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mo-helden me-helden A Am Ende stehen wir vor dieser Wand in der Rue de Verneuil No. 5. Es ist eng, hier passen keine zwei Autos aneinander vorbei, zu Fuß sind es nur drei Minuten hinüber an die Seine. Hier ist Paris ganz bei sich selbst und seinem Geld, schon die Eingänge zu den Häu- sern erzählen vom alten Reichtum dahinter. Die Wand wirkt wie ein Schandfleck. Immer wieder lassen die Nachbarn sie übertünchen. In der ganzen Stadt werden wir keine andere Mauer finden, die sich so kontinuierlich verändert. Ein Bildschirm aus Stein, fortwährend aktualisiert. „Serge ist im Himmel und vögelt", steht da heute noch, daneben wurde sein Gesicht mit Schablone aufgesprüht, umrankt von kryptischen Chiffren, Textzeilen, Liebeserklärungen, einer an- geklebten Schachtel Gitanes. Und morgen ist alles abgekratzt und übermalt, damit übermorgen alles von vorne anfangen kann. Serge Gainsbourg hätte das gefallen. Die Provokation, das Un- geordnete, der Dreck, die Kreativität. Es gefiel ihm schon, als er noch hier wohnte. Hinter der Mauer mit dem eisernen Gitter er- streckte sich, verwinkelt und verwunschen, seine Wohnung. Die Wände sind mit schwarzem Stoff bespannt, die Räume ausgestattet wie ein Antiquariat der Coolness. Da steht noch seine elektrische Schreibmaschine, da parken noch seine Bücher und Schallplatten, wie das Regal mit den erlesenen Whiskeys. Irgendwo sitzt eine le- bensgroße Plastik, die einen Mann mit einem Blumenkohl anstelle des Kopfes zeigt. Es ist das Appartement, in dem er über zwölf Jahre mit Jane Birkin und seiner Familie lebte. Das Appartement, in dem er 1991 tot in seinem Bett gefunden wurde. Ein Ort, der seitdem vollkommen unangetastet geblieben ist. „Ich wollte das so", erzählte mir seine Tochter Charlotte ein- mal bei einem Interview in Berlin. Es war ein kaltes Gespräch in einem kalten Hotelzimmer. Aber als es um ihren Vater ging, taute die Schauspielerin sichtlich auf. Sie zog die Beine an die Brust und umschlang ihre Knie mit den Armen. Wie ein Kind sah sie plötz- lich aus und lächelte auch so, als sie vom Glück erzählte, in der Rue de Verneuil aufgewachsen zu sein. Vom Glück, Serge Gainsbourg als Vater gehabt zu haben. „Ich werde dafür noch heute oft bemit- leidet", erzählte sie und schüttelte den Kopfüber so viel Ignoranz. Für seine Landsleute war Serge Gainsbourg ein heiliges Mons- ter. In Deutschland müssten wir uns eine vergleichbare Figur aus Klaus Kinski, Harald Juhnke, Jörg Fauser und Rainer Werner Fass- binder zusammenschnippeln - und hätten nicht einmal annähernd einen Gainsbourg vor uns. Wer Nachgeborenen seine Wirkung beschreiben will, kann heute selbst in Frankreich höchstens auf Michel Houellebecq deuten. Und es ist kein Wunder, dass er seine irrsinnige Popularität zu Lebzeiten nur mit einem anderen Clown teilen musste, dem bösen Komiker Coluche. Im Ausland«prägte Gainsbourg vor allem das Bild des französi- schen Mannes. Zwischen den Lippen die Kippe, in den Fingern der Pernod, im Blick die Rundungen einer vorbeispazierenden Schön- heit. Ein „Filou", wie die Franzosen den liebenswerten Lüstling nennen. Wobei er eben alles andere als liebenswert war. Im Aus- land ist er der hässliche Vogel, der aus unerfindlichen Gründen nur die allerschönsten Frauen hatte - und der Welt im Gegenzug mit „Je T'Aime... MoiNonPlus"etwas schenkte, das ehrlicherweise nur als „der ultimative Ficksong" bezeichnet werden kann. Ein Rätsel, ge- rade aus deutscher Sicht. Dabei ist Serge Gainsbourg in gewisser Weise auch ein deutsches Geschöpf. Geboren ist er 1928 als Lucien Ginsburg in eine jüdische Familie, die vor dem Bolschewismus aus Odessa