Ländern noch immer präsentiert). Eine Handvoll kleiner

    ostasiatischer Länder hatte damals gerade begonnen, durch ihr ra-

    sches Wirtschaftswachstum die Aufmerksamkeit der Weltöffent-

    lichkeit auf sich zu ziehen; Entwicklungsländer wie die Philippinen,

    Indonesien oder Bangladesch hingegen hatten praktisch überhaupt

    keine Fortschritte gemacht, sondern waren noch immer vorwie-

    gend Rohstofflieferanten und Importeure von Industriegütern. Eine

    schwache, ineffiziente Industrie versorgte die heimischen Märkte

    mehr schlecht als recht, geschützt durch Einfuhrkontingentierung;

    Arbeitsplätze waren unter diesen Vorzeichen natürlich Mangelware.

    Gleichzeitig führte der zunehmende Bevölkerungsdruck dazu, dass

    den verzweifelten Bauern nur zwei Optionen blieben: entweder in

    einer zunehmend ertragsschwachen Landwirtschaft ihr Dasein zu

    fristen oder sich auf andere Weise irgendwie eine Existenzmöglich-

    keit zu suchen – etwa als Müllverwerter auf den Abfallhalden am

    Rande der Großstädte der Dritten Welt.

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    36 Die neue Weltwirtschatskrise

    Angesichts dieser trostlosen Situation gaben sich die Arbeits-

    kräte in Jakarta oder Manila schon mit einem Hungerlohn zu-

    rieden. Doch um die Mitte der siebziger Jahre konnte man mit

    billiger Arbeitskrat allein au dem Weltmarkt ür Industriegüter

    nicht mehr konkurrieren. Die speziischen Vorteile der Industrie-

    länder – Inrastruktur und technisches Know-how, Größe der

    Märkte und Nähe zu Lieeranten, politische Stabilität und soziale

    Anpassungsähigkeit (wobei Letzteres ganz entscheidend ist ür

    eine unktionierende, eiziente Wirtschat) – schienen sogar eine

    zehn- oder zwanzigache Lohndierenz wettzumachen. Selbst die

    Radikalen schienen an diesen immanenten Vorteilen der entwi-

    ckelten Länder zu verzweieln: Die Forderungen nach einer neuen

    internationalen Wirtschatsordnung zielten in den siebziger Jah-

    ren hauptsächlich au höhere Rohstopreise – und weniger da-

    rau, die Länder der Dritten Welt an das Niveau der modernen In-

    dustrienationen heranzuühren.

    Dann aber änderte sich etwas. Durch eine Kombination von

    Faktoren, die wir bis heute nicht ganz durchschauen – niedrigere

    Zollschranken, bessere Nachrichtenübermittlung, billigerer Lut-

    verkehr –, verringerten sich die Standortnachteile der Entwick-

    lungsländer. Im Großen und Ganzen ist es reilich noch immer

    günstiger, in der Ersten Welt zu produzieren. Dies zeigt auch die

    Tatsache, dass nicht wenige Unternehmen, die ihre Produktions-

    stätten nach Mexiko oder Ostasien verlegten, nach einiger Zeit

    wieder zurückkehrten, weil sie mit den Nachteilen eines solchen

    Standorts nicht zurechtkamen. Trotzdem aber gab es jetzt eine be-

    trächtliche Zahl von Branchen, in denen die Entwicklungsländer

    ihr niedriges Lohnniveau als Wettbewerbsvorteil au den Welt-

    märkten nutzen konnten. Länder, die ehedem Jute oder Kaee ex-

    portierten, begannen nun, stattdessen Hemden oder Turnschuhe

    zu produzieren.

    Natürlich verdienen die Arbeitskräte in diesen Textil- oder

    Schuhabriken zwangsläuig sehr wenig, und die Arbeitsbedin-

    gungen sind meist beklagenswert schlecht. Ich sage »zwangsläu-

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      Der große Irrtum  37

    ig«, weil die Arbeitgeber ihr Geschät ja nicht aus Wohlahrts-

    gründen betreiben. Sie werden natürlich versuchen, so wenig wie

    möglich zu zahlen, und das Lohnminimum richtet sich nach den

    verügbaren Beschätigungsalternativen. Leider handelt es sich in

    vielen dieser Fälle noch um extrem arme Länder.

