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Die Ratten von New York

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J. G. Kastner

Die Ratten von New York

Amerika

Band Nr. 3

Version 1.0

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Die Ratten von New York

Das Jahr des Herrn 1863 ist eine düstere, hoffnungslose

Zeit in Deutschland. Das einfache Volk ist verarmt. Wer

Arbeit hat, schuftet für Groschen. Menschen sterben an

Hunger und Epidemien.

In dieser Zeit ist »Amerika« ein Wort der Hoffnung und

Sehnsucht - ein Land, wo jeder sein Glück machen und zu

Wohlstand kommen kann. Ein magisches Wort auch für

den jungen Handwerksgesellen Jacob Adler, der zu

Unrecht des Mordversuchs beschuldigt wird und aus

Deutschland fliehen muss.

Doch sein Leben in Amerika wird härter und

gefahrvoller sein, als er es sich in seinen ärgsten Träumen

vorzustellen vermag. Ein Abenteuer wartet auf Jacob

Adler, wie es kaum ein zweiter je erlebt hat…

***

Obwohl die amerikanische Küste nicht mehr als ein dünner Strich am Horizont war, überbot sich die vielhundertköpfige Auswandererschar an Bord des Dreimastseglers ALBANY an Jubelrufen über die Wunder der Neuen Welt, die man nach der langen stürmischen Seereise selbst mit geschlossenen Augen vor sich gesehen hätte. Männer, Frauen und Kinder drängten sich am Bug und an der Reling zu beiden Seiten der Bark zusammen und machten einander auf eingebildete Wunder aufmerksam: riesenhohe Häuser, meilenbreite Ströme und tiefgrüne Felder, und alles auch noch am selben Fleck.

Die warmen Strahlen der Frühlingssonne an diesem Maivormittag des Jahres 1863 taten ein übriges, die deutschen Auswanderer ihre Zukunft in den leuchtendsten Farben sehen

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zu lassen. Niemand der euphorischen Menschen ahnte, daß ihnen an ihrem Ziel, der Stadt New York, eine der größten Gefahren auflauerte: Ratten in Menschengestalt.

Jacob Adler und Martin Bauer, die beiden jungen Deutschen, deren in Hamburg geschlossene Freundschaft sich auf der gefahrvollen Atlantiküberquerung bewährt hatte, nahmen ihre Schützlinge in die Mitte und zogen sich aus dem Gedränge, Geschiebe und Gejohle nach achtern zurück. Sie hatten Angst, daß Irene Sommer und dem kleinen Jacob-Martin auf ihrem Arm in der Menschenmenge etwas zustoßen könnte.

Der nach seinen Paten benannte Säugling war gerade mal einen Monat alt. Dennoch wuchs auf seinem winzigen Kopf schon ein dichter dunkler Haarflaum, und seine Äuglein blinzelten so neugierig in die Welt, als sähe auch er all die Wunder, von denen die Auswanderer schwärmten.

Jacobs Blick glitt von der jungen Frau und ihrem Kind über das Schiff, das in New York dringend einer Überholung bedurfte. Heftige Stürme hatten es so arg in Mitleidenschaft gezogen, daß es mit den an Bord verfügbaren Mitteln nur unzulänglich repariert werden konnte. Jacob, vom blinden Passagier zum Schiffszimmermann aufgestiegen, hatte sein möglichstes getan, die ALBANY so seetüchtig wie möglich zu halten. Zweimal hatte der Großmast im Sturm seine Spitze verloren, und zweimal hatte er sie wieder drauf gesetzt.

Bei ihrem zweiten Absturz hatte die Mastspitze den alten verbitterten Kapitän Josiah Haskin unter sich begraben und schwer verletzt. Jetzt führte der deutsche Seebär Piet Hansen das Schiff und machte sich gut dabei. Seitdem er das Kommando innehatte, waren die Auswanderer bestens versorgt worden. Schiff und Meer selbst schienen den Kommandowechsel als Glücksfall zu empfinden. Das Wetter hatte aufgeklart, und eine frische Brise trieb den Segler seinem Ziel entgegen. Und die Cholera, die binnen sieben Tagen sieben Todesopfer gefordert hatte, war so überraschend

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verschwunden, wie sie die ALBANY heimgesucht hatte. Das Schiff und alle Menschen, die noch auf ihm fahren

würden, konnten von Glück sagen, daß Kapitän Haskin seinen ehemaligen Zweiten Steuermann Hansen als Miteigner aufgenommen und ihm das Kommando auch für die Zukunft übertragen hatte. Haskin wollte sich in New York dafür einsetzen, daß Hansen möglichst rasch sein Kapitänspatent erhielt. Den Einwand des Seebären, in seiner Vergangenheit gäbe es ein paar dunkle Flecke, hatte Haskin mit der Bemerkung entkräftet, daß jeder in Amerika die Chance erhielt, neu zu beginnen.

Als Jacob an das nahe Ende der Reise dachte, empfand er eine Art Bedauern. Sein Elternhaus in Elbstedt stand nicht mehr, seine Mutter war tot und sein Vater mit Jacobs Geschwistern – so vermutete der junge Zimmermann – nach Amerika ausgewandert. Die ALBANY war für ihn in den mehr als zwei Monaten Überfahrt eine neue Heimat geworden.

Eine Heimat mit neuen Freunden. Sobald sie das Festland erreichten, würden sich ihre Wege trennen. Jacob mußte seine Familie suchen, die er bei Onkel Nathan in Texas vermutete. Martin hatte vor, sich irgendwo Land zu suchen und sich dort als Farmer niederzulassen. Er war der Sohn eines Bauers und nach Amerika ausgewandert, weil sein älterer Bruder nach des Vaters Tod den kleinen Hof übernommen hatte. Irene suchte in Amerika den Vater ihres Kindes, den Reederssohn Carl Dilger.

Viel schlimmer als der Abschied vom Schiff erschien ihm die Trennung von Irene und dem kleinen Kind. Als er sich vor dem Schiffsgericht als Kindsvater und Irenes Verlobter ausgab, hatte er nicht damit gerechnet, daß er sich bald wirklich wünschen würde, Irenes Mann zu sein. Aber es war nur ein Wunsch, und Carl Dilger stand dessen Verwirklichung entgegen.

Ein langgezogenes Tuut-tuut riß Jacob aus seinen Gedanken. Er sah hinaus auf See und entdeckte ein großes Dampfschiff,

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das sich der ALBANY von achtern näherte und die Distanz zwischen beiden Schiffen rasch verringerte.

»Mit so einem Schiff hätte man das Meer überqueren müssen«, schwärmte Martin. »Dann wären wir schon längst angekommen und alle vielleicht schon am Ziel unserer Reise.«

»Nur dürfte die Passage leicht das Doppelte von dem kosten, was wir für die Fahrt auf der ALBANY gezahlt haben«, dämpfte Jacob die Begeisterung seines Freundes.

Schwarze Rauchsäulen stiegen aus den Schornsteinen des anderen Schiffes in den blauen Himmel, so dick, daß der Wind trotz der herrschenden Brise Mühe hatte, sie aufzulösen. Der Dampfer hatte die Hilfsbesegelung gesetzt, was seine Geschwindigkeit noch erhöhte. Er war jetzt nahe genug, daß die Menschen an Bord der ALBANY ihn als schraubengetriebenes Volleisenschiff identifizieren konnten. Ein moderner Typ, der den weitverbreiteten Raddampfern an Leistungsfähigkeit überlegen war.

»Was hat der Kapitän nur vor?« fragte Irene besorgt. »Es sieht so aus, als würde der Dampfer direkt auf uns zuhalten. Ob man drüben an Bord die ALBANY noch nicht gesehen hat?«

»Wohl kaum«, erwiderte Jacob. »So klein ist unsere Bark nun wieder nicht. Sicher hat man uns gesehen. Sonst hätte der Dampfer auch kein Signal gegeben.«

»Aber Irene hat recht«, meinte Martin und sah jetzt ebenfalls besorgt zu dem größer werdenden Schiff hinüber. »Wenn der Kapitän uns sieht, weshalb ändert er dann seinen Kurs nicht?«

»Vielleicht soll die ALBANY seinem Dampfer Platz machen«, überlegte Jacob laut.

»Aber warum hat er es so verdammt eilig?« fragte Martin. Der Zimmermann hob die breiten Schultern und ließ sie

wieder sinken. »Die Frage kann dir wohl nur der Kapitän drüben beantworten.«

»Oder unser Kapitän«, warf Irene ein. »Irgend etwas hat ihn aufgescheucht. Vielleicht der Dampfer.«

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Sie zeigte auf den vollbärtigen Piet Hansen, der lauthals die Freiwache an Deck rief und in die Wanten scheuchte, um auch noch die restlichen Segel zu setzen. Er schien sehr aufgeregt und trieb seine Männer mit allen Flüchen an, die man in einem langen Seemannsleben zwischen Hamburg und New York, Liverpool und Schanghai aufschnappen konnte. Es wirkte, und die Seeleute setzten so schnell die Segel, wie es die Passagiere während der langen Wochen auf See noch nicht erlebt hatten.

Die drei Freunde gingen in Richtung Großmast, wo Hansen an den Pardunen stand und einen skeptischen Blick aufs Meer warf. Dorthin, wo das schwere Dampfschiff die See durchpflügte. Der neue Kommandant der ALBANY war von dem Anblick so gefangen, daß seine klobige Pfeife, die bei fast jeder Gelegenheit zwischen seinen Lippen hing, ausgegangen war.

»Was haben Sie, Piet?« rief Jacob, noch bevor sie den Seemann erreichten. »Sie sehen aus, als hätte Ihnen der Koch zum Frühstück eine tote Ratte serviert.«

»Damit könnte ich leben«, knurrte der Bärtige. »Ich habe schon Schlimmeres gegessen. Nein, mir liegt der Dampfer im Magen. Ich kann den Namen noch nicht lesen, aber wenn mich nicht alles täuscht, ist das die STAR OF INDIA aus Cardiff.«

Er sagte das in einem Tonfall, als hätte er gerade von einem erneuten Auftreten der Cholera an Bord berichtet.

»Und?« fragte Jacob. »Was ist daran so schlimm?« »Ich kenne Oliver Desmond, den Kapitän der STAR OF

INDIA. Er ist ein wahrer Teufel, nur auf seinen Vorteil bedacht.« Hansen senkte seine Stimme und fügte hinter vorgehaltener Hand hinzu: »Josiah Haskin ist gegen ihn ein Waisenknabe.«

»Schön und gut«, meinte Martin. »Aber was hat das alles mit uns zu tun? Dieser Desmond kann uns doch herzlich gleichgültig sein.«

»O nein! Schaut doch nur hinüber zu dem stinkenden

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Dampfer. Es sieht fast aus, als wollte er uns rammen. Falls es die STAR OF INDIA ist, besteht diese Gefahr tatsächlich. Desmond würde ich so etwas zutrauen. Er geht das Risiko ein, uns auf den Meeresgrund zu rammen, nur um vor uns in New York zu sein.«

»Was hat Desmond davon?« erkundigte sich Irene, während sie den kleinen Jacob-Martin, der eingeschlafen war, sanft auf ihrem Arm wiegte.

»Einen Tag, einen verdammten Tag!« Die drei Auswanderer sahen den Seemann fragend an. »Zeit ist Geld«, erklärte Hansen, »jedenfalls in der

sogenannten christlichen Seefahrt. Die STAR OF INDIA ist ein großer Pott und hat bestimmt noch mehr Auswanderer geladen als unser Kahn. Die New Yorker Behörden können nur eine bestimmte Anzahl von Menschen pro Tag abfertigen. Das Schiff, das zuletzt den Hafen erreicht, läuft Gefahr, die Nacht über warten zu müssen und erst am nächsten Tag das Einwanderungsdepot anlaufen zu können.«

Jetzt verstanden Jacob, Martin und Irene, weshalb Hansen so besorgt war und weshalb er seine Matrosen in die Wanten gescheucht hatte.

Aber das Setzen der restlichen Segel schien ein vergebliches Manöver gewesen zu sein. Zwar erhöhte die ALBANY ihre Geschwindigkeit, aber trotzdem verringerte sich die Distanz zu dem Dampfschiff von Minute zu Minute. Beide Schiffe nutzten die Kraft des Windes, aber der Dampfer noch zusätzlich die seiner Maschinen; das verschaffte ihm den entscheidenden Vorteil.

Mißmutig stapfte Hansen in die Kapitänskajüte und kehrte mit einem Fernrohr zurück.

»Ich hatte recht«, brummte er noch mißmutiger als zuvor, nachdem er das fremde Schiff für eine Minute durch das Glas betrachtet hatte. »Es ist die STAR OF INDIA. Und sie hält immer noch Kurs auf uns!«

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»Warum tut sie das, wenn sie sowieso schnell genug ist, uns zu überholen?« wollte Irene wissen.

»Weil Käpten Desmond um jede Sekunde kämpft und damit rechnet, daß wir schon ausweichen werden.«

»Und was werden wir tun?« fragte Martin. »Ausweichen.« »Sie wollen diesem Schuft nachgeben, Piet?« »Was soll ich sonst tun? Riskieren, daß die ALBANY mit

Mann und Maus untergeht? Das Rennen verlieren wir so oder so.«

Ganz so sah es aus. Die STAR OF INDIA war jetzt so nahe, daß man ihren in großen Buchstaben angebrachten Namen mit bloßen Augen erkennen konnte. Ihr Bug zeigte direkt auf das Heck des Seglers, als wolle sie ihn von achtern rammen und der Länge nach spalten.

Der großen Masse der Auswanderer an Bord der ALBANY war die dramatische Zuspitzung der Lage verborgen geblieben. Sie hielt das Wettrennen zwischen den beiden Schiffen für ein lustiges, harmloses Kräftemessen, an dem sie sich auf ihre Art beteiligte.

Viele Männer schlossen Wetten darauf ab, um wieviel eher der Dampfer New York erreichen würde. Denn daß er schneller war als der Segler, daran bestand für niemanden ein Zweifel.

Andere grüßten die Menschen auf dem fremden Schiff mit lauten Rufen, so ausgelassen, daß manche der Rufer ihre Hüte und Mützen hoch in die Luft schleuderten. Einige vergaßen dabei den kräftigen Wind und mußten zusehen, wie ihre Kopfbedeckungen davongewirbelt wurden und ins Meer fielen.

Das brachte einige der Auswanderer auf eine neue Idee. Sie verschwanden unter Deck und kehrten mit den Strohsäcken zurück, auf denen sie genächtigt hatten. Da sie fest damit rechneten, heute noch an Land zu gehen, waren die Hilfsmatratzen für sie überflüssig geworden. Es war für sie ein wahres Fest, die schmutzigen, stinkenden Dinger über die

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Reling ins Fahrwasser der ALBANY zu werfen. Für die STAR OF INDIA waren sie allerdings nicht das

geringste Hindernis. Der eiserne Rumpf warf sich wie ein gefräßiger Hai auf die Strohsäcke, und bald war von ihnen nichts mehr zu sehen.

Piet Hansen hatte die Passagiere nicht davon abgehalten, ihre Strohsäcke zu opfern. Er war ganz damit beschäftigt, die Kommandos für ein Ausweichmanöver zu geben. Wahrscheinlich hätten die Menschen in ihrem Überschwang auch gar nicht auf ihn gehört.

Als die STAR OF INDIA so nahe an der ALBANY war, daß kaum noch eine Schiffslänge dazwischenlag, schienen die ersten Passagiere den Ernst der Lage zu begreifen. Das laute Juchzen wurde leiser, und auf vielen der eben noch heiteren Gesichter zeichnete sich plötzlich Zweifel ab, ob die Situation tatsächlich so spaßig war, wie man allgemein dachte.

»Irene, geh mit dem Jungen lieber unter Deck«, sagte Jacob ernst, als der Dampfer zu einem riesigen Ungetüm heranwuchs.

Die blaugrünen Augen der jungen Frau sahen ihn ängstlich an. »Meinst du, es kommt zu einer Kollision?«

»Ich hoffe es nicht, aber es sieht ziemlich bedenklich aus.« »Dann kommt lieber mit mir!« »Als Schiffszimmermann werde ich vielleicht gebraucht«,

erwiderte Jacob und steigerte damit noch die Angst auf Irenes schönem Gesicht.

»Ich begleite dich«, sagte Martin und schob die Frau mit sanfter Gewalt dem Eingang zum Zwischendeck entgegen.

Kaum war sein rotblonder Haarschopf unter Deck verschwunden, als sich die ALBANY stark nach backbord neigte und ihren bisherigen Kurs verließ. Ein paar der darauf nicht vorbereiteten Auswanderer purzelten wild durcheinander. Viele stürzten nur deshalb nicht, weil es an Deck zu voll zum Umfallen war.

Piet Hansen hatte die Bark wirklich im letzten Augenblick

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ausscheren lassen; Schon rauschte die STAR OF INDIA an ihr vorbei, so dicht, daß sich die Rümpfe fast berührten.

Der Dampfer schlug große Wellen, die den Segler kräftig durchschüttelten und seine Passagiere mit ihm. Viele der Menschen, die sich bisher an Bord hatten halten können, gingen jetzt doch zu Boden. Wo eben noch lauter Jubel und ausgelassene Heiterkeit geherrscht hatten, wurden jetzt Flüche und Verwünschungen ausgestoßen.

Lediglich die Besatzung der Bark hielt sich, an rauhen Seegang gewöhnt, gänzlich auf den Beinen. Auch Jacob stürzte nicht, denn er hatte sich an das Luftzugrohr geklammert, das hinter dem Großmast aus dem Deck kam und das Zwischendeck mit Frischluft versorgte.

An Bord des englischen Dampfers jubelten die Menschen, als ihr Schiff an dem Dreimaster vorbeizog und ihn immer weiter hinter sich zurückließ. Eine Menge Wünsche seitens der ALBANY-Passagiere begleiteten die STAR OF INDIA, aber es war kein einziger guter darunter.

»Teufel auch!« stieß der an der Gangspill stehende Piet Hansen hervor, als sich sein Schiff allmählich wieder beruhigte. »Das ist gerade noch mal gutgegangen!«

Er hatte kaum ausgesprochen, als er und Jacob einen lauten Hilferuf hörten. Er kam vom Eingang zum Zwischendeck, wo Martins Kopf aus der Luke schaute.

»Holt schnell ein paar Männer mit Werkzeugen!« rief der stämmige Bauernsohn keuchend. »Im Unterdeck sind ein paar Leute zwischen der Fracht eingeklemmt!«

*

Schnell hatten Hansen und Jacob einen Hilfstrupp, bestehend aus Seeleuten und ein paar standfesten Auswanderern, zusammengetrommelt und folgten Martin unter Deck.

Die STAR OF INDIA fuhr weiter davon und wurde immer

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kleiner, gänzlich unbeeindruckt von dem Schaden, den sie angerichtet hatte. Niemand an Bord des Dampfschiffes mochte etwas davon ahnen, aber das schmälerte nicht die Verantwortung des englischen Kapitäns.

»Was ist geschehen?« fragte Hansen, als er Martin erreichte. »Einige Passagiere waren im Unterdeck, um Sachen aus

ihrem Gepäck zu holen. Viele wollten ihren Sonntagsstaat anlegen. Als die AL-BANY ins Schlingern geriet, hat sich ein großer Stapel Fässer aus der Vertäuung gelöst und zusätzlich Kisten mitgerissen. Ein paar der Leute sind darunter begraben worden.«

Zwei Männer mit Laternen gingen voran, als die Hilfsgruppe in die Tiefe des Frachtraums hinabstieg. Noch auf der Stiege hörten sie von achtern die Hilferufe. Ein paar Auswanderer, Männer und Frauen, viele mit zerrissener Kleidung und mit Blessuren versehen, kamen ihnen entgegen und flehten Hansen um Hilfe für ihre eingeklemmten Freunde und Angehörigen an.

Die Auswanderer wiesen ihnen den Weg zum Ort des Unfalls. Dort herrschte das reine Chaos durcheinanderliegender Frachtstücke, über die sich die Menschen einen Weg bahnen mußten. Das war nicht ungefährlich, rollten doch bei jedem Schlingern des Schiffes große Fässer hin und her. Hansen befahl ein paar Männern, die Fässer mit Tauen notdürftig zu sichern, so daß sie einstweilen keine Gefahr mehr bildeten.

»Wie viele sind noch eingeklemmt?« fragte er dann die Auswanderer.

»Noch drei von uns, die wir beim besten Willen nicht befreien konnten«, sagte ein kleiner älterer Mann mit weißem Spitzbart. »Es sind Johann Wiegmann und seine Frau und dann noch Eduard Raabe. Wir müssen schnell die Fracht von ihnen nehmen, bevor sie noch zerquetscht werden.«

»Eine höchst wacklige Geschichte, dieser Haufen aus Kisten und Fässern«, stellte Jacob fest. »Wenn wir nur ein falsches Frachtstück entfernen, stürzt alles in sich zusammen.«

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»Was schlägst du vor, Junge?« fragte Hansen, dankbar für jeden vernünftigen Rat.

»Wir müssen den Haufen von oben abtragen. Dazu müssen wir aus ein paar Kisten eine Art Treppe bilden, auf die wir uns bei der Arbeit stellen können.«

»In Ordnung«, meinte Hansen. »Sag uns, was wir tun sollen, Jacob.«

»Das dauert viel zu lange!« beschwerte sich der Mann mit dem weißen Spitzbart. »Das halten die drei da unten nicht aus.«

»Ich sehe leider keine andere Möglichkeit«, entgegnete Jacob.

Hansen kürzte die Diskussion ab. »Fangt an mit dieser Kistentreppe!« befahl er.

Nach Jacobs Anweisungen bauten Seeleute und Auswanderer mit flinken Händen die Treppe auf. Auch die Frauen beteiligten sich an der Arbeit.

Dann kletterten die Menschen auf die Treppe, bildeten eine Kette und trugen den Frachtberg Stück für Stück ab. Die Arbeit ging mühselig und langsam vonstatten, weil etliche der Frachtstücke so schwer waren, daß sie nur von vielen Händen zugleich bewegt werden konnten. Da aber auf der improvisierten Treppe nur ein paar Arbeiter Platz fanden, dauerte es häufig Minuten, nur ein einziges Frachtstück von dem Haufen zu hieven.

Die Eingeklemmten riefen lauter und fordernder, um die Helfer zur Eile anzuhalten. Endlich streckte sich den Männern auf den Kisten ein Paar Arme entgegen, und eine Männerstimme rief: »Holt mich hier raus!«

Jacob und Martin, die ganz oben auf der Treppe standen, griffen nach den Armen und versuchten, den Eingeklemmten nach oben zu ziehen. Aber es ging nicht; der Mann saß fest.

»Es sind meine Füße«, keuchte der Auswanderer, den seine Gefährten als Eduard Raabe erkannten. »Sie stecken unter einer großen Kiste.«

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»Sie müssen versuchen, die Füße freizubekommen, während wir Sie nach oben ziehen!« sagte Jacob. »Aber vorsichtig, damit der ganze Stapel nicht zusammenfällt!«

»Will tun, was ich kann.« Jacob zählte bis drei, und dann zogen er und Martin kräftig

an Raabes Armen, jeder an einem. Erst schien es, als sei alle Anstrengung vergebens. Aber plötzlich kam der Auswanderer frei, so ruckartig, daß seine Helfer fast von der Kistentreppe gefallen wären.

Raabe, ein kleiner stämmiger Mittvierziger mit ergrauendem Haarkranz um eine kahle Stirn, hockte sich völlig ermattet auf die Treppe und holte tief Luft.

»Beim lieben Herrgott«, seufzte er. »Ich hatte mich schon damit abgefunden, daß dieser Pott

mein schwimmender Sarg sein würde.« »Was ist mit den beiden anderen?« fragte Jacob. »Wiegmann und seine Frau? Die sind ganz tief unter dem

Stapel. Ich glaube, die Minna hält's nicht mehr lange aus.« »Das sage ich doch die ganze Zeit!« rief laut der Spitzbart

von unten. »Wir vertrödeln zuviel kostbare Zeit mit dieser Treppe. Laßt uns die Kisten und Fässer einfach beiseite ziehen, bevor Wiegmann und seine Frau drauf gehen.«

»Helft uns doch endlich!« kam Johann Wiegmanns Stimme unter dem Stapel vor. »Macht bloß schnell! Minna kann nicht mehr lange!«

»Willst du, daß wir die Kisten einfach beiseite räumen, Wiegmann?« fragte der Spitzbart laut.

»Ja doch, macht zu!« »Das ist gefährlich!« mahnte Jacob noch einmal. »Ach was, gefährlich«, wiegelte der Spitzbart ab.

»Gefährlich ist es, noch mehr Zeit zu vertrödeln! Ihr habt doch alle gehört, was Johann gesagt hat.«

Die Auswanderer nahmen gegenüber Jacob und Hansen eine feindselige Haltung ein, als wollten sie es auf eine

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handgreifliche Auseinandersetzung ankommen lassen. »Wiegmann, wie sollen wir vorgehen?« fragte Hansen. Unter den gegebenen Umständen war es das Klügste, die

Entscheidung dem Eingeklemmten zu überlassen. Eine Auseinandersetzung zwischen Auswanderern und Seeleuten kostete nur noch mehr kostbare Zeit.