nach Paris geflo- hen war. Dort erarbeitete sein Vater, prämierter Absolvent einer rus- sischen Musikhochschule, als Barpianist ein passables Einkommen für seine Frau und die beiden Kinder. Als deutsche Truppen 1940 Frankreich überrannten, floh die Familie in den noch unbesetzten me.5o Teil von Frankreich, in die Normandie. Auch dort hatten sich die Ginsburgs zu verstecken, die französische Verwaltung stand den deutschen Herren an faschistischer Gesinnung kaum nach. Auch Lucien, das Kind, musste den gelben Judenstern tragen. Bevor die französischen Häscher an die Schule kamen, schickte der Direktor den jungen Juden mit der Axt in den Wald, wo er sich notfalls als Sohn des Försters ausgeben sollte. Dort versteckte er sich für eine Woche auf einem Baum, bis die Luft wieder rein war. Er überlebte den Krieg, die Tuberkulose, die Verfolgung - und behielt zeitlebens ein tiefes Misstrauen gegen seine Landsleute und deren angebliche Liebe zur „liberte". Die Deutschen, sagte er, hätten damals wenigstens auf Befehl gehandelt. Nach dem Krieg begann er an der Hochschule für Schöne Künste ein Studium der Die Provokation, das Ungeordnete, der Dreck, die Kreativität - Gainsbourg liebte genau das. Malerei, eines seiner Vorbilder war der britische Maler Thomas Gainsborough. Im freien Nachkriegsklima an der Akademie und als er sein erstes Geld als Pianist in den Clubs verdiente, änderte Lucien Ginsburg seinen Namen in Serge Gainsbourg. Gainsbourg wegen Gainsborough, Serge als stolzer Hinweis auf seine russische Abstammung und aus Abneigung gegen den Namen Lucien. Der erinnerte ihn an einen „Herrenfriseur". Seiner ersten richtigen Freundin verdankt er 1947 ein einschnei- dendes Erlebnis. Elisabeth, Sekretärin eines Malers, der mit Sal- vador Dali befreundet ist, hat Zugang zu den Schlüsseln von Dalis Wohnung, solange der Meister nicht in Paris weilt. Serge ist tief beeindruckt von der Wohnung, die ganz nach dem bizarren Ge- schmack eines Surrealisten ausgestattet und komplett mit schwar- zem Lammfell ausgeschlagen ist. Genauso wird er es auch halten wollen, verspricht er sich. Später wird er Dali sogar kennenlernen. Sein Freund Boris Vian ist Sänger, Schauspieler und Schriftsteller, ein Universalkünstler also, und er führt Serge in die Boheme ein. Erste Aufträge als Songschreiber lassen nicht auf sich warten, fast alle Stars und Sternchen der Zeit gehören zu seiner Kundschaft. Zwischen heute weitgehend vergessene Namen wie Gloria Lasso, Hugues Aufray, Claude Pascal oder Cora Vaucaire mischen sich all- mählich unvergessliche Namen wie Petula Clark, Nana Mouskouri, Juliette Greco. 1965, da hat er schon mehrere erfolglose Soloplatten und eine gescheiterte Ehe hinter sich, zieht Gainsbourg plötzlich den Jackpot. Die junge Sängerin France Gall soll für Luxemburg beim „Grand Prix d'Eurovision" antreten und sich deshalb einen Song aussuchen. Zehn Stück stehen zur Auswahl. Sie entscheidet sich für „Poupee De Cire, Poupee De San" - und gewinnt. Schlagartig ist Gainsbourg als Songwriter etabliert, sein Name in ganz Europa bekannt. So hätte er weitermachen können, als Pro- duzent harmloser Hits im „Yeye"-Stil, der französischen Variante des Beat. Was ihn genau geritten hat, ist unklar. Nicht auszuschlie- ßen, dass es der provokante Geist der 6oer-Jahre gewesen ist, zu- sammen mit einem surrealistischen Gespür für kalkulierte Skan- dale. Jedenfalls schreibt er France Gall 1966 ein weiteres Chanson auf den Leib: „Les Sucettes" handelt von einem glücklichen Mäd- chen und seinen Lutschern, gekauft „pour quelques pennies", was in französischer Aussprache auch „einige Schwänze" sein könnten, ganz zu schweigen vom Saft, der „ihre Kehle hinunterrinnt". Angeblich soll Gall, damals wirklich „fast noch ein Kind", nichts von den Anspielungen verstanden haben. Als die Ungeheuerlichkeit bekannt wurde, wanderte sie förmlich nach Deutschland aus - und erwähnte Serge Gainsbourg nie wieder. Der aber hatte Geschmack gefunden am Skandal und seiner Kraft. Auch daran, die Gesell- schaft vor den Kopf zu stoßen. Hatte der Erfolg ihm nicht recht ge- geben? Und hatte er nicht soeben dem schwerreichen deutschen Playboy Gunter Sachs die schönste Frau des Planeten ausgespannt? Nicht ganz. Brigitte Bardot traf sich regelmäßig mit dem interes- santen Intellektuellen, mied aber den Bruch mit Sachs. Gainsbourg schrieb Bardot ein paar Songs, die auf Alben wie BONNIE &CLYDE und INITIALS B.B. veröffentlicht und ein Triumph wurden - nicht nur wegen Hits wie „BonnieAnd Clyde" oder „Ford Mustang". Son- dern auch, weil die seltsame Liaison der beiden große Aufmerk- samkeit erregte. Eine zu große, wie sich herausstellen sollte. Drei Tage, bevor Gainsbourg seine neue Single veröffentlichen wollte, rief ihn eine völlig aufgelöste Bardot an und bat, den gemein- samen Song zurückzuziehen - um Gunter Sachs nicht zu verärgern. Gainsbourg ließ die ersten Pressungen von „Je T'Aime... Moi Non Plus" anstandslos einstampfen. Zu dieser Zeit lernte Gainsbourg bei Dreharbeiten für den Film „Slogan" die Engländerin Jane Birkin kennen und lieben. Gleich beim ersten Date entführte er sie in ei- nen Club für Transvestiten, nur um anschließend im Hotelzim- mer zu den Klängen von Jean Sibelius' „Valse Triste" betrunken einzuschlafen. Ein passender Anfang für eine lange Beziehung. Gainsbourg spannte Birkin ihrem Mann aus, dem „James Bond"- Filmkomponisten John Barry. Nachdem ihn unter anderem Marianne Faithfull hatte abblitzen lassen, bat er Birkin, den Song mit ihm neu einzusingen - „eine Ok- tave höher als Bardot", damit sie wie ein kleiner Junge klinge. Was die Sache nur noch pikanter machte. „Je T'Aime... Moi Non Plus"ist im Grunde der Dialog zweier Liebhaber während des Koitus und kulminiert in einen geseufzten Orgasmus. Typisch für Gainsbourg die Brechung schon im Titel: „Ich liebe dich... ich dich auch nicht", wofür er auch von Salvador Dali inspiriert war. Der hatte über einen anderen Maler gesagt: „Picasso ist Spanier, ich auch. Picasso ist ein Genie, ich auch. Picasso ist Kommunist, ich auch nicht". Das Lied wurde ein Skandal, und es wurde ein Welthit. Unter an- derem, weil es in vielen Ländern verboten wurde und sogar der Va- tikan es offiziell auf den Index setzte. Gainsbourg nannte den Papst daraufhin „unseren besten PR-Mann". Nach elf Jahren im Geschäft und 41 auf dem Buckel war Gainsbourg, noch bevor die /oer-Jahre anbrachen, ein gemachter Mann - mit den besten Kontakten und dem Ehrgeiz, die richtigen davon auch zu nutzen. In England arbei- tete er mit den besten Sessionmusikern, darunter der spätere Led- Zeppelin-Gitarrist Jimmy Page. Aufnahmen mit Pop-Ikone Nico lehnte er ab, weil Nico nicht gut genug singen konnte. Stattdessen spielte er mit britischen Sessionmusikern das erste frankophone Konzeptalbum ein. HISTOIRE DE MELODY NELSON war anspruchsvoller, psychedelischer, luxuriöser, ergreifender als alles, was Gainsbourg- oder sonst ein Kontinentaleuropäer - bis da- hin abgeliefert hatte. Am einen Ende berührte die Musik die äthe- rische Luftigkeit von Van Morrisons ASTRAL WEEKS, am anderen Ende war sie offen für die ferne Zukunft - namentlich den TripHop mit seinen langsamen Rhythmen und der Vorliebe für weite Klang- räume. Hätte er nichts anderes mehr gemacht nach HISTOIREDE MELODY NELSON, dieser Artikel wäre trotzdem gerechtfertigt. *• me.51