    Gleichwohl kam es in jenen Ländern, in denen die neuen Ex-

    portindustrien Fuß fassten, unzweifelhaft zu einer deutlichen

    Verbesserung der Lebensverhältnisse der breiten Bevölkerung.

    Dies hat zum Teil damit zu tun, dass eine aufstrebende Industrie

    ihre Arbeitskräfte mit leicht überdurchschnittlichen Löhnen an-

    werben muss. Wichtiger jedoch ist die Tatsache, dass das Wachs-

    tum der verarbeitenden Industrie – und die im Halbschatten des

    neuen Exportsektors entstehenden Arbeitsplätze – spürbare Aus-

    wirkungen auf den Rest der Volkswirtschaft hatten. Der Druck

    auf den ländlichen Bereich ließ nach, sodass die Löhne dort

    stiegen; die Zahl der auf jedwede Arbeit angewiesenen Arbeits-

    losen in den Städten sank, sodass die Fabriken miteinander um

    Arbeitskräfte zu konkurrieren begannen, was auch die Löhne

    in den Städten steigen ließ. Wo sich dieser Prozess lange genug

    fortsetzen konnte – etwa in Südkorea oder Taiwan –, haben die

    Löhne inzwischen das Niveau fortgeschrittener Länder erreicht.

    (In konkreten Zahlen ausgedrückt: 1975 betrug der durchschnitt-

    liche Stundenlohn eines Südkoreaners nur fünf Prozent dessen,

    was ein US-Amerikaner verdiente. 2006 waren es bereits 62 Pro-

    zent.)

    Der Nutzen, den ein exportinduziertes Wirtschatswachstum

    in den Schwellenländern ür die breite Masse mit sich brachte, ist

    nichts Spekulatives, sondern sehr wohl messbar. Indonesien zum

    Beispiel ist zwar noch immer so arm, dass sich der Fortschritt in

    Kalorien angeben lässt. Zwischen 1968 und 1990 stieg die Pro-

    Kop-Aunahme von 2 000 au 2 700 Kalorien pro Tag, und die

    Lebenserwartung erhöhte sich von 46 au 63 Jahre. Ähnliche Ver-

    besserungen lassen sich im gesamten paziischen Gürtel beobach-

    ten, ja selbst in Ländern wie Bangladesch. Sie anden keineswegs

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    deshalb statt, weil etwa gutmeinende Leute im Westen besonders

    hilsbereit gewesen wären – die Auslandshile (die ja nie sehr groß

    war) ging in den neunziger Jahren praktisch au Null zurück. Und

    sie waren auch nicht der menschenreundlichen Politik der jewei-

    ligen Landesregierung zu verdanken – es zeigte sich ja leider sehr

    bald, dass diese Regierungen so schäbig und korrupt waren wie eh

    und je. Die positive Entwicklung war vielmehr das indirekte und

    unbeabsichtigte Ergebnis des Verhaltens seelenloser multinatio-

    naler Konzerne und ragieriger einheimischer Unternehmer, die

    beide nichts anderes im Sinn hatten, als sich die Proitchancen,

    die mit niedrigen Löhnen einhergingen, nicht entgehen zu las-

    sen. Ein besonders erreuliches Schauspiel war und ist dies gewiss

    nicht. Doch so niedrig die Motive der Beteiligten auch gewesen

    sein mögen, im Ergebnis vermochten sich Hunderte Millionen

    von Menschen aus äußerster Armut zu bereien und zu Lebens-

    verhältnissen zu gelangen, die mitunter zwar noch immer men-

    schenunwürdig waren, aber dennoch eine deutliche Verbesserung

    darstellten.

    Wieder einmal also konnte sich der Kapitalismus mit guten

    Gründen den Erolg au die Fahnen schreiben. Die Sozialisten hat-

    ten es ja lange genug versprochen und versucht. Es gab ja eine Zeit,

    als die Dritte Welt völlig au Fünjahrespläne stalinscher Machart

    ixiert war und sich davon den Entwicklungsschub ins zwanzigste

    Jahrhundert versprach. Und selbst als die Sowjetunion ihren Nim-

    bus der Fortschrittlichkeit längst eingebüßt hatte, glaubten viele

    Intellektuelle noch immer, die armen Länder könnten der Armuts-

    alle nur entkommen, indem sie den Weltmarkt meiden und dem

    Wettbewerb mit den entwickelteren Nationen aus dem Weg gehen.