»Zieht die verdammten Kisten weg, aber schnell! Ich höre die Minna kaum noch!«

»Da haben Sie es!« triumphierte der Spitzbart gegenüber Hansen.

»Also gut«, knurrte der alte Seebär unwillig. »Alles runter von der Treppe und hier unten mit anfassen!«

So geschah es, und jetzt nahm der Frachtberg rasch ab. Bald streckten sich den Rettern erneut Hände entgegen, die

von Johann Wiegmann. Ächzend kroch er zwischen dem Frachtgut hervor, die Kleidung zerrissen, die Haut an vielen Stellen abgeschürft.

»Helft Minna«, flüsterte er atemlos. »Helft ihr doch!« Seine letzten Worte gingen in einem lauten Getöse unter, als

der Frachtberg einstürzte. Die Männer und Frauen suchten das Weite, um herunterfallenden Kisten und umherrollenden Fässern zu entgehen.

»Das hatte ich befürchtet!« schrie Jacob gegen den Lärm, als er Hansen aus der Bahn eines heranrollenden Fasses riß.

Viele der Frachtstücke zersplitterten und verstreuten ihren Inhalt über den Boden. Ein aufgeplatztes Faß umspülte die Füße der Menschen mit einem Strom aus Rum.

Als der Spuk zu Ende war, glich dieser Teil des Unterdecks einem Schlachtfeld. Langsam fanden die Menschen sich wieder zusammen.

»Minna!« heulte Wiegmann auf. »Minna, wie geht es dir?« Er erhielt keine Antwort. Die Lähmung wich von den Menschen, und sie nahmen ihre

Arbeit erneut auf. Sehr zügig, denn es bestand kein Grund

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mehr zur Vorsicht. Zuerst legten sie die Beine von Minna Wiegmann frei, dann

den Rest. Eine schwere Kiste hatte auf ihrem Kopf gelegen und ihn zertrümmert.

»Tot?« fragte ihr Mann ungläubig und warf sich dann schluchzend über den Leichnam. Er weinte hemmungslos, und sein Körper zuckte unter den Attacken des inneren Schmerzes.

»Sie haben vier Kinder, die jetzt ohne Mutter in die neue Heimat kommen«, sagte Raabe.

Der kleine Mann mit dem Spitzbart wollte sich leise davonstehlen, aber Jacob setzte ihm nach, packte ihn am Jackenaufschlag und schüttelte ihn so heftig durch, daß seine Augen vor Angst hervorzuquellen drohten.

»Bleiben Sie hier, Mann!« fauchte der Zimmermann zornig. »Sehen Sie sich an, was Sie angerichtet haben!«

Er stieß den Spitzbart so heftig in die Richtung der Toten, daß der Mann über herumliegende Trümmer stolperte und lang hinschlug.

Jacob sprang zu ihm und riß ihn hoch. »Sie sollen da hinsehen, habe ich gesagt!«

Hansen legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Laß es gut sein, Junge. Der Mann war im Unrecht, aber er hat auch nur helfen wollen. In solchen Situationen ist der Mensch nun mal häufig kopflos.«

Jacob sah ein, daß der Seemann recht hatte. Er konnte nichts mehr ändern, ließ nur seinen Zorn über den ungerechten Tod an dem kleinen Mann mit dem Spitzbart aus. Er ließ ihn los, aber der Mann blieb am Boden hocken und starrte wie gebannt auf den weinenden Auswanderer und seine tote Frau.

»Es gibt nur einen Mann, den wirklich eine Schuld am Tod dieser Frau trifft«, fuhr Hansen fort und erhob drohend die Faust. »Gnade dir Gott, Oliver Desmond. Wenn ich dich zwischen die Finger kriege, wirst du dir wünschen, niemals geboren zu sein!«

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*

Als die Menschen aus dem Bauch der ALBANY wieder an Deck stiegen, war von der STAR OF INDIA nichts mehr zu sehen, nicht einmal eine Rauchfahne am Horizont.

Die Nachricht über das tödliche Unglück breitete sich aus wie ein Lauffeuer. Die ausgelassene Stimmung, die noch vor weniger als einer Stunde an Bord geherrscht hatte, war wie weggeblasen. Jetzt schauten die Auswanderer betreten drein und schwiegen, oder sie wünschten den Menschen auf dem englischen Dampfer Pest und Cholera an den Hals.

Mit ihren sämtlich gesetzten Segeln kam die Bark der Küste rasch näher. Die dünne Linie des Landes am Horizont wurde beständig dicker, und bald sah man von Bord aus die große Stadt namens New York, deren Hafen das Ziel der ALBANY war.

Mit dem überraschenden Auftauchen der STAR OF INDIA hatte die wochenlange Einsamkeit des Seglers ein jähes Ende gefunden. Je näher man dem Hafen kam, desto mehr konnte man den Eindruck bekommen, das Meer sei mindestens ebenso stark bevölkert wie die Straßen von Hamburg. Schiffe aller Größen und Bauarten kreuzten vor New Yorks Küste. Die ALBANY hatte die meisten Segel gerefft und fuhr jetzt sehr langsam, um nicht mit einem der vielen Schiffe und Boote zu kollidieren.

Um dem Gedränge am Bug zu entgehen, hatten sich Jacob und Martin zu Piet Hansen auf das Achterdeck gesellt. Irene wachte im Zwischendeck bei ihrem schlafenden Kind; den beiden war zu Jacobs großer Erleichterung nichts zugestoßen.

Hansen zog wieder sein Fernrohr aus, um die Küste zu betrachten. Plötzlich stieß er ein wütendes Knurren aus.

»Da liegt der verdammte Dampfer schon an der Quarantänestation!«

»Quarantänestation?« wiederholte Jacob. »Wieso das?«

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»Bloße Routine«, erklärte der Seebär. »Die müssen wir auch noch hinter uns bringen. Hoffentlich kriegen wir keine Schwierigkeiten wegen unserer Choleratoten, sonst liegen wir Tage oder Wochen dort fest. Dabei würde ich es diesem verfluchten Engländer fast wünschen, einen Monat lang unter Quarantäne zu stehen!«

Jacob lieh sich von Hansen das Fernrohr und fand bald die schwimmende Plattform vor der Küste, vor der die STAR OF INDIA lag. Das Dampfschiff schaukelte so friedlich auf den Wellen, daß Jacob für Sekunden geneigt war, das Wettrennen für einen bloßen Alptraum zu halten. Aber die tote Frau, die jetzt im Zwischendeck lag, bewies das Gegenteil.

Jacob wollte das Fernrohr gerade an Hansen zurückgeben, als ihm ein kleiner Dampfkutter auffiel, der in voller Fahrt auf die ALBANY zuhielt. Er machte den Kommandanten der Bark darauf aufmerksam, und Hansen spähte erneut durch das Fernrohr.

»Es ist das Lotsenboot«, stellte er fest. »Bald werden wir erfahren, ob ihr heute noch an Land gehen könnt.«

Der Kutter verringerte seine Geschwindigkeit und setzte ein Ruderboot aus, als er in der Nähe der Bark war. Zwei Matrosen ruderten einen dritten Mann zu dem Segler herüber, den er über die Jakobsleiter enterte. Der Mann war jung, klein, drahtig und trug eine Schirmmütze auf dem schmalen Kopf. Hansen begrüßte ihn, während das Ruderboot zum Kutter zurückfuhr, und der Lotse stellte sich mit dem Namen Carter vor. »Können wir gleich in den Hafen einlaufen, Mr. Carter?« erkundigte sich Hansen.

»Einlaufen schon, aber Ihre Passagiere können das Schiff erst morgen verlassen, Captain. Die Quarantänestation und das Einwandererdepot haben uns mitgeteilt, daß sie heute keine zweite Schiffsladung Auswanderer mehr durchschleusen können. Ihre ALBANY ist der achte Auswanderertransport, der in den Hafen einläuft.«

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»Das haben wir nur dieser vermaledeiten STAR OF INDIA zu verdanken!« verschaffte Hansen seinem Ärger Luft.

»Der Engländer war halt schneller als Sie, Captain. Das ist Pech.«

»Das ist nicht nur Pech, sondern eine verdammte Rücksichtslosigkeit, bei der eine Frau ihr Leben verloren hat.«

Als der Lotse ihn verwirrt ansah, erzählte ihm Hansen, was sich ereignet hatte.

»Eine ziemlich üble Geschichte, die Sie da erlebt haben«, befand Carter. »Da hat nicht nur Ihr Schiff, sondern auch diese Auswandererfrau Pech gehabt.«

»Pech? Das nennen Sie Pech? Für mich war das kaltblütiger Mord, für den ich Captain Desmond zur Verantwortung ziehen werde!«

»Damit werden Sie kaum durchkommen. Wie wollen Sie dem Captain der STAR OF INDIA eine Tötungsabsicht nachweisen? Jedes Gericht wird sagen, es war einer jener tragischen Unfälle, wie sie sich auf See immer wieder ereignen.«

Eine Weile schwieg Hansen und sah zum Festland hinüber, wo der englische Dampfer vor Anker lag. Zu weit entfernt noch, um ihn mit bloßem Auge zu erkennen.

Dann seufzte er und sagte: »Sie haben wohl recht, Mr. Carter, leider. Trotzdem sollte sich Desmond hüten, in meine Nähe zu kommen!«

Der kleine Dampfkutter hatte wieder Fahrt aufgenommen und tuckerte, eine kräftige Rauchfahne durch seinen Schornstein blasend, zur Küste zurück. Der Lotse begab sich mit Hansen aufs Achterdeck, und bald folgte die ALBANY dem Kutter, von Carter sicher durch das seichter werdende Hafengewässer geleitet.

Staunend betrachteten die Auswanderer die riesige, scheinbar grenzenlose Stadt, die vor ihren Augen heranwuchs. Und davor, im Hafen, eine zweite Stadt aus Schiffsrümpfen, Masten

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und Schornsteinen. Die ALBANY hielt auf die Südspitze der Insel Manhattan

zu, wo auf einem ins Meer ragenden und mit dem Land nur durch einen Steg verbundenen Zipfel das große Einwanderungsdepot von Castle Garden thronte. Ein gewaltiger Rundbau, der früher zur Vergnügungsanlage des Battery Parks gehört und als Konzertsaal gedient hatte.

Die STAR OF INDIA hatte den Liegeplatz an der schwimmenden Plattform der Quarantänestation verlassen und vor Castle Garden Anker geworfen. Ein ganzer Schwarm kleiner Boote pendelte zwischen ihr und dem Depot hin und her, um Auswanderer und Gepäck an Land zu bringen.

Die Passagiere der ALBANY, die inzwischen von ihrem Pech gehört hatten, schauten dem Treiben neidisch zu und hatten einen Grund mehr, dem Dampfschiff alle Schlechtigkeiten dieser Welt zu wünschen, wovon sie auch reichlich Gebrauch machten.

Der Dreimaster holte alle Segel ein und warf in der Nähe der Quarantänestation Anker. Der Lotsenkutter näherte sich erneut und nahm Carter wieder an Bord, nachdem Hansen ihn für seine Dienste bezahlt hatte.

Solange noch die Sonne schien, drängten sich die Auswanderer aufs Deck, um von fern die mächtigen Gebäude und Türme New Yorks in Augenschein zu nehmen, die sie schon am nächsten Tag aus der Nähe kennenlernen sollten. Allerdings hatten nicht alle Zeit dazu, denn Hansen ordnete ein allgemeines Großreinemachen und Wäschewaschen an. Das Schiff sollte am nächsten Tag bei der ärztlichen Inspektion einen guten Eindruck machen. Auch achteten die Beamten der Einwanderungskommission aus Gründen der Hygiene streng darauf, keine zerlumpten Schmutzfinken an Land zu lassen.

Die letzte Nacht an Bord verbrachten viele sehr unruhig, obwohl die ALBANY so still lag wie seit Wochen nicht mehr. Die Aufregung über das bevorstehende Betreten der Neuen

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Welt war daran schuld, aber auch der Umstand, daß viele Auswanderer ihre Strohsäcke im voreiligen Überschwang der Gefühle ins Meer geworfen hatten und jetzt auf den harten Brettern der Schlafstellen nächtigen mußten.

*

Als Jacob früh am nächsten Morgen auf Deck erschien, stand Piet Hansen bereits auf dem Achterdeck und sah mit zerfurchter Stirn zur Quarantänestation hinüber. Die Pfeife hing kalt in seinem Mundwinkel und schien von ihrem Besitzer gänzlich vergessen zu sein.

»Wir sind endlich am Ziel«, sagte Jacob. »Die letzte Nacht ist auch überstanden. Was quält Sie so, Piet?«

»Die Frage, was der Arzt der Quarantänestation dazu sagen wird, daß wir noch vor einem Monat die Cholera an Bord hatten. Eine Nacht haben die Auswanderer noch ausgeharrt. Aber was werden sie von einer mehrwöchigen Quarantäne halten?«

Jacob schwieg betreten und dachte an seine Familie. Er wollte seinen Vater und die Geschwister möglichst bald wiedersehen und nicht ein paar Wochen auf der künstlichen Insel verbringen. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß seine Familie Onkel Nathans Plantage aufsuchen und dort auf ihn warten würde, auch wenn er einige Wochen länger benötigte, zu ihnen zu kommen. Sie mußten einfach eine lange Wartezeit einplanen, hatten sie doch keine Ahnung, wann er nach Elbstedt heimkommen und sich nach Amerika einschiffen würde.

»Seit mehr als einem Monat hatten wir keinen Fall von Cholera mehr«, versuchte Jacob dem Seemann und auch sich selbst Mut zu machen. »Das wird die Amerikaner sicher davon überzeugen, daß die Krankheit nicht mehr bei uns umgeht.«

»Hoffen wir es«, seufzte Hansen, zog eine Schachtel

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Schwedenhölzer aus einer Jackentasche und setzte seine Pfeife in Gang.

»Gleich werden wir wissen, woran wir sind«, meinte er kurz darauf und deutete mit dem Pfeifenstiel auf das Ruderboot, das sich von der Quarantänestation löste und auf die AL-BANY zuhielt. »Der Quarantänearzt kommt.«

Der Arzt war ein dürrer, ziegengesichtiger Mann mit einem Zwicker und einer dünnen, hohen Stimme. In Hansens Begleitung inspizierte er das Schiff und besonders die Passagiere. Sie ließen es voller Anspannung über sich ergehen, hatte sich inzwischen doch herumgesprochen, was vom Urteil des Mediziners für sie abhing.

Nach der Inspektion verschwanden Hansen und der Arzt in der Kapitänskajüte, aus der sie erst nach einer Stunde wieder hervorkamen. Voller Spannung und staunend zugleich verfolgten die Menschen an Bord, wie sich die beiden höchst freundschaftlich voneinander verabschiedeten. Hansen half dem Arzt noch, einen großen Beutel, den er bei seiner Ankunft nicht bei sich gehabt hatte, ins Boot zu laden. Dann legte das Ruderboot ab und fuhr zu der Schwimmplattform zurück.

Hansen wandte sich den Passagieren zu und sagte laut: »Die Inspektion ist zur vollen Zufriedenheit des Arztes ausgefallen. Die ALBANY hat die Erlaubnis, vor Castle Garden zu ankern.«

Seine letzten Worte gingen im lauten Hurrageschrei der Menschen unter, die sich glücklich in die Arme fielen und auf Deck einen Freudentanz aufführten.

Jacob und Martin gingen zu Hansen und fragten ihn, was er und der Arzt so lange in der Kapitänskajüte getan hatten.

»Käpten Haskin kannte den Arzt zum Glück recht gut und wußte von seiner Leidenschaft für guten Kentucky-Whiskey. Wir drei haben einige Gläser geleert. Als ihm der Käpten dann noch den größten Teil seines Vorrats schenkte, meinte der Doc, die Menschen an Bord der ALBANY seien die gesündesten

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Lebewesen, die er in seiner langen Medizinerlaufbahn gesehen hat.«

»Nennt man so etwas nicht Beamtenbestechung?« fragte Jacob.

»Daheim in Deutschland vielleicht. Hierzulande nennt man so etwas ein praktisches Gastgeschenk.«

Der Anker wurde gelichtet und die Segel gesetzt. Die ALBANY legte das kurze Stück bis zum Einwanderungsdepot zurück und warf dort erneut Anker.

Die Passagiere versammelten sich an Deck, und Hansen hielt eine kurze Ansprache. Er bereitete die Menschen auf das vor, was sie erwartete.

»Im Depot kümmern sich die Beamten um euch, als wären sie eure Eltern. Wer gleich Weiterreisen will, kann sich dort mit Fahrkarten und Verpflegung versorgen und braucht gar nicht erst nach New York hinein. Das wird für viele das Beste sein, denn manch einer ist in dieser Riesenstadt schon versumpft. Sie ist wie ein Krake, der alles gierig festhält, was er einmal in seinen Fängen hat. Und wer doch nach New York will, sollte sich vor den Ratten hüten!«

»Mit den Viechern kennen wir uns aus!« rief einer der Auswanderer dazwischen. »Von denen gibt es hier an Bord mehr als an jedem anderen Ort in der Welt!«

Zustimmendes Gejohle und allgemeines Gelächter begleiteten diese Worte.

»Ich rede nicht von Tieren, sondern von zweibeinigen Ratten. Hier in New York nennt man sie auch Runner. Es sind üble Burschen, die euch die schönsten Versprechungen machen, aber nichts anderes wollen als euer Geld. Nehmt euch bloß vor ihnen in acht, auch wenn sie eure Sprache sprechen. Das sind manchmal die Schlimmsten!«

Jacob bezweifelte, daß sich viele seiner Reisegefährten die mahnenden Worte zu Herzen nahmen. Sie waren zu aufgeregt und neugierig und hatten zuviel Gutes über die Neue Welt

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gehört, um Schlechtes in ihr zu vermuten. Des Schlechten genug gab es in ihrer alten Heimat, der sie deshalb den Rücken gekehrt hatten.

Der rege Bootsverkehr, den sie am Vortag zwischen der jetzt ein Stück entfernt im Hafen liegenden STAR OF INDIA und dem Depot beobachtet hatten, setzte bald ein. Die AL-BANY leerte sich zusehends von Reisenden und Fracht.

Jacob, Martin und Irene, die ihren kleinen Sohn auf dem Arm hielt, verabschiedeten sich herzlich von Hansen und stiegen dann in eines der Ruderboote.

An Land identifizierten sie ihr karges Gepäck und tauschten es bei einem jungen Beamten gegen Blechmarken ein. Der sommersprossige Bursche schärfte ihnen ein, ja gut auf die Marken aufzupassen, denn nur gegen ihre Aushändigung würden sie am Depotausgang ihr Gepäck zurückerhalten.

Anschließend reihten sich die drei Freunde in die lange Menschen-Schlange ein, die sich langsam durch das große Tor schob, über dem in englischer Schrift und in großen Buchstaben stand: »EINGANG - NUR FÜR AUSWANDERER«.

Zwei große Flaggen an langen Masten überragten die gewaltige Kuppel, auf die sich die Menschen Schritt für Schritt zubewegten. Das rotweiße Banner mit den weißen Sternen auf blauem Feld war die Nationalflagge des jungen Landes. Die zweite Flagge zeigte auf blauem Feld einen Adler, das Wappentier der Nordamerikaner. Jacob überlegte, ob das ein gutes Omen für ihn und seine Familie war.

Als die Freunde das Eingangstor fast erreicht hatten, frischte der anlandige Wind auf und ließ die Fahnentücher lustig flattern. Es wirkte, als spreize der große Adler die Flügel, um sich kühn in die Lüfte zu erheben. Eine fiebrige Unruhe ergriff von Jacob Besitz.

*

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Noch einmal wurden die Auswanderer von einem Arzt beäugt, ehe sie das große Tor durchschritten und, zu Einwanderern werdend, in den gigantischen Kuppelbau eintauchten, der nach Jacobs Schätzung mindestens zweitausend Menschen Platz bot, vielleicht auch der doppelten Zahl. Die Männer, Frauen und Kinder von der ALBANY konnten sich glücklich schätzen, daß ihr Schiff als erstes an diesem Tag abgefertigt wurde, so daß alles zügig voranging.

Hier drinnen erschien es den Menschen im ersten Augenblick recht düster, strahlte draußen doch die Sonne. Aber ihnen blieb nicht viel Zeit zum Verweilen. Beamte der Einwanderungskommission teilten sie in Gruppen auf und schickten sie zur Abfertigung an die verschiedenen Schalter. Jacob, Martin und Irene achteten darauf, daß sie zusammenblieben.

Zunächst mußte jeder Einwanderer an einem Stand in der Nähe des Eingangs ein Kopfgeld von einem Dollar und ein Hospitalgeld von fünfzig Cents bezahlen. Ein großes, mehrsprachiges Schild an diesem Stand wies darauf hin, daß von diesem Geld das Einwanderungsdepot betrieben wurde.

Die Deutschen mußten sich nach rechts wenden, weil die Gänge linker Hand für die englischsprechenden Einwanderer bestimmt waren, von denen vor allem die von Hungersnöten geplagten Iren in großer Zahl ins Land strömten. Auf der rechten Seite dagegen sprachen alle Beamten deutsch, was dem Großteil der Menschen von der ALBANY eine Verständigung erst ermöglichte.

Nur wenige hatten sich bemüht, das Englische zu erlernen, darunter Jacob, Martin und Irene, die allabendlich Piet Hansens Sprachunterricht in der Segelkammer besucht hatten. Natürlich beherrschten sie die fremde Sprache noch längst nicht perfekt, aber sie hätten jederzeit ohne Verständigungsschwierigkeiten auf einem englischen oder amerikanischen Schiff anheuern können; naturgemäß hatte der Sprachunterricht des Seemannes

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einen starken nautischen Bezug gehabt, und Hansen hatte im Sprachkurs auch die meisten seiner deftigen Flüche nicht vergessen.

Am ersten Schalter wurden den Deutschen alle möglichen und unmöglichen Fragen gestellt, nach dem Heimatort, ihrer Konfession, der Größe ihrer Familie, ihrem Beruf und so weiter und so fort. Als es dem ungeduldigen Jacob, der am Postschalter eine Nachricht von seiner Familie zu erhalten hoffte, schließlich zu bunt wurde, unterbrach er den eifrig fragenden und mitschreibenden Beamten und fragte ihn seinerseits, wozu er das alles wissen wolle.

Irritiert blickte der schmächtige Mann von seinen Papierbögen auf, ließ den Bleistift sinken und sagte im tadelnden Tonfall: »Ich glaube kaum, daß Sie die Wichtigkeit meiner Tätigkeit ermessen können, mein Herr!«

»Vielleicht könnte ich das. Aber dazu müßten Sie mir sagen, wozu Sie das alles wissen wollen.«

»Für die Statistik, mein Herr. Schließlich vermittelt es wertvolle Aufschlüsse, wenn wir genau sagen können, wer woher und aus welchem Grund ins Land kommt.«

Jacob vermochte den Wert dieser Aufschlüsse zwar nicht zu erkennen, aber er beantwortete weiterhin die Fragen wie eine Maschine, um die Prozedur möglichst schnell hinter sich zu bringen.

Am nächsten Schalter wurden Fahrkarten für Boote und Eisenbahn verkauft. Von den drei Freunden war Jacob der einzige, der ein konkretes Ziel vor Augen hatte. Irene mußte noch herausfinden, wohin sich Carl Dilger gewandt hatte. Martin wollte sich erst schlau darüber machen, wo er möglichst günstig möglichst gutes Land erwerben konnte. Aber auch Jacob nahm davon Abstand, sich mit Fahrkarten zu versorgen, als er die Preise hörte. Er mußte die wenigen Dollars, die ihm verblieben waren, erst gehörig aufstocken, bevor er sich auf eine so weite Reise wagen konnte. Martin und Irene ging es

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ebenso. Deshalb gingen sie unverrichteter Dinge weiter zum nächsten

Schalter, wo man Geld einwechseln und nach Post fragen konnte. Da alle drei ihr weniges Geld schon in Hamburg wegen des dort günstigeren Wechselkurses eingetauscht hatten, fragten sie gleich nach Briefen.

Über Irenes Gesicht glitt ein Strahlen, als der Beamte ihr nach kurzem Suchen gleich zwei Schreiben ihres Geliebten überreichte. Martin nahm seinen Patensohn auf den Arm, während Irene mit zitternden Fingern den ersten Brief öffnete und, Carl Dilgers Zeilen lesend, alles um sich herum vergaß.

Währenddessen suchte der Beamte nach einem Brief für Jacob, der felsenfest davon überzeugt war, für ihn müsse hier eine Nachricht lagern.

»Tut mir leid«, meinte der Beamte. »Ich habe den Buchstaben A zweimal durchgesehen, aber nichts für einen Herrn Adler gefunden.«

»Aber es muß etwas da sein!« beharrte Jacob. »Vielleicht ist der Brief in ein anderes Fach gerutscht.«

Der Blick des Postbeamten wurde ähnlich tadelnd wie zuvor der des Statistikers. »Junger Mann, seit dieses Depot vor nunmehr acht Jahren errichtet wurde, um unerfahrene Grünschnäbel wie Sie vor den Runnern zu schützen, versehe ich hier meinen Dienst. Noch nie in all der Zeit ist mir ein Brief in ein falsches Fach gerutscht!«

»Aber ich bin mir ziemlich sicher, daß meine Familie vor mir nach Amerika gefahren ist!«

»Wenn sie in New York an Land gegangen ist, muß sie hier in Castle Garden auch registriert sein. Fragen Sie im Archiv der Registratur nach.«

»Wo finde ich das?« Der Beamte erklärte ihm den Weg. Irene ließ die Briefe sinken und blickte ihre Freunde

glücklich an. Ihre Hand glitt zärtlich über die Wange ihres in

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Martins Armen schlafenden Sohnes. »Bald wirst du deinen Vater sehen, kleiner Jacob-Martin«, flüsterte sie.