Die Provokation, das Ungeordnete, der Dreck, die …...Serge Gainsbourg hätte das gefallen. Die Provokation, das Un-geordnete, der Dreck, die Kreativität. Es gefiel ihm schon, als

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Page 1: Die Provokation, das Ungeordnete, der Dreck, die …...Serge Gainsbourg hätte das gefallen. Die Provokation, das Un-geordnete, der Dreck, die Kreativität. Es gefiel ihm schon, als

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AAm Ende stehen wir vor dieser Wand in der Rue de Verneuil No. 5.Es ist eng, hier passen keine zwei Autos aneinander vorbei, zu Fußsind es nur drei Minuten hinüber an die Seine. Hier ist Paris ganzbei sich selbst und seinem Geld, schon die Eingänge zu den Häu-sern erzählen vom alten Reichtum dahinter. Die Wand wirkt wie einSchandfleck. Immer wieder lassen die Nachbarn sie übertünchen.In der ganzen Stadt werden wir keine andere Mauer finden, die sichso kontinuierlich verändert. Ein Bildschirm aus Stein, fortwährendaktualisiert. „Serge ist im Himmel und vögelt", steht da heute noch,daneben wurde sein Gesicht mit Schablone aufgesprüht, umranktvon kryptischen Chiffren, Textzeilen, Liebeserklärungen, einer an-geklebten Schachtel Gitanes. Und morgen ist alles abgekratzt undübermalt, damit übermorgen alles von vorne anfangen kann.

Serge Gainsbourg hätte das gefallen. Die Provokation, das Un-geordnete, der Dreck, die Kreativität. Es gefiel ihm schon, als ernoch hier wohnte. Hinter der Mauer mit dem eisernen Gitter er-streckte sich, verwinkelt und verwunschen, seine Wohnung. DieWände sind mit schwarzem Stoff bespannt, die Räume ausgestattetwie ein Antiquariat der Coolness. Da steht noch seine elektrischeSchreibmaschine, da parken noch seine Bücher und Schallplatten,wie das Regal mit den erlesenen Whiskeys. Irgendwo sitzt eine le-bensgroße Plastik, die einen Mann mit einem Blumenkohl anstelledes Kopfes zeigt. Es ist das Appartement, in dem er über zwölf Jahremit Jane Birkin und seiner Familie lebte. Das Appartement, in demer 1991 tot in seinem Bett gefunden wurde. Ein Ort, der seitdemvollkommen unangetastet geblieben ist.

„Ich wollte das so", erzählte mir seine Tochter Charlotte ein-mal bei einem Interview in Berlin. Es war ein kaltes Gespräch ineinem kalten Hotelzimmer. Aber als es um ihren Vater ging, tautedie Schauspielerin sichtlich auf. Sie zog die Beine an die Brust undumschlang ihre Knie mit den Armen. Wie ein Kind sah sie plötz-lich aus und lächelte auch so, als sie vom Glück erzählte, in der Ruede Verneuil aufgewachsen zu sein. Vom Glück, Serge Gainsbourgals Vater gehabt zu haben. „Ich werde dafür noch heute oft bemit-leidet", erzählte sie und schüttelte den Kopfüber so viel Ignoranz.

Für seine Landsleute war Serge Gainsbourg ein heiliges Mons-ter. In Deutschland müssten wir uns eine vergleichbare Figur ausKlaus Kinski, Harald Juhnke, Jörg Fauser und Rainer Werner Fass-binder zusammenschnippeln - und hätten nicht einmal annäherndeinen Gainsbourg vor uns. Wer Nachgeborenen seine Wirkungbeschreiben will, kann heute selbst in Frankreich höchstens aufMichel Houellebecq deuten. Und es ist kein Wunder, dass er seineirrsinnige Popularität zu Lebzeiten nur mit einem anderen Clownteilen musste, dem bösen Komiker Coluche.

Im Ausland«prägte Gainsbourg vor allem das Bild des französi-schen Mannes. Zwischen den Lippen die Kippe, in den Fingern derPernod, im Blick die Rundungen einer vorbeispazierenden Schön-heit. Ein „Filou", wie die Franzosen den liebenswerten Lüstlingnennen. Wobei er eben alles andere als liebenswert war. Im Aus-land ist er der hässliche Vogel, der aus unerfindlichen Gründen nurdie allerschönsten Frauen hatte - und der Welt im Gegenzug mit „JeT'Aime... MoiNonPlus"etwas schenkte, das ehrlicherweise nur als„der ultimative Ficksong" bezeichnet werden kann. Ein Rätsel, ge-rade aus deutscher Sicht.