    Im Laue der neunziger Jahre aber war an konkreten Beispielen

    ganz oenkundig geworden, dass rasche Entwicklung tatsächlich

    möglich und keineswegs Träumerei war – und dass der Schlüssel

    zum Erolg nicht in stolzer sozialistischer Isolation bestand, son-

    dern genau dem Gegenteil: möglichst starker Integration in den

    globalen Kapitalismus.

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      Der große Irrtum  39

    Skeptiker und Kritiker

    Nicht alle reilich waren nach dem Zusammenbruch des Kommu-

    nismus mit dem Zustand der Weltwirtschat zurieden. Während

    es den Amerikanern bemerkenswert gut ging, konnten dies andere

    Industrieländer weniger von sich behaupten. Japan zum Beispiel

    war seit Beginn der neunziger Jahre, als die Spekulationsblase ge-

    platzt war, nicht mehr au die Beine gekommen, und Europa litt

    noch immer an »Eurosklerose«, das heißt ortdauernder hoher

    Arbeitslosigkeit, insbesondere unter den Jungen, selbst in Zeiten

    guter Konjunktur.

    Doch auch in den USA war der allgemeine Wohlstand durchaus

    nicht ganz so allgemein. Die Segnungen des Wirtschatswachs-

    tums verteilten sich vielmehr recht ungleich: Die Vermögens- wie

    auch Einkommensunterschiede nahmen in einer Weise zu, wie

    man dies seit den Tagen des Großen Gatsby – den zwanziger Jah-

    ren – nicht mehr erlebt hatte, und den amtlichen Zahlen zuolge

    waren die Reallöhne vielach sogar gesunken. Man muss diese

    Zahlen nicht au die Goldwaage legen, um zweielsrei eststellen

    zu können: Es gab mindestens 20 oder 30 Millionen Amerikaner

    am unteren Ende der Verteilungsskala, die von der lorierenden

    amerikanischen Wirtschat nicht nur nicht proitierten, sondern

    sogar Einbußen hinnehmen mussten.

    Anderen wiederum trieben andere Missstände die Röte ins Ge-

    sicht. Die niedrigen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen

    in den angesprochenen Exportindustrien der Dritten Welt waren

    häuig Anlass zu moralisierender Kritik – es war ja schließlich o-

    ensichtlich, dass es diesen Beschätigten nach den Maßstäben

    der Industrieländer ganz elend ging, und die Kritiker hatten meist

    wenig Verständnis ür den Einwand, schlechte Jobs ür schlechten

    Lohn seien besser als gar keine Jobs. Zweiellos stichhaltiger war

    der kritische Hinweis der Humanitaristen, dass große Teile der

    Welt von den Segenswirkungen der Globalisierung noch immer

    völlig unberührt sind: Arika vor allem ist noch immer ein Konti-

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    nent mit wachsender Armut, epidemischen Krankheiten und bru-

    talen Konlikten.

    Und wie immer gab es auch Kassandrarue. Das reilich war seit

    den dreißiger Jahren nie anders gewesen. Stets gab es Stimmen, die

    eine neue Depression im Anmarsch sahen. Vernüntige Beobach-

    ter hatten gelernt, derlei Warnungen nicht allzu ernst zu nehmen.

    Und so erklärt sich, weshalb die ominösen Entwicklungen, die in

    der ersten Hälte der neunziger Jahre Lateinamerika ergrien und

    die, wie wir heute wissen, die Möglichkeit einer Wiederkehr der

    Depressionsproblematik andeuteten, im Allgemeinen ignoriert

    wurden.

