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Die Rebellen von Ordardor

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AtlanIm Auftrag der Kosmokraten

Nr. 686

Die Rebellen von OrdardorSie kämpfen gegen den Leuchtenden

von Hubert Haensel

Im Jahr 3818 wird Atlan aus seinem Dasein als Orakel von Krandhor herausgerissen. Der Grund für diese Maßnahme der Kosmokraten ist, daß Atlans Dienste an einem anderen Platz des Universums

viel dringender benötigt werden als im Reich der Kranen.

Neuer Einsatzort des Arkoniden ist die Galaxis Alkordoom, wo eine Entwicklung im Gang ist, die das weitere Bestehen der Mächte der Ordnung in Frage stellt.

Bereits die ersten Stunden von Atlans Aufenthalt in Alkordoom zeigen auf, wie gefährlich die Situation ist. Der bestandene Todestest und der Einsatz im Kristallkommando beweisen jedoch Atlans hohes Überlebenspotential. Dennoch gerät der Arkonide in die Gewalt der Crynn-Brigadisten – und ihm droht die Auslöschung seiner Persönlichkeit.

Aber Atlan wird rechtzeitig genug von Celestern gerettet, Nachkommen entführter Terraner, die den Arkoniden in ihre Heimat New Marion bringen. Und als Atlan von einer Gefahr erfährt, die den Celestern droht, ist es an ihm, den Terraabkömmlingen zu helfen.

Anschließend scheint mit Atlan selbst eine ungute Veränderung vorzugehen. Die einzigen, die es nicht bemerken, das sind DIE REBELLEN VON ORDARDOR…

Die Hauptpersonen des Romans:Atlan – Der Arkonide verändert sich.

Parillyon – Atlans Begleiter.

Crell und Serk Porrjan – Rebellen gegen Gentile Kaz.

Jirriigs – Kommandantin der KARDOLLS ENDE.

Tess – Anführer der Rebellen von Ordardor.

Colemayn – Der Sternentramp taucht wieder auf.

1.Es war als hätte der Himmel sämtliche Schleusen geöffnet, als wolle die gequälte Natur sich endlich gegen ihre Peiniger erheben. In einem düsteren, unwirklichen Rot schimmerte der nahe Planet zwischen den rasch dahin treibenden Wolkenfetzen – eine öde, kahle Welt, deren Existenz wohl in keiner Sternenkarte verzeichnet wäre, hätte es ihren Mond mit seinen Kristallvorkommen nicht gegeben.

Seit Tagen schon versagte die Wetterkontrolle. Die gigantischen Abraumhalden wurden allmählich zu tückischen Schlammwüsten, die Fahrzeuge und Maschinen unter sich begruben. Aber kaum jemand kümmerte sich darum, obwohl in den Abbaugebieten das Wasser inzwischen meterhoch stand und Bohrlöcher überflutet und unbrauchbar geworden waren. Solange die Crynn-Brigade der Facette Zulgea von Mesanthor nicht über Moroa erschien, würde keiner der zweitausend Techniker und Ingenieure auch nur einen Finger rühren; zumindest nicht, um gewohnte Verhältnisse wiederherzustellen.

Schrille Klänge vermischten sich mit dem dumpfen Brausen des Sturms, als neue Gäste eine der in den letzten Wochen wie Pilze aus dem Boden geschossenen Kneipen betraten. Die meisten steuerten schnurgerade auf die Spieltische zu – nur einer blieb unter der Tür stehen und sah sich aufmerksam um, ehe er die sternförmig in den Raum hineinragende Bartheke ansteuerte.

Dem Blick der weit auseinanderstehenden, stechenden Augen schien niemand entgehen zu können. Ausgiebig seinen dicht behaarten Oberkörper kratzend, verzog er die wulstigen Lippen zu einem verächtlichen Grinsen. Mit seinen zwei Meter vierzig Körpergröße überragte er die meisten der Anwesenden, und sein affenartiges Äußeres verriet ungestüme Kraft.

»Verschwinde!« fauchte er ein Amphibienwesen an, das lustlos in einer zähen, blasenwerfenden Masse herumstocherte. »Das ist mein Platz.« Noch ehe der Angesprochene reagieren konnte, versetzte er diesem einen Stoß gegen die Brust, daß er haltlos hinüberkippte.

»Was soll ich mit dem Fraß?« Der Affenartige wischte die Schüssel mit dem breiigen Inhalt kurzerhand von der Theke. Hörbar sog er die Luft ein, die erfüllt war vom süßen Aroma verschiedener Rauschmittel. Schwerer Qualm hing unter der Decke und widerstand hartnäckig selbst der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage. Es war stickig und schwül.

»Ich habe noch zwei Gramm für dich – genug für einen phantastischen Trip in die blauen Galaxien…«

Der Affenartige musterte das hochbeinige Vogelwesen, das kröpfend vor ihm stand. Als es den Schnabel öffnete, konnte er ein blau schillerndes Päckchen erkennen.

»Wieviel?« wollte er wissen.

»Zweihundert, weil du es bist.«

»Du mußt verrückt sein.« Unwillig wandte er sich wieder um und winkte der Barraupe, die trotz ihrer zwanzig Armpaare Mühe hatte, alle Bestellungen zu erfüllen. Den Stielaugen, die zwischen jeweils zwei Armen wie Stacheln aufragten, entging so gut wie nichts.

»Hundertfünfzig«, trällerte das Vogelwesen hartnäckig. »Aber nur weil mir einer aus dem Volk der Chewkas unlängst das Leben gerettet hat.«

»Das willst du an mir wiedergutmachen?« fragte der Affenartige lauernd. Heftig mit den kurzen Flügelstummeln schlagend, bestätigte sein Gegenüber.

»Cartt hieß jener Chewka; sein Name wird mir immer in Erinnerung bleiben.«

»Ich bin Crell. Du solltest dir den Namen auch merken, solange du es noch kannst.«

»Wieso?« machte das Vogelwesen überrascht.