Dabei ist Serge Gainsbourg in gewisser Weise auch ein deutschesGeschöpf. Geboren ist er 1928 als Lucien Ginsburg in eine jüdischeFamilie, die vor dem Bolschewismus aus Odessa nach Paris geflo-hen war. Dort erarbeitete sein Vater, prämierter Absolvent einer rus-sischen Musikhochschule, als Barpianist ein passables Einkommenfür seine Frau und die beiden Kinder. Als deutsche Truppen 1940Frankreich überrannten, floh die Familie in den noch unbesetzten

me.5o

Teil von Frankreich, in die Normandie. Auch dort hatten sich dieGinsburgs zu verstecken, die französische Verwaltung stand dendeutschen Herren an faschistischer Gesinnung kaum nach. AuchLucien, das Kind, musste den gelben Judenstern tragen. Bevor diefranzösischen Häscher an die Schule kamen, schickte der Direktorden jungen Juden mit der Axt in den Wald, wo er sich notfalls alsSohn des Försters ausgeben sollte. Dort versteckte er sich für eineWoche auf einem Baum, bis die Luft wieder rein war.

Er überlebte den Krieg, die Tuberkulose, die Verfolgung - undbehielt zeitlebens ein tiefes Misstrauen gegen seine Landsleuteund deren angebliche Liebe zur „liberte". Die Deutschen, sagte er,hätten damals wenigstens auf Befehl gehandelt. Nach dem Kriegbegann er an der Hochschule für Schöne Künste ein Studium der

Die Provokation, dasUngeordnete, der Dreck,die Kreativität - Gainsbourgliebte genau das.

Malerei, eines seiner Vorbilder war der britische Maler ThomasGainsborough. Im freien Nachkriegsklima an der Akademie undals er sein erstes Geld als Pianist in den Clubs verdiente, änderteLucien Ginsburg seinen Namen in Serge Gainsbourg. Gainsbourgwegen Gainsborough, Serge als stolzer Hinweis auf seine russischeAbstammung und aus Abneigung gegen den Namen Lucien. Dererinnerte ihn an einen „Herrenfriseur".

Seiner ersten richtigen Freundin verdankt er 1947 ein einschnei-dendes Erlebnis. Elisabeth, Sekretärin eines Malers, der mit Sal-vador Dali befreundet ist, hat Zugang zu den Schlüsseln von DalisWohnung, solange der Meister nicht in Paris weilt. Serge ist tiefbeeindruckt von der Wohnung, die ganz nach dem bizarren Ge-schmack eines Surrealisten ausgestattet und komplett mit schwar-zem Lammfell ausgeschlagen ist. Genauso wird er es auch haltenwollen, verspricht er sich. Später wird er Dali sogar kennenlernen.Sein Freund Boris Vian ist Sänger, Schauspieler und Schriftsteller,ein Universalkünstler also, und er führt Serge in die Boheme ein.

Erste Aufträge als Songschreiber lassen nicht auf sich warten,fast alle Stars und Sternchen der Zeit gehören zu seiner Kundschaft.Zwischen heute weitgehend vergessene Namen wie Gloria Lasso,Hugues Aufray, Claude Pascal oder Cora Vaucaire mischen sich all-mählich unvergessliche Namen wie Petula Clark, Nana Mouskouri,Juliette Greco. 1965, da hat er schon mehrere erfolglose Soloplattenund eine gescheiterte Ehe hinter sich, zieht Gainsbourg plötzlichden Jackpot. Die junge Sängerin France Gall soll für Luxemburgbeim „Grand Prix d'Eurovision" antreten und sich deshalb einenSong aussuchen. Zehn Stück stehen zur Auswahl. Sie entscheidetsich für „Poupee De Cire, Poupee De San" - und gewinnt.

Schlagartig ist Gainsbourg als Songwriter etabliert, sein Namein ganz Europa bekannt. So hätte er weitermachen können, als Pro-duzent harmloser Hits im „Yeye"-Stil, der französischen Variante

des Beat. Was ihn genau geritten hat, ist unklar. Nicht auszuschlie-ßen, dass es der provokante Geist der 6oer-Jahre gewesen ist, zu-sammen mit einem surrealistischen Gespür für kalkulierte Skan-dale. Jedenfalls schreibt er France Gall 1966 ein weiteres Chansonauf den Leib: „Les Sucettes" handelt von einem glücklichen Mäd-chen und seinen Lutschern, gekauft „pour quelques pennies", wasin französischer Aussprache auch „einige Schwänze" sein könnten,ganz zu schweigen vom Saft, der „ihre Kehle hinunterrinnt".

