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Die Preisträger 2018 Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Preis Volontärsjahrgang V 16 der katholischen Journalistenschule ifp ›Ausgezahlt: Leben ohne Bargeld‹ Webprojekt, veröffentlicht am 30.06.2017 Hermann-Schulze-Delitzsch-Preis Katrin Langhans ›Der Mann, der Gefahren sucht‹ Süddeutsche Zeitung, 24.08.2017 Förderpreis für junge Journalisten Jana Wolf ›Künstliche Intelligenz und Arbeitswelt 4.0‹ Mittelbayerische Zeitung, Serie, 03 bis 17/2017

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Die Preisträger 2018

Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-PreisVolontärsjahrgang V 16 der katholischen Journalistenschule ifp ›Ausgezahlt: Leben ohne Bargeld‹ Webprojekt, veröffentlicht am 30.06.2017

Hermann-Schulze-Delitzsch-PreisKatrin Langhans›Der Mann, der Gefahren sucht‹Süddeutsche Zeitung, 24.08.2017

Förderpreis für junge JournalistenJana Wolf ›Künstliche Intelligenz und Arbeitswelt 4.0‹Mittelbayerische Zeitung, Serie, 03 bis 17/2017

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Die Jurymitglieder

Die Preisverleihung am 5. Oktober 2018 in München

Moderation von Tilmann Schöberl, Bayerischer Rundfunk

Begrüßung durch Dr. Jürgen Gros, Präsident des Genossenschaftsverbands Bayern (GVB)

Laudatio zum Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Preis vonMichael Husarek, Chefredakteur, Nürnberger Nachrichten

Laudatio zum Hermann-Schulze-Delitzsch-Preis vonMelanie Bergermann, Ressortleiterin Blickpunkte, Wirtschaftswoche

Laudatio zum Förderpreis für junge Journalisten vonPeter Wagner, freier Journalist und Entwicklungsredakteur SZ Scala, Träger des Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Preises 2013

Festvortrag von Kayhan Özgenc, Mitglied der Chefredaktion, Bild am Sonntag

Dr. Robert Arsenschek, Akademie der Bayerischen Presse

Florian Ernst, Genossenschaftsverband Bayern

Dr. Astrid Freyeisen, Bayerisches Fernsehen

Markus Hack, Nürnberger Nachrichten

Hannes Lehner, Straubinger Tagblatt

Martin Prem, Münchner Merkur

Wolfgang Sabisch, freier Journalist und Trainer

Holger Schellkopf, Werben & Verkaufen Verlag

Stefan Stahl, Augsburger Allgemeine

Daniela Wiegmann, Deutsche Presse-Agentur

Filmbeiträge und Fotos von der Preisverleihung sind unter www.gv-bayern.de/journalistenpreise abrufbar.

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Friedrich Wilhelm Raiffeisen:

»Als die notwendigste Vorbedingung (der Verbesserung der Lage) gehört dazu, der Bevölkerung zum Bewusstsein zu bringen, dass sie in ihrer Lebensweise, in ihrem Geschäfts-betriebe, in ihrem ganzen Verhalten eine Änderung eintreten lassen muss. Es bedarf dazu rücksichtsloser Aufdeckung der Ursachen der vorhandenen Schäden...«

Hermann Schulze-Delitzsch:

»Wer es weiß, an wie kleinen Summen oft Wohlstand und Existenz ganzer Familien geknüpft sind, wie wenig in manchen Fällen dazugehört, um den redlichen Arbeiter … nicht selten für immer in das Elend zu stürzen, der wird den Wert einer Einrichtung ermessen, welche es diesen Leuten möglich macht, einen Vorschuss gegen mäßige Zinsen und diejenige Sicherheit zu erhalten, die sie zu bieten vermögen.«

Die Preise

Die bayerischen Volksbanken und Raiffeisen-banken würdigen mit ihren Journalistenpreisen seit dem Jahr 2012 herausragende publizistische Arbeiten aus Print, TV, Hörfunk sowie den Online-Medien. Eine Fachjury aus Vertretern der unter-schiedlichen Mediengattungen bewertet die eingegangenen Bewerbungen und entscheidet über die Preisträgerinnen und Preisträger. 2018 vergeben die Volksbanken und Raiffeisenbanken den Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Preis zum Thema wirtschaftliche Bildung (8.000 Euro), den Hermann-Schulze-Delitzsch-Preis zum Thema Verbraucherschutz (8.000 Euro) sowie den Förderpreis für junge Journalisten zum Themenfeld Digitalisierung (4.000 Euro).

Mit der Preisvergabe erinnern die bayerischenVolksbanken und Raiffeisenbanken an ihre Gründerväter, die Genossenschaftspioniere Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch. Ihre Genossenschaftsidee gab eine Antwort auf wirtschaftliche und soziale Fragen, die aus der Industrialisierung im 19. Jahr-hundert resultierten. Für beide beruhte Bildung auf der Kenntnis der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, die sie als Voraussetzung für eine nachhaltige Verbesse-rung der Lage der Bevölkerung betrachteten.

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Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Preis 2018 zum Thema wirtschaftliche Bildung

Preisträger: Volontärsjahrgang V 16 der katholischen Journalistenschule ifp

›Ausgezahlt: Leben ohne Bargeld‹

Webprojekt, veröffentlicht am 30.06.2017

Begründung der Jury

Das digitale Bezahlen ist gerade bei jungen Menschen auf dem Vormarsch. Junge Leute sind es auch, die sich im Webprojekt ›Leben ohne Bargeld‹ da-mit beschäftigt haben. Wie verändert sich eine Gesellschaft durch die Digi-talisierung des Bezahlens? Das ist die Leitfrage für ihre hintergründige Re-cherche. Sie zeigt auf: Die Deutschen wollen keine Zukunft ohne Bargeld. Ihr Herz hängt an Münzen und Scheinen. 84 Prozent können sich laut Studie eines großen Bankhauses ein Leben ohne Bares in der Tasche nicht vorstel-len. Sie schätzen die Anonymität und die Freiheit, die Bargeldzahlungen mit sich bringen. Dennoch, so das Fazit der Autoren, habe das digitale Bezahlen bereits den Alltag der Menschen stark verändert. Dreiviertel der Deutschen fände das bargeldlose Zahlen einfa-cher und Fakt sei, dass sie so viele Pro-dukte online kaufen wie nie zuvor. Dem Volontärsjahrgang des ifp ist ein erfrischend kreatives Online-Stück mit professionell umgesetzten Web-formaten gelungen: Vom animierten Erklärvideo über interaktive Karten bis hin zum Interview mit einer Psycho-login, die seit Jahren untersucht, wie

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das Netz unser Handeln, Fühlen und Denken beeinflusst. Dem Projekt liegt eine gründliche Recherche zugrunde. Es beleuchtet das Bargeldthema von den unterschiedlichsten Seiten, der Fokus bleibt dabei aber immer auf den jungen Menschen. Auch die Autoren selbst lassen sich in den Geldbeutel schauen und vermitteln, wie die Hal-tung zum Bargeld divergiert – und wie privat sie im Grunde ist. Selten ist so verständlich erklärt worden, wie Bit-coin und Blockchain funktionieren. Es macht Spaß, sich durchzuklicken und ist gleichzeitig ungemein erkenntnis-reich: Wirtschaftliche Bildung im besten Sinne und damit preiswürdig.