»Was schreibt dein Carl?« fragte Martin neugierig. »Er ist wohlbehalten in New York angekommen, vor knapp

vier Monaten. Nur wenige Tage später wollte er die Stadt wieder verlassen, um im Landesinneren sein Glück zu machen. Kurz vor der Abreise hat er den ersten Brief geschrieben, in zweifacher Ausfertigung, nach Hamburg und hierher, falls ich Deutschland eher verlassen mußte. Irgendwie scheint er geahnt zu haben, daß sein Vater mir Schwierigkeiten bereiten würde. Der zweite Brief ist vor zwei Monaten in Kansas City aufgegeben worden. Von dort wollte sich Carl einem Oregon-Treck anschließen.«

»Ein Oregon-Treck, was ist das?« »Carl schreibt, Oregon ist ein großes, noch weithin

unbesiedeltes Land jenseits der riesigen Berge, die man hier Rocky Mountains nennt. Dorthin wollte er ziehen, um für uns eine neue Heimat zu suchen. Kansas City scheint eine der Städte zu sein, von denen aus Wagenzüge nach Oregon abfahren. Ich soll in New York auf Nachricht von Carl warten, die er schicken will, sobald er sich ein Haus gebaut hat.«

Jetzt erst bemerkte Irene Jacobs düsteres Gesicht. »Hast du keine Nachricht von deiner Familie erhalten, Jacob?«

Er berichtete ihr, was der Schalterbeamte gesagt hatte. »Dann sollten wir jetzt zum Archiv der Registratur gehen!«

sagte die junge Frau. Aber sie kamen nicht weit, weil sie mitten in einen

Menschenauflauf gerieten. Ein paar Männer in blauen Uniformen sorgten ein wenig für Ordnung.

Einer der Uniformierten, der eine Feder am Hut und einen dunklen Spitzbart trug, blieb vor Jacob und Martin stehen und betrachtete die beiden Männer mit offensichtlichem Wohlgefallen.

»Ich bin Hauptmann Gerber, und ihr zwei kräftigen Burschen

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seid genau die Richtigen für unser Regiment«, stellte er, in deutscher Sprache, befriedigt fest.

»Was für ein Regiment?« fragten die Angesprochenen wie aus einem Munde.

»Wir stellen gerade ein Regiment für die Unions-Armee auf, das nur aus Deutschen besteht, die German Rifle Volunteers.«

Gerber zeigte auf ein im Freien stehendes Podest, neben dem das Sternenbanner aufgezogen war. Darauf stand eine fünfköpfige Kapelle, die einen flotten Marsch spielte. Die beiden Trommler zur Linken, die zwei Querflötisten zur Rechten und der Mann mit der großen Pauke in der Mitte legten sich mächtig ins Zeug, um die schwache Besetzung der Kapelle auszugleichen. Hinter dem Mann mit der Pauke war ein Wachhäuschen auf das Podest gesetzt, in dem mit unbewegter Miene und in strammer Haltung ein bewaffneter Soldat stand.

An der Vorderseite des Podestes war ein großes Schild in deutscher Sprache angebracht: »Tritt in die glorreiche Armee der Vereinigten Staaten ein! 100 Dollar Handgeld für jeden Freiwilligen – 20 Dollar im Monat für den Unteroffizier – 10 Dollar im Monat für den Gemeinen.«

Vor dem Podest hatten die Blauuniformierten eine Menge deutscher Männer zusammengetrieben und bemühten sich, ihnen einen Eintritt in die Armee schmackhaft zu machen. Aus einem großen Faß wurde unentgeltlich Bier ausgeschenkt, zu dem es Brezeln aus mehreren Körben gab. Tatsächlich unterschrieben viele auf der Rekrutierungsliste und wurden von einem Unteroffizier in eine besondere Ecke gedrängt.

»Tretet in die Armee ein und macht euer Glück!« sagte Gerber euphorisch. »Ihr bekommt freie Verpflegung, euren Sold und das Handgeld. Ihr habt Arbeit und seid auf einen Schlag alle finanziellen Sorgen los.«

»Und was müssen wir in der Armee tun?« fragte Martin. »Gegen diese verdammten Rebellen aus dem Süden

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kämpfen.« »Warum?« fragte Martin weiter. »Mir haben die nichts

getan.« »Jeder rechtschaffene Mann, der nur einen Funken Ehre im

Leib hat, muß mithelfen, diesen grauberockten Wölfen das Handwerk zu legen. In den Südstaaten werden immer noch Menschen versklavt.«

»Und dagegen kämpfen Sie?« wollte Martin wissen. »Genau.« »Seit wann werden denn dort Menschen versklavt?« fragte

Jacob. »Seit vielen Jahrzehnten.« »Soweit ich gehört habe, ist dieser Krieg erst vor zwei Jahren

ausgebrochen. Weshalb haben Sie nicht schon eher gegen die Sklaverei gekämpft?«

Der Offizier sah ihn entgeistert an. »Wie meinen Sie das?« »Na, wenn die Menschen im Süden schon so lange versklavt

werden, weshalb ziehen Sie erst jetzt gegen die Sklavenhalter ins Feld? Das hätten Sie doch schon vor vielen Jahren tun können.«

»Aber der Krieg ist erst jetzt ausgebrochen, weil sich der Süden vom Norden getrennt hat.«

»Dann ist also diese Trennung der wahre Kriegsgrund und nicht die Sklaverei«, schlußfolgerte Jacob.

In Gerbers Gesicht arbeitete es, und seine schmalen Augen schossen tödliche Blitze auf den Zimmermann ab. »Mann, wollen Sie mich veralbern oder mich beleidigen?«

Die Rechte des Offiziers fuhr zum Säbel an seiner Seite. Jacob bemerkte das und zog blitzschnell Gerbers Hand zurück.

»Lassen Sie die Waffe stecken!« sagte er scharf zu dem Uniformierten. »Diese Sklavenhalter können Sie meinetwegen aufspießen, aber mich nicht!«

Die Auseinandersetzung war den anderen Soldaten nicht entgangen. In Sekundenschnelle scharte sich ein halbes

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Dutzend Männer in blauen Uniformen um die Gruppe. Martin reichte Irene das schlafende Kind, um beide Hände

frei zu haben, falls es zum Kampf kommen sollte. »Gibt es Probleme, Hauptmann?« fragte einer der

hinzugekommenen Soldaten den Offizier. Gerber wich einen Schritt von Jacob zurück und sah ihn

verächtlich an. »Dieser Angsthase hier hält nichts vom Krieg gegen die Sklaverei.«

Jacob schüttelte den Kopf. »Das ist nicht ganz wahr gesprochen, Herr Hauptmann. Ich halte nur nichts von Kriegen, die mich nichts angehen. Ich bin nicht in dieses Land gekommen, um mir eine Uniform anzuziehen. Das hätte ich auch daheim haben können.«

Der Offizier hob die schwarzen Brauen. »Aha, ein vor dem Wehrdienst Geflohener also. Am besten schnüren wir ihn als Päckchen zusammen und schicken ihn an seinen König zurück. Aber der ist vielleicht ganz froh, daß er diesen Jammerlappen los ist, was?«

Er wandte sich beifallheischend an seine Männer und erntete zustimmendes Gelächter.

Plötzlich wurden Miene und Stimme des Hauptmannes wieder ernst. »Bleut den Burschen Respekt vor dem Uniformrock ein!«

Der Kreis der blauen Uniformen schloß sich enger um Jacob und Martin. Letzterer drängte Irene beiseite, um sie und das Kind aus der Gefahrenzone zu bringen.

»Was ist da los?« rief plötzlich eine Stimme hinter den Soldaten.

Ein älterer, gemütlich wirkender Mann in der Kleidung der Depotbeamten bahnte sich einen Weg zwischen den Soldaten hindurch und blieb vor dem Offizier stehen.

»Was ist das für eine Veranstalltung, Hauptmann Gerber?« verlangte er zu wissen.

»Wir wollen aus den beiden Milchgesichtern richtige

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Rekruten machen.« Der Beamte wandte sich an Jacob und Martin. »Ihr habt auf

der Rekrutierungsliste unterschrieben?« »Das haben wir nicht«, sagte Jacob. »Und wir haben es auch

nicht vor.« Der Beamte wandte sich wieder an den Offizier. »Dann

verstehe ich nicht, was Sie von den Einwanderern wollen, Herr Hauptmann.«

»Sie davon überzeugen, daß die Armee richtige Männer aus ihnen macht. Außerdem braucht der Norden Soldaten. Sie sollten sich da nicht einmischen, Herr Newman!«

»Hier ist das Einwanderungsdepot von New York, nicht das Rekrutierungsbüro der Armee. Sie haben die Erlaubnis, hier Soldaten für Ihr Regiment anzuwerben, nur unter der Voraussetzung erhalten, daß es keinen Ärger gibt und daß niemand zum Unterschreiben gezwungen wird. Wenn Sie sich nicht daran halten, muß ich dafür sorgen, daß die Erlaubnis widerrufen wird.«

Für eine halbe Minute sagte der Offizier gar nichts, war nur damit beschäftigt, seine Wut unter Kontrolle zu bringen.

»Also gut«, brachte er schließlich mit gepreßter Stimme hervor. »Die beiden Figuren hätten unserem Regiment gewiß nur Schande gebracht. Kümmert euch lieber um die anderen Rekruten, Männer!«

Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, drehte sich auch Gerber um und suchte in der Menge der Einwanderer neue Opfer.

»Vielen Dank für die Hilfe, Herr Newman«, sagte Jacob und meinte dann: »Sie sprechen ein einwandfreies Deutsch, aber Ihr Name hört sich nicht so an.«

Der Alte lachte. »Vor fünfzehn Jahren hieß ich noch Neumann und war Lehrer im schönen Minden an der Weser. Aber hier paßt man sich halt an. Das denkt Gerber wohl auch. Bevor der Krieg ausbrach, führte er ein Schuhgeschäft in

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Klein-Deutschland. Aber jetzt fühlt er sich zu Höherem berufen und hat die Leitung des Geschäftes seiner Frau überlassen. Er will als Offizier Karriere machen und am liebsten General werden.«

»Was ist das, Klein-Deutschland?« fragte Irene. »Das Viertel im Osten der Stadt, rund um den Tomkins

Square, in dem hauptsächlich Deutsche leben, Fräulein. Deshalb wird es Klein-Deutschland genannt, von den Nichtdeutschstämmigen weniger liebevoll auch Dutchtown.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile, und Newman führte sie ins Büro des Registraturarchivs, wo er einen Kollegen bat, die Einwandererlisten seit Mitte Februar nach dem Namen Adler durchzusehen. Die Arbeit nahm über eine Stunde in Anspruch, aber auf keiner der Listen war der gesuchte Name vertreten.

Enttäuscht verließ Jacob mit seinen Freunden das Büro. »Vielleicht ist deine Familie woanders an Land gegangen«,

versuchte Irene ihm Mut zu machen. »Ja, vielleicht«, sagte Jacob leise und dachte an das, was ihm

ein Schiffahrtsagent in Hamburg erzählt hatte. Wer nach Texas wollte, sollte günstigerweise in New Orleans an Land gehen, besser noch in Galveston.

Aber nur wenige Schiffe steuerten diese Ziele von Hamburg aus an. Hatte sein Vater das Glück gehabt, eines dieser Schiffe zu erwischen?

Oder war seine Familie gar nicht nach Amerika gefahren? War Jacob die ganze Zeit über einem Phantom nachgejagt? Hatte er die weite, lange Reise umsonst unternommen?

*

Vor dem Ausgang des Depots versammelten sich die Menschen von der ALBANY auf einem großen Platz, wo ein Beamter zu ihnen sprechen wollte. Jacob und seine Freunde

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staunten, als sie den alten Newman auf das Podest steigen sahen.

Er begann seine Ansprache mit einigen geschichtlichen Ausführungen über New York. Sie erfuhren, daß der Holländer Peter Miniut Manhattan den einheimischen Indianern für ganze sechzig Gulden abgekauft hatte. Daß die erst Neuholland und dann Neuamsterdam getaufte Siedlung in New York umbenannt wurde, nachdem sie 1664 von englischen Truppen besetzt worden war; der Name sollte den Herzog von York ehren, einen Bruder des englischen Königs.

Newman sprach über die Freiheiten, die jedermann in den Vereinigten Staaten genoß, und vom Unabhängigkeitskrieg, den Amerika erfolgreich gegen England geführt hatte. 1789 hatte George Washington auf dem Balkon der Federal Hall den Eid als erster Präsident der Vereinigten Staaten geleistet, und bis 1790 war New York die Hauptstadt der jungen Nation gewesen. Jetzt war sie die größte Stadt des Landes und ihr wirtschaftliches Zentrum.

Der Beamte berichtete über den Konflikt zwischen Nord-und Südstaaten, über Präsident Abraham Lincoln und seinen Kampf für die Freiheit der Menschen, der die Unterstützung jedes aufrechten Amerikaners und auch jedes Einwanderers verdiene. Fast meinte Jacob, Hauptmann Gerber reden zu hören.

Schließlich kam Newman auf das zu sprechen, was die Menschen wirklich interessierte. Er gab ihnen praktische Anleitungen, wie sie sich in dem fremden Land und in der großen Stadt verhalten sollten. Und er warnte sie noch einmal vor den ebenso geschäftstüchtigen wie gewissenlosen Runnern.

Nach der Ansprache nahmen die Einwanderer ihr Gepäck in Empfang. Das der drei Freunde war so spärlich, daß sie es bequem tragen konnten. Besonders Jacob, der nicht mehr bei sich trug als in den Jahren seiner Handwerksburschen-Wanderschaft. Alles war in einer großen Ledertasche

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untergebracht, die er an einem Schulterriemen trug. Er hatte sich zusätzlich Irenes Gepäck aufgeladen, damit sich die junge Frau um ihr Kind kümmern konnte.

»Und wohin jetzt?« fragte Martin. »Wir brauchen Unterkunft und vor allem Arbeit«, stellte

Jacob fest. »Mir scheint, in Klein-Deutschland finden wir das am ehesten.«

Sie verließen den abgesperrten Bezirk des Einwanderungsdepots und gerieten in einen wahren Menschenauflauf. Die Runner, vor denen sie gewarnt worden waren, versuchten ihre Geschäfte mit den unerfahrenen Neuankömmlingen zu machen. Sie boten Rat und Tat an, Unterkunft und Arbeit, Fahrkarten, Pferde und komplette Fuhrwerke.

»Wir sehen uns lieber in Klein-Deutschland direkt nach Unterkunft und Arbeit um«, sagte Jacob noch einmal eingedenk der Warnungen, die Piet Hansen und die Einwanderungsbeamten ausgesprochen hatten.

Sie wehrten aufdringliche Hände ab und kämpften sich durch die Menschenmenge hindurch, bis sie endlich freien Blick auf die fremde Stadt hatten.

Es war ein überwältigendes Bild, das sich ihnen bot. Links der Hudson und rechts der East River. Dazwischen die sich keilförmig verbreiternde Insel Manhattan mit schnurgeraden Straßen, die sich bis zum Horizont zu erstrecken schienen. Die Straßen waren breiter und die Häuser höher als alles, was sie in Deutschland jemals gesehen hatten. Trotz der Breite der Straßen herrschte auf ihnen eine drangvolle Enge. Manche Geschäfte hatten ihre Auslagen draußen auf Ständen, die bis an die Fahrbahn reichten, auf der sich Pferde und Fuhrwerke so rigoros einen Weg suchten, daß sich Fußgänger äußerst vorsichtig bewegen mußten, wollten sie nicht unter die Hufe oder die Räder kommen.

Martin brachte es mit einem Satz auf den Punkt: »Hier ist

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alles größer und breiter als in Deutschland, und von allem gibt es viel mehr.«

Staunend wanderten sie durch die Straßen und vergaßen fast die Zeit darüber. Schließlich fragten sie einen Polizisten nach dem Weg zum Tomkins Square. Er riet ihnen, einen Omnibus zu nehmen, da der Weg noch recht weit war.

Der von zwei kräftigen Kaltblütern gezogene Bus brachte sie bis zur Avenue A, die an der Westseite des Tomkins Square mitten durch Klein-Deutschland lief und auf der sich Lokale, Restaurants und Kolonialwarengeschäfte aneinanderreihten. Manchmal waren die Namen in Deutsch geschrieben, manchmal in Englisch, manchmal in einem seltsamen Mischmasch und häufig auch in beiden Sprachen. Ähnliches galt für die Namen der Inhaber, die – wie in Newmans Fall – oft dem Englischen angeglichen waren.

Sie spürten ihren Hunger, hatten sie doch seit dem Frühstück auf der ALBANY nichts mehr zu sich genommen. Deshalb kehrten sie in einem Restaurant ein, über dem ein großes Schild mit der deutschenglischen Kauderwelsch-Aufschrift »Albert's Bier-Garden« hing. Außerdem hofften sie hier zu erfahren, wo sie vielleicht Arbeit und Unterkunft finden konnten.

Der Biergarten war nur mäßig besucht, was daran liegen mochte, daß die Zeit zum Abendessen und fröhlichen Beisammensein noch nicht gekommen war. Sie ließen sich im Schatten einer großen Linde an einem der zahlreichen Tische vor dem Gebäudeeingang nieder und bestellten bei einem jungen Ober Erbseneintopf. Die Männer tranken Bier und Irene einen Apfelsaft.

Während sie hungrig den Eintopf in sich hineinlöffelten, erweckte ein lärmender Trupp von vier Männern, durchweg kräftige Kerle, ihre Aufmerksamkeit. Unter lautem Getöse ließen sie sich an einem Tisch im Biergarten nieder und riefen aus vollem Hals nach dem Ober.

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Sie sprachen ein Englisch, das Jacob nur mit Mühe verstand und das ihn an Paddy O'Rourke, den irischen Segelmacher der ALBANY, erinnerte. Auch die rote Färbung der Haare bei den meisten der neuen Gäste deutete darauf hin, daß sie oder ihre Vorfahren in Irland geboren waren.

Als der junge Ober kam, um die Bestellungen aufzunehmen, stand in seinem Gesicht deutlich das Unbehagen geschrieben, das er gegenüber den vier Neuankömmlingen empfand. Nur zögernd näherte er sich dem Tisch, und seine Hand, die den Bleistift führte, zitterte, als er ihre Bestellungen notierte.

»Und beeil dich, Dutch«, rief einer der Iren ihm nach. »Wir haben Hunger und legen keinen Wert auf die Gemütlichkeit der Germans!«

»Sieh mal, wie er läuft, Joe«, sagte ein anderer Mann zu dem, der eben dem Ober nachgerufen hatte. »Der Dutch stolpert noch über seine eigenen Beine, wenn er so dämlich ist wie alle seine Landsleute.«

Tatsächlich hatte der Ober, vom polternden Auftreten der Iren beeindruckt, seine Schritte beschleunigt.

Der Mann namens Joe, offensichtlich der Wortführer der vier, war zugleich der Größte und Kräftigste von ihnen. Ein wahrer Riese, der selbst den hochgewachsenen Jacob noch um einen ganzen Kopf überragte. Seine Schultern waren noch breiter als die des Zimmermannes. Insgesamt war seine Figur massiger, wirkte aber nicht fett. Unter seinem schmutzigen Kattunhemd spannten sich muskulöse Oberarme von gewaltigem Durchmesser. Seine Hände waren so groß wie Schaufelblätter und dichtbehaart. Die Haare schimmerten rötlich.

Überhaupt schien Rot die vorherrschende Farbe bei Joe zu sein. Unter einer speckigen Mütze lugten Haare von einer feuerroten Farbe hervor, wie sie Jacob niemals zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Joes Kattunhemd war dunkelrot, und seine darunter hervorquellenden Brusthaare hoben sich kaum

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davon ab. Selbst Joes Gesicht war gerötet wie das eines Cholerikers oder eines Säufers, und seine Augen waren von unzähligen roten Äderchen durchzogen.

So wirkte der Ire wie ein Teufel, ein der Hölle entstiegener Titan.

Irene erschauerte und drückte ihren Sohn enger an sich. »Was hast du?« fragte Jacob. »Dieser riesige Mann dort macht mir angst. Er erinnert mich

an Bob Maxwell. Sein Gesicht hat den gleichen brutalen, menschenverachtenden Ausdruck. Der Ausdruck eines Mannes, der seine überlegene Kraft dazu mißbraucht, andere zu quälen.«

»Bob Maxwell ist tot«, versuchte Jacob sie zu beruhigen. »Und mit diesem Kerl dort haben wir nichts zu schaffen. Vielleicht gefällt er sich einfach darin, anderen Angst einzujagen.«

Aber insgeheim mußte er Irene recht geben. Er dachte mit Abscheu an den narbengesichtigen Maxwell, den Ersten Steuermann der AL-BANY, der Irene Gewalt antun und Jacob töten wollte und dann im Gerangel mit einem seiner eigenen Gefolgsleute von einer tödlichen Kugel getroffen worden war. Erst ab diesem Zeitpunkt war auf der Bark wieder Ruhe eingekehrt. Auch der Ire namens Joe schien einer dieser Menschen zu sein, die überall, wo sie auftauchten, Unruhe und Angst verbreiteten und sich daran labten. Nur das schien der Lebensinhalt dieser im Grunde bemitleidenswerten Kreaturen zu sein.

Der Ober kehrte mit einem Tablett zurück, auf dem vier große Bierkrüge standen, die er vor den Iren auf den Tisch stellte. Kaum hatte er das getan, griffen die Männer auch schon nach den Krügen und führten sie zum Mund. Joe tat dies am schnellsten und knallte den Krug, nachdem er einen Schluck getrunken hatte, mit angewidertem Gesichtsausdruck so heftig auf die Tischplatte, daß der Inhalt überschwappte.

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»Was ist denn das für ein Gesöff, Dutch?« raunzte er den Ober an, bevor der sich entfernen konnte.

»Bier, wie Sie es bestellt haben.« »Das soll Bier sein?« Joes Blick glitt über seine Gefährten,

deren Gesichter ähnlichen Abscheu ausdrückten wie sein eigenes. »Nennt ihr das Bier, Freunde?«

Sie schüttelten die Köpfe und taten lauthals ihren Unmut über das Getränk kund.

Jacob und Martin sahen sich an, und jeder las in den Augen des anderen dasselbe. Die Iren trieben ein abgekartetes Spiel mit dem Ober. Den beiden deutschen Einwanderern hatte das Bier hervorragend geschmeckt.

»Was ist das für ein Gebräu, Dutch?« fragte Joe und hielt seinen Krug hoch. »Etwa Gift, mit dem ihr Germans anständige Iren hinterhältig unter die Erde bringen wollt?«

Der Ober sah verzweifelt aus. »Nein, Sir. Dieses Bier schenken wir hier jedem aus.«

»Jedem anständigen Iren, wolltest du wohl sagen, was?« »Wenn Ihnen das Bier nicht schmeckt, bezahlen Sie es

nicht«, sagte der Ober und wollte schnell davongehen. Aber Joe war fixer und streckte sein rechtes Bein aus, über

das der junge Deutsche stolperte. Er schlug längs auf den Boden, und sein leeres Tablett schlitterte unter einen der freien Tische.

Die wenigen Gäste im Biergarten hatten den sich anbahnenden Streit mit wachsendem Unbehagen verfolgt. Jetzt legten sie schnell das geschuldete Geld auf die Tische und machten sich davon. Nur zwei Tische waren noch besetzt, der mit den Iren und der, an dem Jacob, Martin und Irene saßen.

Joe erhob sich, den Krug noch immer in der Rechten, und baute sich breitbeinig vor dem Ober auf, der sich umdrehte und den Iren ängstlich ansah.

»So einfach kommst du nicht davon, Dutch. Zur Strafe dafür, daß du uns vergiften wolltest, werden wir dir dein eigenes Gift

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zu schlucken geben!« Mit diesen Worten leerte er langsam den Krug, indem er den

Inhalt auf den Kopf des Obers goß. Joe lachte, und seine Begleiter stimmten darin ein.

»Kommt, Freunde«, rief er ihnen zu. »Laßt diesen verdammten Dutch sein eigenes Gift trinken! Was die Germans Bier nennen, ist für einen anständigen Iren eine Beleidigung!«

Die drei anderen Iren erhoben sich ebenfalls von ihren Plätzen und gesellten sich mit ihren Krügen um den noch immer am Boden liegenden Ober.

Als der erste damit begann, seinen Krug über dem Mann auszuleeren, verständigten sich Jacob und Martin mit einem kurzen Blick.