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    hegten Sympathie ür Augusto Pinochets brutales Regime; doch

    die ökonomischen Reormen, die er in Chile eingeleitet hatte, er-

    wiesen sich als äußerst erolgreich und wurden auch weiterge-

    ührt, als Chile 1989 endlich zur Demokratie zurückand. Chiles

    Rückkehr zu den »viktorianischen Tugenden« – stabile Währung

    und reie Märkte – gewann immer mehr Aumerksamkeit, als

    sich das Wirtschatswachstum zu beschleunigen begann. Endlich

    schienen auch die Lateinamerikaner zu begreien, dass es im bis-

    herigen Stil nicht weitergehen konnte. Die Schuldenkrise, die 1982

    begonnen hatte, durchzog ast das ganze Jahrzehnt. Den meisten

    dämmerte, dass nur eine radikale Umorientierung der Region

    einen Ausweg bot.

    Lateinamerika beschritt also den Weg der Reorm. Staatsbe-

    triebe wurden privatisiert, Importbeschränkungen augehoben,

    Haushaltsdeizite abgebaut. Ganz vorrangig war die Bekämpung

    der Inlation. Manche Länder ergrien, wie wir noch sehen wer-

    den, sehr drastische Maßnahmen, um wieder Vertrauen in ihre

    Währung zu schaen. Und diese Bemühungen hatten auch rasch

    Erolg. Nicht nur verbesserte sich die wirtschatliche Leistungsä-

    higkeit; auch das Vertrauen der ausländischen Investoren kehrte

    zurück. Länder, die in den achtziger Jahren wie Finanzparias be-

    handelt wurden – noch 1990 bekam ein Gläubiger, der aus einem

    lateinamerikanischen Kreditgeschät aussteigen und seine For-

    derungen an weniger risikoscheue Investoren abtreten wollte, im

    Durchschnitt nur dreißig Cent pro Kreditdollar –, avancierten zu

    Hätschelkindern der internationalen Finanzmärkte: Es lossen

    nun wieder Gelder in einem Umang ins Land, dass sich die Bank-

    kredite, deretwegen die Schuldenkrise seinerzeit ausgebrochen

    war, wie Peanuts ausnahmen. Die internationalen Medien began-

    nen von einem »neuen« Lateinamerika zu reden, und vor allem

    das »mexikanische Wunder« hatte es ihnen angetan. Im Septem-

    ber 1994 enthielt der jährliche World Competitiveness Report (Be-

    richt über die globale Wettbewerbsähigkeit), herausgegeben von

    den Veranstaltern der berühmten Davoser Konerenzen, eine spe-

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      Warnung überhört: Lateinamerikas Krisen  43

    zielle Botschat vom Helden der Stunde, dem mexikanischen Prä-

    sidenten Carlos Salinas.

    Drei Monate später jedoch schlitterte Mexiko in die größte Fi-

    nanzkrise seiner Geschichte. Die sogenannte Tequila-Krise ver-

    ursachte eine der schlimmsten Rezessionen, die einem einzelnen

    Land seit den dreißiger Jahren widerahren war. Die dadurch aus-

    gelösten Erschütterungen breiteten sich über ganz Lateinamerika

    aus; nur haarschar schrammte das argentinische Bankensystem

    an einem Zusammenbruch vorbei. Im Rückblick muss man est-

    stellen, dass die Tequila-Krise eigentlich ein Omen war – eine

    Warnung, dass die Märkte launisch sein können und dass die gute

    Presse von heute nicht gegen die Vertrauenskrise von morgen

    schützt.

    Doch die Warnung wurde ignoriert. Um dies zu verstehen, müs-

    sen wir uns Lateinamerikas große Krise, die oenbar nie so recht

    verstanden wurde, etwas näher ansehen.

    Mexikos Entwicklung seit den achtziger Jahren

    Unähigkeit konnte man Mexikos Regierung gewiss nicht vor-

    weren. Der engste Beraterkreis des Präsidenten – die sogenann-

    ten Científicos – bestand aus gut ausgebildeten jungen Männern,

    die aus Mexiko ein modernes Land machen wollten und glaubten,

    dass dies nur über eine starke Integration in die Weltwirtschat

    möglich sei. Ausländische Investoren waren willkommen, ihre

    Eigentumsrechte wurden respektiert und garantiert. Angesichts

    einer so progressiven Regierung kamen sie auch in Scharen und

    begannen bei der Modernisierung des Landes eine zentrale Rolle

    zu spielen.