Smartphone-Apps und digitale Wäh-rungen? Mit welchen kreativen Ideen wird der bargeldlose Zahlungsverkehr weltweit umgesetzt? Welche Gefah-ren kann das beispielsweise für unsere Privatsphäre mit sich bringen? Und: Wie funktionieren eigentlich Bitcoins, die Blockchain & Co.? Gemeinsam mit unserem Studienleiter Burkhard Schäfers und der Seminarleiterin Karin Schlüter haben wir mögliche Formate und Ideen für unser Webprojekt ent-wickelt.

Welche Herausforderungen haben sich bei der Recherche des Themas ergeben?Um die Webseite inklusive einer klei-nen Social-Media-Offensive zu kon-zipieren und zu erstellen, hatten wir weniger als eine Woche Zeit. Neben der Einarbeitung in das durchaus kom-plexe und vielfältige Thema nahm na-türlich auch die technische Umsetzung einige Zeit in Anspruch. Glücklicher-weise hat uns der ifp-Referent Michael Haas beim Programmieren und Coden unterstützt. Außerdem mussten wir uns selbst, dreizehn junge Journalis-tinnen und Journalisten, gut organi-sieren und die Aufgaben verteilen, um schnell, aber korrekt recherchieren zu können. Zu guter Letzt bedeutet der Zeitdruck auch, dass man spontan und flexibel reagieren muss: Etwa wenn

Zum Webprojekt:https://geld.journalistenschule-ifp.de/

der gewünschte Interviewpartner in dieser Woche gar keine Zeit für unsere Fragen hat, wenn wir widersprüchli-che Informationen von verschiedenen Quellen erhalten, oder wenn es bei der Technik hapert.

Worin lag der Erkenntnisgewinn?Dass es nicht nur die reichen Industrie-nationen sind, die mit kreativen Lö-sungen bedeutende Schritte zum bar-geldlosen Zahlungsverkehr machen, hat uns überrascht. Unsere interaktive Karte zeigt die erstaunlichsten Ideen, die wir weltweit entdeckt haben. Eine weitere Erkenntnis ist, dass Deutsch-land hier im Vergleich eher Schlusslicht ist – das fanden wir allerdings weniger überraschend, wie die meisten Bilder unserer eigenen Portmonnaies auf der Webseite verdeutlichen. In unseren Erklärvideos zu Bitcoins und der Block-chain werden Chancen und Risiken für die Zukunft hinterfragt. Dabei, und im Interview mit einer Expertin, wur-de uns bewusst, dass der Trend zum bargeldlosen Zahlen nicht nur tech-nologische Fragen aufwirft, sondern auch soziologische und sogar psycho-logische. Wie wir in Zukunft bezahlen möchten, betrifft uns alle – und für viele Deutsche ist Geld eine durchaus persönliche und emotionale Angele-genheit. Dieses Thema wird uns noch lange beschäftigen.

Fragen an die Preisträger

Wie ist der Volontärsjahrgang auf die Idee für das Webprojekt gekommen?Der große Hype um Bitcoins nicht nur in der Börsenwelt, sondern auch in den Medien, hat uns bewusst gemacht, dass wir in einer sehr spannenden Zeit leben. Staaten, Banken und Verbrau-cher verabschieden sich zunehmend vom Bargeld und suchen nach digita-len Alternativen. Für das Abschlusspro-jekt im Rahmen unserer Journalisten-ausbildung wollten wir wissen, wie die Menschen damit umgehen. Welche Vorteile bieten uns Kreditkarten,

Volontärsjahrgang V 16 (v. li. n. re): Laurine Zienc, Henning M. Schoon, Anna-Lena Herbert, Sara Mierzwa, Lena Binz, Michael Mahler, Linda Bößing (ganz vorne), Antonia Schlosser, Romina Carolin Stork, Philipp Adolphs (dahinter), Antonio Lagator, Johanna Fischotter, Melanie Pies-Kalkum

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Hermann-Schulze-Delitzsch-Preis 2018 zum Thema Verbraucherschutz

Preisträgerin: Katrin Langhans

›Der Mann, der Gefahren sucht‹

Süddeutsche Zeitung, 24.08.2017

Tag das Internet nach Rückrufen und macht das, was eigentlich selbstver-ständlich sein sollte: Verbraucher bei lebensbedrohlichen Gefahren klar und vor allem schnell informieren. So warnt er vor Glasscherben im Gurkenglas, Plastikteilchen im Nasi Goreng und Sal-monellen in Eiern oder Käse. Seit dem Ehec-Skandal 2011 betreibe das Bundes-

DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, MünchenJegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de

von katrin langhans

G ert Kretschmann weiß nichtmehr, ob der Fernseher lief,aber er erinnert sich noch dar-an, dass er mit seiner Frau aufdemSofasaß.Plötzlichqualm-

tees,Gestank lag inderLuft.Kretschmannsprangauf, zogdenSteckerausdemGerät.Wie kann das sein, dass der Fernseher,gerademal einpaarMonate alt, auf einmalbrennt? Die Antwort fand er im Internet.DieLötverbindungwarkaputt, derFernse-her längst vomHersteller zurückgerufen –nur wusste Kretschmann davon nichts.

Heute, zehn Jahre später, sitzt Kretsch-mann, graue Haare, blau-weiß kariertesHemd, Pensionär, in seinem Kellerbüro.An der holzvertäfelten Wand hängt einBlechschild, auf dem sich ein Kind lä-chelnd Brei in den Mund schiebt. Vor ihmflackert der PC-Bildschirm im Halbdun-keln. Kretschmann öffnet die Seite „pro-duktrueckrufe.de“, ein Portal, das er vorzehn Jahren selbst gegründet hat, kurznachdem sein Fernseher gebrannt hatte.