»Geh mit Jacob-Martin hinein ins Lokal, Irene«, sagte Jacob. Sie sah ihn erschrocken an. »Ihr wollt euch doch nicht etwa

mit diesen brutalen Kerlen anlegen?« »Sollen wir nur zusehen?« Die junge Frau nickte. »Ihr habt recht. Aber seid vorsichtig.« Während sie mit ihrem Säugling eilig zum Eingang des

Lokals ging, bewegten sich Jacob und Martin auf die Iren zu. Gerade wollte der dritte von ihnen seinen Krug über dem

Ober ausleeren, als Jacob laut und deutlich auf englisch sagte: »Ich denke, jetzt ist es genug!«

Ungläubig drehten sich die Iren um und blickten die beiden Deutschen an.

»Was hat der verdammte Dutch gesagt?« fragte der irische Wortführer.

»Ich weiß nicht, Joe«, sagte ein Mann mit rotem Vollbart. »Er hat so ein Kauderwelsch von sich gegeben, daß man schlecht sagen kann, in welcher Sprache er geredet hat.«

»Ich habe gesagt, es ist genug.« Jacob zeigte auf den nassen, vor Angst zitternden Ober. »Sie haben Ihren Spaß mit dem Mann gehabt. Jetzt sollten Sie ihn in Frieden lassen.«

Joe hob in einer Geste der Hilflosigkeit seine mächtigen

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Pranken. »Tut mir leid, Männer, aber ich kann das Gequassel von diesem Dutch einfach nicht verstehen. Vielleicht sollten wir ihm mal unsere Sprache beibringen!«

Er erntete das beifällige Gejohle seiner Gefährten. »Diese Germans sind einfach zu blöd, um unsere Sprache zu

lernen!« »Die haben das Maul nur zum Fressen mitbekommen!« »Zeig dem Dutch, welche Sprache wir sprechen, Joe!« »Das werde ich!« versprach der rote Riese, machte einen

großen Schritt auf Jacob zu, ballte gleichzeitig die Rechte zur Faust und schickte einen Schwinger in die Richtung seines Kopfes.

Jacob hatte so etwas erwartet und war deshalb vorbereitet. Er tauchte unter dem Schlag weg, griff gleichzeitig nach Joes Arm, packte ihn fest mit beiden Händen und riß den Iren nach vorn. Der Schwung seines eigenen Schlages brachte den Riesen aus dem Gleichgewicht, und nach ein paar stolpernden Schritten fiel er auf einen Tisch, der unter ihm zusammenbrach und zersplitterte.

Für ein paar Sekunden standen seine drei Begleiter ungläubig da und betrachteten die Szene. Dann stieß der Mann mit dem roten Vollbart einen lauten Schrei aus und stürzte sich auf Jacob. Einer seiner Begleiter tat es ihm gleich, während der andere Martin angriff.

Jacob schnappte sich einen Stuhl vom nächsten Tisch und warf ihn dem Rotbart in den Weg. Der Ire konnte nicht mehr ausweichen, geriet ebenfalls ins Stolpern und prallte mit dem Kopf gegen den mächtigen Stamm einer Linde, an dem er zu Boden rutschte.

Der ihm nachfolgende Ire landete einen Faustschlag an Jacobs linker Schulter, der den Deutschen zurücktaumeln ließ. Der Ire, ein untersetzter Dreißiger mit einem von Sommersprossen nur so übersäten Gesicht, setzte nach und schoß neue Faustschläge auf Jacob ab, die dieser in letzter

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Sekunde abblocken konnte. Jacob konterte und traf den Gegner mit einem Schlag an der

Schläfe. Mit einem Aufstöhnen sackte der Sommersprossige zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Jacob sah, daß Martin seinen Gegner ebenfalls zu Boden geschickt hatte.

Aber beiden Deutschen blieb wenig Gelegenheit zum Atemschöpfen. Joe und der Rotbart hatten sich inzwischen aufgerappelt. Letzterer bewegte sich langsam, vorsichtig geworden, auf Martin zu, während Joe wie ein wütender Stier gegen Jacob anrannte.

Der junge Zimmermann wollte dem irischen Hitzkopf erneut ausweichen, aber diesmal ließ sich der Titan nicht täuschen. Als der Deutsche einen schnellen Schritt nach links machte, änderte Joe blitzschnell seine Richtung. Für ein erneutes Ausweichmanöver blieb Jacob keine Zeit, und so rannte ihn der Ire einfach über den Haufen.

Der Aufprall war so gewaltig, daß Jacob für Sekunden alles um sich herum vergaß und nur noch eine schwarze Wand vor seinen Augen sah. Er kämpfte diese Wand nieder und blickte in das grobe rote Gesicht des Iren, dessen faulig riechender Atem ihm in die Nase drang. Beide Männer wälzten sich, ineinander verschlungen, am Boden.

Joe, der um einiges schwerer war, konnte sich auf Jacob rollen und nahm rittlings auf ihm Platz.

»Jetzt werde ich dich zureiten wie ein widerspenstiges Wildpferd, vorlauter Dutch!« stieß Joe hervor und ließ Jacob sein ganzes Gewicht spüren.

Der Ire rammte seine Ellbogen in Jacobs Seiten, daß dem Deutschen die Luft wegblieb. Schon holte Joe zum nächsten Schlag aus und ballte die rechte Faust, um sie in Jacobs Gesicht krachen zu lassen.

Jacob nahm alle Kraft zusammen und zog ruckartig beide Beine an. Seine Knie stießen schwungvoll in Joes verlängerten

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Rücken und katapultierten den Iren so weit über ihn hinweg, daß Jacob sich freimachen konnte und sich an einem Stuhl hochzog. Er schwankte benommen, als er wieder auf den Füßen stand.

Martin schien bei dem Rotbart mehr Erfolg zu haben als Jacob bei dem widerstandsfähigen Riesen. Mit ein paar heftigen Schlägen trieb der kräftige Bauernsohn seinen bärtigen Gegner durch den halben Biergarten und streckte ihn schließlich mit einem gewaltigen Hieb zu Boden. Der Ire wälzte sich stöhnend hin und her, traf aber keine Anstalten aufzustehen.

Joe dagegen stand wieder auf den Füßen und stierte seinen Gegner haßerfüllt an. Er schien es noch nie erlebt zu haben, daß jemand seinen Bärenkräften solchen Widerstand entgegensetzte. Er war daran gewöhnt, Furcht einzuflößen und jedem, der Widerstand leistete, schnell zu zeigen, daß Joe der Stärkere war. Jacob kratzte an seinem Nimbus der Unbesiegbarkeit, und das ärgerte ihn.

Schon machte er sich bereit, erneut auf Jacob einzudringen, als eine scharfe Stimme durch den Biergarten rief: »Halt! Im Namen des Gesetzes, sofort aufhören damit!«

*

Ein halbes Dutzend uniformierter Polizisten, hölzerne Schlagstöcke in den Händen, stürmte den Biergarten und nahm die in die Schlägerei Verwickelten fest. Als sie ihre eisernen Handschellen auch Jacob und Martin anlegen wollten, schritt der junge Ober ein und wies die Ordnungshüter darauf hin, daß die Iren einzig und allein an dem Streit schuld seien und daß die beiden Deutschen ihm lediglich zu Hilfe gekommen seien.

Die Polizisten führten die gefesselten Iren durch die neugierige Menschenmenge ab, die sich am Eingang des Biergartens versammelt hatte.

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Joe blieb plötzlich stehen, drehte sich zu dem Zimmermann um und sagte: »Du hast Glück gehabt, daß die Polypen gekommen sind, Dutch. Aber sieh dich vor. Dutchtown ist nicht groß genug, um dich vor mir zu verstecken. Ich kriege dich noch!«

Joe bedachte den Deutschen mit einem Schwall von Flüchen, der erst abbrach, als ein Polizist den Iren unsanft voranstieß.

Irene lief so rasch, wie es der kleine Jacob-Martin auf ihrem Arm erlaubte, aus dem Lokal und erkundigte sich besorgt nach ihren Freunden. Bis auf einige Prellungen und Hautabschürfungen waren sie unbeschadet davongekommen.

»Ein stürmischer erster Tag, den wir in der Neuen Welt erleben«, sagte Jacob und klopfte den Schmutz von seiner Kleidung.

Martin tat es ihm nach. »Ja, man wünscht sich fast die ruhigen Tage auf See zurück.«

»Wenn es da nicht auch unruhige Tage gegeben hätte«, wandte Irene ein.

Die beiden Männer nickten und dachten an die heftigen Stürme, denen die ALBANY fast hilflos ausgeliefert gewesen war.

Der junge Ober näherte sich und bedankte sich überschwenglich für die Hilfe. Ein etwa dreißig Jahre älterer Mann, der ihm ansonsten wie aus dem Gesicht geschnitten war, trat neben ihn und schüttelte den beiden Auswanderern die Hand.

»Ich bin Albert Mandel, und mir gehört das Lokal. Haben Sie vielen Dank, daß Sie meinem Sohn Peter beigestanden haben.«

»Haben Sie die Polizei benachrichtigt?« fragte Jacob. Mandel nickte. »Sofort, als mir die junge Dame« – er sah

Irene an – »von der Auseinandersetzung berichtete.« »Dann müssen wir uns bei Ihnen bedanken«, sagte Jacob.

»Dieser Joe hätte uns noch ganz schön zu schaffen gemacht. Er hat das Gemüt und die Schmerzempfindlichkeit eines

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Kriegsschiffes.« »Ja, seit er mit seiner Bande Klein-Deutschland unsicher

macht, leben alle Wirte in Angst und Schrecken.« »Warum unternehmen Sie nichts gegen diese Hitzköpfe?«

wollte Martin wissen. Mandels Blick verdüsterte sich plötzlich und fiel auf die

Menschen vor dem Eingang des Biergartens. »Reden wir lieber drinnen weiter. Sie drei sind selbstverständlich meine Gäste.«

Er führte sie ins Lokal, das eine gemütliche Wirtsstube in Deutschland hätte sein können. An den Wänden hingen Landschaftsbilder aus der Heimat sowie die ausgestopften Köpfe eines Hirsches und eines Bären.

Sie nahmen an einem abgelegenen Ecktisch Platz, den Mandel mit Bier, Wein, Wasser und einem Teller mit Schmalzbroten füllte. Dann setzte er sich zu ihnen, während sein Sohn, der sich gesäubert hatte, damit beschäftigt war, die anderen Gäste zu bedienen, die jetzt zahlreich hereinströmten. Offenbar trieb sie die Neugier an, mehr über den Zwischenfall zu erfahren; Peter Mandel sah sich allerhand Fragen ausgesetzt.

»Sie sind neu in New York, gerade erst vom Schiff gekommen, nicht wahr?« fragte Albert Mandel. »Ich sehe es an Ihren neugierigen Gesichtern und dem Gepäck, das Sie mit sich herumschleppen.«

Als seine drei Gäste bejahten, fragte er: »Dann sind Sie vielleicht auf Arbeitssuche?«

»Ja«, sagte Martin schnell und wurde, wie auch seine Freunde, hellhörig.

»Ich brauche einen kräftigen Mann, der mir im Lokal hilft. Erst habe ich an eine weibliche Bedienung gedacht, weil ein Frauenrock die männliche Kundschaft anzieht. Aber die heutige Erfahrung zeigt mir, daß ich einen Kerl benötige, der in der Not auch seine Fäuste zu gebrauchen weiß.« Er sah Martin an, der zwar ein wenig kleiner als Jacob war, aber dadurch massiger und kräftiger wirkte. »Sie scheinen mir so ein Kerl zu

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sein. Wäre das etwas für Sie?« Martin zog die Stirn in Falten. »Arbeit suche ich schon. Aber

so etwas habe ich noch nie gemacht.« »Mit den Fäusten können Sie umgehen, das haben Sie vorhin

bewiesen. Ein paar Bestellungen aufnehmen und das Bestellte an die Tische bringen, das lernt sich schnell. Für den Anfang zahle ich zwölf Dollar im Monat; das ist bestimmt kein schlechter Lohn. Zudem hätten Sie Essen und Schlafen frei. Wie ist es, schlagen Sie ein?«

Zweifelnd schaute Martin zu Jacob und Irene. »Aber was ist mit meinen Freunden? Sie sind auch ohne Arbeit.«

»Mehr als einen von euch kann ich leider nicht bezahlen.« Als Jacob und Irene ihm zuredeten, nahm Martin die

angebotene Stelle an. »Weshalb haben Sie solche Angst vor den Iren, Herr

Mandel?« fragte Jacob. »Hält die Polizei die Burschen nicht im Zaum?«

»Die Polizei?« Der Wirt winkte ab. »Pah, wenn ich mich auf die verlassen wollte! Ein Wunder, daß sie vorhin so schnell gekommen ist. Wahrscheinlich sind die vier Hitzköpfe bereits wieder auf freiem Fuß. Viele der New Yorker Polizisten sind selbst irischer Abstammung. Wir Deutschen dagegen sind zur Zeit nicht sehr beliebt hier in den Staaten.«

»Warum nicht?« fragte Irene, über Mandels Mitteilung ein wenig erschrocken. »Haben wir den Amerikanern etwas getan?«

»Sie tun sich selbst etwas, indem sie sich seit zwei Jahren gegenseitig an die Gurgel fahren. Der Norden und der Süden kämpfen gegeneinander. Aber hier in New York, wo es keine rebellischen Südstaatler gibt, halten sich die Leute eben an uns Deutsche. Fremd ist fremd, und jeder Fremde ist ein Feind, denken einige wohl. Natürlich gibt es auch Deutsche, die für den Süden kämpfen. Aber genauso gibt es viele Deutsche, die für den Norden eintreten. Allein in New York sind mehrere

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Regimenter aufgestellt worden, die ausschließlich aus Deutschen bestehen. Ernst, mein Ältester, dient in einem von ihnen als Corporal.«

»Dann verstehe ich diese Feindseligkeit gegenüber uns Deutschen nicht«, meinte Jacob.

»Dahinter stehen, wie so oft im Leben, wirtschaftliche Interessen. Ein paar Deutsche haben Firmen in New York, die Waffen, Munition und Bekleidung für die Armee herstellen. Die englischsprechenden Unternehmer wollen das Geschäft lieber selbst machen. Sie heizen die Stimmung auf und schicken uns deutschen Geschäftsleuten Schläger wie diesen Joe O'Malley auf den Hals.«

»Warum Ihnen?« »Man kann nicht gegen einzelne deutsche Firmen vorgehen.

Also heizt man allgemein die Stimmung gegen uns an.« »Haben die Hintermänner damit Erfolg?« fragte Jacob nach. Mandel nickte. »Leider ja. Fast sieht es so aus, als würden

die Hintermänner dieser Kampagne die Lüge nachträglich zur Wahrheit werden lassen. Natürlich wollen unsere Landsleute nicht auf ihren Waren sitzenbleiben. Ein paar sind dabei erwischt worden, wie sie ihre Waren in den Süden zu schmuggeln versuchten. Das ist Wasser auf die Mühlen der Nativisten.«

»Nativisten?« wiederholte Irene das, ihr und ihren Freunden fremde Wort.

»So nennen sich die in Amerika Geborenen, die allen Einwanderern feindselig gegenüberstehen. Es ist schon seltsam, daß ausgerechnet sie sich der Iren bedienen, um ihre Interessen durchzusetzen. Die mögen sie nämlich eigentlich auch nicht, weil die Iren katholisch sind und selbst eine große Einwanderergruppe bilden. Aber die Rivalitäten zwischen irischen und deutschen Einwanderern bei der Suche nach Wohnung und Arbeit lassen sich halt gut für die Zwecke der Nativisten mißbrauchen.«

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»Gibt es denn in Amerika nicht genug Wohnraum und Arbeit?« fragte Irene.

»Raum gibt es wohl genug. Allerdings ist das Land noch unerschlossen. Um dorthin zu gelangen, muß man riesige Wüsten, hohe Gebirge und reißende Ströme durchqueren. Und wenn man Pech hat, ziehen einem am Ziel die Rothäute die Kopfhaut ab. Arbeit gibt es auch genug – aber nur für Leute, die gern ein Gewehr in die Hand nehmen. Ohne Soldaten kann man keinen Krieg führen. Erst vor ein paar Wochen haben sich unsere Jungs und die Rebellen unten bei Chancelorsville in Virginia die Köpfe eingeschlagen. Unsere Armee hatte weit über achtzehntausend Tote und General Lee an die dreizehntausend.«

»Wer ist General Lee?« frage Martin. »Robert E. Lee ist der beste Feldherr des Südens. Ohne ihn

hätten unsere Truppen die Rebellion längst niedergeschlagen.« »Überallhin müssen die Menschen ihren Krieg mitnehmen«,

meinte Jacob kopfschüttelnd. »Selbst in dieses Land, wo doch Platz genug sein müßte für alle. Ich habe jedenfalls nicht vor, Soldat zu werden und mir mein Brot mit der Waffe in der Hand zu verdienen.«

»Das haben Sie auch nicht nötig«, sagte ein Mann, der leise an den Tisch getreten war. »Ihre Hände sind Ihre Waffen, wie Sie vorhin draußen eindrucksvoll demonstriert haben.«

Die Gesichter der Menschen am Tisch wandten sich dem auffallend gut gekleideten Sprecher zu. Der schlanke Mittdreißiger war ein wenig mehr als mittelgroß, hatte dunkles, leicht gewelltes und sorgfältig gescheiteltes Haar und ein herbes, aber durchaus gutaussehendes Gesicht. Er trug einen hellgrauen Anzug über einer goldbestickten Weste.

»Wollen Sie mich Ihren Gästen nicht vorstellen, Herr Mandel?« fragte er, aber es klang mehr wie eine Aufforderung.

»Das ist Max Quidor«, sagte Mandel. »Ihm gehört das Golden Atlantic, der größte Vergnügungspalast in Klein­

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Deutschland.« »Und einer der größten in ganz New York«, fügte der

elegante Mann hinzu. Er sah Jacob an. »Dafür könnte ich Sie gut gebrauchen.«

Jacob war überrascht. »Mich? Ich bin Zimmermann von Beruf.«

»Ich bin nicht an Ihrem Handwerk interessiert, sondern an Ihren Fäusten. Ich habe Sie vorhin bei der Auseinandersetzung beobachtet. Sie sind ein guter Kämpfer. Selten habe ich bei einem Mann einen so harten Schlag gesehen wie bei Ihnen. Vielleicht fehlt Ihnen noch ein wenig Technik, aber das läßt sich rasch lernen. Sam Rockwood ist ein guter Trainer.«

»Ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen, Herr Quidor«, sagte Jacob.

»Ich will, daß Sie für mich boxen.« »Boxen?« »Ja. Haben Sie denn noch nie von diesem Sport gehört?« »Doch, gehört schon. Aber ich habe keine Ahnung davon.« Quidor lachte und sah auf Jacobs Hände. »Und ob Sie die

haben! Wollen Sie es nicht mal versuchen?« »Kann man denn dabei Geld verdienen?« Wieder lachte Quidor. »Morgen abend findet ein Kampf im

Golden Atlantic statt. Der Sieger erhält eine Prämie von fünfzig Dollar. Wenn Sie wollen, können Sie für mich antreten.«

»Fünfzig Dollar«, sagte Jacob nachdenklich und überlegte sich, daß Martin dafür mehr als vier Monate arbeiten mußte. Und er sollte das an einem einzigen Abend verdienen! Selbst ein gut verdienender Zimmermann mußte daheim in Deutschland für diesen Betrag an die zwei Monate schuften.

Dann aber fiel sein Blick auf Irene, die mit dem kleinen Jacob-Martin in der Ecke saß und irgendwie besorgt aussah.

»Es tut mir leid, Herr Quidor, aber es geht nicht.« Dem eleganten Geschäftsmann war Jacobs Blick nicht

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entgangen. »Ihre Familie können Sie natürlich mitnehmen.« Jacob klärte ihn darüber auf, daß es nicht seine Familie war,

daß er sich aber gleichwohl für Mutter und Kind verantwortlich fühlte und sie nicht in der fremden Stadt allein lassen konnte, ohne Unterkunft und ohne Arbeit.

Quidor lächelte. »Fräulein Sommer kann mit ihrem Kind so lange kostenlos bei mir wohnen, bis sie eine Anstellung gefunden hat.«

Jetzt stand Jacobs Zusage nichts mehr im Weg, und er schlug ein. Je schneller er Geld verdiente, desto eher konnte er sich auf die Suche nach seiner Familie machen.

»Dann wollen wir aufbrechen«, schlug Quidor vor. »Sam Rockwood wird jede Minute benötigen, um Sie auf den morgigen Kampf vorzubereiten.«

Zwei Männer erhoben sich von einem anderen Tisch und brachten ihm einen Stock mit silbernem Knauf und einen niedrigen Zylinder, dessen graue Farbe hervorragend zu Quidors Anzug paßte.

Die beiden großen Männer trugen ebenfalls saubere Anzüge, wenn auch nicht aus so teurem Stoff wie der Quidors. Ihre Kleidung war dunkler, und auf den Köpfen hatten sie englische Bowler-Hüte. Jeder trug an der rechten Hüfte einen Revolver in einem Lederholster. Einer von ihnen, mit dunklen Haaren und einer kreuzförmigen Narbe auf der Stirn, hörte auf den Namen Tom. Der andere war hellblond und hieß Henry. Für Jacob war sofort klar, daß es sich um eine Art Leibwächter handelte. Er dachte sich nichts weiter dabei. Nach allem, was Albert Mandel erzählt hatte, mußte ein deutscher Geschäftsmann in New York gut auf sich aufpassen.

Jacob und Irene verabschiedeten sich von Martin und den Mandels und gingen mit Quidor hinaus. Henry winkte eine Mietdroschke heran und lud das Gepäck der beiden Deutschen aufs Dach. Dann setzte sich die Kutsche mit den fünf Insassen

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in Bewegung. »Wenn das nur gutgeht«, sagte Albert Mandel leise, aber

Martin hatte es doch gehört.

*

»Was haben Sie damit gemeint, Herr Mandel?« fragte Martin, während er der Droschke nachsah, die allmählich im Verkehrsgewühl der Avenue A verschwand.

»Ich traue diesem Max Quidor nicht so ganz«, antwortete der Wirt leise. »Er kommt aus dem Rattennest. Und wer mit Ratten verkehrt, wird leicht selbst zu einer.«

»Das Rattennest?« »So wird der Teil von Klein-Deutschland genannt, der an die

Bowery grenzt, weil dort viele Ratten in Menschengestalt ihr Unwesen treiben. Dort gibt es jede Menge Amüsierlokale, denen allen eines gemein ist: Sie sind nur dazu da, den Menschen ihr schwer verdientes Geld aus den Taschen zu ziehen. Quidor betreibt die größte dieser Vergnügungsstätten.«

Martin sah seinen neuen Arbeitgeber zweifelnd an. »Sie meinen, er ist damit auch die größte Ratte?«

Das Thema war dem Wirt offensichtlich unangenehm. »Wer weiß das schon.«

»Wenn Sie Quidor nicht für astrein halten, weshalb haben Sie Jacob und Irene nicht vor ihm gewarnt?«

»Was hätte ich denn sagen können? Nichts Konkretes jedenfalls. Außerdem muß man bei Quidor sehr vorsichtig sein. Die beiden Leibwächter sind nur ein Teil seiner kleinen Privatarmee. Und er hat mächtige Freunde, die ihm verbunden sind, weil sie sich in seinen Etablissements austoben können.«

»Etablissements? Er hat mehrere?« Mandel nickte. »Das Golden Atlantic ist ein riesiger Kasten,

wo gespielt, gesungen und getanzt wird. Aber daneben betreibt Quidor, wie man sich erzählt, noch einige Häuser, in denen ein

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Mann auch seinen fleischlichen Gelüsten nachgehen kann. Offiziell sind die Häuser in anderem Besitz, aber Quidor soll der Hintermann sein.«

»Das klingt nicht gerade angenehm«, meinte Martin und beschloß, recht bald nach seinen Freunden zu sehen.

*

Die Droschke ratterte die breite, belebte Avenue A in südlicher Richtung bis zu deren Ende entlang und bog dann nach rechts auf die Houston Street ab, bis es wieder nach links auf die Christie Street ging.

Noch immer war es auf der Straße belebt, aber hier verkehrte ein anderes Publikum als am Tomkins Square. Viele der Menschen waren abgerissen, und einige sahen vom Alkohol angeschlagen aus, obwohl die Sonne noch nicht ganz untergegangen war. In Hauseingängen standen Frauen, die manchmal nur ihre Leibwäsche trugen. Eine hatte sogar ihre mächtigen Hängebrüste ganz entblößt. Viele dieser Frauen sahen noch sehr jung aus, wie halbe Kinder.

Jacob nahm das mit wachsendem Unbehagen wahr, als die Kutsche plötzlich anhielt.

»Wir sind da«, verkündete Max Quidor mit einem strahlenden Lächeln.

Seine Leibwächter stiegen aus. Henry hielt den drei anderen Passagieren die Wagentür auf, während Tom mit dem vollbärtigen Kutscher sprach und ihn bezahlte. Nachdem alle ausgestiegen waren, ratterte die Droschke davon.

»Das ist also mein Reich«, sagte Quidor und zeigte auf das große, prächtige Gebäude, vor dem sie standen. Über dem breiten Eingang war ein großes Schild angebracht, das ein blaues Meer und darauf ein golden glänzendes Dampfschiff zeigte; darüber stand in ebenfalls goldener Farbe der Schriftzug mit dem Namen des Etablissements.

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»Folgen Sie mir«, sagte Quidor und wollte vorangehen, als jemand Jacob Adler von der anderen Straßenseite beim Namen rief.