    Spaß beiseite: Die obige Beschreibung gilt natürlich nicht einer

    mexikanischen Regierung der neueren Zeit, sondern dem Regime

    von Proorio Díaz, der Mexiko von 1876 an ein Vierteljahrhundert

    lang regierte, bis ein Volksaustand seiner Herrschat 1911 ein

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    Ende setzte. Und die stabile Regierung, die sich nach einem Jahr-

    zehnt des Bürgerkriegs schließlich etablierte, war populistisch

    und nationalistisch ausgerichtet und demzuolge misstrauisch

    gegenüber ausländischen Investoren allgemein und gegenüber

    allem US-Amerikanischen im Besonderen. Mitglieder des neuen

    Regimes, der »Institutionellen Revolutionspartei« (PRI), wie sie

    sich vollmundig nannte, betrieben zwar durchaus eine Moderni-

    sierung Mexikos, aber eben au ihre eigene Weise: Die Entwick-

    lung der Industrien war heimischen Unternehmen vorbehalten,

    die den heimischen Markt belieerten, durch Zölle und Importbe-

    schränkungen von besseren, eizienteren ausländischen Wettbe-

    werbern abgeschottet. Ausländisches Geld war zwar willkommen,

    aber nur, solange damit keine ausländische Einlussnahme be-

    ziehungsweise Kontrolle verbunden war. Und die Regierung hatte

    auch nichts dagegen, dass sich einheimische Firmen bei US-Ban-

    ken Kapital liehen, solange die Stimmrechtsaktien dieser Unter-

    nehmen in lokalen Händen blieben.

    Diese nach innen gerichtete Wirtschatspolitik mag zwar in-

    eizient gewesen sein, denn abgesehen von den maquiladoras 

    (exportorientierten Fabriken, die au eine schmale Zone an der

    Grenze zu den USA beschränkt waren), koppelte sich Mexiko völlig

    von der beginnenden Globalisierung und den damit verbundenen

    Chancen ab. Einmal etabliert, wurde diese Entwicklungspolitik

    aber zu einem tie im politischen und gesellschatlichen System

    des Landes verankerten Element, verteidigt von einem »eisernen

    Dreieck«: Industrieoligarchen (mit privilegiertem Zugang zu Kre-

    dit- und Einuhrgenehmigungen), Politikern (die von der Großzü-

    gigkeit der Industriebosse proitierten) und Gewerkschaten (die

    eine »Arbeiteraristokratie« relativ gut bezahlter, in den geschütz-

    ten Branchen tätiger Arbeiter vertraten). Bis in die siebziger Jahre

    hinein ist allerdings auch estzustellen, dass Mexiko sehr darau

    bedacht war, sich inanziell nicht zu übernehmen. Das Wachstum

    ließ zwar zu wünschen übrig, doch es gab auch keine Krisen.

    Ende der siebziger Jahre jedoch war es mit dieser traditionellen

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      Warnung überhört: Lateinamerikas Krisen  45

    Umsichtigkeit plötzlich vorbei. Die mexikanische Wirtschat er-

    lebte einen ieberhaten Auschwung, hauptsächlich inolge der

    Entdeckung neuer Ölvorkommen, hoher Ölpreise und mächtiger

    Kredite von ausländischen Banken. Nur wenige erkannten die

    Warnzeichen, als die Wirtschat heißzulauen begann und immer

    mehr Geld ins Land strömte. Zwar gab es in den Medien einzelne

    Berichte, die au wachsende Finanzprobleme hindeuteten, doch

    dies änderte nichts an der allgemeinen Ansicht, Mexiko (und La-

    teinamerika insgesamt) sei ein relativ sicherer Anlageplatz. Diese

    Selbstgeälligkeit und Sorglosigkeit lässt sich leicht in Zahlen as-

    sen: Noch im Juli 1982 lag die Rendite au mexikanische Staatsan-

    leihen sogar leicht unter derjenigen von (allgemein als risikolos

    geltenden) Weltbankanleihen. Zahlungsprobleme schien man bei

    Mexiko oenbar ür unmöglich zu halten.