Crells Rechte zuckte blitzschnell vor und umklammerte den kantigen Schnabel. »Weil ich Cartts

Fehler ausbügeln werde«, sagte er gefährlich leise. »Typen wie du widern mich an…«

Er schrie wütend auf, als das Vogelwesen unvermittelt zutrat und er die scharfen Krallen zu spüren bekam. Der Dealer riß sich los, taumelte rückwärts, wobei er zwei Tische umstieß und hastete mit weiten, federnden Sätzen zum Ausgang. Sekundenlang war das ungedämpfte Heulen des Sturmes zu vernehmen. Die hereinwehenden Wasserschleier verflüchtigten sich auf den mit einer Speziallegierung versehenen Bodenplatten. Nur wo der Belag schon stumpf und fleckig war, hielten sich kleine Lachen, die zum Streitobjekt zweier Igither wurden. Die an knapp achtzig Zentimeter lange Igel erinnernden Geschöpfe leckten das schwefelsaure Naß gierig auf.

Crell verzog den breiten Mund zu einem Ausdruck der Belustigung; eine andere Regung war auf seinem behaarten Gesicht nicht zu erkennen. Er ahnte, was kommen würde.

Tatsächlich schwebten zwei tellergroße Ordnungsroboter auf die Igither zu und forderten sie auf, den Umsatzverlust auszugleichen. Immerhin war das auf der Getränkekarte verzeichnete Schwefelwasser zwar enthärtet und mit Aromastoffen angereichert, dafür aber sündhaft teuer.

Indem sie sich einrollten, vermieden die Stachelhäuter jegliche Diskussion. Die Roboter, die wußten, daß ihre Stacheln sogar zentimeterdicken Stahl durchdringen konnten, umgaben beide mit einem flimmernden Energiefeld.

»Abwarten, wer länger durchhält. Igither sind unglaublich zäh.« Der Thorrater, der fast auf Tuchfühlung neben Crell saß, hatte seine Worte auffordernd in die Runde gerichtet. Erwartungsvoll blickte er um sich, während er zugleich mit einer fahrigen Bewegung dicke Schweißperlen von seiner Glatze wischte.

»Willst du wetten, Serk Porrjan?« knurrte Crell.

Der Thorrater nickte eifrig.

»Einen Fünfziger, daß die Igither in zwei Stunden noch immer am Leben sind.«

Er war höchstens halb so groß wie der Chewka, wirkte dafür aber unglaublich dick. In seinem aufgeschwemmten Gesicht waren die Augen kaum auszumachen.

»Drei Stunden«, erwiderte Crell kurz. »Wenn nicht, such’ dir einen anderen.«

»Von denen?« Wie beiläufig deutete Porrjan auf einen Spieltisch, an dem sechs Arbeiter krampfhaft bemüht waren, den computergesteuerten Lichtpunkt zu deaktivieren. Eine fast unlösbare Aufgabe, da sie gegeneinander kämpften und jede Fehlschaltung eine partielle Lähmung der Gliedmaßen hervorrief. Um hohe Einsätze gespielt, konnte diese Art des Vergnügens schwere körperliche Schäden verursachen. Niemand wußte das besser als Porrjan, der vor nicht allzu langer Zeit hatte mitansehen müssen, wie seine Brüder starben.

»Also gut«, stieß er wie einen Fluch hervor. »Drei Stunden.«

»Dann ist alles vorbei«, nickte Crell doppeldeutig. Niemand bemerkte das vertrauliche Blinzeln.

Einer der Igither streckte seine Schnauze witternd aus dem Stachelkleid, rollte sich aber sofort wieder zusammen. Das Energiefeld hatte sich mittlerweile um mehrere Zentimeter verengt.

Die Barraupe stellte ein neues Glas mit blutroter Flüssigkeit vor Crell ab und streifte die hingeworfenen Münzen ein.

»Es wird Zeit, daß wir erfahren, welcher unser Mann ist«, flüsterte Porrjan. »Ich fürchte, daß Bog es nicht rechtzeitig herausfindet.«

Crell, der sich plötzlich beobachtet fühlte, fuhr herum. Er blickte in ein grinsendes, bartloses Gesicht. Die dunkelrote Hautfarbe verriet ihm, daß er keinen der Kristallarbeiter vor sich hatte. Der Mann trug eine gelbe Pudelmütze mit roter Quaste auf dem Kopf, die er sich jetzt tiefer in die Stirn zog. Dann lehnte er sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und schloß die Augen.

Unwillig grunzend stellte Crell fest, daß der Kerl offensichtlich ungefährlich war.

Schrille Musikklänge erzeugten auf einer halbtransparenten Wand im Hintergrund psychedelische Farbenspiele. Lange konnte man nicht hinsehen, ohne das Gefühl zu haben, von einem rasenden Sog durch Raum und Zeit gewirbelt zu werden.

Unwillkürlich ballte Crell die Fäuste, bis seine Nägel blutige Male in den Handballen hinterließen. Der Schmerz erinnerte ihn daran, daß er eine Aufgabe hatte und sich keineswegs ablenken lassen durfte.

Sein Blick traf sich mit dem von Big, dem Waler-Männchen. Der 1,50 Meter große Albino vom Aussehen eines aufrecht gehenden Fisches, glotzäugig, ohne erkennbare Ohren, dafür aber mit ständig pulsierenden Kiemen an beiden Halsseiten, wedelte unschlüssig mit seinem Flossenkamm. Als er die dicke, ohnehin vorstehende Unterlippe noch weiter nach vorne schob, entblößte er zwei Reihen dichter Barten.

Big und seine ständige Begleiterin Bog waren Seher und bis zu einer Entfernung von 50 Kilometern in der Lage, festzustellen, in welcher Umgebung der andere sich gerade befand. Mit einiger Konzentration wurde es ihnen sogar möglich, geschriebene Nachrichten auszutauschen. Besonders in Situationen, in denen Funksprüche eine Ortungsgefahr heraufbeschworen hätten, erwies sich diese Psi-Gabe als überaus wertvoll.