Der junge Deutsche fuhr zusammen und dachte sofort an seine Familie. Wer sonst sollte ihn hier in New York kennen?

Blitzschnell wirbelte er herum und hielt nach dem Rufer Ausschau. Er war enttäuscht, als er den Mann und die Frau erkannte, die jetzt die breite, schmutzige Fahrbahn in seine Richtung überquerten.

Es waren Anton Wickert und seine Frau, die auch auf der ALBANY nach Amerika gereist waren. Bei ihrem Anblick beschlich Jacob ein beklemmendes Gefühl.

Wolfgang, der kleine Sohn der Wickerts und ihr einziges Kind, war das erste von sieben Cholera-Opfern auf der ALBANY gewesen. Vermutlich trug die mangelhafte Verpflegung eine Mitschuld am Ausbrechen der tödlichen Krankheit. Deshalb konnte Jacob den Zorn der Wickerts auf Kapitän Haskin verstehen. Als sie sich aber zu Anführern einer Revolte gegen den Kapitän machten, hatte Jacob den betrunkenen Anton Wickert mit den Fäusten niedergestreckt.

Haskin und mehr noch sein Erster Steuermann Maxwell waren nicht zimperlich und hätten die Meuterei mit Waffengewalt niedergeschlagen. Davor wollte Jacob die Auswanderer bewahren. Mit Schaudern erinnerte er sich an den seltsamen Blick, den Wickerts Frau ihm zugeworfen hatte, als die Meuterer, durch Jacobs Eingreifen führerlos geworden, von ihrem Plan abließen. Er war sich nicht sicher gewesen, ob Dankbarkeit oder Haß in diesem Blick lag.

Die Wickerts hatten die kleine Gruppe jetzt erreicht und sahen etwas verlegen drein.

»Herr Adler, wir wollten uns bei Ihnen bedanken«, begann die blasse, ein wenig verhärmte Frau schließlich.

»Ja«, fügte ihr kantiger, untersetzter Mann hinzu. »Ich hätte auf dem Schiff fast eine ganz schöne Dummheit begangen und

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nicht nur mich und meine Frau, sondern auch andere Menschen in Gefahr gebracht. Danke, daß Sie mich davor bewahrt haben!«

»Schon gut«, winkte Jacob ab und fühlte sich etwas erleichtert. »Ich hoffe, es war nicht zu schmerzhaft für Sie, als ich Sie niederschlug.«

»Der Brummschädel, den ich am nächsten Tag vom Rum hatte, war schmerzhafter.«

Die Wickerts erzählten, daß sie bei einem Cousin von Frau Wickert untergekommen waren, der eine Fleischerei in der Stanton Street betrieb, ganz in der Nähe. Sie sollten in seinem Geschäft arbeiten.

Als sie hörten, daß Irene eine Stellung suchte, sagte Frau Wickert: »Das trifft sich aber. Mein Cousin ist seit einer Woche ohne Dienstmädchen, weil es geheiratet hat. Er sucht händeringend nach Ersatz. Sie haben doch Erfahrung in dem Beruf, Fräulein Sommer?«

»Ich habe jahrelang als Dienstmädchen gearbeitet.« »Dann kommen Sie doch gleich mit uns, ehe Ihnen jemand

anderes die Stelle wegschnappt.« Irene sah ihren kleinen Sohn an. »Meinen Sie nicht, daß Ihr

Cousin etwas dagegen hat, wenn ich Jacob-Martin mitbringe?« »Ach was. Sie werden genug Zeit haben, sich um den

Kleinen zu kümmern. Und wenn mal ein Engpaß entsteht, springe ich für Sie ein.«

»Ich kann die Stelle aber nur für eine bestimmte Zeit antreten. Bis mich mein Verlobter nach Oregon nachkommen läßt.«

»Mein Cousin wird froh sein, erst einmal jemanden zu haben. Zwar suchen viele junge Mädchen Arbeit, aber nicht jedem kann man vertrauen und in sein Haus lassen.«

So wurden sie sich einig, und Irene sollte gleich mitkommen, um sich Frau Wickerts Cousin vorzustellen.

Sosehr sich Jacob darüber freute, daß Irene so rasch eine

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Anstellung fand, so betrübt war er doch über die plötzliche Trennung. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß die Stanton Street die Christie Street kreuzte und daß es nur eines Spazierganges bedurfte, um Irene und den kleinen Jacob-Martin zu sehen.

Und doch konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, einen großen Verlust erlitten zu haben, als Irene mit den Wickerts davonging. Irene hatte das Kind auf dem Arm, und Anton Wickert trug ihr Gepäck. An der Ecke zur Stanton Street drehte sich Irene noch einmal um und winkte. Dann war sie verschwunden.

*

»Sie und Ihre Freunde können sich wirklich nicht beklagen, Jacob«, meinte Max Quidor. »Erst einen Tag in New York, und schon hat jeder von Ihnen einen guten Posten. Ich wette, es gibt eine Menge Leute von Ihrem Schiff, die es nicht so gut getroffen haben.«

»Ja«, seufzte Jacob. »So betrachtet, müssen wir uns wirklich freuen.«

Aber es wollte ihm nicht ganz gelingen. Tom und Henry verschwanden in einem Anbau, während

Jacob von Quidor durch den Haupteingang ins Golden Atlantic geführt wurde. Hier drinnen herrschte eine Pracht, die den jungen Deutschen fast blendete. So viel Glanz und Farbe hatte er bisher nur in der Elbstedter Villa des Bierkönigs Arning gesehen. Aber hier war alles noch größer, aufdringlicher.

Überall wurde emsig gearbeitet, um das Vergnügungslokal für die Betriebsamkeit des Abends vorzubereiten. Nur kurz sahen die Angestellten von ihrer Arbeit auf und grüßten ihren Boß.

Von der Decke hingen große Kristallüster über einem Salon mit den unterschiedlichsten Spieltischen. Daneben gab es einen

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Raum, der ganz dem Tanzvergnügen gewidmet war. Vor einer langen Theke gab es keine Stühle und Tische, sondern nur einen glänzenden Parkettboden.

»Ist das für Sie denn lukrativ?« fragte Jacob den Geschäftsmann.

»Wenn die Leute hier nur tanzen, wird doch kaum etwas verzehrt.«

Quidor grinste breit. »Wer hier tanzt, tut das mit meinen Girls. Bei denen kostet jeder Tanz zehn Cents. Das läppert sich.«

In einem weiteren Raum befand sich ein großes Restaurant, von dem ein Durchgang in einen Biergarten führte, gegen den der von Albert Mandel aussah wie ein Schrebergarten.

»Bei Ihnen findet man wirklich alles«, staunte Jacob. »Warum sollte ich das Geschäft einem anderen überlassen?« Sie kamen in einen Anbau und erstiegen eine breite

Holztreppe ins Obergeschoß, wo Quidor Jacob sein Zimmer zeigte. Es war die luxuriöseste Unterkunft, die Jacob jemals bewohnt hatte, und fast doppelt so groß wie die Wohnstube der Adlers daheim in Elbstedt.

»Für meine Leute ist mir nur das Beste gut genug«, meinte Quidor, als er Jacobs Staunen bemerkte. »Besonders, wenn ich mir von einem Mann so viel verspreche wie von Ihnen. Kommen Sie jetzt mit, damit ich Ihnen Sam Rockwood vorstellen kann.«

Er führte Jacob wieder hinunter und in einen weiteren Anbau. Es war eine große Halle mit mehreren Reihen von Sitzbänken, die einen freien, mit Seilen abgesperrten Platz in der Mitte umringten. Zwei Männer mit nackten Oberkörpern tänzelten in dem Viereck umeinander und versuchten, den anderen mit Faustschlägen zu erwischen.

»Sam!« rief Quidor, als er mit Jacob auf den Ring zuging. »Hier habe ich den Mann, der morgen abend gegen Hodges antreten wird.«

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Die beiden Männer im Ring unterbrachen ihr Training. Der muskelbepackte Jüngere sah Jacobs Begleiter entgeistert an. »Ich sollte doch gegen Hodges antreten, Mr. Quidor!«

»Sam ist nicht so recht zufrieden mit dir, Will. Bei der Sache steht zuviel Geld auf dem Spiel, als daß ich etwas riskieren könnte. Jacob übernimmt jetzt deinen Job. Trainier mit ihm, und guck dir etwas bei ihm ab!«

Der Ältere sah Quidor skeptisch aus seinem zerknautschten Gesicht mit der schiefen Nase an. »Hat der Junge denn Erfahrung im Boxen, Max?«

»Überhaupt keine.« »Wie kommst du dann darauf, daß er Hodges schlagen

könnte?« »Ich habe ihn kämpfen sehen.« »Gegen wen?« »Gegen Joe O'Malley.« »Gegen Hammer-Joe?« Quidor nickte. Sam Rockwood stieß einen Pfiff durch die Zähne, und auch

Will sah Jacob jetzt mit anderen Augen an. »Und der Junge da hat gewonnen?« fragte Sam. »Leider kamen die Polypen dazwischen. Aber ich habe

gesehen, wie er zwei von Joes Begleitern zu Boden geschickt hat, und das waren auch keine Betschwestern!«

»Also gut«, meinte Sam. »Ich will es mit dem Jungen versuchen.«

»Prima«, freute sich Quidor und wandte sich an Jacob. »Bei Sam sind Sie in guten Händen. Er wird einen hervorragenden Boxer aus Ihnen machen. Mich müßt ihr entschuldigen. Ich habe noch etwas zu erledigen.«

Er verließ den Boxsaal. »Worauf wartest du, Junge?« fragte Sam. »Zieh Jacke und

Hemd aus, und steig in den Ring. Mal schauen, was in dir steckt!«

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*

Die Sonne verschwand irgendwo jenseits der Bowery hinter den hohen Häusern New Yorks, als Irene mit den Wickerts in östlicher Richtung durch die Stanton Street ging.

Die Augen der jungen Frau glitten über die dunklen Hausfassaden, um sich ihre Wirklichkeit zu vergegenwärtigen. Alles ging plötzlich so schnell wie in einem Traum.

In den vielen Wochen auf See hatte sie oft das Gefühl gehabt, die Zeit stände still. Nichts schien sich zu verändern. Jeden Tag, wenn sie auf Deck stieg, war nur das unendliche Meer um sie und der mit dem Meer am Horizont verschmelzende Himmel.

Und heute hatte sie zum erstenmal das neue Land betreten, hatte Nachricht von Carl erhalten, eine Stelle gefunden und sich von Jacob getrennt. Alles innerhalb weniger Stunden.

Carl und Jacob. Seltsam, daß sie fast in einem Atemzug an beide Männer dachte. An Carl, den Vater ihres Kindes. Und an Jacob, der sich als Kindsvater ausgegeben hatte, um Irene davor zu bewahren, das Schiff verlassen zu müssen.

Sie konnte nicht anders, als die beiden Männer in Gedanken miteinander zu vergleichen. Obwohl Carl der Sohn eines reichen Reeders und Jacob nur der eines einfachen Handwerkers war, schnitt der hochgewachsene Zimmermann mit dem offenen Gesicht nicht schlecht dabei ab.

Aber es waren müßige Vergleiche. Nicht Jacob war der Vater des kleinen Wurms in ihren Armen, sondern Carl. Carl, der nach Oregon gezogen war, um sich und seiner Familie eine neue Heimat zu schaffen, nachdem er von seinem Vater verstoßen und enterbt worden war. Carl, der so viel für Irene und das Kind aufgegeben hatte.

Sie empfand Carl gegenüber Schuldgefühle, daß sie überhaupt an Jacob dachte. Jacob war ein guter Freund, wie auch Martin, nicht mehr.

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Wirklich nicht? fragte eine leise Stimme ganz tief in ihr. Die junge Frau verdrängte die Antwort, weil sie sich vor ihr fürchtete.

Irene war so sehr in ihre Gedanken vertieft gewesen, daß sie erst nach einer Weile ihre Umgebung wahrnahm. Sie und die Wickerts befanden sich gar nicht mehr auf der Stanton Street, sondern durchschritten eine schmale Gasse, in der es schon ziemlich dunkel war. Es roch muffig hier, nach Abfällen und Unrat.

»Wo sind wir?« fragte sie das Ehepaar. »Wir sind gleich da«, sagte der voranschreitende Anton

Wickert. »Ich dachte, die Fleischerei liegt an der Stanton Street.« »Tut sie auch«, entgegnete die verhärmte Frau, die neben ihr

ging. »Aber der Vordereingang ist um diese Zeit bereits geschlossen. Wir müssen über den Hinterhof gehen.«

Irgend etwas stimmte nicht. Irene war alarmiert. Sie waren bereits ein ganzes Stück in die schmale Gasse eingedrungen. Wie groß waren denn die Fleischerei oder der Hinterhof, wenn sie immer noch nicht da waren?

Irene blieb stehen. »Was ist denn?« fragte Frau Wickert ein wenig ungehalten. »Ich gehe nicht mehr weiter. Es ist zu dunkel, und ich kenne

mich hier nicht aus.« »Aber wir sind doch bei dir, Kind«, sagte die blasse Frau in

einem beruhigenden Tonfall. »Glaub uns, wir kennen den Weg.«

»Nein, ich möchte zurück zur Stanton Street. Ich kann ja am Vordereingang warten, bis Sie Ihrem Cousin Bescheid gegeben haben und er mir öffnet.«

Frau Wickert sah erst Irene und dann ihren Mann kopfschüttelnd an. »Was sagst du zu dem Mädchen, Anton? Wir bieten ihr eine gute Stelle, und sie macht plötzlich Zicken. Ist das nicht undankbar?«

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»Das ist es, Elsbeth«, bestätigte der Mann ungehalten. »Jetzt kommt endlich weiter!«

»Nein!« beharrte Irene und drückte ihren kleinen Sohn fester an sich.

Jacob-Martin schien mitzubekommen, daß etwas nicht in Ordnung war. Er wurde unruhig und weinte leise. Irene wiegte ihn sanft in ihren Armen.

»Du machst dem Kind angst«, befand Frau Wickert und streckte ihre Arme nach Irene aus. »Gib es mir!«

Irene wich zwei Schritte zurück. »Jacob-Martin bleibt bei mir!«

»Wie du willst, Kindchen«, sagte die Frau, folgte ihr langsam und nahm ihre Arme wieder herunter.

Als sie Mutter und Kind erreicht hatte, fuhr die rechte Hand hoch und drückte die scharfe Klinge eines Messers gegen Irenes Hals.

»Jetzt wirst du tun, was wir dir sagen!« zischte die verhärmte Frau und wirkte plötzlich gar nicht mehr freundlich. Mit ihren verzerrten Gesichtszügen sah Elsbeth Wickert aus wie eine böse Hexe aus den Märchen, die Irene als Kind gehört hatte.

»Was… was wollen Sie von mir?« fragte Irene mit sich vor Angst überschlagender Stimme.

»Rache«, antwortete die Hexe mit dem Messer.

*

Will Perrys Fäuste schienen von allen Seiten zu kommen und trommelten nur so auf Jacob ein. Er hatte bald Mühe, unter den Schlägen wegzutauchen, und einige streiften ihn.

Während Jacob mit nacktem Oberkörper und zum Schutz erhobenen Armen durch den Boxring tänzelte, fragte er sich, ob er wirklich der richtige Mann für diese Art Arbeit war.

Will Perry jedenfalls schien es zu sein. Er beherrschte die Tricks und ließ Jacob nicht zur Ruhe kommen.

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Perry war etwas kleiner als Jacob, wirkte aber insgesamt kräftiger. Seine Figur erinnerte an die von Martin. Auf seinem mit Schweißperlen bedeckten Gesicht stand Wut geschrieben. Wut auf Jacob, der ihm als Boxer vorgezogen worden war. Diese Wut trieb ihn an, vorwärts, immer weiter, Jacob nach, der nur zurückwich, seit das Training begonnen hatte.

Sam Rockwood lehnte draußen an den Seilen und betrachtete das Treiben scheinbar gleichgültig, eine glimmende Zigarre zwischen den stark gelichteten Reihen seiner gelben Zähne.

Jacob schoß die Frage durch den Kopf, was in dem Trainer vorgehen mochte. Hatte er bereits erkannt, daß Jacob nicht der geeignete Mann für den Boxring war?

Jacob hatte sich zu sehr seinen Gedanken hingegeben, hatte nicht aufgepaßt. Ein rechter Haken traf ihn am Kopf, wirbelte ihn herum und warf ihn in die Seile. Die getroffene Stelle pochte schmerzhaft, und die Schmerzen strahlten auf seinen ganzen Kopf aus.

Perry grinste schadenfroh, als er nachsetzte, um Jacob mit ein paar weiteren Schlägen endgültig zu erledigen.

Dieses Grinsen machte Jacob wütend. Er tauchte unter Perrys Schlägen weg, wirbelte herum und schoß eine rechte Gerade auf seinen Gegner ab, die sich gewaschen hatte und Perry am Kinn erwischte.

Für zwei, drei Sekunden stand Perry wie erstarrt im Ring. Als hätte der Schlag etwas in ihm zum Klingen gebracht, nach dem er lauschte.

Jacob nutzte diese Zeit für einen linken Haken, der Perry von schräg unten traf, wieder unters Kinn. Diesmal wurde Perry von den Seilen aufgefangen.

Jacob baute sich vor ihm auf, wartete, daß er wieder aus den Seilen kam. Als Perry sich abstieß, boxte er nicht, sondern umklammerte den Deutschen mit beiden Armen, taumelte mit ihm durch den Ring. Jacob wollte sich von ihm lösen, wollte seine Arme abstreifen, aber immer wieder klammerte sich der

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andere fest. Plötzlich spürte Jacob einen stechenden Schmerz an seinem

rechten Ohr. Sein Gegner riß an dem goldenen Ring, der als Zeichen der Zimmermannszunft durch Jacobs Ohrläppchen gezogen war.

Der Schmerz wurde immer stärker, als wolle Perry ihm den Ring herausreißen. Als Jacob den boshaften Ausdruck auf dem Gesicht des anderen sah, wußte er, daß er genau das vorhatte. Für Will Perry war dieser Kampf kein Training, sondern seine persönliche Rache an Jacob.

*

»Rache?« fragte Irene. »Wofür? Ich habe Ihnen doch nichts getan?«

Die junge Frau zitterte, nicht vor Kälte, sondern vor Angst. Sie war ganz allein in einem fremden Land, in einer großen Stadt, über die sich die Dunkelheit gesenkt hatte. Nur Anton Wickert und seine Frau schienen sich außer ihr in dieser schmalen Gasse aufzuhalten. Daß sie von ihnen nichts Gutes zu erwarten hatte, wußte Irene jetzt – zu spät.

Aus ein paar Fenstern drang Licht nach draußen. Dort drinnen mußten Menschen sein, die ihr helfen konnten. Aber sie wagte es nicht, um Hilfe zu rufen. An ihrer Kehle saß die scharfe Klinge des Messers. Der haßverzerrte Gesichtsausdruck der verhärmten Frau verriet, daß sie ihre Waffe nicht nur zum Drohen benutzen würde.

Irene hatte Angst, Todesangst. Auch um sich, aber noch mehr um den kleinen Jacob-Martin, den sie so fest an sich drückte, wie es ging. Was sollte aus dem Kind werden, wenn ihr etwas zustieß? Sein Vater war Tausende von Meilen entfernt und wußte nicht, wo sein Sohn sich aufhielt. Ja, er konnte nicht einmal wissen, daß er einen Sohn hatte.

Der Säugling wimmerte leise in sich hinein. Als spüre er die

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Gefahr und wage gleichzeitig nicht, laut zu schreien, um die Frau mit dem Messer nicht zu einer unbedachten Handlung hinzureißen. Irene wiegte ihn sanft hin und her, obwohl die Angst ihre Glieder lähmen wollte.

»Unser Kind ist tot!« zischte Frau Wickert vorwurfsvoll als Antwort auf Irenes Frage. »Wolfgang starb auf dem Schiff. Und du Schlampe, die nicht einmal einen Mann hat, hast ein Kind bekommen. Das ist ungerecht!«

»Aber ich kann doch nichts dafür, daß Ihr Wolfgang an der Cholera starb.«

»So? Wieso ist dir denn nichts geschehen? Dir und deinen beiden Freunden? Wieso habt ihr nicht die Cholera bekommen? Vor allem du, von der Geburt geschwächt?«

»Wir haben eben Glück gehabt.« »Glück?« Frau Wickert stieß ein heiseres, boshaftes Lachen

aus. »Ihr hattet höchstens das Glück, daß dieser Jacob Adler auf dem Schiff als Zimmermann gearbeitet hat und daß er gut mit Piet Hansen konnte. So habt ihr gute, frische Nahrungsmittel bekommen. Nicht das alte, faule Zeug, das wir anderen auf dem Zwischendeck essen mußten und das nicht uns, sondern nur die Cholera in uns genährt hat.«

»Das stimmt nicht!« »Warum hat dein Freund Jacob uns dann davon abgehalten,

mit dem Kapitän abzurechnen?« »Jacob wollte euch vor größerem Schaden bewahren.

Kapitän Haskin ist ein harter Mann. Er hätte euch zusammenschießen lassen.«

»Lügen, nichts als Lügen«, zischte die Frau, und ihr Messer drückte noch stärker gegen den Hals von Irene, die kaum noch zu atmen und zu schlucken wagte. »Ihr wolltet nur euren Vorrat an guten Lebensmitteln sichern!«

Das Flackern in Frau Wickerts Augen mußte Irrsinn sein, dachte Irene. Nur so waren die abwegigen Vorwürfe zu erklären, mit denen sie Irene überschüttete. Der Schmerz über

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den Verlust ihres einzigen Kindes mußte sie in den Wahnsinn getrieben haben.

»Herr Wickert, sagen Sie doch etwas!« verlangte Irene in der unbestimmten Hoffnung, der Mann möge vernünftiger sein. »Sagen Sie Ihrer Frau, daß sie sich irrt!«

Als die Augen des Mannes auf Irene ruhten, suchte sie in ihnen vergeblich nach dem wahnsinnigen Flackern, aber auch nach Mitleid. Die Augen blickten kalt, als sei ihr Besitzer längst tot. Oder als sei Irene kein Mensch, sondern nur eine Handelsware. Ja, genauso fühlte sie sich angesichts von Anton Wickerts Blick.

»Wir müssen weiter«, sagte der Mann nur und schritt tiefer in die Gasse hinein, noch immer Irenes Gepäck tragend.

»Du hast es gehört, Schlampe!« flüsterte seine Frau und stieß Irene mit der freien Hand weiter. Die andere Hand hielt das Messer immer in der Nähe von Irenes Hals.

Verwirrt befolgte Irene den Befehl und überlegte, was das Ziel der Wickerts sein mochte.

Als die Frau das Messer zückte, hatte Irene gedacht, sie sollte in der dunklen Gasse ermordet werden. Zwar besaß sie kaum Geld oder Wertsachen, aber sie hatte das Kind. In ihr war der schreckliche Gedanke aufgetaucht, daß die Wickerts den kleinen Jacob-Martin als Ersatz für ihren toten Sohn rauben wollten.

Jetzt bezweifelte Irene, daß ihre Überlegung richtig war. Die Gelegenheit, sie umzubringen, wäre dagewesen. Aber die Wickerts schienen ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben. Worum ging es ihnen wirklich?

Rache, hatte die Frau gesagt. Aber in welcher Form?

*

Jacob biß die Zähne zusammen, aber er ging immer tiefer indie Knie, desto stärker sein Gegner an seinem Ohrring zog. Vor

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sich sah er Will Perrys verschwitztes Gesicht, in das jetzt ein befriedigter Ausdruck trat. Der Ausdruck des Siegers, der seinen Triumph genoß und ihn möglichst lange hinauszögern wollte. Jacob sollte so lange leiden, so starke Schmerzen empfinden, wie es nur ging.

Der Deutsche riß beide Fäuste hoch und stieß sie gleichzeitig unter Perrys Kinn. Dort schien seine schwache Stelle zu liegen, wie Jacob vorhin bei der Geraden festgestellt hatte.

Perry stieß einen gurgelnden Laut aus, ließ Jacob los und taumelte zurück in die Ringmitte. Jacob sah nur noch den anderen Mann vor sich und spürte den Schmerz, der von seinem rechten Ohr ausging. Er setzte Perry nach und ließ seine Fäuste auf ihn fliegen.

Hätte er noch für etwas anderes Augen gehabt, hätte er bemerkt, daß in Sam Rockwood Interesse erwachte. Er folgte dem Geschehen im Ring jetzt so gebannt, daß er seine Zigarre ausgehen ließ.

Jacob stellte seine Schlagserie erst ein, als Perry vor ihm in die Knie ging. Das blutige Gesicht des anderen, jetzt kaum noch wiederzuerkennen, sah ungläubig zu ihm auf. Dann sackte der Boxer in sich zusammen und streckte sich lang auf dem Boden aus.

»Gut gemacht!« rief Rockwood und kletterte zwischen den Seilen durch in den Ring. »Erst dachte ich schon, du bist eine Flasche, aber du mußtest erst begreifen, daß dies kein Spiel ist, sondern blutiger Ernst!«

»Ja, blutiger Ernst«, murmelte Jacob und starrte auf Will Perrys blutiges Gesicht am Boden und dann auf seine eigenen Fäuste, an denen Blut klebte. Das Blut eines Menschen. Plötzlich war Jacob angewidert von dem, was er getan hatte. Und er war erschrocken darüber, daß er wie im Rausch gehandelt hatte, als er seinen Gegner niederschlug.