AufderSeitepostetKretschmannRück-rufe von Herstellern: entflammbare Elek-trogeräte, giftige Kleidung, verseuchtesSpielzeug. Allein zu gefährlichen Lebens-mitteln hat er Hunderte Einträge verfasst.Er warnt vor Glasscherben imGurkenglas,Kunststoffteilchen inNasiGorengoderSal-monellen imKäse. AlsAnfangAugustMel-dungen von Eiern, die mit dem Insekten-gift Fipronil verseucht sind, durch dieMe-dien gingen, erstellte er Listen der zurück-genommenen Eierchargen.

Nur selten erregt eine Rücknahme soviel Aufsehen wie die der Fipronil-Eier,weilBehördenmitder Informationsweiter-gabe schlampten, während Menschen in18 EU-Ländern Eier mit den Giftspurenaßen. Zwar stuft dasBundesinstitut fürRi-sikobewertung eine gesundheitliche Ge-fährdung als „unwahrscheinlich“ ein, aberungeklärt ist,wie langeverseuchteProduk-te schon imUmlauf sind.DieBundesregie-rung spricht von etwa zehnMillionen kon-taminierten Eiern inDeutschland, der nie-dersächsische Agrarminister ChristianMeyer vonmehr als 35Millionen.

Der deutsche Lebensmittelmarkt istzwar im internationalen Vergleich relativsicher, aber Kunststoffteile im Essen kön-nen zu Atemnot führen und Bakterien beiImmunschwäche zum Tod. Allein im Jahr2016starben inDeutschland laut demBer-liner Robert-Koch-Institut 18 MenschenimZusammenhangmitSalmonellosen.Ei-ne Krankheit, ausgelöst durch Salmonel-len, die sich bei mangelhafter Hygiene inHackfleisch oder Käse bilden können.

Kretschmann hat viele Jahre bei derBundeswehr gearbeitet, als Personalerund in der IT. Geblieben sind ihm aus die-ser Zeit Ordnungsliebe und Disziplin. Je-denMorgennachdemAufstehen schaut erauf sein iPad, Mails checken. Meist hat erda schon über Google Alerts ein DutzendNachrichten zu Stichworten wie Rückruf,Warnung und Sicherheitshinweis im Post-fach. „Das Problem hat viele Namen“, sagtKretschmann.

Nach dem Ehec-Skandal, als 53 Men-schen 2011 an den Folgen des aggressivenDarmkeims gestorben waren, beschlossauchdieBundesregierung,ein Internetpor-tal für gefährlicheLebensmittel einzurich-ten. Seither betreibt das Bundesamt fürVerbraucherschutzdasProjekt„lebensmit-telwarnung.de“. Die Plattform zählt schonmehr als 500 Einträge. Beamte aus den16 Bundesländern stellen die Meldungenauf das Portal. Und das, salopp gesagt,recht schlampig.

GertKretschmann, der täglich alleine inseinemKellerbüro im nordrhein-westfäli-schenGreven sitzt unddas Internetdurch-sucht,hat indiesemJahrschon inneunFäl-len schneller einen Warnhinweis gepostetals die Behörden. „Alles eine Frage derTechnik“, sagt er. Auch beim Fipronil-Skandal war er schneller. Er verlinkte am31. Juli, mittags, einen Warnhinweis. Auf

dem Portal des Verbraucherschutzminis-teriums stand der erst tags darauf um20.26 Uhr.

Dass dies kein Einzelfall ist, zeigt auchdie Verbraucherorganisation Foodwatchin ihrem Report „Um Rückruf wird gebe-ten“, der dem Bayerischen Rundfunk undder Süddeutschen Zeitung vorliegt: Fast je-der zweite Rückruf auf der staatlichenPlattformerfolgtverzögert.Herstellerwar-nen oft früher als die Behörden. Food-watchhat inzweiDurchgängen92Meldun-gen auf „lebensmittelwarnung.de“ analy-siert. So erfuhrman im Frühjahr drei Tageverspätet von einem möglicherweise ge-sundheitsschädlichen Stoff in Bio-Säug-lingstee und von Metallsplittern in Netto-Würstchen. Bei einem Fall vor vier Jahrendauerte es 20Tage, bis derHinweis auf derSeite stand, dass ein Potenzmittel einenicht zugelassene Substanz enthielt undmöglicherweise Herzinfarkte auslösenkönne. Man habe den Hersteller nicht frü-her erreicht, da dieser seinen Sitz in denNiederlanden habe – so die Begründungder federführenden Behörde in Hamburg.

„Es kann nicht sein, dass Verbraucherbei lebensgefährlichenProduktenwochen-lang warten müssen, bis sie bundesweitinformiert werden“, sagt Martin Rücker,Geschäftsführer von Foodwatch Deutsch-land. „Der Bund müsste für die Stellung-

nahme der Hersteller Fristen definieren“,sagt er. „DieSeite ist einegute Idee, funkti-oniert aber in der jetzigen Form nicht.“

Das merkt auch Kretschmann, er be-kommt häufigMails von besorgten Eltern.SinddieHimbeerenvomNorovirusbetrof-fen?Meine Tochter hat sich übergeben,wokann ich eine Probe von dem Trinkpäck-chen abgeben? „Viele verwechseln michmitderVerbraucherzentrale“, sagtKretsch-mann.Erhat sichTextbausteinezurechtge-legt, gibtweiter,welcheBehörde zuständigist,wennmanPlastik inderApfelsaftschor-le gefunden hat. Seit Kretschmann seineSeitebetreibt, liesterBücherwie„Rückruf-management“ oder „Produkthaftpflicht“.Freitagabends verlässt er ungern dasHaus, er nennt es „das Freitagsproblem“.