Crell erhob sich umständlich. An seiner Hüfte baumelte eine kurzläufige Projektilwaffe – ebenso wie der Schultergurt mit den Patronen vom zottigen Fell nahezu gänzlich verdeckt. Er mußte seine Fäuste zu Hilfe nehmen, um sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, die die Spieltische umstand.

Einer der sechs Kämpfer war inzwischen ausgeschieden, die anderen wirkten verbissener als zuvor. Crell musterte sie der Reihe nach.

Da war ein stämmiger, verschlagener Thater. Sein vernarbtes Gesicht wirkte abstoßend. Offenbar durch einen Strahlenunfall bedingt, löste die Haut sich großflächig ab.

Während der Thater mit eiskalter Ruhe dem Spiel nachging, wirkte der Voorndaner neben ihm überaus verstört. Die Nachricht vom Untergang seiner Heimatwelt im Atombrand hatte sich rasch in den Sektoren Ordardor und Kontagnat verbreitet. Er war auch der nächste, der ausschied und mit schmerzerfülltem Gesicht fluchtartig die Kneipe verließ. Crell gewann den Eindruck eines an sich und seiner Umwelt zerbrochenen Wesens. In einigen Tagen würde der Voorndaner an Gentile Kaz’ Machtpolitik endgültig zugrunde gehen.

Crell mußte an sich halten, um seinen Haß nicht hinauszuschreien. Er zuckte zusammen, als die kalten, glitschigen Hautlappen am Ende eines biegsamen Tentakels ihn berührten. Big stand hinter ihm und deutete mit seinem zweiten, aus dem Halsansatz hervorwachsenden Tentakel auf den Thater.

Das hieß, daß Bog und die anderen endlich erfahren hatten, wer der Agent von Gentile Kaz war, dessen Spur sie seit Wochen folgten.

Crell lächelte bitter, als er sich auf den Tisch zuschob.

»Du spielst falsch, mein Freund. Ich habe dich lange genug beobachtet.«

Der Thater reagierte wie erwartet. Nicht eine Sekunde lang ließ er die Impulsgeber aus.

»Du bist ein Betrüger!« rief Crell so laut, daß jeder es hören mußte. Schlagartig verstummten alle Gespräche ringsum. Nur die Musik dröhnte weiter in unverminderter Lautstärke.

Die drei verbliebenen Mitspieler hielten ihre Blicke gesenkt. Es war offensichtlich, daß sie Angst hatten.

Crell starrte plötzlich in die flimmernde Abstrahlmündung eines Strahlers. Er hatte kaum

wahrgenommen, wie sein Gegenüber die Waffe gezogen hatte.

»Raus!« zischte der Thater. »Ehe ich es mir anders überlege.«

Crell hatte gehofft, daß es zum Zweikampf kommen würde; er war durchaus in der Lage, es mit dem Thater aufzunehmen. Daß die Dinge sich anders entwickelten, verwirrte ihn. Wenn er versuchte, die Waffe zu ziehen, war er ein toter Chewka, bevor er zum Schuß kam. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, den Agenten nach draußen zu locken.

»Du solltest Gentile Kaz von mir berichten.« Etwas anderes kam ihm nicht in den Sinn. Als er auf dem Absatz herumfuhr, war jeder Muskel seines Körpers aufs Äußerste angespannt, erwartete er, die tödliche Hitze eines Strahlschusses zu spüren. Aber nichts geschah.

Die beiden Igither lagen weiterhin zusammengerollt neben dem Eingang. Die Energiefelder waren schneller als erwartet geschrumpft und tobten sich mit, grellen Entladungen zwischen den Stacheln aus. Kein Lebewesen konnte dies lange aushalten – den Igithern schien es nichts auszumachen.

Der Regen peitschte Crell mit unverminderter Heftigkeit entgegen. Der weite Platz vor der Kneipe war leer. Zweihundert Meter zur Rechten erhoben sich die grell gelben Kunststoffbaracken der Arbeiter vor der Kulisse wild zerklüfteter Berge.

Crell verfiel in einen schnellen Laufschritt. Der aufgeweichte Boden erschwerte sein Vorwärtskommen mehr als befürchtet. Er hatte die sich über mehrere Kilometer hinziehende Kristallgrube noch nicht erreicht, als ein scharf gebündelter Thermostrahl unmittelbar neben ihm den Schlamm verdampfen ließ. Dem Chewka war klar, daß der Schütze absichtlich danebengezielt hatte; er lief noch einige Meter weit und blieb dann stehen. Von hier aus konnte er über die steile Abbruchkante in die Grube hinabsehen. Zwischen den beiden Felsblöcken, die den schmalen Fahrweg säumten, gewahrte er ein metallisches Glitzern. Das mußte Klapper sein.

Auf einmal erschien es ihm viel zu leicht, den Agenten von Gentile Kaz zu entführen.

Der Thater kam heran, hielt seinen Strahler aber nach wie vor auf ihn gerichtet.

»Nun?« funkelte er Crell an. »Was hast du mir zu sagen?«

»Ich muß sicher sein, daß man uns nicht belauscht.«

»Wer auf Moroa ist noch Herr seiner Sinne?« lachte der Thater. »Die Hexe hat diesen Mond verloren, sie weiß es nur noch nicht. Also…« Das klang drohend.

»Es geht um die Facette…« Worauf, um alles in der Welt, wartete Klapper noch? Wenn er jetzt mit dem Lähmstrahler schoß, bot der Thater ein ausgezeichnetes Ziel.

»Du wirkst unruhig, Chewka.« Gentile Kaz’ Agent registrierte jede Veränderung haargenau. Seine Augen richteten sich auf die beiden Felsen, die Waffe ruckte hoch.

Im selben Sekundenbruchteil ertönte das typische Fauchen eines Lähmschusses. Der Thater wurde voll getroffen, zeigte aber keinerlei Wirkung. Dann peitschten Thermostrahlen in rascher Folge zu den Felsen hinüber und erzeugten einen glühenden Lavasee. Allein die davon ausstrahlende Hitze mußte Klapper bereits gefährlich werden.

Instinktiv schnellte Crell sich nach vorne. Mit beiden Händen umklammerte er den Strahler. Ein Fußtritt fällte ihn vollends, im Sturz riß er jedoch den Gegner mit sich.