»Als Will an deinem Ohrring zerrte, um ihn dir rauszureißen, hast du begriffen, daß dies kein Spaß ist. Will hätte dir gar

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keinen größeren Gefallen tun können. Wir haben zwar verdammt wenig Zeit bis morgen abend, aber wenn ich dir die richtigen Kniffe beibringe, könntest du es schaffen. Du könntest Hodges besiegen!«

»Das glaube ich nicht«, sagte Jacob. Rockwood sah ihn verwirrt an. »Warum nicht?« »Weil ich nicht gegen ihn kämpfen werde.« »Nein?« »Nein.« »Woher kommt dein plötzlicher Sinneswandel? Hat dir Will

etwa Angst eingeprügelt?« Jacob schüttelte den Kopf, hörte aber sofort damit auf, als

sich die pochenden Kopfschmerzen wieder meldeten. »Keine Angst, sondern Verantwortungsgefühl. Es ist nicht richtig, sich zum Vergnügen anderer zu prügeln.«

»Aber wie Max erzählte, hast du dich heute schon einmal geschlagen!«

»Das war etwas anderes. Das mußte sein, weil dieser Joe und seine Gefährten über einen wehrlosen Mann hergefallen sind. Ich mußte ihm helfen. Aber dies hier?«

Wieder sah er auf Perry, der sich am Boden krümmte und vergeblich aufzustehen versuchte.

»Das ist nur Geschäft. Perry tut es für Geld. Hodges tut es für Geld. Und niemand wird dazu gezwungen. Sie tun es freiwillig, weil es andere gibt, die für das Zuschauen bezahlen. Es ist ihr Beruf. Auch du wirst Geld damit verdienen. Und das nicht zu knapp, wenn ich dich trainiere. Oder brauchst du etwa kein Geld, Jacob?«

Geld? Jacob dachte an die fünfzig Dollar, die er für den Kampf am

nächsten Abend erhalten sollte – falls er gewann. Das war für ihn eine Riesensumme. Und er brauchte Geld, um sich in diesem fremden Land namens Amerika durchzuschlagen. Um endlich seine Familie zu finden.

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Aber war es richtig, Geld dafür zu nehmen, einen anderen Menschen zu schlagen? Andererseits, wenn jeder aus freien Stücken boxte, warum dann nicht?

Wie Sani Rockwood gesagt hatte, es war ein Geschäft. Schon die Seeleute auf der ALBANY hatten erzählt, daß in Amerika aus allem ein Geschäft gemacht würde. Wenn es hier so üblich war, warum sollte Jacob es anders machen?

»Was ist jetzt?« fragte Rockwood. »Trittst du gegen Hodges an oder nicht?«

»Ich werde darüber schlafen«, sagte Jacob, stieg aus dem Ring und griff nach einem schmutzigen Tuch, um das Blut von seinen Händen zu wischen.

*

Die Gasse schien endlos zu sein, aber dann wurde sie endlich belebter. Doch Irene wußte nicht, ob sie sich darüber freuen sollte. Schlampige, spärlich gekleidete Frauen lagen in Fenstern oder standen in Hauseingängen. Manche bedachten die kleine Gruppe nur mit müden Blicken, andere riefen ihnen Obszönitäten zu. Aber niemand schien etwas dabei zu finden, daß Frau Wickert ein Messer in ihrer Hand hielt.

»Seht mal, da wird neues Fleisch geliefert!« rief eine Frau einer anderen zu, und beide lachten laut.

Irene lief dabei ein kalter Schauer über den Rücken. Allmählich begriff sie, was sie hier sollte, was die Worte der Frau zu bedeuten hatten.

Anton Wickert hielt vor einem großen Haus mit vielen beleuchteten Fenstern an. Was hinter diesen Fenstern geschah, wurde durch dicke rote Vorhänge verborgen. Aber es schien hoch herzugehen. Das laute Geklimper eines Klaviers drang nach draußen und vermischte sich mit dem vergnügten Gejohle von Männern und Frauen.

Wickert mußte mehrmals an der Klingelschnur ziehen, bis

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die Tür endlich geöffnet wurde. Das Licht dahinter fiel auf die massige Gestalt eines kahlköpfigen Mannes. Wickert flüsterte mit ihm und rief dann Irene zu, sie solle hereinkommen.

Widerwillig betrat Irene das Haus, in dem es nach Alkohol, Tabak, Schweiß und Unmengen von Parfüm roch. Nicht jenes feine Parfüm, das sie oft bei gesellschaftlichen Anlässen im Haus des Reeders Dilger gerochen hatte, sondern billiges, schweres, ordinäres Parfüm, das die anderen Gerüche im Haus überdecken sollte und es doch nicht konnte.

Irene mußte über eine schmale Treppe in einen Keller steigen und dort in einen fensterlosen Raum treten, der nur durch eine Kerze in der Hand des Kahlkopfes beleuchtet wurde. Die Einrichtung bestand aus einem rostigen Bettgestell mit schmutzigem Bettzeug, einer wurmstichigen Kommode, einem wackligen Tisch und einem nicht minder wackligen Stuhl. Auf der Kommode stand eine Schüssel mit Wasser, das abgestanden roch.

»Was soll ich hier?« fragte Irene. »Warten!« brummte der Kahlkopf. »Auf wen?« »Auf den Boß.« »Wer ist das?« »Wirst du schon sehen.« Er verließ das Zimmer. Frau Wickert warf ihr einen letzten flackernden Blick zu.

»Warte hier, bis du schwarz bist, Schlampe!« Sie ging hinaus, gefolgt von ihrem Mann, der vorher Irenes

Sachen neben die Kommode gestellt hatte. Als der Kahlkopf die Tür schloß, war es völlig dunkel in dem

Kellerraum, denn er hatte die Kerze mitgenommen. Irene hörte das schwere Knarren eines Schlüssels und dann Schritte, die sich entfernten.

Sie wartete, bis es völlig still war. Dann ging sie zur Tür und versuchte, sie zu öffnen. Es gelang ihr nicht, so heftig sie auch

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an ihr rüttelte. Mutlos tastete sie sich zum Bett und setzte sich auf das

quietschende Gestell. Sie war noch am Leben und hatte ihr Kind bei sich. Aber sie wußte nicht, ob das ein Grund zur Freude war.

Jacob-Martin weinte plötzlich laut. Er hatte Hunger. Sie entblößte ihre Brust, um ihm zu trinken zu geben.

»Wenigstens du sollst keine Not leiden«, sagte sie und strich ihrem Kind zärtlich über die Stirn.

Sie verspürte eine seltsame Angst, daß sie das nicht mehr lange tun könnte.

*

Irene war gerade mit dem Stillen fertig, als sie erneut Schritte und dann das Geräusch hörte, das beim Herumdrehen des Schlüssels entstand. Schnell raffte sie ihre Kleidung zusammen, als auch schon die Tür knarrend aufschwang.

Das Licht einer Laterne fiel in ihr Gesicht und blendete sie, so daß sie anfangs gar nichts erkennen konnte. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen wieder an das Licht und erkannten die Gestalt eines Mannes, der eingetreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Ihr erster Gedanke galt Jacob. Jacob, der sie gefunden hatte und gekommen war, um sie zu retten.

Aber Irene mußte einsehen, daß ihr Wunsch der Vater dieses Gedankens gewesen war. Der Mann konnte nicht Jacob sein.

Als er die Laterne auf den Tisch stellte, konnte sie endlich sein Gesicht erkennen. Es war ein gutaussehendes, wenn auch ein wenig herbes Gesicht. Unter dem flachen grauen Zylinder lugten dunkle Haarsträhnen hervor.

»Herr Quidor«, entfuhr es der jungen Frau, die nicht wußte, was das Auftauchen des Geschäftsmannes zu bedeuten hatte. Mit ihm hatte sie nicht gerechnet.

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»Guten Abend, Irene«, sagte er mit einer Höflichkeit, die kalt und falsch klang, und legte seinen Stock neben die Laterne. »Haben Sie sich an Ihr neues Heim schon ein wenig gewöhnt?«

Irene sah sich in dem traurigen Kellerraum um. »Das soll mein neues Heim sein?«

Quidor nickte. »Es sei denn, Sie zeigen sich fügsam.« Er trat auf sie zu, ließ seine behandschuhte Rechte über ihr

Gesicht gleiten, öffnete dann Irenes eilig und nur notdürftig geschlossene Bluse und nahm eine ihrer vollen Brüste in die Hand.

»Du bist wunderschön, Irene«, sagte er fast tonlos. »Das habe ich sofort bemerkt, als ich dich in Albert Handels Biergarten sah. Ich wollte gleich, daß du mir gehörst.«

»Ihnen gehören? Hier, in diesem Haus?« »Was hast du gegen dieses Haus? Hierher kommen viele

Männer, die hohe Positionen in der Stadtverwaltung und in der Wirtschaft bekleiden, um ihr Vergnügen zu haben.«

»Was soll ich hier?« »Du wirst ihnen dieses Vergnügen liefern, falls du es nicht

vorziehst, mir allein zur Verfügung zu stehen.« Er drückte fester zu, und Irenes Brust schmerzte. Sie preßte

die Lippen zusammen, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Diesen Triumph wollte sie Quidor nicht gönnen.

»Dann sind Sie der Boß?« »Das bin ich.« Endlich ließ er ihre Brust los. Irene unterdrückte den Impuls,

ihre Bluse wieder zu schließen. Sie wollte nichts tun, was ihn reizte.

»Wieso haben die Wickerts Ihnen geholfen?« »Sie standen zufällig vor dem Biergarten, als ich Sie

entdeckte und gegenüber Tom und Henry meiner Bewunderung Ausdruck verlieh. Die Wickerts sprachen mich an und erzählten mir, daß sie Sie kannten. Da kam mir die Idee für die hübsche Geschichte mit dem Fleischer-Cousin.«

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»Den gibt es also gar nicht?« Quidor lachte, als freue er sich über seine eigene Schlauheit.

»Nein, den gibt es nicht. Den Wickerts ging es ziemlich dreckig. Sie hatten kaum Geld und haben ihre Rollen für einen Spottpreis gespielt. Zehn Dollar habe ich ihnen gegeben. Lächerlich! So viel gebe ich einem Türsteher als Trinkgeld, wenn ich einen guten Tag habe.«

Wieder fuhr er über Irenes Gesicht, und sie roch das Leder seines schwarzen Handschuhes. »Hast du dich entschieden? Wenn du meine Frau wirst, werde ich dich behandeln wie eine Königin.«

»Ihre Frau?« fragte Irene und sah ihn voller Abscheu an. »Oder Ihre Hure?«

»Ich sehe, du bist noch nicht soweit. Schlaf eine Nacht darüber. Ich komme morgen noch einmal wieder.«

Er ging zur Tür, öffnete sie und stieß einen Pfiff aus. Als Tom und Henry eintraten, schlug die Erleichterung, die

gerade in Irene aufkeimen wollte, in panische Angst um. Wozu holte Quidor seine Leibwächter? Was sollte mit ihr geschehen?

Wie zwei steinerne Figuren standen die Leibwächter stumm und starr im Raum und warteten auf Quidors Anweisungen.

»Schnappt euch das Kind!« »Nein!« schrie Irene auf und drückte den kleinen Jacob-

Martin an sich, als die beiden dunkelgekleideten Männer auf das Bett zumarschierten. »Laßt mein Kind in Ruhe! Es hat euch nichts getan!«

Aber Tom und Henry waren ihre Schreie gleichgültig. Henry hielt die junge Frau fest, während Tom ihr das weinende Kind entriß. Henry ließ Irene los, und sie sackte kraftlos aufs Bett.

Doch als Irene sah, wie Tom mit ihrem Kind zur Tür ging, sprang sie auf und lief ihm nach.

Quidor nahm seinen Stock vom Tisch und hieb ihr den silbernen Knauf in den Bauch. Der heftige Schlag raubte Irene die Luft, und sie sank neben dem Tisch zu Boden. Hilflos

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mußte sie mit ansehen, wie Tom mit ihrem Sohn in dem dunklen Kellergang verschwand.

»Warum?« röchelte Irene. »Was hat euch das Kind getan?« »Gar nichts«, sagte Quidor kalt und verließ den Raum. Henry nahm die Laterne vom Tisch und folgte ihm. Weinend brach Irene in der Dunkelheit zusammen.

*

Der geschlossene Zweispänner, der von zwei prächtigen Apfelschimmeln gezogen wurde, durchquerte das nächtliche New York in nördlicher Richtung. Uptown, wie die Amerikaner sagten. Über die Bowery, die in die Fourth Avenue überging, ratterte die Kutsche über das unebene Straßenpflaster bis zum Union Square, bog dort auf den Broadway ab, um am Madison Square auf die Fifth Avenue zu fahren.

Henry hockte auf dem Bock und lenkte das Gefährt. Im Innern saßen sich Max Quidor und Tom gegenüber. Der Mann mit der kreuzförmigen Stirnnarbe hielt das weinende Kind auf seinem Schoß und versuchte vergeblich, es zu beruhigen.

Sein Boß gab sich äußerlich unbeeindruckt. Wichtige Gedanken beschäftigten ihn. Gedanken, die um den Mann kreisten, zu dem sie unterwegs waren, James Duncan.

Duncan war einer der wichtigsten Industriemagnate der Nordstaaten und hatte seine Finger so ziemlich in allem, was Geld einbrachte: Waffen- und Bekleidungsfabriken, Eisenbahn- und Schiffahrtsgesellschaften und derlei mehr. Außerdem war er eines der einflußreichsten Mitglieder im Stadtrat von New York. Und er war ein guter Kunde jener in dunklen Gassen gelegenen Häuser, in denen Männer das Vergnügen fanden, das ihnen ihre prüden Gattinnen vorenthielten.

Quidor kannte Duncan, der ein ebenso leidenschaftlicher wie glückloser Spieler war, aus dem Golden Atlantic. Als er gehört

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hatte, daß der Großindustrielle auch in seinen Bordells verkehrte, hatte er durch die Huren mehr über ihn erfahren. Mit diesem Wissen versuchte er schon seit einiger Zeit, auf Duncan Einfluß zu nehmen. Quidor brauchte einen starken Fürsprecher im Stadtrat, denn in diesen Zeiten, in denen die Nativisten allen ans Leder wollten, die deutscher Abstammung waren, war selbst ein mächtiger Mann wie er nicht mehr sicher.

Schon mehrfach hatte die Polizei in den letzten Wochen Razzien in den Bordellen durchgeführt. Früher hatte es das nicht gegeben. Quidor ließ der »Polizeikasse«, wie er es nannte, regelmäßig »Spenden« zukommen, und dafür machten die Uniformierten einen großen Bogen um seine Etablissements. Und wenn sie ohne Uniform kamen, waren sie fürsorglich umhegte Gäste, die nichts zu bezahlen brauchten. Aber plötzlich hielten sich die Polizisten nicht mehr an das Abkommen. Der von den Nativisten beherrschte Stadtrat hatte sich dafür eingesetzt, in Dutchtown einmal ordentlich aufzuräumen.

Wenn Quidor seinen Einfluß auf Duncan geltend machen konnte, war das drohende Unheil vielleicht abzuwehren.

Der Mann in dem eleganten grauen Anzug betrachtete das wimmernde Kind auf Toms Schoß. Vielleicht würde der Säugling ihm helfen, seine Pläne zu verwirklichen. Die vielstöckigen prächtigen Hotels und Geschäfte, die an der Fifth Avenue lagen, wichen mehr und mehr großen Herrenhäusern, je näher die Kutsche dem Central Park kam. Das Gefährt hielt vor einem der größten und prunkvollsten dieser Anwesen, das am Hamilton Square lag.

Das eiserne Gitter stand offen, da es noch nicht besonders spät war. Ein mit kleinen Pflastersteinen belegter Weg führte einen grünen Hügel hinauf, auf dem eine weiße Villa thronte, die mit Verzierungen geradezu überladen war. Sie hätte einem König zur Ehre gereicht. Offiziell gab es in den Vereinigten Staaten von Amerika keine Könige. Inoffiziell waren es die

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Männer mit dem meisten Geld. Zu ihnen gehörte James Duncan.

Aber auch für Geld konnte man sich nicht alles kaufen. Darauf zählte Quidor, als er über den gepflasterten, in regelmäßigen Abständen von Laternen gesäumten Weg auf die Prunkvilla zuschritt. Vor dem Gittertor wartete die Kutsche mit Henry, Tom und dem Säugling. Es brauchte nicht jedermann mitzubekommen, welches Geschäft Quidor mit Duncan abwickeln wollte.

Ein livrierter Schwarzer mit weißem Haar und langen weißen Koteletten öffnete ihm und fragte nach seinem Begehr.

»Ich möchte mit Mr. Duncan sprechen.« »Wen darf ich melden?« »Einen guten Freund.« Zum erstenmal zeigte das Gesicht des Schwarzen eine

Regung; Unverständnis und Mißbilligung zeichneten sich auf seinem breiten Antlitz ab. »Das ist leider kein Name, den ich dem Herrn nennen kann.«

»Es wird ihm lieber sein, wenn Sie meinen Namen nicht nennen.«

»Dann kann ich Sie nicht melden.« Quidor griff in seine Jackentasche, holte ein goldenes

Zehndollarstück heraus und drückte es dem Schwarzen in die Hand. »Ist das wirklich so ein großes Problem?«

Mit einer eleganten, kaum wahrnehmbaren Bewegung ließ der Diener das Geldstück in einer Hosentasche verschwinden. »Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann, Sir. Wenn Sie in der Halle warten möchten?«

Er gab den Weg für Quidor frei. Aber dieser schüttelte den Kopf. »Ich warte lieber hier

draußen. Die Luft ist heute abend so schön mild.« »Verstehe, Sir. Ich werde dem Herrn sagen, daß ein guter

Freund an der Tür auf ihn wartet.« »Tun Sie das«, sagte Quidor und schenkte dem Schwarzen

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ein entwaffnendes Grinsen. Der Diener schob die Tür an. Quidor wartete zwei, drei Minuten, bis tatsächlich James

Duncan kam. Er war ein hagerer Yankee von fünfzig Jahren mit dem Gesicht eines Falken und allmählich zurückweichenden Haaren. Er schien sich schon auf einen Abend zu Hause eingerichtet zu haben und trug eine weinrote Hausjacke.

»Quidor?« fragte er überrascht, und eine tiefe, seine Mißbilligung und Verwunderung ausdrückende Falte bildete sich zwischen seinen Augen. »Was wollen Sie von mir? Ich habe Ihnen doch untersagt, mich zu Hause aufzusuchen!«

»Guten Abend, Mr. Duncan«, sagte der deutschstämmige Geschäftsmann höflich und tippte mit dem Knauf seines Stockes gegen seinen Hut. »Wichtige, keinen Aufschub duldende Geschäfte führten mich zu Ihnen. Aber keine Angst, es hat mich niemand gesehen außer Ihrem Diener.«

»Das will ich hoffen. Leider haben Sie den weiten Weg von Dutchtown hierher umsonst gemacht. Wie ich Ihnen schon mehrmals sagte, kann ich Sie nicht als Geschäftspartner akzeptieren.«

»Für dieses Geschäft schon. Ich will Ihnen nämlich ein Geschenk machen.«

»Ein Geschenk?« »Aber ja. Es liegt dahinten in meinem Wagen. Wenn Sie

mich begleiten wollen?« Duncans für einen Augenblick überraschtes und

interessiertes Gesicht wurde wieder hart. »Nein, das will ich nicht. Außerdem wüßte ich nicht, was Sie mir schenken könnten.«

»Sie müßten es sich schon ansehen, Mr. Duncan.« »Verschwinden Sie endlich!« »Erst wenn Sie sich das Geschenk angesehen haben. Dann

lasse ich Sie in Ruhe, egal, ob Sie es annehmen oder nicht.«

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»Habe ich darauf Ihr Wort, Quidor?« »Das Wort eines Gentleman.« In Duncans abschätzigem Blick war nur zu deutlich

erkennbar, daß er seinen Besucher für alles andere als einen Gentleman hielt. Aber Quidor störte sich nicht daran. Als Geschäftsmann, der zielstrebig seine Ziele verfolgte, stand er über solchen Gefühlsduseleien. Persönliche Sympathien oder Animositäten hatten bei ihm noch nie eine Rolle gespielt, wenn es um seinen Profit ging.

»Also gut«, willigte der Großindustrielle ein. »Ich begleite Sie. Aber nur, damit ich meine Ruhe habe.«

»Wundervoll«, freute sich Quidor und ging, munter über das milde Frühlingswetter plaudernd, voran.

Duncan ging nicht darauf ein. Ihm war die Anwesenheit des Mannes aus Dutchtown überaus unangenehm. Es war eine Sache, nachts unerkannt die dunklen Gassen des Vergnügungsviertels auf der Suche nach einer drallen deutschen Hure zu durchstreifen. Aber eine andere, als der ehrenwerte James Frederick Duncan munter plaudernd mit dem zwielichtigen Geschäftemacher Max Quidor gesehen zu werden, noch dazu auf seinem eigenen Anwesen.

Als sie die Kutsche erreichten, drang das Wimmern des Säuglings leise aus dem geschlossenen Verschlag.

»Was ist das?« fragte Duncan irritiert. »Ihr Geschenk«, antwortete Quidor und zog die Tür auf. Im Verschlag saß Tom, hielt den Säugling hoch und schaute

mißmutig auf die nasse Hose seines Anzugs. Die Falte zwischen Duncans Augen vertiefte sich noch.

»Was soll das?« »Das ist ein kleiner Junge«, erklärte Quidor. »Das sehe ich. Aber weshalb haben Sie ihn hergebracht?« »Um ihn Ihnen zu schenken.« Duncan sagte nichts, sah den anderen nur an wie einen

Geisteskranken.

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»Ich weiß von der Fehlgeburt Ihrer Frau vor zwei Jahren«, sagte Quidor. »Es ist schon ein Jammer. Da nimmt man sich so eine junge Frau, damit sie einem einen Erben schenkt, und was passiert? Sie erleidet eine Totgeburt, und der Arzt stellt fest, daß sie keine Kinder mehr bekommen kann. Wie man sich erzählt, ist Ihre früher so lebenslustige Gattin seitdem sehr depressiv geworden. Das Verhältnis zwischen Ihnen beiden soll auch nicht mehr so gut sein wie zu Beginn Ihrer Ehe. Vielleicht liegt das…«

»Ich habe genug von Ihrem geschmacklosen Geschwätz!« fuhr Duncan dazwischen. »Meine Ehe geht Sie überhaupt nichts an!«

Er wollte sich zum Gehen umdrehen, aber Quidor hielt ihn zurück.

»Nicht so schnell, Mr. Duncan! Ich will Ihnen doch helfen. Mit diesem Kind hier könnte alles anders werden. Ihre Frau hätte eine Aufgabe und Sie einen Erben.«

Duncan betrachtete den Säugling zweifelnd und schüttelte dann leicht den Kopf. »Ich werde mich doch nicht mit dem Kind von einer Ihrer Huren abgeben, Quidor!«

Der Mann aus Dutchtown grinste. »Wenn es der Sohn einer meiner Huren wäre, könnte es sehr gut Ihr eigen Fleisch und Blut sein, Mr. Duncan.«

Der Großindustrielle erbleichte. Diese Vorstellung erzeugte in ihm sichtliches Unbehagen.

»Keine Angst. Der Kleine ist weder Ihr Kind noch das einer Hure. Eine junge Deutsche, die heute mit dem Schiff in New York ankam, hat es auf See zur Welt gebracht. Es hat keinen Vater, und das arme Ding kann nicht für das Kind sorgen. Deshalb habe ich es übernommen, eine gute Familie für den Kleinen zu finden.«

»Ihre Fürsorglichkeit bricht mir noch das Herz, Quidor. Der Herr im Himmel und Satan in der Hölle wissen, daß Mitgefühl noch niemals die Triebfeder Ihres Handelns war.«

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»Sie kennen mich gut«, sagte Quidor und nahm seinem Leibwächter das Kind ab, um es Duncan hinzuhalten. »Was ist jetzt, Mr. Duncan? Nehmen Sie das Geschenk an?«

»Es gibt Waisenhäuser genug in New York, in denen Kinder zur Adoption angeboten werden.«

»Adoption? Überlegen Sie sich einmal, welche Schwierigkeiten Ihr Sohn später haben wird, sein Erbe anzutreten. Jeder, der mit Ihnen auch nur um zehn Ecken herum verwandt ist, wird versuchen, die Erbschaft eines adoptierten Kindes anzufechten, um an Ihr Vermögen zu kommen.« Quidor hielt den Säugling hoch. »Aber das hier wird Ihr Kind sein, Mr. Duncan. Ihre Frau und Sie müssen sich nur einig sein, daß es Ihr leibliches Kind ist.«

»Aber der Arzt hat gesagt, meine Frau kann keine Kinder mehr bekommen.«

»Was gilt schon das Wort eines Arztes? Jeder weiß, daß Ärzte sich fast so häufig irren wie Wetterpropheten. Außerdem wird es niemand wagen, das Wort von James Frederick Duncan anzuzweifeln. Fahren Sie mit Ihrer Frau für ein paar Wochen aufs Land, und kehren Sie dann mit dem Kleinen zurück. Ein strammer Bursche, werden alle sagen, dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.«

In Duncans Kopf arbeitete es fieberhaft. Je länger er sich mit dieser Vorstellung beschäftigte, desto mehr gefiel sie ihm. Zögernd streckte er die Hände nach dem Kind aus, nahm sie dann aber zurück.