Kretschmann öffnet eine Excel Tabelle,in der er seine Warnhinweise archiviert,scrollt zudenSauerkirschen,beidenenderDiscounterKaufland imJanuardaraufhin-wies, Glasscherben könnten in einer Pro-duktcharge sein. Kretschmann zeigt aufdas Datum. „Viele Lebensmittelwarnun-gen kommen am Freitagnachmittag oderam Abend“, sagt er. „Da sind die Beamtenoft schon im Feierabend.“ Das heißt, derVerbraucher muss oft bis Montag warten.Soerfuhrman imJanuar2017aufdemPor-tal desMinisteriums erst drei Tage später,dass beim Kirschenessen schwere Verlet-

zungen im Rachen drohen. So war es auchimMärzbei einemKäse, indemKolibakte-rien vermutet wurden, die zu blutigemDurchfall und schlimmstenfalls zum Todführen können. Wieder war Kretschmannschneller. „Ich verstehe nicht, warum dieBehörden so lange brauchen, da geht esum lebensgefährliche Folgen.“

Das Verbraucherschutzministerium inBaden-Württemberg begründete die Ver-zögerung in einem Schreiben an Food-watch lapidar: „Zwischen der Unterneh-menswarnungunddembehördlichenHin-weis hierauf lag das Wochenende.“ Beimöglicherweise mit Listerien verseuchtenPilzen erklärt man die späte Warnung mitdem „Jahreswechsel“, in einem anderenFall waren es die „Weihnachtsfeiertage“.

Kretschmann ist kein panischerMensch, aber ein skeptischer. „Französi-schen Käse und Zwiebelmett esse ich garnicht mehr“, sagt er. Wegen der Salmonel-len, oder wegen Escherichia Coli. „MeineFamilie muss einiges aushalten, hol diesnicht, hol jenes nicht. Ich kann schon gar

nicht mehr unbefangen durch den Super-markt gehen.“ Manchmal erwischt sichKretschmann dabei, wie er beim Einkau-fen das Kirschglas umdreht, die Chargen-nummer checkt, sicher ist sicher.

Neben ihm liegen zwei Handys auf demTisch, eines nutzt er privat, das andere fürRückrufe. Ein Kollege seines Sohnes hatfür ihn eine App entwickelt. So kann erWarnhinweise per App undWhatsapp ver-breiten, sortiert nach Postleitzahl, für Le-bensmittel, aber auch für Kleidung, Spiel-zeug und Elektrogeräte. „Jedes zurückge-rufene Produkt birgt eine Gefahr“, sagt er.„Informationen müssen klar und schnellerfolgen.“ Die Behörden verlassen sich oftauf den Warnhinweis der Hersteller. Oderverzichtenschonmalauf eineRückrufmel-dung,wennsiedenWarnhinweis als „nichtüberregional“ relevant einstufen. Am En-de ist die behördlicheWebseite nicht aktu-ell – und voller Lücken.

PerGesetz istderHerstellerverantwort-lich für Rücknahmen. Handelt der zulasch, können Behörden eingreifen. Dabeihaben sich die Länder auf das sogenannteSitzland-Prinzip geeinigt. Findet also diehessische Behörde Glasscherben im Gur-kenglas, undderProduzent sitzt inBayern,ist die bayerischeBehörde zuständig, auchdann,wenn dieGurken inBayerngar nichtverkauft werden. „Unzweckmäßig“, sagt

Kretschmann. „Wissen Sie, was einermei-ner Lieblingssprüche ist? Wer glaubt, dassVerbraucherschutz die Verbraucherschützt, der glaubt auch, dass Zitronenfal-ter Zitronen falten.“ Er lacht kurz auf. „Ichverstehe die Behörden einfach nicht.“

Ein Schreiben, das der SZ und dem BRvorliegt, zeigt,wie undurchsichtig die Lageselbst für Lebensmittelkontrolleure ist.NachdenEU-Kriterien fürLebensmittelsi-cherheit darf ein Hersteller etwa Hack-fleisch nicht mehr verkaufen, wenn er beieinerEigenkontrolle feststellt, dassdiemi-krobiologische Belastung zu hoch ist,wenn beispielsweise zu viele Salmonellengemessen werden. Findet aber ein amtli-cher Kontrolleur denselben Erregerbefall,muss er zusätzlich nachweisen, dass tat-sächlich eine Gesundheitsgefahr besteht.

Brancheninsidern zufolge machen sichHersteller diese Absurdität zunutze. Es istganz einfach: Man schreibt groß auf dieHackfleisch-Packung, dass man das Pro-dukt vor dem Verzehr erhitzen muss. BeiHitzesterbenSalmonellenab.Beamtemüs-sendieKennzeichnung indieRisikobewer-tung miteinbeziehen und haben es dem-nach schwerer, die Gesundheitsgefähr-dung nachzuweisen. Wer die Packung oh-ne Lesen aufreißt und das Hack gewürztauf sein Brötchen legt, der hat – wenn esdumm läuft – Pech gehabt.

LebensmittelexpertenundKrisenmana-ger, die Unternehmen beraten, schätzen,dassmehr als 90Prozent derRücknahmenohne Ankündigung erfolgen, also ohnedass die Öffentlichkeit davon erfährt. Mannenntdasden„stillenRückruf“.Branchen-insidersagen,diesgescheheetwa,wennge-ringe Belastungen mit Listerien oder Sal-monellennachgewiesenwurden,oderSpu-ren von Reinigungsmitteln.

Auch mit Fipronil belastete Waren ver-schwinden derzeit unbemerkt vomMarkt.Backwaren oder Nudeln etwa, in denennur geringe Mengen des Insektengifts ge-funden wurden. „Wir raten Unternehmendazu, die Produkte zurückzunehmen, umdasVertrauenderVerbraucher zuwahren“,sagtMichaelLendle,dermehrals50betrof-fene Unternehmen berät. Der MünchnerRechtsanwalt Alfred Meyer, der ebenfallsRücknahmen betreut, sagt: „Fipronilkocht gerade hoch, weil die Behörden imWahlkampfjahr offensiver kommunizie-ren.“Dabeisei indenvergangenendreiWo-chendieGesundheitsgefahr inanderenFäl-lenrelevantergewesen.ZumBeispielbeiei-nem mit Salmonellen belasteten Katen-schinkenvonGelderland,dervonNettozu-rückgerufenwurde.AufderoffiziellenSei-te steht nur: Gesundheitliche Beschwer-denkönnennicht ausgeschlossenwerden.

Alles nichts Neues, das ergab auch eineAuswertungderVerbraucherzentraleHam-burg. Beimehr als der Hälfte von 50 FällenfandsichaufdembundesweitenPortalkei-ne Aussage über gesundheitliche Gefah-ren. Fünf Mal wurden die Auswirkungenverharmlost. Bei Glasscherben fehlte derHinweis, dass man sich innere Blutungenzuziehen kann, bei Listerien war nur von„Kopfschmerzen“dieRede,nichtvonmög-lichen Todesfällen. Das Bundeslandwirt-schaftsministerium schreibt auf Anfrage,Ziel der Seite sei dieWarnungderVerbrau-cher, nicht diemedizinische Aufklärung.