Eine weitere Thermosalve entlud sich ungezielt in Richtung der Unterkünfte. Mit ohrenbetäubendem Getöse flogen Treibstoffbehälter in die Luft. Die hoch auflodernden Stichflammen griffen rasend schnell um sich.

Crell und der Thater lieferten sich einen verbissenen Kampf. Mehrmals konnte der Chewka Griffe anbringen, die jeden anderen Gegner gefällt hätten, weshalb sie den Agenten nicht einmal innehalten ließen, vermochte er sich nicht zu erklären.

Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte er die plumpe Gestalt Klappers näherkommen.

»Schieß endlich!« schrie Crell.

Fürchtete Klapper, ihn ebenfalls zu lähmen? Zögerte er deshalb noch?

Der Thater entwickelte ungeahnte Kräfte. Rücklings auf den Boden gepreßt und verbissen um die Waffe ringend, deren Mündung fast schon auf ihn zielte, spürte Crell einen Stein neben sich. Irgendwie gelang es ihm sogar, den schweren Brocken zu umklammern, ohne gleichzeitig in seiner Abwehr nachzulassen. Aber bevor er zuschlagen konnte, stieß der Thater seinen Arm zur Seite. Enttäuscht und wütend zugleich schrie Crell auf.

Er verspürte einen schmerzhaften Schlag gegen die linke Schulter, die sofort taub wurde. Klapper hatte einen Sekundenbruchteil zu lange gezögert, ehe er zum zweitenmal schoß. Obwohl der Thater ebenfalls getroffen worden war, zeigte er erneut keinerlei erkennbare Reaktion.

Ein Fausthieb trieb Crell die Luft aus den Lungen und ließ bunte Farbschleier vor seinen Augen auftauchen. Er hatte Mühe, mehr als nur verschwommene Umrisse zu erkennen, als unvermittelt eine kleine, füllige Gestalt neben ihm auftauchte und den Thater angriff. Das konnte nur Serk Porrjan sein, der allerdings so gut wie keine Chance hatte.

»Paß auf!« brüllte Porrjan.

Crell wälzte sich herum. Unmittelbar neben ihm glühte der Boden blasenwerfend auf, Glutspritzer überschütteten ihn und brannten Löcher, in sein Fell.

Sich vor Schmerzen krümmend, entging er erneut nur um Haaresbreite den tödlichen Glutstrahlen.

Dann schwieg die Waffe. Der Thater versteifte sich regelrecht und schlug der Länge nach hin. Die völlige Lautlosigkeit, mit der dies geschah, entlockte Serk Porrjan eine Reihe überraschter Ausrufe.

»Ihr mit eurer vielgepriesenen Technik«, stieß er abgehackt hervor. »Ein einfaches Messer genügt, um ihn außer Gefecht zu setzen.«

»Hoffentlich hast du ihn nicht getötet«, gab Klapper zu bedenken, der seinen Lähmstrahler unschlüssig zwischen den Greifklauen drehte. »Ich werde das Ding zerlegen müssen, um herauszufinden, welches Teil defekt ist.«

»Wenn du mich fragst, der Paralysator ist in Ordnung«, ächzte Crell und versuchte vergeblich, seinen gelähmten Arm zu bewegen. »Wo steht unser Gleiter? Wir müssen verschwinden, ehe die ersten Wachroboter kommen. Immerhin haben wir ein schönes Feuerwerk inszeniert.« Er deutete auf die brennenden Treibstofftanks. Die Silhouetten ungezählter Schaulustiger zeichneten sich vor dem lodernden Hintergrund ab, doch niemand traf Anstalten, den Brand zu bekämpfen.

»Keine zehn Meter unterhalb der Abbruchkante ragt eine Plattform vor«, schnarrte Klapper. Seine Stimme klang heiserer als sonst. »Ich habe den Gleiter dort abgestellt.«

»He«, rief Porrjan aus. »Seht euch das an!«

Er hatte das Messer aus der Wunde gezogen und blickte die Klinge an, als könne er nicht glauben, was er sah. Denn es war eine milchige, zähflüssige Masse, die aus der Wunde hervorquoll:

»Offenbar haben wir einen Fang gemacht, den wir uns nicht hätten träumen lassen. Das ist kein Thater.«

»Er atmet nicht mehr«, stellte Klapper ungerührt fest. »Wenn er stirbt, waren die letzten Wochen umsonst.«

Einer plötzlichen Eingebung folgend, sondierte Crell die Wunde. Es roch nach verschmorten Isolationen, und ihm quoll ein Gewirr von Muskeldrähten und semiorganischen Schaltelementen entgegen.

»Ein Biorobot«, machte Porrjan erstaunt. »Ich habe gehört, daß solche Schöpfungen existieren

sollen. Aber daß ausgerechnet wir…« Er hatte den Schwarm Wachroboter entdeckt, die sich von den Bergen her näherten. Im selben Moment erfolgten drüben bei den Unterkünften und vor der Kneipe mehrere heftige Detonationen, die wahre Fontänen von Sand und Geröll in die Luft wirbelten. Von Panik erfaßt, rannte alles durcheinander.

Crell griff nach dem Strahler des Thaters und fixierte die sich nur langsam auflösenden Sandwolken. Die beiden Roboter, die dicht hintereinander daraus hervorbrachen, brachte er mit gezielten Schüssen zum Absturz.

»Big hat gute Arbeit geleistet«, stellte er anerkennend fest. »Uns bleiben trotzdem nur noch wenige Minuten.«

»Wie sollen wir ihn zum Gleiter schaffen?« Porrjan zeigte auf den reglosen Biorobot. Sie hatten geglaubt, es mit einem lebenden Wesen zu tun zu haben, nicht jedoch mit einem wesentlich schwereren künstlichen Geschöpf.

»Wo ist der Datenspeicher untergebracht?« fragte Crell.

»Im Kopf«, vermutete Porrjan.