»Was haben Sie, Mr. Duncan? Es ist ein einmaliges Angebot. Weshalb greifen Sie nicht zu?«

Der Großindustrielle sah den Mann mit dem Kind mißtrauisch an. »Sie machen keine Geschenke, Quidor. Was verlangen Sie im Gegenzug von mir?«

»Nur das, über das wir schon mehrfach gesprochen haben. Sie müssen im Stadtrat ein wenig Ihre schützende Hand über Dutchtown und besonders über das Vergnügungsviertel halten.

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Mehr will ich nicht von Ihnen. Das dürfte Sie keine großen Mühen kosten.«

»Damit sind wir quitt, und Sie behelligen mich nicht mehr?« Quidor nickte. »So soll es sein.« Wieder streckte Duncan die Hände nach dem noch immer

weinenden Kind aus, und diesmal nahm er es in seine Arme. »Wie heißt es denn?« »Geben Sie ihm einen Namen«, sagte Quidor. »Wie wäre es

mit James Frederick Duncan II?« Er lachte und stieg zu Tom in den Wagen. »Alles Gute zur Vaterschaft, Mr. Duncan«, sagte er, noch

immer lachend, und zog die Tür zu. Henry ließ die Kutsche anfahren, wendete auf dem Hamilton

Square und lenkte das Gespann die Fifth Avenue hinunter, downtown.

James Duncan stand vor der Einfahrt seines Anwesens, das Kind in den Armen, und sah dem Gefährt hinterher, bis es zwischen den vielen anderen Fuhrwerken verschwunden war.

Max Quidor freute sich über den abgeschlossenen Handel, von dem er sich noch viele Vorteile versprach. Ab jetzt hatte er den mächtigen Mr. Duncan in der Hand. Und das für einen so lächerlich geringen Preis wie dieses Balg, das ihn keinen Cent gekostet hatte.

*

Irene lag auf dem kalten Fußboden des dunklen Kellerraumes und weinte. Sie wußte nicht, wie lange schon. Schlaf konnte sie nicht finden. Ein Gedanke hielt sie wach. Der Gedanke, von dem sie ganz und gar beherrscht wurde: Was war mit Jacob-Martin geschehen?

Sie hörte nicht einmal, daß die Tür aufgeschlossen wurde und jemand in den finsteren Raum trat. Erst der Schein der Kerze, der das Zimmer erhellte, riß sie aus ihrem Weinkrampf.

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Im Licht der Kerze erschien ihr die weiße Gestalt, die vor ihr stand, erst wie ein Engel. Aber es war eine Frau in einem weißen, tiefausgeschnittenen Kleid. Sie war nicht mehr ganz jung, aber schön. Mit dunklem, lockigem Haar, das in einer kunstvollen Frisur über ihre Schultern fiel. Hohe Wangenknochen und eine leicht gebogene Nase über vollen, sinnlichen Lippen dominierten das schmale Gesicht.

Die Frau sagte kein Wort, stand einfach nur da und betrachtete Irene. Fast wirkte sie wie ein Geist.

»Wer sind Sie?« fragte Irene, als sie ihre Tränen wieder unter Kontrolle hatte. »Was wollen Sie von mir?«

»Ich bin gekommen, um dich anzusehen«, sagte die Frau auf englisch mit einem starken Akzent, den Irene für französisch hielt.

»Um mich anzusehen? Wozu?« »Weil ich wissen will, ob du wirklich so schön bist, wie man

sagt.« »Ich bin nicht schön«, erwiderte Irene und wischte mit einem

Ärmel die Tränen aus ihrem Gesicht. »Nicht so schön wie Sie.« »O doch, das bist du, auf deine Art. Nicht jetzt, wo du

verheult bist. Aber wenn du ein schickes Kleid trägst und eine hübsche Frisur hast, dann bist du sehr schön. Max hat ein Auge für so etwas. Er hat eine gute Wahl getroffen – leider.«

Die unheimliche Besucherin seufzte und fuhr mit der freien Hand über ihr Gesicht. »Aber ich werde um ihn kämpfen! Max ist schnell für eine Frau entflammt, aber ebenso schnell ist dieses Feuer auch wieder erloschen. Dann kehrt er zu mir zurück, bestimmt! Wenn es nur nicht so schmerzen würde!«

»Was?« »Die Zeit, wenn er bei einer anderen ist. Aber zum Schluß

werde ich ihn wiederhaben. Und du wirst oben in einem Zimmer liegen, die Beine spreizen und das Geld für uns verdienen, für Max und für mich!«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Irene und wiederholte dann

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Ihre Frage: »Wer sind Sie?« »Ich heiße Jeanette, und ich führe dieses Haus. Ich tu' es für

Max, weil er mich dafür bezahlt – und weil ich ihn liebe.« »Ich will nichts von Max Quidor. Er hält mich hier gegen

meinen Willen gefangen. Lassen Sie mich doch einfach gehen. Dann werde ich nicht zwischen Ihnen und Quidor stehen.«

»Dann würde nie wieder etwas zwischen Max und mir stehen«, entgegnete die Französin mit einem hysterischen Lachen. »Dann würde Max mich nämlich umbringen!«

Enttäuscht sackte Irene, die eben noch Hoffnung geschöpft hatte, in sich zusammen.

»Dann sagen Sie mir wenigstens, wo mein Kind ist«, murmelte sie. »Geht es Jacob-Martin gut?«

»Dein Kind?« »Quidor hat es mir weggenommen.« Jeanette schien nichts davon gewußt zu haben und blickte

nachdenklich in die Ferne. »Du bist nicht die erste, der ihr Kind weggenommen wird«,

sagte sie dann mit unbeteiligter Stimme. »Die Frauen hier im Haus haben keine Verwendung für Kinder. Max dagegen findet immer jemanden, dem er sie verschachern kann.«

Die Französin drehte sich um und verließ den Raum. Irene achtete darauf, ob sie die Tür verschloß; sie tat es.

Bald verhallten die Schritte auf dem Gang, aber nicht das Wort, das wie ein Echo in Irenes Kopf hin und her geworfen wurde: Verschachern.

Bei dem Gedanken an Jacob-Martins Schicksal holten die Tränen Irene wieder ein.

*

Erste Runde:

Jacob und Griff Hodges tasteten sich ab, umtänzelten einander und versuchten, eine schwache Stelle des Gegners zu

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entdecken. Der Deutsche merkte gleich, daß der muskulöse Schwarze ein ganz anderes Kaliber war als Will Perry. In Hodges' Augen stand keine Wut, kein Haß, nur die kalte Taktik. Die Überlegung, wie er Jacob am besten ausschalten konnte. Als es schließlich zum ersten Schlagabtausch kam, ertönte der Pausengong, und der Ringrichter trennte die beiden Kontrahenten.

In der Pause ließ Jacob seine Augen über den vollbesetzten Saal schweifen. In den Augen der Besucher leuchtete die Gier. Die Gier nach Blut und Geld. Vielleicht hatte ein Teil dieser Gier auch Jacob befallen, daß er sich doch zu dem Kampf bereit erklärt hatte? Nachdem Max Quidor seine Siegesprämie auf einhundert Dollar verdoppelt hatte, wäre es die reine Dummheit gewesen, nicht gegen »Black Griff«, wie Hodges genannt wurde, anzutreten.

Zweite Runde:

Black Griff hatte genug von der Spielerei und griff massiv an. Immer wieder schoß er ganze Serien von Schlägen auf Jacob ab. Jacob gab nach, wich den Schlägen aus und bewegte sich tänzelnd durch den Ring, dicht gefolgt von Hodges. Er hatte keine Angst vor dem Schwarzen, aber er wollte erst seine schwache Stelle herausfinden und nicht seine Kräfte mit sinnlosen Schlägen vergeuden. Das hatte Sam Rockwood ihm geraten.

Rockwood, der ihn auch in der zweiten Pause betreute, ihm einen Schluck Wasser gab und sein Gesicht mit einem feuchten Tuch abwischte.

»Du machst das gut, Junge«, lobte er Jacob. »Laß die anderen ruhig denken, du hättest keinen Mumm. Auch Hodges soll das denken. Dann wird er leichtsinnig und begeht Fehler. Das wird deine Gelegenheit zum Zuschlagen sein.«

Jacob nickte, als auch schon der Gong durch den Ring scholl. Dritte Runde:

Black Griff beschimpfte Jacob, nannte ihn einen Feigling,

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den Sohn einer läufigen Hündin und derlei Dinge mehr. Jacob wußte, daß dies nur Berechnung war, und ließ sich davon nicht beeindrucken. Sein Gegner wollte ihn aus der Reserve locken, aber Jacob behielt weiter seine defensive Taktik bei und wich den Schlägen des Schwarzen aus. Jacobs mangelnde Übung machte sich am Ende der Runde schmerzhaft für ihn bemerkbar, als ihn eine Serie von Treffern am Kopf erwischte und in die Seile trieb.

In der Pause freuten sich alle Zuschauer, die auf Hodges, den klaren Favoriten, gewettet hatten. Die Wetten für ihn standen zwanzig zu eins. Die wenigen, die in der Hoffnung auf eine gute Quote und einen enormen Gewinn ihre Dollars auf »German Jake«, so Quidors Kampfname für seinen Boxer, gesetzt hatten, machten ein saures Gesicht und dachten schon daran, ihre Wettscheine zu zerreißen.

Auch Quidor, der in der Nähe von Jacobs Ecke saß, sah alles andere als zufrieden aus. Jacob wußte nicht, wie groß die Summe war, die der Inhaber des Golden Atlantic auf ihn gesetzt hatte. Aber seinen Worten hatte er entnommen, daß es ein kleines Vermögen sein mußte.

Vierte Runde:

Black Griff genoß den Jubel der Menge jedesmal, wenn er einen Schlag landen konnte. Er begann mit Jacob zu spielen, tätschelte ihn wie ein kleines Kind und wandte sich zwischendurch beifallheischend an die vor Begeisterung johlende Menge, die klatschend von den Holzbänken aufsprang. Als er ein paar Sekunden zu lange den Jubel genoß, nutzte Jacob diese Unachtsamkeit und ließ seine Fäuste in einem wahren Wirbel auf Hodges' Schädel krachen. Der Schwarze stieß einen dumpfen Schrei aus, taumelte und fiel in die Seile. Er wollte sich an ihnen festhalten, aber dann ließen seine kraftlosen Finger los, und Black Griff rutschte zu Boden.

Die eben noch rasende Menge verstummte und sah gelähmt in den Ring, in dem sich das Unglaubliche abgespielt hatte:

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Black Griff war von dem Neuling und absoluten Außenseiter zu Boden geschickt worden und war so schwer angeschlagen, daß er nicht wieder auf die Füße kam.

Der Ringrichter begann damit, Black Griff auszuzählen. Täuschte Jacob sich, oder geschah das besonders langsam? Während der Mann in dem weißen Hemd noch zählte, stöhnte der Schwarze laut und zog sich langsam an den Seilen hoch. Schließlich stand er wieder, und der Pausengong bewahrte ihn vor einer neuen Attacke durch German Jake.

»Gut gemacht, Junge!« lobte ein begeisterter Sam Rockwood seinen Schützling. »Jetzt hast du ihn! Hast du die Angst in Hodges' Augen gesehen? Die Angst und die Verwirrung? Er ist reif für den Abschuß, Junge. Hol ihn dir! Das wird eine Sensation!«

Fünfte Runde:

Black Griff näherte sich nur zögernd seinem Herausforderer. Zögernd und vorsichtig. Aber Jacob tat nichts, um diese Vorsicht zu rechtfertigen. Wie zu Beginn des Kampfes tänzelte er um den Schwarzen herum, schien großen Respekt vor ihm zu haben und auf einen Angriff zu warten. Als der schließlich kam, wich der Deutsche blitzschnell aus, tauchte an Hodges' Seite wieder auf und landete erneut eine ganze Schlagserie an dessen Kopf. Black Griff taumelte, riß schützend die Hände hoch und konnte Jacobs Schlägen doch nicht entgehen. Schließlich stürzte er wie ein nasser Sack zu Boden und blieb dort einfach liegen, bewegte sich keinen Zoll mehr.

Der Ringrichter mochte noch so langsam zählen, der Favorit kam nicht wieder hoch. Schließlich mußte der Mann im weißen Hemd Jacobs rechten Arm hochreißen und ihn zum Sieger erklären.

Die Stimmung war plötzlich umgeschlagen. Selbst die Zuschauer, die auf Black Griff gewettet hatten, jubelten Jacob begeistert zu. Sie stürmten den Ring und trugen den Sieger auf ihren Schultern davon, machten mit ihm dreimal eine

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Ehrenrunde durch den ganzen Boxsaal. Endlich ließen sie von ihm ab, und er konnte sich mit Sam

Rockwood in einen Nebenraum zurückziehen. Dort streckte er sich auf einer Pritsche aus, um sich ein wenig auszuruhen.

Aber die Ruhe dauerte nicht lange. Ein begeisterter Max Quidor trat ein und schlug seinem Kämpfer auf die Schulter.

»Das war eine erstklassige Vorstellung«, lachte er und zog ein Geldbündel aus der Tasche, dem er einen großen Schein entnahm. »Hier ist Ihre Prämie, Jacob. Die haben Sie sich wirklich verdient!«

Jacob steckte das Geld ein und fragte nach Griff Hodges. »Der kommt langsam wieder zu sich«, sagte Quidor zu

Jacobs Erleichterung. »Allerdings hat er seinen Kredit gründlich verspielt. In Zukunft stehen die Quoten zwanzig zu eins gegen ihn. Sie sind der neue Favorit, Jacob. Die Quoten für den nächsten Kampf stehen bereits zwölf zu eins für Sie!«

»Der nächste Kampf?« »Ja, morgen abend.« »So schnell?« »Man muß die Taschen aufhalten, solange das Geld

hereinfällt. Hammer-Joe hat sein Interesse bekundet, gegen den Sieger des heutigen Kampfes anzutreten.«

Jacob wurde hellhörig. »Joe O'Malley?« »Niemand anderer«, lachte Quidor. »Ich habe gedacht, daß

Sie das reizen würde.« »Ich weiß nicht«, sagte Jacob nachdenklich. »Ich bin mir

nicht sicher, ob das die richtige Arbeit für mich ist.« »Auch nicht, wenn ich Ihre Siegesprämie für morgen

verdopple?« »Zweihundert Dollar?« Quidor nickte. »Keinen Cent weniger.« Jacob rechnete, wie lange man mit ehrlicher

Handwerksarbeit brauchte, um so viel Geld zu verdienen. Und er dachte daran, daß es genug Reisegeld für sie alle wäre, für

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Irene, Martin und ihn selbst. Dann könnten sie dieser Riesenstadt, in der sich alles nur ums Geld zu drehen schien, viel schneller den Rücken kehren, als sie gedacht hatten. Irene könnte endlich den Vater ihres Kindes suchen und Jacob seine Familie.

»Einverstanden«, sagte Jacob deshalb. »Ich mache den Kampf.«

*

Die Häuser, die Fuhrwerke und die Gesichter der Menschen flogen nur so an Martin vorüber, als er zurück zum Golden Atlantic lief. Eine Art Schwindel ergriff von ihm Besitz. Das Gefühl, daß etwas Schreckliches geschehen war, man selbst aber machtlos dagegen war. Er wußte noch nicht einmal, was vorgefallen war. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Er hoffte es, aber er glaubte es nicht. Nein, Irene und das Kind befanden sich in Gefahr; das spürte er.

Er hatte sich am Nachmittag von Albert Mandel ein paar Stunden freigeben lassen, um Jacob und Irene im Golden Atlantic zu besuchen. Er traf seinen Freund im Boxring, wo er mit einem gewissen Sam Rockwood für den Abend trainierte.

Für Martin war es eine Neuigkeit, daß Jacob gegen Joe O'Malley in den Ring stieg. Genauso wie die Nachricht vom Kampf gegen Griff Hodges. Martin staunte nicht wenig, als er von den Prämien erfuhr, die Max Quidor seinem Boxer zahlte. Neu war ihm auch, daß Irene nicht im Golden Atlantic wohnte, sondern mit den Wickerts in die Stanton Street gezogen war.

Da Jacob wegen seines Trainings wenig Zeit für seinen Freund hatte, machte sich Martin auf in die Stanton Street, um nach Irene und dem kleinen Jacob-Martin zu sehen. Er hatte alle Fleischereien in der langen Straße, die sich von der Bowery bis zum Ufer des East River hinzog, abgeklappert. Niemand dort kannte eine Irene Sommer oder ein Ehepaar

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Wickert. Dann war er zu allen Fleischereien gegangen, die in der Nähe der Stanton Street lagen. Mit demselben Ergebnis.

Jetzt lief er zur Christie Street zurück, so schnell ihn seine Beine trugen, um Jacob die bestürzende Nachricht mitzuteilen. Gemeinsam mußten sie herausfinden, was mit Irene und Jacob-Martin geschehen war.

Er hatte den Prachtbau des Golden Atlantic fast erreicht, als er beim Anblick zweier Menschen, die über die Straße auf den noch geschlossenen Vergnügungspalast zugingen, stehenblieb. Die Überraschung ließ ihn anhalten, als er Anton Wickert und seine Frau erkannte.

Dann war sein erster Impuls, die beiden anzurufen und sie nach Irene zu fragen. Aber er überlegte es sich anders. Wenn mit Irene etwas nicht stimmte, sprach einiges dafür, daß die Wickerts etwas mit der Sache zu tun hatten. Und was wollten sie im Golden Atlantic, auf das sie zielstrebig zusteuerten?

Martin versteckte sich hinter einem an der Straße abgestellten Kastenwagen und beobachtete, wie das Ehepaar am Haupteingang des Golden Atlantic mit jemandem sprach und dann ins Gebäude ging.

Er folgte den Wickerts und traf am Eingang denselben Angestellten, der ihn vorhin schon eingelassen hatte, als er Jacob besuchen wollte. Der Mann war damit beschäftigt, die Doppelflügeltür in einem knalligen Rot zu streichen.

»Ich muß noch etwas mit meinem Freund Jacob besprechen«, sagte Martin und ging an ihm vorbei. »Er ist wohl noch im Ring und trainiert.«

»Gehen Sie nur durch«, meinte der Angestellte. »Sie kennen den Weg ja.«

Martin nickte und durchschritt eilig die großen Räumlichkeiten, die für den allabendlichen Betrieb hergerichtet wurden. Schließlich entdeckte er die Wickerts. Tom, der Leibwächter mit der Stirnnarbe, führte sie eine Treppe hinauf. Martin blieb hinter einer mannshohen Pflanze stehen und

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merkte sich die Tür, hinter der die drei verschwanden. Er ging ebenfalls die Treppe hinauf und hielt unschlüssig vor

der bewußten Tür an. Man konnte ihn von unten aus sehen. Aber er mußte riskieren, entdeckt zu werden, wenn er herausfinden wollte, was hier vor sich ging. Daß irgendeine Schweinerei im Gange war, in die das Ehepaar Wickert und Max Quidor verwickelt waren, soviel war ihm inzwischen klargeworden. Er ging vor der Tür in die Knie und tat, als würde er eine schadhafte Stelle am Boden ausbessern. Dabei hielt er ein Ohr möglichst dicht an die Tür, hinter der er erregte Stimmen hörte.

»Die zehn Dollar, die wir von Ihnen bekommen haben, reichen nicht, Herr Quidor«, hörte er die laute Stimme eines Mannes, bei dem es sich nur um Anton Wickert handeln konnte. »Sie sind ein reicher Mann. Der Dienst, den wir Ihnen erwiesen haben, ist das Zehnfache wert.«

»Ich verstehe Ihre Aufregung nicht«, erwiderte Quidor kühl. »Sie waren doch mit der Summe einverstanden.«

»Wir haben es uns halt überlegt«, sagte Frau Wickert. »Diese Stadt ist sehr teuer. Wir brauchen das Geld, sonst…«

»Was sonst?« fiel ihr Quidor scharf in die Rede. »Wollen Sie mir etwa drohen?«

»Geben Sie uns doch einfach das Geld«, versuchte es Anton Wickert noch einmal. »Ihnen tut es nicht weh, und es gibt für niemanden Scherereien.«

»Wenn jemand anderen Scherereien bereitet, bin ich das«, sagte Quidor. »Nicht umgekehrt. Und ich lasse mich auch nicht erpressen. Sie beide hätten nicht hierherkommen dürfen!«

Für einen Moment herrschte Stille. Dann krachte ein Schuß. Frau Wickert schrie auf. Wieder ein Schuß. Und dann wieder Stille. Martin sprang hoch, stieß die Tür auf und stürmte in den

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Raum. Auch wenn er die Wickerts nicht sonderlich sympathisch fand und sie in eine finstere Angelegenheit verwickelt waren, er konnte nicht einfach danebenstehen, wenn ihnen etwas geschah.

Aber er kam zu spät. Mann und Frau lagen auf dem dicken Teppich. Frau Wickert

war auf den Bauch gefallen, ihr Mann auf den Rücken. In seiner Brust direkt über dem Herz klaffte ein blutiges Loch. Die Augen des Auswanderers blickten gebrochen zur Decke.

Quidor saß hinter einem wuchtigen Schreibtisch, den rauchenden Revolver noch in der Rechten.

Neben der Tür stand Tom. Als Martin ins Zimmer stürmte, fuhr die Hand des Leibwächters zur Hüfte und kehrte mit seinem Revolver zurück, den er auf den jungen Deutschen richtete.

Fassungslos stand dieser neben den Toten, blickte immer wieder von einem zum anderen. Schließlich hob er seinen Kopf und sah den Mann hinter dem Schreibtisch vorwurfsvoll an.

»Sie haben die beiden ermordet, Quidor!« »Ich weiß«, sagte der Inhaber des Golden Atlantic mit einem

kalten Lächeln. »Einfach so?« »Nicht einfach so. Ich hatte einen guten Grund. Sie wollten

mich erpressen. Außerdem verstehe ich Ihre Aufregung nicht. Die beiden waren Abschaum, nicht besser als der Dreck auf den Straßen dieser Stadt.«

In Martin kochte die Wut auf den kaltblütigen, gewissenlosen Mörder.

»Sie Schwein!« schrie er und wollte sich auf Quidor stürzen. Da krachte dessen Waffe ein weiteres Mal. Wie vom Blitz getroffen stürzte Martin vor dem Schreibtisch

zu Boden und blieb dort in verrenkter Haltung liegen. Die rechte Seite seiner Stirn war eine blutige Wunde.

»Saubere Arbeit«, meinte Tom mit Kennerblick. »Jetzt

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müssen wir drei Leichen beiseite schaffen.« »Gut erkannt«, sagte sein Boß und blies den sich kräuselnden

Rauch von der Mündung seiner Waffe. »Hol Verstärkung, und fang gleich damit an. Am besten versenkt ihr sie heute nacht im East River. Aber sag vorher den Leuten unten, daß sie sich nicht aufregen sollen. Ich habe nur ein paar Schießübungen gemacht.«

*

An diesem Abend war der Boxsaal noch viel voller als vierundzwanzig Stunden zuvor beim Kampf zwischen German Jake und Black Griff. Die Besucher zahlten für einen Stehplatz dasselbe wie für einen Platz auf den Holzbänken. Aber die neue Sensation, German Jake, wollten sie sich nicht entgehen lassen. Alle waren neugierig darauf, ob er wirklich so ein guter Boxer war oder gestern einfach nur Glück gehabt hatte.

Freudestrahlend betrat Max Quidor den Raum, in dem Sam Rockwood seinem Schützling die letzten Anweisungen gab.