    Doch schon Mitte des olgenden Monats log eine mexikanische

    Regierungsdelegation nach Washington, um dem amerikanischen

    Finanzminister die böse Nachricht zu überbringen: Mexiko sei

    pleite und müsse seinen Schuldendienst einstellen. Schon wenige

    Monate später hatte die Krise bereits den größten Teil Lateiname-

    rikas (und darüber hinaus noch weitere Länder) erasst, nachdem

    die Banken begonnen hatten, ihre Kredite einzurieren und Rück-

    zahlung zu verlangen. Alle Kräte wurden augeboten: Hilskre-

    dite von der US-Regierung und von internationalen Institutionen

    wie der Bank ür Internationalen Zahlungsausgleich; Umschul-

    dungen; sogenannte »konzertierte Kredite« (bei denen die Banken

    mehr oder weniger gezwungen wurden, den entsprechenden Staa-

    ten das ür die Zinszahlungen benötigte Geld zu leihen). So ver-

    mochten die meisten der Länder zwar dem totalen Oenbarungs-

    eid zu entgehen. Doch der Preis ür die Vermeidung der völligen

    Finanzkatastrophe war eine tiee Rezession, geolgt von einem

    nur zögerlichen, häuig unterbrochenen Auschwung. 1986 lag

    das reale Pro-Kop-Einkommen Mexikos um zehn Prozent unter

    dem Niveau von 1981, und die Reallöhne, augeressen von einer

    durchschnittlichen Inlationsrate von über 70 Prozent in den vo-

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      Warnung überhört: Lateinamerikas Krisen  47

    und umgeben von einem hochkarätigen Stab überwiegend am

    MIT ausgebildeter Wirtschatswissenschatler.

    Ich habe absichtlich von Salinas Bestimmung zum Nacholger

    gesprochen. Mexikos politisches System der Jahre 1920 bis 1990

    war wahrhat einzigartig. Au dem Papier war Mexiko zwar eine

    repräsentative Demokratie, und in den letzten Jahren hat sich

    das Land erstaunlicherweise auch zu einer solchen entwickelt.

    Doch 1988, als Salinas gewählt wurde, erinnerte das System eher

    an Chicagoer Verhältnisse rüherer Tage als an eine Demokratie.

    Mexiko besaß ein Einparteiensystem, in dem man die Stimmen

    durch Patronage zu kauen plegte, und wo immer es trotzdem

    eng wurde, hal man durch kreative Stimmenauszählung nach.

    Am verwunderlichsten war an diesem System aber die Tatsache,

    dass der Präsident in seiner sechsjährigen Amtszeit zwar wie ein

    absoluter Monarch schalten und walten konnte, eine Wiederwahl

    aber ausgeschlossen war. Zwischenzeitlich seltsamerweise reich

    geworden, plegte er also nach Ablau von sechs Jahren das Feld

    zu räumen und die Zügel einem von ihm benannten Nacholger in

    die Hand zu geben, den die PRI dann nominierte und der damit die

    Wahl praktisch schon gewonnen hatte.

    1988 aber beand sich dieses System – wie Mexiko insge-

    samt – unter Druck. Salinas hatte es diesmal bei den Parlaments-

    wahlen mit einem echten Herausorderer zu tun: Cuauhtémoc

    Cárdenas, Sohn eines populären rüheren Präsidenten, der Sali-

    nas’ marktwirtschatlichen Reormansatz mit einem traditionel-

    leren, antikapitalistischen Populismus konterte. Die Wahl ging

    knapp aus – und Cárdenas gewann sie. Doch die amtliche Auszäh-

    lung ührte dann seltsamerweise doch zu einem anderen Ergeb-

    nis. Salinas wurde Präsident. Stärker als je einer seiner Vorgänger

    stand er nun aber unter Erolgsdruck. Dabei konnte er sein hoch

    qualiiziertes, am MIT ausgebildetes Beraterteam mehr als gut ge-

    brauchen.