KretschmannklicktaufeinStandardfor-mular, das er für Unternehmen entwickelthat. Darauf stehen Felder wie „Problem“,„Gesundheitsgefahr“ und „Ansprechpart-ner“. Infos, dieman auch bei dem jüngstenEintragaufderBehördenseitevermisst.Ei-ne bayerische Brauerei rief am vergange-nen Freitag Flaschenbiere zurück. DerGrund: „Eine mögliche Gefahr für die Ge-sundheit“seinichtauszuschließen.AufAn-frage schreibt das zuständige BayerischeLandesamtfürGesundheitundLebensmit-telsicherheit, dass der Konsum „zu Verät-zungen“ führen könne. Bisher seien aberkeine konkreten Fälle bekannt, man habedaher auf diesen Zusatz verzichtet.

Mitarbeit: Benedict Witzenberger

von silke bigalke

J emandhat sichMühegegeben,dieLei-che in der Ostsee zu versenken. Er hatsiedurchlöchert,wohldamitGaseent-

weichen können und sie nicht wieder auf-taucht. ErhatdenKörper zusätzlichmit ei-nem Metallstück beschwert. Und er hatKopf, Arme und Beine vom Rumpf abge-schnitten. Deswegen hat es einige Zeit ge-dauert, bis die dänische Polizei die Toteidentifizieren konnte. Erst ein DNA-Testhatbestätigt, dass es sichumdievermissteJournalistinKimWall handelt. Und dass esihr Blut war, das die Ermittler an Bord derversunkenen Nautilus gefunden haben.

Das U-Boot war die letzte Story, an derKim Wall gearbeitet hat, die Nautilus undihr Erbauer PeterMadsen.Mit ihmwar dieSchwedinvorknappzweiWochen inSeege-stochen. Der 46-jährige dänische Tüftlerist häufig interviewt worden. Seine Nauti-lus gilt als das größte privat gebauteU-Boot derWelt, unddannbastelte er auchnoch an einer Rakete, die ihn ins Weltallbringen sollte. SowaghalsigMadsens Pro-jekte auchwaren, alsKimWallmit ihmvonKopenhagen aus aufbrach, wirkte derAusflug vergleichsweise ungefährlich. Die30-Jährige hatte ganz andere Reisen hin-ter sich, hatteüberAtommüll aufdenMar-shallinseln recherchiert, über Folter inUganda undMinenfelder in Sri Lanka.

Sie hätten sich oft Sorgen um Kim ge-macht, schrieben ihre Eltern und ihr Bru-

der vergangene Woche in einem offenenBrief an dieMedien. „Dass ihr etwas inKo-penhagenpassierenkönnte,nurwenigeKi-lometer vomHeim ihrerKindheit entfernt,hätten wir uns überhaupt nicht vorstellenkönnen. Nun sieht es aus, als sei dasSchlimmste geschehen.“ Kim Wall galt zudiesem Zeitpunkt noch als vermisst.

Kim Walls Reportage über Peter Mad-sen wird nie erscheinen. Dafür geht nundie Geschichte eines versenkten U-Boots,eines durchlöcherten Torsos und vielermerkwürdigerWidersprüche um dieWelt.

KimWall und PeterMadsen treffen sicham 10. August, einem Donnerstagabend,in Kopenhagen. Die letzten Bilder derSchwedin zeigen sie neben demDänen aufdem Turm der Nautilus. Sie trägt einen

leuchtend orangen Pulli, die langen Haarehat sie zusammengebunden, im Hinter-grund sieht man die Windräder auf demÖresund und denAbendhimmel. Die däni-scheFahneweht auf demU-Boot-Turm imWind. KimWall schaut in die Kamera undlacht.Wenige Stunden später, in der Nachtzum Freitag, melden ihre Angehörigen sieals vermisst. Polizei und Militär suchenmit Booten und Helikoptern nach dem

U-Boot und seinen beidenPassagieren. Siefinden die Nautilus am nächsten Morgen.DerKapitänwinktvomTurm,erhabe tech-nische Schwierigkeiten. Eine halbe Stundespäter istdieNautilusgesunken.Einpriva-tes Motorboot fischt Peter Madsen ausdem Wasser und bringt ihn an Land. Ei-nem dänischen Fernsehteam sagt er imVorbeigehen, er sei traurig, dass dieNauti-lusgesunkensei, einProblemmitdemBal-lasttank, alles sei ganz schnell gegangen.KeinWort über KimWall.

DerPolizei erklärt er, erhabedieSchwe-din noch am Abend vor dem Unglück anLand gebracht. Die Ermittler heben dieNautilusvomMeeresgrund.Sie findenHin-weisedarauf,dassdasBootabsichtlichver-senkt wurde. Madsen bleibt in Haft, Ver-dacht auf fahrlässige Tötung.

Zwei Tage nach demSchiffbruch ändertPeter Madsen seine Aussage offenbar,doch das Gericht hält sie zurück. Die Poli-zeibittetSchiffsbesatzungenundPassagie-re, die inderUnglücksnacht aufSeewaren,

sich zu melden. Mit Hilfe dieser Aussagenkönnen die Behörden schließlich den letz-ten Weg der Nautilus nachvollziehen. Sierechnen nicht mehr damit, Kim Wall le-bend zu finden.

Am Montag veröffentlicht die Polizeidann die letzte Aussage von PeterMadsen,oder zumindest Teile davon. Die aktuelleVersion des U-Boot-Kapitäns lautet nun:KimWall sei tot, ein Unfall an Bord. Er ha-be sie auf See „bestattet“, irgendwo in derKøge-Bucht, südlich von Kopenhagen,dort wo auch sein U-Boot sank.

Am Montagnachmittag entdeckt einRadfahrer an der Küste der Insel Amagerbei Kopenhagen etwas im Wasser. Es gibtBildervonEinsatzwagenaufdemFahrrad-weg, Polizeibooten, Tauchern. Sie bergendenTorsoeinerFrau. „Wirkönnennichter-kennen, was das mit unserem Fall zu tunhat“, sagt die Verteidigerin von PeterMad-sen, BetinaHald Engmark, da nochder dä-nischen Tagezeitung Jyllands Posten.