Angeblich soll Gall, damals wirklich „fast noch ein Kind", nichtsvon den Anspielungen verstanden haben. Als die Ungeheuerlichkeitbekannt wurde, wanderte sie förmlich nach Deutschland aus - underwähnte Serge Gainsbourg nie wieder. Der aber hatte Geschmackgefunden am Skandal und seiner Kraft. Auch daran, die Gesell-schaft vor den Kopf zu stoßen. Hatte der Erfolg ihm nicht recht ge-geben? Und hatte er nicht soeben dem schwerreichen deutschenPlayboy Gunter Sachs die schönste Frau des Planeten ausgespannt?

Nicht ganz. Brigitte Bardot traf sich regelmäßig mit dem interes-santen Intellektuellen, mied aber den Bruch mit Sachs. Gainsbourgschrieb Bardot ein paar Songs, die auf Alben wie BONNIE & CLYDEund INITIALS B.B. veröffentlicht und ein Triumph wurden - nichtnur wegen Hits wie „BonnieAnd Clyde" oder „Ford Mustang". Son-dern auch, weil die seltsame Liaison der beiden große Aufmerk-samkeit erregte. Eine zu große, wie sich herausstellen sollte.

Drei Tage, bevor Gainsbourg seine neue Single veröffentlichenwollte, rief ihn eine völlig aufgelöste Bardot an und bat, den gemein-samen Song zurückzuziehen - um Gunter Sachs nicht zu verärgern.Gainsbourg ließ die ersten Pressungen von „Je T'Aime... Moi NonPlus" anstandslos einstampfen. Zu dieser Zeit lernte Gainsbourg beiDreharbeiten für den Film „Slogan" die Engländerin Jane Birkinkennen und lieben. Gleich beim ersten Date entführte er sie in ei-nen Club für Transvestiten, nur um anschließend im Hotelzim-mer zu den Klängen von Jean Sibelius' „Valse Triste" betrunkeneinzuschlafen. Ein passender Anfang für eine lange Beziehung.Gainsbourg spannte Birkin ihrem Mann aus, dem „James Bond"-Filmkomponisten John Barry.

Nachdem ihn unter anderem Marianne Faithfull hatte abblitzenlassen, bat er Birkin, den Song mit ihm neu einzusingen - „eine Ok-tave höher als Bardot", damit sie wie ein kleiner Junge klinge. Wasdie Sache nur noch pikanter machte. „Je T'Aime... Moi Non Plus"istim Grunde der Dialog zweier Liebhaber während des Koitus undkulminiert in einen geseufzten Orgasmus. Typisch für Gainsbourgdie Brechung schon im Titel: „Ich liebe dich... ich dich auch nicht",wofür er auch von Salvador Dali inspiriert war. Der hatte über einenanderen Maler gesagt: „Picasso ist Spanier, ich auch. Picasso ist einGenie, ich auch. Picasso ist Kommunist, ich auch nicht".

Das Lied wurde ein Skandal, und es wurde ein Welthit. Unter an-derem, weil es in vielen Ländern verboten wurde und sogar der Va-tikan es offiziell auf den Index setzte. Gainsbourg nannte den Papstdaraufhin „unseren besten PR-Mann". Nach elf Jahren im Geschäftund 41 auf dem Buckel war Gainsbourg, noch bevor die /oer-Jahreanbrachen, ein gemachter Mann - mit den besten Kontakten unddem Ehrgeiz, die richtigen davon auch zu nutzen. In England arbei-tete er mit den besten Sessionmusikern, darunter der spätere Led-Zeppelin-Gitarrist Jimmy Page. Aufnahmen mit Pop-Ikone Nicolehnte er ab, weil Nico nicht gut genug singen konnte.

Stattdessen spielte er mit britischen Sessionmusikern das erstefrankophone Konzeptalbum ein. HISTOIRE DE MELODY NELSONwar anspruchsvoller, psychedelischer, luxuriöser, ergreifender alsalles, was Gainsbourg - oder sonst ein Kontinentaleuropäer - bis da-hin abgeliefert hatte. Am einen Ende berührte die Musik die äthe-rische Luftigkeit von Van Morrisons ASTRAL WEEKS, am anderenEnde war sie offen für die ferne Zukunft - namentlich den TripHopmit seinen langsamen Rhythmen und der Vorliebe für weite Klang-räume. Hätte er nichts anderes mehr gemacht nach HISTOIRE DEMELODY NELSON, dieser Artikel wäre trotzdem gerechtfertigt. *•

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