»Natürlich im Kopf«, bestätigte Klapper. »Alles andere wäre unlogisch.«

Obwohl der Chewka wußte, daß er eine mit Bioplasma umhüllte Maschine zerlegte, zitterte seine Hand, die das Messer führte.

»Helft mir endlich, verdammt!« fuhr Crell auf. Mit aller Kraft zerrte er an dem künstlichen Schädel, der zwar um einige Zentimeter nachgab, dann aber wie angewachsen festsaß. »Starr mich nicht so an, du Monstrum!« fauchte er. »Wir wollen nur deinen Gedächtnisspeicher, dann wirst du ohnehin verschrottet.«

Erst als auch Klapper mit zupackte, ging ein Ruck durch den Körper des Roboters. Verbindungsstränge zerrissen mit metallischem Singen, dann hielt der Chewka unvermittelt den Schädel in Händen, von dem alle möglichen Leitungen wie die Wurzel einer Pflanze herabhingen.

»Beeilt euch!« rief Crell. »Womöglich hat die Zerstörung dieses… Dinges auf irgendeinem der nächstgelegenen Stützpunkte in Ordardor ein entsprechendes Signal ausgelöst.«

Drüben bei den Gebäuden, herrschte inzwischen völlige Verwirrung, die Big, das Waler-Männchen, mit weiteren Sprengsätzen schürte. Vermutlich bereitete es ihm größtes Vergnügen, die Kuppel des neu erbauten Kneipentrakts in Trümmer zu legen, um die Spielleidenschaft und Rauschgiftsucht der Bergwerksarbeiter auf Moroa wenigstens für kurze Zeit einzudämmen.

»Bog soll ihm das Zeichen zum Rückzug geben«, befahl Crell.

»Funkspruch an die KARDOLLS ENDE ist abgesetzt«, bestätigte Klapper ächzend. Obwohl der Sturm inzwischen abgeflaut war und es kaum noch regnete, machte die herrschende Nässe ihm sichtlich zu schaffen. Seine Bewegungen wirkten langsam, zum Teil sogar unkonzentriert. Ganz besonders deutlich wurde dies, als er den Paralysator hob und auf einige heranrollende tonnenförmige Geschöpfe schoß. Die wütenden Schreie der nur partiell Gelähmten verklangen erst, als er die Waffe zum zweitenmal auslöste.

»Wir müssen dich reparieren«, stellte Porrjan fest.

»Nein!« wehrte der Roboter entschieden ab. »Wagt es ja nicht.«

Crell, der als erster von ihnen den Abhang erreicht hatte und den schmalen Fahrweg hinabhastete, wandte sich kurz um: »Eines Tages wirst du endgültig ausfallen und damit, uns alle gefährden.«

»Unsinn«, widersprach Klapper so laut, daß seine Stimme sich überschlug und vorübergehend in Bereiche des Ultraschalls abglitt. »Ich lasse niemanden mit Sonden und Lötgeräten in meinem Innern herumwühlen.«

»Vielleicht sollten wir dich verschrotten.« Crells Gesicht verzerrte sich, als der Roboter plötzlich auf ihn anlegte. Im letzten Moment ruckte die Mündung des Paralysators ein klein wenig herum.

Die Folge des Lähmschusses war ein gräßlich zischendes Geräusch. Unmittelbar hinter dem Chewka wölbte sich der Boden zu einer meterhohen Blase auf, die schließlich zerplatzte und einen weit aufgerissenen Rachen preisgab.

Ein Sandwurm. Crell hatte von diesen Ungeheuern gehört, die es immer wieder schafften, die Kristallförderung zu unterbrechen. Der bis zu zehn Meter lange Körper des Tieres lag zwar unter dem Gestein verborgen, aber auch so konnte man seine Größe erahnen.

»Du siehst, wie sehr du mich brauchst«, erklärte Klapper ohne jede Emotion.

Der Gleiter war in ein flirrendes Energiefeld gehüllt, das bei ihrem Näherkommen automatisch erlosch. Wäre das Bergwerk noch in Betrieb gewesen, hätten sie die Maschine niemals hier zurücklassen können. Aber die desolaten Zustände, die Gentile Kaz’ Expansionsbestrebungen auf Moroa, nahe der Grenze zwischen zwei Sektoren, hervorriefen, kamen auch ihnen zugute.

Crell warf den Schädel des Bioroboters auf die Ladefläche, während er sich in den Sitz des Kopiloten fallen ließ. Da ihm die Lähmung des linken Arms zu schaffen machte, mußte Klapper den Gleiter fliegen. Serk Porrjan, der Thorrater, wäre wohl nie dazu zu bewegen gewesen, dieses Teufelsding in die Luft zu bringen. Seine Abneigung gegenüber allem Technischen lag in der Geschichte seines Volkes begründet.

Mit aufheulenden Triebwerken zog Klapper den Gleiter in die Höhe. Sekundenlang sah es so aus, als wolle er die Felsen rammen, dann glitt das Fahrzeug in einer weiten Kurve herum.

Auf dem Ortungsschirm erschien eine Reihe leuchtender Punkte.

»Das müssen Wachroboter sein. Sie kommen aus der Richtung des Hauptdepots.«

»Entfernung?«

»Acht oder neun Kilometer.«

Die Maschinen konnten gefährlich werden. Den Verfall der organischen Mannschaft auf Moroa aufzuhalten, waren sie nicht programmiert, wohl aber, gegen ungebetene Besucher mit Waffengewalt vorzugehen.

»Dort unten ist Big.« Aufgeregt deutete Porrjan in die Tiefe, wo das Waler-Männchen vor einer Meute aufgebrachter Menschenähnlicher in Richtung auf die Abbruchkante floh. Es war abzusehen, daß sie ihn weit vorher einholen würden. Was er von den wütenden Drogenabhängigen zu erwarten hatte, war klar.

Klapper ließ den Gleiter bis dicht über den Boden absinken.

»Lande zwischen Big und seinen Verfolgern!« bestimmte Crell.

Der Roboter schien ihn nicht gehört zu haben – oder, was wahrscheinlicher war, nicht hören zu wollen. Er raste geradewegs auf die Menschenähnlichen zu. Erst im letzten Moment warfen sie sich zu Boden. Der Sog wirbelte einige von ihnen wie Puppen über die Ebene.