    Die Erolge der Salinas-Jahre basierten au zwei entscheidenden

    politischen Schachzügen. Der erste davon betra die Beendigung

  • 8/17/2019 Die Neue Weltwirtschaftskrise

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    48 Die neue Weltwirtschatskrise

    der Schuldenkrise. Anang 1989 ließ die US-Regierung – die ameri-

    kanischen Präsidentschatswahlen waren gerade vorbei – eine un-

    erwartete Bereitschat erkennen, unangenehmen Realitäten ins

    Auge zu blicken. Sie räumte schließlich ein, was ohnehin schon

    lange kein Geheimnis mehr war: dass sich viele US-Bausparkas-

    sen mit Steuergeldern verspekuliert hatten und vor dem Bank-

    rott standen. Unterdessen gab Finanzminister Nicholas Brady in

    einer überraschenden Rede bekannt, dass die Lateinamerikaner

    ihre Schulden nicht voll zurückzahlen könnten und dass man sich

    daher irgendwie über einen Schuldenerlass einig werden müsse.

    Der sogenannte Brady-Plan war allerdings mehr eine Absichts-

    erklärung als ein Plan – denn Bradys Rede entsprang im Grunde

    bürokratischen Intrigen, die jeder Satireshow zur Ehre gereichen

    würden: Jene Regierungsbeamten, die über die nötige Sachkom-

    petenz zur Ausarbeitung eines unktionierenden Plans verügten,

    wurden bewusst im Dunkeln gelassen, weil man Widerstände

    beürchtete. Doch der Brady-Vorstoß bot den außerordentlich

    ähigen Mexikanern die Chance, die sie brauchten. Binnen weni-

    ger Monate legten sie ihrerseits einen praktikablen Plan vor, der

    schließlich dazu ührte, dass Mexiko einen Großteil seines Schul-

    denberges in »Brady-Bonds« mit herabgesetztem Nennwert um-

    gewandelt bekam.

    Quantitativ war der Schuldenerlass eher bescheiden, doch er

    markierte einen psychologischen Wendepunkt. Er besäntigte

    jene Mexikaner, die schon lange au Zahlungsverweigerung ge-

    drängt hatten, weil sie sahen, dass die ausländischen Banken we-

    nigstens bereit waren, den Mexikanern nicht noch das allerletzte

    Hemd vom Leib zu reißen. Jedenalls trat die Schuldenkrise poli-

    tisch in der Folge in den Hintergrund. Die ausländischen Anleger

    wiederum, die zuvor aus Angst um ihr Geld wenig zu Investitio-

    nen geneigt gewesen waren, werteten die Schuldenregelung als

    Schlussstrich unter diese Unsicherheitsphase und ließen die Gel-

    der wieder ließen. Die Zinssätze, zu denen sich Mexiko gezwun-

    gen gesehen hatte, um das Kapital im Land zu halten, ielen nun

  • 8/17/2019 Die Neue Weltwirtschaftskrise

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      Warnung überhört: Lateinamerikas Krisen  49

    rasch. Dadurch verschwand auch das Haushaltsdeizit sehr bald,

    da die Zinslast entsprechend sank. Binnen eines Jahres hatte sich

    Mexikos inanzielle Lage völlig gewandelt.

    Die Schuldenregelung war aber nicht der einzige Joker, den Sa-

    linas aus dem Ärmel zog. 1990 überraschte er die Welt mit seinem

    Vorschlag eines Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada

    (zwischen diesen beiden Ländern bestand ein solches Abkommen

    bereits). In quantitativer Hinsicht war das vorgeschlagene »Nord-

    amerikanische Freihandelsabkommen« (NAFTA) eigentlich von

    geringerer Bedeutung, als viele glaubten: Der US-Markt war ja oh-

    nehin ür mexikanische Erzeugnisse schon ziemlich oen, und

    inolge der bereits von de la Madrid eingeleiteten Handelslibera-

    lisierung hatte sich auch Mexiko selbst dem reien Handel schon

    ein gutes Stück – wiewohl nicht ganz – geönet. Doch wie schon

    der Schuldenerlass, so sollte auch das NAFTA-Abkommen ein Si-

    gnal setzen und einen psychologischen Wendepunkt markieren.

    Indem Salinas die Önung Mexikos ür ausländische Waren und

    ausländisches Kapital nicht nur zu einer rein mexikanischen Ini-

    tiative, sondern zum Bestandteil eines internationalen Vertra-