Am Mittwoch sind die Ergebnisse desDNA-Tests da. Sie bringen Gewissheit und„grenzenlosen Kummer“ für die Familievon Kim Wall. Ihre Mutter Ingrid schreibtaufFacebook, dass siedenUmfangderKa-tastrophe noch nicht überblicken kann,und dass viele Fragezeichen blieben. Überdie Todesursache etwa konnte die Polizeiam Mittwoch noch nichts sagen. Madsenbleibt bei seiner Unfall-Version. FrühereVersionen seiner Geschichte haben sichallerdings schon als falsch herausgestellt,

etwa die, dass er Kim Wall wohlbehaltenwieder an Land abgesetzt habe. Oder die,dassseinU-BootaufgrundtechnischerPro-bleme gesunken sei.

Der Erfinder sei „nicht gewalttätig“, al-lerdings streite er „mit Gott und jeder-mann“, zitierte das dänische Boulevard-blatt BT Madsens Biograf Thomas Djur-sing, kurz nachdem das U-Boot sank. Sohat sichMadsen inzwischenmit der Grup-pe von U-Boot-Enthusiasten, mit denen erdie Nautilus schuf, zerstritten, genausowiemit dem Verein für die Rakete.

KimWall arbeitete als freie Journalistinund recherchierte oft ohne festen Auftrag-geber. Sie pendelte zwischen New YorkundPeking,hattedie letzteZeit aber inKo-penhagen verbracht. Als er von einer ver-schwundenen schwedischen Journalistinund dem U-Boot hörte, habe er gleich ge-wusst, um wen es sich handelt, sagt JanHendrik Hinzel. Er hat mit Kim Wall aufderColumbiaUniversität inNewYorkJour-nalismus studiert undwarmit ihrwochen-lang fürRecherchenaufdemPazifikunter-wegs. Ihre gemeinsame Geschichte überdieMarshallinseln ist 2015 in derSüddeut-schen Zeitung erschienen. „Sie hat oft Ge-schichten über Freaks und Verrückte ge-schrieben, aber sie als Menschen immerernst genommen“, sagt Hinzel. Kim Wallsei stetsunterwegsund immer fröhlichge-wesen. Ihr Studienfreund sagt: „Sie hattenie Probleme, die Menschen dazu zu brin-gen, sich ihr zu öffnen.“

Kapitän Peter Madsen (rechts) will Kim Wall auf See „bestattet“ haben. Aber warumist dann bislang nur ihr Torso gefunden worden? FOTOS: TOM WALL/DPA, HOUGAARD NIELS/DPA

Tod in der TiefeBei der Recherche über ein U-Boot und seinen Kapitän starb die Journalistin Kim Wall. Nur Peter Madsen weiß, was auf seiner „Nautilus“ geschah

DIE SEITE DREIDEFGH Nr. 194, Donnerstag, 24. August 2017 HF2 3

Von denmeisten Rücknahmenin Deutschland erfährtdie Öffentlichkeit nie etwas

Auch beim Fipronil-Skandal war er schneller. Gert Kretschmann in seinem Kellerbüro im nordrhein-westfälischen Greven. FOTO: KALA

Der Mann, der Gefahren suchtVerseuchte Eier, Scherben in Sauerkirschen, tödliche Potenzmittel: Vor riskanten Waren

warnt Gert Kretschmann oft schneller als jede Behörde. Warum eigentlich?

Viele Warnungen kommen amFreitagabend. Dann also, wenn inden Behörden niemand da ist

Der DNA-Test bringt dann dieGewissheit – und der Familie„grenzenlosen Kummer“

„Französischen Käse“, sagtKretschmann, „oder Zwiebelmettesse ich gar nicht mehr.“

DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, MünchenJegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de

LanghansKSZ20170824S4172989

Begründung der Jury

Die Autorin porträtiert in ihrem Seite-Drei-Artikel Gert Kretschmann. In sei-nem Kellerbüro in Nordrhein-Westfa-len betreibt der Bundeswehr-Pensionär das Portal ›produktrueckrufe.de‹. Er gründete es, nachdem sein Fernseher in Brand geriet, weil ihn eine Herstel-ler-Rückrufaktion nicht erreicht hatte. Akribisch durchsucht er seither Tag für

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Den Artikel abrufen:www.gv-bayern.de/journalistenpreise

amt für Verbraucherschutz zwar ein digitales Informationsportal mit dem Namen ›lebensmittelwarnung.de‹, so die Autorin. Beamte aus allen Bun-desländern würden dort Warnungen vor Lebensmitteln einstellen. Das ge-schehe aber nur lückenhaft, langsam und schlampig, kritisiert Kretschmann. Selbst bei lebensgefährlichen Mängeln würde verzögert zurückgerufen. So ist ›Überzeugungstäter‹ Kretschmann oft schneller als die Behörden.

Der doppeldeutige Titel zieht den Leser in die wunderbare Porträt-Reportage des Online-Portalbetreibers hinein. Ein Rentner, der auf eigene Faust und mit bewundernswertem Engagement Gefahrenmeldungen veröffentlicht und damit den ›Verbraucherschelmen‹ im Nacken sitzt. Schon die Leistung der Autorin, diesen engagierten Men-schen entdeckt zu haben, ist hoch einzuschätzen. Langhans hat darüber hinaus umfänglich recherchiert: Sie erklärt unterschiedlichste Aspekte des Verbraucherschutzes bis hin zu juristischen Fragen der Haftung. Auch menschelt die Geschichte und sie ist gut sowie spannend erzählt. Ein wich-tiger Artikel, weil er symptomatisch aufzeigt: Bei Produktrückrufen kom-men die zuständigen Behörden ihren Informationspflichten offenbar zu spät nach. Es ist empörend, dass der Einzel-kämpfer Kretschmann oft schneller warnt. Das ist Verbraucherschutz pur und spiegelt die Intention des Her-mann-Schulze-Delitzsch-Preises am stärksten wider.

Fragen an die Preisträgerin

Wie sind Sie auf Herrn Kretschmann gestoßen?Langhans: In einem Gespräch mit Foodwatch zum Thema Lebensmittel-sicherheit erfuhr ich, dass es jemanden gibt, der im Münsterland privat bloggt, in welchen Produkten Glasscherben oder Salmonellen stecken. Da war für mich sofort klar: Ich will diesen Mann kennenlernen.