»Du sollst landen!« brüllte Crell. Die Wachroboter waren inzwischen mit bloßem Auge auszumachen. Sie hatten ihre Flugformation aufgefächert und kamen in breiter Front näher.

Klapper schaltete so abrupt auf volle Schubumkehr, daß die hoffnungslos überlasteten Triebwerke ohrenbetäubend laut aufheulten und Crells Nackenfell sich sträubte. Am liebsten wäre der Chewka dem Roboter in die Kontrollen gefallen, aber er hätte weit langsamer reagiert.

Serk Porrjan zerrte das völlig erschöpfte Waler-Männchen an Bord. Die glotzäugigen Albinos mochten hervorragende Schwimmer sein, ihre kurzen Beine ermöglichten ihnen jedoch nur einen kräftezehrenden, entenhaften Watschelgang. Angewidert musterte Big den Kopf auf der Ladefläche.

Klapper wartete nicht, bis die Kabine wieder geschlossen war. Der Luftdruck des überhasteten Starts verfing sich im Innern und brachte den Gleiter vorübergehend in eine gefährliche Schräglage. Bigs enttäuschten Verfolgern blieb keine andere Wahl, als sich erneut in den Schlamm zu werfen, als die Maschine schwankend über sie hinwegfegte.

Ein blendender Feuerball entstand plötzlich vor der Kanzel. Woher der Schuß gekommen war, blieb unklar.

Der Flug wurde unregelmäßig, glich mehr einem stürmischen Auf und Ab.

»Stabilisator ausgefallen«, meldete Klapper.

Zwei weitere Glutbahnen verfehlten den Gleiter, weil sein Kurs unberechenbar geworden war. Dann befand man sich außerhalb der Reichweite von Handfeuerwaffen.

Die Wachroboter folgten unbeirrbar. Sie schlossen zunehmend weiter auf.

Aber noch lagen die ersten Salven ihrer starr eingebauten Geschütze ungenau.

Während der Gleiter im Tiefflug zwischen riesigen Abraumhalden hindurchraste, brachen Big und Porrjan eine der im Laderaum verankerten Kisten auf. Neben verschiedenen Ausrüstungsgegenständen und Munition für Crells schwere Projektilwaffe enthielt sie faustgroße, flugfähige Luftminen.

Nacheinander wurden zwei Dutzend der mit Kontaktzündern versehenen Minen abgeworfen, deren Elektronik ab einer bestimmten Distanz auf gegnerische Ortungsstrahlen ansprach und sich selbst ins Ziel lenkte. Hinter dem Gleiter entstanden die sich rasch ausdehnenden und wieder in sich zusammenfallenden Glutbälle mehrerer heftiger Explosionen.

»Wir haben nicht alle erwischt«, schimpfte Crell nach einem Blick auf den eigenen Ortungsschirm. »Der Rest holt weiter auf.«

Das Abbaugebiet hatten sie überquert, vor ihnen lagen noch unberührte Urwälder des Mondes. Dahinter eine schroffe Bergkette mit schneebedeckten, bis in Höhen von 4000 Meter reichenden Gipfeln. Die Luft war dort oben schon so dünn, daß das Triebwerk zwangsläufig aussetzen mußte.

Der Funkempfang sprach an. Aber was hereinkam, blieb ein wirres Durcheinander unentzifferbarer Symbole.

»Die KARDOLLS ENDE?« wollte Porrjan wissen.

»Hoffen wir es«, erwiderte Crell. Der Fahrtwind, als er ein Seitenfenster aufstieß, wirbelte seine Mähne durcheinander. Fluchend versuchte er, die Augen freizuhalten, doch er konnte nicht gleichzeitig die langen Haare bändigen und mit der schweren Projektilwaffe zielen. Seine Schüsse lagen weit neben den Verfolgern.

Klapper folgte einem breiten Flußlauf. Die Berge wuchsen vor ihnen auf. Ein schmaler Taleinschnitt wurde sichtbar. Der Roboter jagte den Gleiter mit noch immer hohen Beschleunigungswerten hinein. Schon nach kurzer Strecke traten die Steilwände bedrohlich eng zusammen – jeder Flugfehler mit der ohnehin angeschlagenen Maschine hätte jetzt eine Katastrophe nach sich gezogen.

Crell jagte eine Salve hochbrisanter Explosivgeschosse zwischen die Felsen. Der Gleiter war schnell genug, um ungefährdet hindurch zu gelangen, aber die nachfolgenden Roboter wurden von den Druckwellen und einer wahren Flut von Gesteinssplittern erfaßt.

Unvermittelt zeigten die Relieftaster das Ende der Schlucht an. Klapper blieb keine andere Wahl, als den Gleiter nahezu senkrecht in die Höhe zu reißen. Sofort machte sich ein Schubabfall bemerkbar, der den Ausfall des Triebwerks zur Folge haben würde.

Die Verfolger eröffneten wieder das Feuer. Jeden Moment konnte der vernichtende Treffer einschlagen.

»Das Schiff ist da!« jubelte Big. »Es steht irgendwo über dem Gebirge.«

»Gib deiner Gefährtin zu verstehen, daß sie uns holen müssen.«

»Ist schon geschehen.«

Crell wandte sich flüchtig um. Das Waler-Männchen war gerade dabei, die kleine Schreibplatte wieder in seiner Kombination zu verstauen.

Der Höhenmesser stand bei 2.500, als der Antrieb spuckend aussetzte. Sekundenlang wurde der Gleiter noch durch den eigenen Schwung höher getragen, dann neigte sich seine Nase.

Ein Strahltreffer aus Robotwaffen riß das halbe Kabinendach fort.

Plötzlich schien eine neue Sonne zwischen den Bergen aufzugehen. Eine meterdicke Strahlbahn raste an dem Gleiter vorbei. Die Hitze war fürchterlich, und der entstehende Sog wirbelte das schwere Fahrzeug wie ein welkes Blatt herum. Aber die Verfolger vergingen in dem See glutflüssigen Gesteins, der sich am Grund der Schlucht bildete.