»Wir haben kein volles Haus, sondern ein übervolles«, jubelte er. »Trotz erhöhter Eintrittspreise. Und nachher werden sich alle über die Bar hermachen. Das gibt einen Bombenumsatz.«

»Freut mich«, sagte Jacob, aber er meinte es nicht so. Im Grunde war ihm Quidors Umsatz herzlich gleichgültig. Er

wollte nur noch diesen Kampf hinter sich bringen und dann möglichst schnell mit Martin und Irene aus New York verschwinden. Er fand keinen Gefallen an diesem Moloch von Stadt, der alle Menschen zu verschlingen schien. Zumindest ihre Seelen. An deren Stelle trat die Vergnügungssucht und die Gier nach Geld. Er wollte nicht so werden wie die Menschen hier. Aber er befürchtete, daß er es ein bißchen schon war, wenn er für Geld in den Boxring stieg. Nach dem Kampf mit Joe O'Malley würde Schluß damit sein, das hatte er sich

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geschworen. »Geben Sie eine so gute Vorstellung wie gestern abend,

Jacob«, sagte Quidor in einem Ton, als würde er einem Sänger oder Tänzer Glück für seinen Auftritt wünschen. »Halten Sie fünf bis zehn Runden durch, und dann gehen Sie möglichst dramatisch zu Boden.«

»Was?« fragte Jacob, der glaubte, sich verhört zu haben. »Sie sollen den schwer Getroffenen markieren und erst

wieder aufstehen, wenn der Ringrichter Sie ausgezählt hat.« »Ich soll absichtlich verlieren?« »So kann man es auch ausdrücken. Aber es muß echt

aussehen!« »Warum?« »Weil die Quoten für Sie noch gestiegen sind, auf sechzehn

zu eins. Es wäre verrückt, Geld auf Ihren Sieg zu setzen. Dabei läßt sich kaum etwas gewinnen. Deshalb habe ich einen Riesenbatzen auf O'Malley gewettet.«

»Nein«, sagte Jacob entschieden, als ihm das Ungeheuerliche dieses Vorgangs klar wurde. »Das kann ich nicht machen. Es wäre Betrug an den Menschen, die einen ehrlichen Kampf erwarten. Und Betrug an denen, die ihr Geld auf mich gesetzt haben.«

Ein böses Funkeln trat in Quidors Blick. »Sie tun, was ich Ihnen sage, Jacob. Sie boxen für mich. Nur wenn Sie verlieren, erhalten Sie Ihre Siegesprämie. Alles andere wäre Betrug an mir!«

Er verließ den Raum und schlug laut die Tür hinter sich zu. Jacob sah Rockwood an. »Was soll ich tun, Sam?« »Was Max gesagt hat. Er ist der Boß. Wer ihm nicht

gehorcht, gehorcht niemandem mehr.«

*

Erste Runde:

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Joe O'Malley, dem Publikum als Hammer-Joe vorgestellt, konnte es gar nicht erwarten, Jacob zu Mus zu verarbeiten. Jedenfalls hatte er diese Absicht dem begeisterten Publikum vorher lauthals kundgetan. Sobald der Gong ertönte, marschierte er zielstrebig auf den Deutschen los und ließ sich nur kurz von ihm umtänzeln. Dann drängte er Jacob in eine Ecke und versetzte ihm eine Reihe so fürchterlicher Schläge, daß der Getroffene glaubte, er müsse seine Niederlage gar nicht markieren.

Zweite Runde:

Jacob war noch vorsichtiger als in der ersten Runde und konnte fast allen Schlägen des irischen Titanen ausweichen. Aber der Deutsche machte keine gute Figur dabei und erntete die ersten Spottrufe. Besonders die zahlreich erschienenen Iren überschütteten ihn mit Beleidigungen.

Dritte Runde:

Wieder landete Hammer-Joe ein paar schwere Treffer, und Jacob ging zu Boden, allerdings nur auf die Knie. Der Ringrichter kam bis »fünf«, dann stand er wieder und wich allen weiteren Attacken des Iren aus.

Vierte Runde:

Max Quidor sah sehr zufrieden aus, als Jacob erneut zu Boden ging und dort bis »acht« liegenblieb.

Fünfte Runde:

»Bleib doch gleich liegen, du mußt ja sowieso verlieren, Dutch«, flüsterte ihm Joe zu, als er erneut auf ihn eindrang, und weckte damit Jacobs Wut.

Also wußte der Ire von dem abgekarteten Spiel und verdiente womöglich auch noch daran. Er rechnete damit, daß sich der Deutsche nicht ernstlich wehrte, und machte sich einen Spaß daraus, auf ihn einzudreschen.

Als er mit höhnischem Grinsen zum wiederholten Mal auf Jacob zumarschierte, lief er in eine Serie von Schlägen, die ihn in die Knie zwangen. Bevor der Ringrichter mit dem Zählen

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beginnen konnte, ertönte der Pausengong. Sechste Runde:

Als Hammer-Joe erneut zu Boden ging und erst bei »sieben« wieder aufstand, warf Quidor seinem Boxer böse Blicke zu. In der Pause kam Quidor in Jacobs Ecke und zischte: »Denken Sie daran, was ich Ihnen befohlen habe!«

»Ich werde tun, was ich tun muß«, sagte Jacob vieldeutig und ging in die Siebte Runde:

Diesmal ging niemand zu Boden, aber eine Schlagserie von Jacob ließ den Iren durch den ganzen Ring taumeln.

Jacob sah in der Pause, wie Quidor mit Tom und Henry sprach und die beiden daraufhin den Saal verließen.

Achte Runde:

Wieder ging Joe zu Boden, stürzte der Länge nach hin und kam nur wieder hoch, weil der Ringrichter beim Zählen fast einschlief und sich schon Buhrufe des Publikums einfing. Also steckte auch er mit Quidor unter einer Decke.

Neunte Runde:

Der angeschlagene und wie ein wütender Stier um sich schlagende Ire erwischte Jacob schwer am Kopf, als dieser durch eine merkwürdige Entwicklung der Dinge für ein paar Sekunden abgelenkt war. Tom und Henry kehrten in den Saal zurück und hatten einen Mann mit einem Kopfverband in ihrer Mitte: Martin!

Der Ringrichter, der jetzt viel schneller zählte als in der letzten Runde, war schon bei »neun«, als Jacob endlich wieder aufstand und Joes weiteren Angriffen auswich.

In der Pause stand Quidor wieder in seiner Ecke und sagte: »Wie Sie sehen, haben wir Ihren Freund, Jacob. In dem Moment, in dem der Ringrichter Ihren Sieg verkündet, ist er ein toter Mann. Tom und Henry haben Anweisung, ihm einfach die Kehle durchzuschneiden.«

Zehnte Runde:

O'Malley schien zu spüren, daß sich die Dinge für ihn gut

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entwickelten. Obwohl er am Rande der Erschöpfung stand, attackierte er seinen Gegner pausenlos, der verzweifelt darüber nachdachte, wie er seinem Freund helfen konnte. Martin schien sich wirklich in Quidors Gewalt zu befinden, denn er rührte sich kaum. Jacob war so abgelenkt, daß er sich ein paar schwere Treffer einfing.

»Gehen Sie in der nächsten Runde zu Boden!« zischte Quidor ihm in der Pause ins Ohr.

Jacob erwiderte nichts darauf. Seine Gedanken kreisten um Martin und um die Elfte Runde:

»Bleib stehen, damit ich dich auf die Hörner nehmen kann!« rief Hammer-Joe, als er aus seiner Ecke kam.

Damit brachte er Jacob auf eine Idee. Abschätzend betrachtete er die Entfernung zwischen dem Ring und Martin. Es mußte gehen.

Der Ire grinste über sein mit Blessuren übersätes Gesicht und freute sich, daß sein Gegner abwartend in seiner Ecke stand und keine Anstalten traf, dem Angriff auszuweichen.

Aber als er Jacob erreichte, ging dieser plötzlich in die Knie, schnappte sich den Koloß und richtete sich ächzend wieder auf. O'Malley wußte gar nicht, wie ihm geschah, und wehrte sich vor lauter Überraschung nicht. Die Last war erdrückend. Jacob dachte an die vielen schweren Balken, die er als Zimmermann schon hochgewuchtet hatte, und schaffte es, die Beine durchzudrücken. Dann drehte er sich im Kreis, immer schneller. Die Zuschauer hielten gebannt den Atem an.

Plötzlich ließ Jacob den Iren los, und dieser flog mitten in die staunende Menge. Der Deutsche atmete erleichtert auf, als er sah, wie gut er gezielt hatte. Das menschliche Geschoß traf Henry, Tom und Martin und riß alle drei mit zu Boden. Mochte Martin sich dabei auch ein paar Prellungen holen, jedenfalls waren Quidors Leibwächter daran gehindert, ihm den Garaus zu machen.

Jacob sprang über die Seile in den Zuschauerraum und

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kämpfte sich zu seinem Freund durch. Tom kam als erster wieder auf die Beine und zauberte ein

schmales Messer hervor. Bevor er dessen Klinge in die Nähe von Martins Hals

bringen konnte, hatte Jacob ihm die Waffe aus der Hand gerissen und den Mann mit der Stirnnarbe durch eine linke Gerade erneut zu Boden geschickt.

Jacob hatte gesehen, daß Martins Hände vor dem Bauch mit Stricken zusammengebunden waren. Er durchtrennte die Fesseln mit dem Messer.

»Danke«, sagte sein Freund erleichtert. »Ich dachte schon…« »Deine klugen Gedanken heb dir für später auf«, unterbrach

ihn Jacob. »Laß uns erst mal von hier verschwinden!« Der Tumult, der jetzt im Saal losbrach, half ihnen, sich

unbemerkt zu verdrücken. Deutsche und Iren gerieten handgreiflich aneinander, weil jede Partei die andere der Schiebung beschuldigte.

Die Freunde gelangten in den kleinen Raum, in dem Jacob sich vor und nach dem Boxen ausruhte. Er nahm den Stuhl, auf dem sonst Sam Rockwood saß, und schleuderte ihn durch das einzige Fenster, das klirrend zerbrach.

Sie stiegen durch die Öffnung nach draußen, nachdem Jacob Hemd und Jacke ergriffen hatte, und tauchten ein in das Gewirr düsterer Gassen.

*

Irene lag auf dem Bett in der Dunkelheit ihres Gefängnisses und fuhr ängstlich zusammen, als sie hörte, wie der Schlüssel im Schloß herumgedreht wurde. Sie hatte Angst, daß Max Quidor erneut kam, um sie zu mißhandeln.

So wie in der vergangenen Nacht, als der angetrunkene Mann ihr von einem tollen Boxkampf vorschwärmte, den angeblich Jacob ausgetragen hatte. Quidor hatte ihre Kleidung zerfetzt

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und zu ihr ins Bett kommen wollen. Als sich Irene mit Händen und Füßen dagegen wehrte, schlug er sie so lange, bis er erschöpft vor dem Bett in die Knie ging. Schließlich erhob er sich und sagte, ein weiterer Tag ohne Wasser und Nahrung werde sie schon gefügig machen. Und ließ sie allein.

Hunger spürte Irene nicht. Nicht mehr. Erst hatte er weh getan, aber dann war er verschwunden. Der Durst blieb. Ihr Körpers schmerzte an tausend Stellen, wo Quidors Fäuste sie getroffen hatten. Am schlimmsten aber war der Schmerz in ihrer Seele, wenn sie an ihren Sohn dachte. Und sie dachte immer an ihn.

Es war früher am Abend als gestern. Vielleicht war Quidor jetzt noch nicht angetrunken. Aber würde das besser für Irene sein?

Sie zog sich ängstlich in die hinterste Ecke auf dem alten Bett zurück, als ihr Besucher eintrat.

Aber das kleine Licht der Kerze fiel nicht auf das Gesicht von Max Quidor, sondern auf das der Französin.

Jeanette erschrak, als sie die Frau auf dem Bett sah. »Was hat er dir angetan, Kleines?«

»Er hat mich geschlagen.« »Das macht er gern, wenn er etwas getrunken hat. Und was

ist sonst passiert?« »Nichts. Deshalb hat er mich ja geschlagen.« »Tapferes Kind. Steh auf, nimm deine Sachen und folge

mir.« »Sie… Sie helfen mir?« stammelte Irene ungläubig. Jeanette nickte. »Ich wollte dich gestern schon rauslassen,

aber Otto hat zu gut aufgepaßt.« »Otto?« »Der Kahlkopf, unser Wachhund. Max hat ihm wohl

eingeschärft, auf dich achtzugeben wie auf seinen Augapfel. Max muß sehr viel an dir liegen.« In dem letzten Satz schwang unverhohlener Neid mit.

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»Wo ist Otto jetzt?« »Max hat einen Fehler gemacht, als er ihm seinen

Wochenlohn auszahlte. Otto wollte unbedingt eine Wette auf den heutigen Boxkampf abschließen. Wetten ist Ottos große Leidenschaft. Ich habe ihm gesagt, er könnte gehen. Ich würde schon auf dich aufpassen.«

»Aber wenn Max dahinterkommt, Jeanette, was ist dann mit Ihnen?«

»Ich bin an blaue Flecke gewöhnt.« »Warum helfen Sie mir?« »Weil ich auch mal ein Kind hatte. Ein Kind von Max.« »Was ist mit ihm geschehen?« »Max hat es verkauft. Die Eltern behandelten es schlecht,

und kurz darauf starb es. Vielleicht schaffst du es, dein Kind zu retten.«

»Aber ich weiß gar nicht, wo es ist.« »Max hat mir verraten, daß er es James Frederick Duncan

gegeben hat.« »Wer ist das?« »Einer der reichsten Männer von New York. Vielleicht der

reichste. Er bewohnt ein riesiges Anwesen am Hamilton Square.«

»Ich… ich weiß gar nicht, wie ich…« »Du brauchst mir nicht zu danken«, sagte Jeanette. »Ich tu' es

auch für mich. Weil ich Max für mich ganz allein haben will. Jedenfalls so lange, bis die nächste kommt. Und jetzt komm endlich mit, bevor Otto vom Buchmacher zurückkehrt!«

Die Französin ging voran, beleuchtete mit der schmalen Kerze den dunklen Kellergang. Irene nahm die beiden Taschen mit ihren Sachen auf und folgte ihr. Über die schmale Treppe, die Irene vor zwei Tagen mit Otto und den Wickerts herabgestiegen war, ging es hinauf.

An der Tür fragte Irene: »Was werden Sie Quidor erzählen?« »Daß ich von nichts weiß.«

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»Wird er Ihnen das glauben?« »Nein.« Irene lag die Frage auf der Zunge, warum Jeanette diesen

gewissenlosen, brutalen Mann liebte. Aber sie spürte, daß sie kein Recht hatte, diese Frage zu stellen.

»Geh schnell davon, und sei vorsichtig!« sagte die Französin und schloß dann die Tür.

Irene war ganz allein und sah zu, daß sie von dem Haus wegkam, das ihr Gefängnis gewesen war. Sie verkroch sich in eine nach Unrat stinkende Ecke, in die kein Lichtschimmer fiel, und überlegte, was nun zu tun war.

Sie brauchte Hilfe. Dieser James Frederick Duncan würde Jacob-Martin kaum freiwillig herausgeben.

Sie konnte sich an die Polizei wenden. Aber würde die ihr glauben, der abgerissenen, fast mittellosen Einwanderin? Doch wohl eher dem reichen Mr. Duncan.

Sie kam zu dem Schluß, daß es in ganz New York nur zwei Männer gab, die ihr helfen konnten: ihr Freunde Jacob und Martin.

Der Weg zu Jacob war näher. Und außerdem fühlte sie sich zu ihm hingezogen, auch wenn sie sich das nicht offen eingestand.

Deshalb schlich sie durch enge Gassen in die Richtung, in der sie das Golden Atlantic wußte. Sobald ihr jemand entgegenkam, verzog sie sich in einen finsteren Winkel.

So auch, als sie ganz in der Nähe von Quidors Vergnügungspalast die Umrisse zweier Männer vor sich sah, die es offenbar sehr eilig hatten. Irene lief zurück zu der großen Abfallkiste, an der sie eben vorbeigekommen war, und kauerte sich in ihren Schatten. Zwar stank es dort fürchterlich, aber das mußte sie um ihrer Sicherheit willen in Kauf nehmen.

Die beiden Männer waren fast heran, als Irene sie im schwachen Mondlicht erkannte. Sie sprang aus ihrem Versteck hervor und rief die Namen der beiden. »Jacob! Martin!«

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*

Das Wiedersehen war für alle drei ebenso unerwartet wie freudig. Schnell erzählten sie sich das Wichtigste.

Irene erfuhr von dem Boxkampf und von dem Tod der Wickerts. Als Max Quidor zu seiner Überraschung feststellte, daß seine Kugel Martin nur am Kopf gestreift und ihm für einige Zeit das Bewußtsein geraubt hatte, überlegte er es sich anders. Er ließ den jungen Deutschen fesseln und knebeln und in einen dunklen Verschlag bringen, weil er glaubte, ihn noch brauchen zu können. Wohl als Druckmittel gegen Jacob, dessen Loyalität er sich – zu Recht, wie sich herausgestellt hatte – nicht sicher war.

Als Irene von ihrer Gefangenschaft und Quidors nächtlichem Besuch berichtete, wären ihre Freunde am liebsten sofort umgekehrt, um den Mann handfest zur Rechenschaft zu ziehen.

»Nein«, sagte Irene. »Jacob-Martin ist jetzt wichtiger. Wir müssen ihn von diesem Duncan wegholen.«

»Du hast recht«, gab Jacob zu, den der Gedanke, was Quidor mit Irene angestellt hatte und noch hatte anstellen wollen, fast zur Raserei trieb. Aber er zwang sich zur Ruhe und zum klaren Denken. Das mußte er schon in Jacob-Martins Interesse.

»Hast du einen Plan, Jacob?« fragte Martin hoffnungsvoll, als er sah, wie sein Freund nachdachte.

»Ja.« »Welchen?« »Wir fahren zu Duncans Haus und holen den Kleinen

heraus.« Martin sah ihn verblüfft an und meinte dann: »Das ist ein

guter Plan. Nehmen wir uns eine Droschke?« Jacob schüttelte den Kopf. »Am besten gehen wir zu einem

Mietstall und mieten uns dort einen eigenen Wagen. Der kann uns nützlich sein, falls wir schnell von Duncans Anwesen verschwinden müssen.«

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»Haben wir denn noch so viel Geld?« fragte Irene. »Du vergißt, daß ich gestern beim Boxen einhundert Dollar

gewonnen habe.« Er klopfte auf eine Tasche seiner Jacke. »Und die habe ich diesem Quidor bestimmt nicht zurückgelassen.«

Sie fanden einen Mietstall an der Bowery und nahmen dort einen geschlossenen Zweispänner, der von zwei kräftigen Braunen gezogen wurde.

Um keine Zeit zu verlieren, erkundigten sie sich gleich hier nach dem Weg zum Hamilton Square und erfuhren, daß sie eigentlich immer nur uptown, nach Norden, fahren mußten.

Irene nahm im Innern des Wagens Platz, und ihre beiden Freunde kletterten auf den Bock. Martin, der auf dem heimatlichen Hof oft ein Pferdefuhrwerk gelenkt hatte, nahm die Zügel auf, löste die Bremse und trieb die Tiere an, mitten hinein in den nächtlichen Verkehr New Yorks, der kaum weniger lebhaft war als der Straßenverkehr am hellichten Tag. Anstelle von Arbeitsfuhrwerken waren jetzt mehr Mietdroschken sowie kleine Zwei- und Einspänner mit Vergnügungssüchtigen unterwegs.

Aber auch die Kutsche mit den drei Deutschen, die fest entschlossen waren, den kleinen Jacob-Martin aus den Händen des mächtigen James Frederick Duncan zu befreien.

*

Als sie das Anwesen nach mehrmaligem Fragen gefunden hatten, lenkte Martin das Gefährt durch das offene Tor und über den gepflasterten Weg bis zu der breiten Eingangstreppe. Irene blieb beim Wagen, während ihre Freunde zur Tür gingen und läuteten.

Der schwarze Diener mit dem weißen Haar und den weißen Koteletten weigerte sich anfangs, die beiden abgerissenen und angeschlagenen Männer zu seinem Herrn zu führen. Als Jacob

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ihm das von Tom erbeutete Messer unter die Nase hielt, weigerte er sich nicht mehr.

Staunend durchschritten sie das Haus, das auch von innen einem Palast glich. Anders als im Golden Atlantic wirkte der Prunk hier nicht aufgesetzt und billig. In diesem Haus war alles echt. Sie gingen über eine breite Treppe in den ersten Stock und dort in ein Zimmer, in dem der Hausherr an einem Sekretär saß und einen Brief schrieb. Überrascht blickte er auf, als die beiden unerwarteten Besucher eintraten.

»Was soll das bedeuten, Alfred?« fragte er im mißbilligenden Tonfall den schwarzen Diener.

»Die, äh, Gentlemen wollten Sie dringend sprechen, Mr. Duncan, Sir.« Der Blick aus Alfreds geweiteten Augen fiel auf das Messer in Jacobs Hand. »Sehr dringend.«

Duncan sah die beiden Deutschen an. »Was wollen Sie von mir?«

»Das Kind zurückholen«, antwortete Jacob. Der Großindustrielle wollte Haltung bewahren, aber er

konnte nicht verhindern, daß er aschfahl wurde. Er hätte Quidors Rat befolgen und mit seiner Frau und dem

kleinen Jungen für ein paar Wochen wegfahren sollen, schoß es ihm durch den Kopf. Aber wichtige Geschäfte hatten ihn zurückgehalten. Allein wollte er seine Frau nicht weglassen, weil sie ihm zu labil erschien. Deshalb waren sie mit dem Kind hiergeblieben und hatten die Dienerschaft zum Stillschweigen verdonnert. Auf der nächsten Abendgesellschaft wollte Duncan die Geburt seines Sohnes bekanntgeben. Dazu schien es jetzt zu spät zu sein.

»Welches Kind?« fragte Duncan in der schwachen Hoffnung, das Unheil abwenden zu können.

»Ein kleiner Junge«, sagte Jacob. »Er ist erst einen Monat alt und heißt Jacob-Martin.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Mann«, polterte Duncan los. »Wer sind Sie überhaupt?«

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»Ich heiße Jacob und bin der Pate des Kleinen.« »Und ich heiße Martin und bin ebenfalls sein Pate.« Unbemerkt, wie Duncan hoffte, hatte er langsam die unterste

Schublade seines Sekretärs aufgezogen, in der sein Rider-Taschenrevolver lag. Jetzt streckte er langsam die rechte Hand in die Lade und ertastete bereits den kalten Stahl des Fünfschüssers, als Martin um den Sekretär sprang und die Lade zustieß. Duncan ließ einen Schmerzensschrei hören, als seine Hand eingequetscht wurde.

Martin zog die Lade auf, nahm die Schußwaffe heraus und richtete sie auf den Schwarzen, der sich still und heimlich verdrücken wollte.

»Bleib lieber hier, Freund. Ich bin heute aus so einem ähnlichen Ding beschossen worden und hätte Lust, es selbst mal zu probieren!«

Das überzeugte Alfred, seinem Herrn, der jetzt mit der linken Hand die schmerzende Rechte hielt, weiterhin beizustehen.

»Mein Freund hat recht«, sagte Jacob. »Wir haben heute wirklich schon viel hinter uns. Ehe wir die Geduld verlieren, sollten Sie uns lieber sagen, wo das Kind ist!«

Duncans Blick fiel auf das Messer in Jacobs Hand und auf seinen Rider Mushroom Cylinder in Martins Hand. Die Fremden besaßen die besseren Karten, jedenfalls im Moment.

»Das Kind ist bei meiner Frau.« »Führen Sie uns hin«, verlangte Jacob und sah dann den

Diener an. »Sie kommen mit!« Mrs. Duncans Zimmer lag am Ende des Ganges. Die junge

blonde Frau saß an einem Kinderbett und betrachtete den schlafenden Jacob-Martin. Als sie die bewaffneten Fremden erblickte, wurde die schon vorher blasse Frau noch blasser und fiel in Ohnmacht.

»Sie können sich um Ihre Herrin kümmern«, sagte Jacob zu dem Schwarzen. »Aber nur, wenn Sie versprechen, keinen Alarm zu schlagen.«

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»Das verspreche ich.« Jacob steckte das Messer ein und hob vorsichtig das

schlafende Kind aus dem Bettchen. Kurz dachte er daran, daß sie ihm nicht so ein feudales, bequemes und sicheres Heim bieten konnten. Aber dafür konnten sie den Kleinen zu seiner richtigen Mutter bringen.

»Sie begleiten uns zur Haustür, Mr. Duncan!« ordnete Jacob an.

Vor der Tür nahm eine überglückliche Irene ihr Kind in Empfang und setzte sich mit ihm in die Kutsche. Martin gab den Revolver an seinen Freund ab und kletterte auf den Bock, gefolgt von Jacob.

Als Martin die Tiere antrieb, fiel die Lähmung, die James Duncan ergriffen hatte, von ihm ab. Er lief dem Gefährt nach und rief lauthals nach der Polizei. Aber dann besann er sich, als er an die Konsequenzen einer behördlichen Untersuchung dachte. Er blieb stehen, ein einsamer Mann in einem großen Park, und sah der kleiner werdenden Kutsche nach.

»Wohin wollen wir?« fragte Martin, als sie die Ausfahrt des Anwesens erreichten.

»So schnell wie möglich weg aus New York!« antwortete Jacob. »Ich habe für mein Lebtag genug von dieser Stadt.«

Martin nickte und lenkte die Pferde nach Norden, als sie auf die Fifth Avenue kamen. Auch er war froh, wenn sie aus diesem Rattennest endlich heraus waren. Wenn diesseits des Atlantiks wirklich das gelobte Land lag, dann nicht an diesem Ort.

ENDE

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Und so geht das Abenteuer weiter…

Nach ihrer Flucht aus New York machen sich die drei Freunde endgültig auf den Weg nach Oregon. Die beste Route scheint die über den Ohio River zu sein. Jacob und Martin haben sogar Glück, daß sie als Frachtbegleiter auf einem Schaufelraddampfer angeheuert werden.

Das Glück ist von kurzer Dauer. Denn die Fracht besteht nicht, wie angegeben, aus Konserven. Die beiden begleiten unwissentlich einen wichtigen Waffentransport: Revolverkanonen, die zur Südstaatenarmee geschmuggelt werden sollen. Und zu allem Überfluß ist es das Schmuggelgut von Max Quidor – von jenem Mann also, dem sie gerade aus New York entkommen sind…

FLUSSPIRATEN

Ein Roman von J. G. Kastner