Ich bin nach Greven gefahren und habe mir angeschaut, wie Gert Kretschmann, Rentner und IT-Fach-mann, in seinem Keller im Schummer-licht arbeitet. Er hat sich Google-Alerts eingerichtet, die ihn schnell informie-ren, wenn ein Hersteller gefährliche Produkte zurückruft. Vor Ort konnte ich live miterleben, wie auf seiner Seite ›produktrueckrufe.de‹ schneller eine Warnmeldung zu mit Fipronil kontami-nierten Eiern stand als auf der von Be-hörden gespeisten Seite ›lebensmittel-warnung.de‹. Wieder in der Redaktion wollte ich wissen, wie oft Kretschmann schneller war als die Behörden. Und ein Datenvergleich der Seiten ergab: Allein binnen eines halben Jahres war Kretschmann neun Mal zügiger darin, vor Gefahren in Lebensmitteln zu war-nen, als die Bundesseite.

Mit welchen Herausforderungen waren Sie bei der Recherche konfrontiert?Langhans: Es war gar nicht so leicht, Insider der Rückrufbranche zu finden, die ehrlich darüber sprechen wollten, an welchen Schwachstellen das System hakt. Mich hat dann überrascht, dass Insidern zufolge etwa 90 Prozent der Rückrufe still ablaufen. Das bedeutet, Hersteller rufen Produkte zurück, bei denen Spülmittel oder Listerien vor-

liegen, aber noch nicht den zulässigen Grenzwert überschreiten. So erfuhr ich, dass auch Backwaren, die mit Fipronil belastet waren, still vom Markt ver-schwanden – ohne dass die Öffentlich-keit davon erfuhr.

Worin liegt Ihr persönlicher Erkenntnisgewinn?Langhans: Erstaunt hat mich ein be-hördliches Schreiben, das mir im Zuge der Recherchen zugespielt wurde. Es zeigt, wie kompliziert die Rechtslage für Lebensmittelkontrolleure ist. Nach EU-Kriterien für Lebensmittelsicherheit darf ein Hersteller Hackfleisch nicht mehr verkaufen, wenn er bei einer Eigenkontrolle feststellt, dass zum Bei-spiel zu viele Salmonellen gemessen werden. Wenn aber ein amtlicher Kon-trolleur dieselbe Belastung findet, muss er zusätzlich nachweisen, dass tatsäch-lich eine Gesundheitsgefahr besteht. Das ist absurd.

Katrin Langhans

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vielfältigen Anwendungsbereiche von künstlicher Intelligenz unter die Lupe. Alle Beiträge eint, dass es immer auch um die weitreichende Frage geht, wie künstliche Intelligenz unsere Gesell-schaft verändert. Wolf beschreibt bei-spielsweise, wie lernfähige Programme die Art und Weise nachahmen können,

wie Menschen handeln. Bekannt wurde der Fall der Start-up-Gründerin Eugenia Kuyda, die ihren tödlich verun-glückten Freund durch Chatbots und lernfähige, intelligente Programme ›wiederbelebte‹ und von seiner künst-lichen Nachahmung nun im Tonfall verblüffend ähnliche E-Mails und

Förderpreis 2018 für junge Journalisten zum Thema Digitalisierung

Preisträgerin: Jana Wolf

›Künstliche Intelligenz und Arbeitswelt 4.0‹

Mittelbayerische Zeitung, Serie 03 bis 17/2017

Begründung der Jury

Roboter lenken Autos, intelligente Computer erkennen schwere Krank-heiten, Algorithmen helfen bei der Suizidprävention. Das alles ist heute möglich. In der crossmedialen Serie ›Künstliche Intelligenz und Arbeitswelt 4.0.‹ in der Mittelbayerischen Zeitung nimmt die junge Autorin Jana Wolf die

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Fragen an die Preisträgerin

Wie sind Sie auf die Idee für die Serie gekommen?Wolf: Das Thema ›künstliche Intel-ligenz‹ (KI) tauchte in Redaktions-konferenzen immer wieder auf – in unterschiedlichen Zusammenhängen. Mal ging es um neue Finanz-Apps, von denen die Bankfiliale um die Ecke unter Konkurrenzdruck gesetzt wird. Mal um eine Software zur Diagnose von Krebs, die an der Regensburger FH entwickelt wird. Oder um intelligente Videoüber-wachungssysteme, die in der Nähe der Redaktion der Mittelbayerischen Zeitung (MZ) produziert werden. Die Beobachtung, dass KI nicht nur im Silicon Valley, sondern auch in der Region ein heißes Thema ist, gab den Anstoß zur Serie. Gestalt gewonnen hat die Idee dann im Austausch mit meinem MZ-Kollegen Stefan Stark. Wir haben uns gefragt, wie wir all die An-wendungsbereiche von KI unter einen Hut bekommen. Und wie wir komple-xe Technologien am besten für unsere Leserschaft aufbereiten. Die Texte sollten in der Region verankert sein und zeigen, welchen Einfluss KI auf die Arbeits- und Lebenswelt hat.

Mit welchen Herausforderungen waren Sie konfrontiert?Wolf: Diskussionen um neue Techno-logien sind oft sehr emotional aufge-laden und schlagen schnell in Extreme aus: Die einen sehen in intelligenten Computern die besseren Menschen, die anderen warnen vor Jobkillern oder vor dem Kontrollverlust gegenüber übermächtigen Systemen. Ich fand es herausfordernd, die richtige Balance zu finden: Technische Aspekte genau erklären, technologischen Fortschritt differenziert einordnen und ethische Fragen beleuchten – und dabei keine Schreckensszenarien heraufbeschwö-

ren. Dazu brauchte es geeignete Ansprechpartner, die die Technologie seriös beurteilen können und zugleich einen Bezug zur Region haben. Ohne dass sie nur eigene Produkte oder die eigene Forschung bewerben wollen. Eine andere Herausforderung: Ist die Rede von KI, werden oft Begriffe durch-einander geworfen: Robotik, Big Data, Deep Learning oder Algorithmen sind eben nicht das Gleiche. Mein Ziel war es, präzise zu bleiben.

Worin liegt Ihr Erkenntnisgewinn?Wolf: Ich habe mich in der Serie auf Bereiche fokussiert, die den Menschen nahe kommen: auf neue Kommunika-tionsformen zum Beispiel und auf die Frage, ob Chatbots Menschen nachah-men können. Oder auf Therapiemetho-den in der Psychologie und auf die Fra-ge, ob KI-Technologien dabei tatsäch-lich helfen können. Ich wusste etwa bis zu dieser Recherche nicht, dass Spin-nenphobien mit Virtual-Reality-Brillen therapiert werden können. Oder dass Facebook-Algorithmen als Warnsystem bei Suizidgefahr eingesetzt werden. Ich habe auch festgestellt, wie viele Mythen sich um die KI gebildet haben und welche erstaunlichen Fähigkeiten Maschinen angedichtet werden. Nach dieser Serie bin ich umso mehr davon überzeugt, dass sich nicht alle Verän-derungen durch KI über einen Kamm scheren lassen, auch weil am Ende der Mensch die Maschinen programmiert und ihren Handlungsspielraum fest-legt. Durch die Recherche habe ich also nicht nur viel über Computer, sondern auch so manches über Menschen gelernt.