Der Gleiter stürzte ab.

Doch dann – ein harter, schmerzhafter Ruck, der die Insassen fest gegen die Gurte preßte.

»Die KARDOLLS ENDE hat uns im Zugstrahl«, stellte Klapper gleichmütig fest.

Wie eine düstere, lichtlose Wolke hing das Schiff hoch über ihnen. Gegen den roten Hintergrund des Planeten zeichnete es sich lediglich als scharf umrissene Scheibe ab, doch aus zunehmender Nähe war der Verfall deutlicher zu erkennen, der nicht einmal vor den Ausstoßöffnungen des Korpuskulartriebwerks haltmachte. Kleinstmeteoriten hatten die einmal blanke Außenhülle zerfurcht und unansehnlich werden lassen. Verschiedene Ausbesserungen und Farbanstriche vermochten weder den Rost noch das wahre Alter des Schiffes zu überdecken. Einen Namenszug suchte man ohnehin vergeblich – aber wahrscheinlich war es besser so.

Der Gleiter wurde in einem Hangar nahe der Peripherie abgesetzt. Blaß und keuchend hingen Crell und Serk Porrjan in ihren Sitzen. Die Luft in dieser Höhe war fast schon zu dünn zum atmen. Nur der Waler war davon nicht betroffen.

»Habt ihr ihn?« Fragend wedelten die Stielaugen der Kommandantin vom Monitor der Bordsprechverbindung herab. Als Crell die Aufnahmeoptik so ausrichtete, daß sie den abgetrennten Schädel des Bioroboters sehen konnte, stieß sie einen entsetzten Ausruf aus. Mit knappen, hastigen Worten erklärte der Chewka den Sachverhalt.

»Bringt ihn in die Zentrale!« bestimmte sie.

Klapper hatte sich inzwischen in den Laderaum begeben und wühlte in den Ausrüstungsgegenständen herum.

»Wonach suchst du?« wollte Crell wissen.

»Eine Decke oder ein großes Tuch oder etwas Ähnliches…«

»Wozu?« machte der Chewka erstaunt.

»Ich hasse diese Nässe«, erklärte der Roboter und schwenkte triumphierend eine gut zwei Quadratmeter messende Kunstwolldecke. Mit geschicktem Schwung warf er sie sich über seinen kastenförmigen Oberkörper und begann, die offenen Gelenke abzutrocknen. »Meinetwegen können wir«, stellte er dann fest.

»Du willst so durch das Schiff laufen?« Selbst Crell wußte für einen Moment nicht, ob er hellauf lachen oder in Tränen ausbrechen sollte. Eine Reihe bunter Kontrollichter flackerten auf Klappers dreieckigem, auf der Spitze stehenden Schädel. Alles andere, bis hinab zu den Kniegelenken, wurde von der Decke verhüllt, aus der lediglich noch die dünnen, aus jeweils zwei Metallstangen zusammengesetzten unteren Beinhälften hervorragten.

»Du hast eine Reparatur dringend nötig«, erklärte Porrjan spöttisch.

»Kommt nicht in Frage«, wehrte der Roboter lautstark ab. »Laßt eure Finger von meinen Schaltkreisen.«

»Hoffentlich erwischt’s dich bald«, seufzte Big. »Dann bleibt ohnehin nur ein großer Ölfleck übrig.«

»Daß Wasser ungesund ist und den Verstand auslaugt, behaupte ich schon immer«, erwiderte Klapper anzüglich mit einem Seitenhieb auf das bevorzugte Element des Walers. Ehe ihn jemand zurückhalten konnte, verschwand er eilig in einem Seitengang.

Porrjan blickte ihm stirnrunzelnd hinterher. »Eines Tages wird er wirklich zur Gefahr für uns alle. In seiner Positronik muß einiges durcheinandergeraten sein. Wir sollten ihn verschrotten – je eher, desto bessert.«

»Aus dir spricht wie immer deine Abneigung gegen denkende Maschinen«, wehrte Crell ab. »Klapper mag sonderbar sein, aber er bleibt harmlos.«

Der Antigravschacht, den sie betreten wollten, um in die Zentrale zu gelangen, war ausgefallen; ein leuchtend rotes Prallfeld versperrte den Zugang. Im Innern war der Zustand der KARDOLLS ENDE nicht minder desolat, als dies dem äußeren Anschein nach zu vermuten war. Die Besatzung beschränkte ihre Kräfte darauf, die wirklich lebenswichtigen Bereiche wie die Triebwerkssektionen und die Waffensysteme funktionsfähig zu erhalten. Alles andere waren Unannehmlichkeiten, an die man sich im Lauf der Zeit gewöhnte.

Der Chewka und seine Begleiter benutzten den bei den Unterkünften gelegenen Antigravschacht. Auch hier war die Abstoßwirkung keineswegs optimal, und sie hatten das Gefühl, erst zusammengestaucht und wenig später wieder in die Länge gedehnt zu werden, aber sie erreichten das Hauptdeck unversehrt.

Nur wenige Meter vor der Zentrale kam ihnen Klapper entgegen. Die bunt gemusterte Decke hing noch immer über seinen Schultern. Außerdem trug er einen fünf Liter großen Plastikkanister mit eingebautem Dosier- und Sprühautomaten.

»Feinstes Maschinenöl«, erklärte er ungefragt. »Ich glaube, das Wasser auf Moroa hat meinen Gelenken geschadet.« In der Tat rief er mit jedem Schritt Geräusche hervor, die seinem Namen alle Ehre machten.

Crell hatte schon eine Erwiderung auf den Lippen, wurde aber durch den aufheulenden Alarm unterbrochen. Eilig stürmten sie in die Zentrale.

Niemand beachtete sie inmitten der ausbrechenden Hektik. Der Chewka war mit der Führung des Raumschiffs hinreichend vertraut, um aus den Ortungsbildern erkennen zu können, was geschah.