Jana Wolf

Nachrichten erhält. In einem weite-ren Artikel aus der Reihe berichtet Wolf über künstliche Intelligenz, die im Bereich Seelsorge zum Einsatz kommt. Auch gesellschaftlich-ethische Fragen werden aufgeworfen: Gibt es bei Krankheiten ein Recht auf Nicht-Wissen? Und wie hoch ist die Gefahr einer Entsolidarisierung, wenn künftig Krankheiten präzise vorhergesagt wer-den können?

Wolf ist eine handwerklich gut ge-machte, informative Serie zum kom-plexen Thema ›künstliche Intelligenz‹ gelungen. Sie bespielt es von unter-schiedlichen Seiten und greift dabei spannende Anwendungsformen auf. Das globale Thema holt sie in die Regi-on: Mehrfach hakt sie beispielsweise bei der Fachhochschule Regensburg nach. Ihre Artikel überzeugen dabei durch journalistische Stilsicherheit. Wolf gelingen mitreißende Feature-Einstiege – so beispielsweise in der Reportage über die Therapie von Spinnenphobikern. Die crossmediale Umsetzung ist mit flächigen Optiken, Online-Bildergalerien, Videos und Info-Boxen für eine Regionalzeitung mustergültig. In ihrer Gesamtheit ist die Serie für eine Nachwuchsjournalis-tin beeindruckend konzipiert. Sie geht nach Meinung der Jury dabei an die Grenzen dessen, was eine regionale Tageszeitung leisten kann: Jana Wolf hat viel Zeit investiert und investieren dürfen. Sie schafft es, den ›Megatrend‹ künstliche Intelligenz auch Bevölke-rungsschichten nahezubringen, die davon möglicherweise noch gar nicht betroffen sind, es aber sein werden. Sie ist damit eine würdige Preisträgerin.

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Rückblick

Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-PreisSonja Krell, Michael Kerler, Detlef Drewes:

›Warum die Hälfte unserer Lebensmittel im Abfall landet‹Augsburger Allgemeine

Hermann-Schulze-Delitzsch-PreisPauline Tillmann:

›Abgespeist – Warum die Verbraucher von den Behörden schlecht informiert werden‹B5 aktuell, Funkstreifzug

Matthias Dachtler: ›Geplante Obsoleszenz‹ br-alpha/on3-südwild

Volontärspreis49. Kompaktklasse der Dt. Journalistenschule in München:

›Ich rette Deutschland‹ AFK TV

Die Preisträger 2012:

Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-PreisPeter Wagner:

›Entscheidung in Sicht‹jetzt-Magazin / Schule & Job / Süddeutsche Zeitung

Hermann-Schulze-Delitzsch-PreisStefan Schmid:

›Genuss-Scheine wörtlich genommen: Wenn Anleger ihre Rendite in Naturalien bekommen‹Bayern 2

VolontärspreisHannes Vollmuth:

›Die Montagsdemonstrantin‹taz

Die Preisträger 2013:

Die Preisträger 2014:

Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Preis Winfried Schuhmann, Gerd Vanselow ›Neue Bauern, altes Dorf‹ Medienwerkstatt Franken, Franken TV

Robert H. Schumann, Günther Wittmann

›Großmarkt der Betriebsamkeit‹ Medienwerkstatt Franken, Franken TV

›Pizza International‹ Medienwerkstatt Franken, Franken TV

Hermann-Schulze-Delitzsch-PreisSusanne Schäfer

›Alles unverträglich? Millionen Deutsche glauben, Brot, Milch oder Obst machten sie krank‹, Die Zeit , 21. November 2013

Die Preisträger 2015:

Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Preis Sebastian Heinrich ›Der alte Mann und die Donau‹ Mittelbayerische Zeitung

Hermann-Schulze-Delitzsch-PreisChristiane Hawranek, Maximilian Zierer ›Unter Beobachtung: Wie Überwachungs- kameras unser Leben ausspähen‹ Bayerischer Rundfunk (Hörfunk B5 Aktuell, Redaktion Politik und Hintergrund, Funkstreifzug) und Webstory

Förderpreis für junge JournalistenSusanne Weiß ›Dorfläden – eine bedrohte Idylle‹ Münchner Merkur/Tölzer Kurier

Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-PreisJessica Seidel, Valerie Tielich, Simon Kunert›Ostbayern 4.0‹Straubinger Tagblatt/Landshuter Zeitung

Hermann-Schulze-Delitzsch-PreisHannes Grassegger, Dr. Till Krause›Im Netz des Bösen‹Süddeutsche Zeitung Magazin

Förderpreis für junge JournalistenMoritz Aisslinger›Die armen Kinder vom Silicon Valley‹Die Zeit

Die Preisträger 2017:

Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-PreisJulia Graven ›Weiter geht ’s‹ Impulse

Hermann-Schulze-Delitzsch-PreisPhilipp Grüll ›Die Story: Salmonellenausbruch – die Spur führt nach Niederbayern‹ Bayerischer Rundfunk/BR Fernsehen, Kontrovers

Frederik Obermaier ›Verdorben‹ Süddeutsche Zeitung Förderpreis für junge JournalistenJulia Häglsperger, Robert Grantner ›Jetzt mal ehrlich: Wie sicher sind unsere Daten?‹ Bayerischer Rundfunk/BR Fernsehen

Die Preisträger 2016:

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Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-PreisSonja Krell, Michael Kerler, Detlef Drewes:

›Warum die Hälfte unserer Lebensmittel im Abfall landet‹Augsburger Allgemeine

Hermann-Schulze-Delitzsch-PreisPauline Tillmann:

›Abgespeist – Warum die Verbraucher von den Behörden schlecht informiert werden‹B5 aktuell, Funkstreifzug

Matthias Dachtler: ›Geplante Obsoleszenz‹ br-alpha/on3-südwild

Volontärspreis49. Kompaktklasse der Dt. Journalistenschule in München:

›Ich rette Deutschland‹ AFK TV

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