Ein Schwarm von Zulgeas gefürchteten Wespen war überraschend aufgetaucht. Während einige von ihnen die schon weit entfernt stehende Hauptwelt des Systems anflogen, folgten die anderen der KARDOLLS ENDE. Crell glaubte nicht, daß sie auch nur einen Moment lang zögern würden, das Schiff abzuschießen, dessen Geschwindigkeit für einen reibungslosen Übertritt in den Linearraum noch zu gering war. Er fragte sich, ob es Zufall war, daß die kleinen, äußerst wendigen Raumer ausgerechnet jetzt erschienen.

Über Funk wurde die KARDOLLS ENDE im Namen der Hexe aufgefordert, umgehend beizudrehen.

Die Stielaugen der Kommandantin zitterten, als sie, ohne sich von den Kontrollen umzuwenden, jeden der Anwesenden eindringlich musterte. »Es ist eure Entscheidung, ob wir das Risiko eingehen«, erklang es dumpf vibrierend aus ihrer Sprechmembrane.

»Wissen wir, ob Parillyon mit seiner Mission auf Crynn Erfolg hatte und Zulgea von Mesanthor für unser Vorhaben begeistern konnte?« fragte Crell eindringlich. »Wenn nicht…« Er ließ offen, was er

noch sagen wollte, denn die von den Wespen eingeleitete Zangenbewegung war eindeutig.

»Wir fliehen«, entschied die Kommandantin.

Augenblicke später eröffneten die Wespen das Feuer. Schon die ersten Salventreffer brachten den Schutzschirm der KARDOLLS ENDE an den Rand des Zusammenbruchs. Von den überlasteten Konvertern ausgehend, durchliefen dumpfe Vibrationen das Schiff.

»Wir scheren aus dem Kurs aus«, brüllte jemand.

»Korrektur unmöglich«, erklang es von anderer Seite. »Die Schirmfelder benötigen zu viel Energie.«

Noch immer war die Geschwindigkeit zu gering für ein risikoloses Linearmanöver.

Die nächsten Treffer ließen die Beleuchtung erlöschen. Bildschirme implodierten; es stank nach Ozon und verschmorten Kunststoffen.

»Feuererlaubnis?« kam es vom Waffenleitstand.

»Zielerfassung steht.«

Die Kommandantin zögerte. Dann huschten ihre sechsfingrigen Hände über die Eingabetastatur. Jegliche Energie wurde den untergeordneten Systemen entzogen. Daß die Klimaanlage ein stetes, monotones Summen verbreitete, fiel erst auf, als es schlagartig verstummte. Auch die Schutzschirme erloschen. Das Schiff wäre einem weiteren Feuerschlag der Wespen hilflos ausgeliefert gewesen. Doch Zulgeas Kommandanten schienen davon überzeugt zu sein, daß die KARDOLLS ENDE aufgab.

»Beidrehen und stoppen!« erklang es aus den Lautsprechern.

Sämtliche Energien fluteten in die Kompensationskonverter des Linearantriebs. Für Sekunden sah es so aus, als würde der Diskus sich aufblähen und von innen heraus verglühen, dann war die Stelle im Raum, wo er sich eben noch befunden hatte, leer.

Für die Besatzung war es wie ein Schock, ein Sturz ins Nichts, der alle Relationen verzerrte. Sekunden dehnten sich scheinbar zu Stunden, bis endlich eine wohltuende Ohnmacht den Schock linderte.

Crell, der Chewka, hatte es wohl seiner besonderen Konstitution zu verdanken, daß er als erster wieder zu sich kam.

Die Schirme zeigten das monotone Abbild des Linearraums – und zehn Lichtpunkte, die sich auf dem gleichen Kurs und mit derselben Geschwindigkeit bewegten wie die KARDOLLS ENDE. Die Wespen würden zweifellos angreifen, sobald der Diskus die Librationszone wieder verließ.

2.Du solltest meine Warnung nicht in den Wind schlagen, Beuteterraner.Da war er erneut, dieser sarkastische Unterton seines Extrasinns. Atlan seufzte ergeben und erntete dafür einen verwunderten Blick von Parillyon. Der Hominide mit den überlangen Armen und Beinen und dem großen, fast kugelförmigen Kopf, war wahrscheinlich einer der letzten Überlebenden des ausgerotteten Volkes der Yiker. Zumindest behauptete er dies – und Atlan hatte keinen Anlaß, seine Aussagen anzuzweifeln. Seit der Arkonide ihn aus der Gefangenschaft im Pyramidon Zulgeas befreit hatte, waren sie miteinander vertraut geworden. Parillyon zeichnete sich nicht bloß durch Mut und Stärke aus, sondern vor allem durch hohe Intelligenz. Sein dichtes langhaariges Fell, schwarz mit silbernen Streifen und Schattierungen, machte jede Kleidung überflüssig. Das einzige, was er trug, waren zwei zehn Zentimeter breite Armreifen mit bunten Aufsätzen, kunstvollen Verzierungen und funkelnden Steinen. Das Fell an seinen Händen war kurz, das Gesicht blieb bis auf die dichten Brauen überhaupt frei von Haarwuchs und zeigte eine gleichmäßige, hellbraune Hautfarbe. Blickfang waren zweifelsohne die knollenförmige Nase, der Mund mit den wulstigen Lippen und das lange, struppige Kopfhaar, ein Gemisch aus allen nur denkbaren Färben, das kreuz und quer abstand. Atlan mußte unwillkürlich lächeln, denn Struwwelpeter hätte nicht ärger aussehen können.

»Du denkst an Sarah?« fragte Parillyon mit seiner dunklen, rauhen Stimme.

»An Kippelkart, die Pforte der Weisen«, erwiderte der Arkonide zögernd. »Ich frage mich, ob wirklich alles so ist, wie du es erwähnt hast.«

»Zweifelst du daran?« Parillyon wich Atlans forschendem Blick nicht aus, forderte ihn mit seiner Mimik eher noch heraus. Da war nichts Falsches in seinen Augen.

Nur Verbitterung und eine Spur von Verzweiflung, bemerkte der Extrasinn.»Ich frage mich, ob Gentile Kaz diese Welt nicht längst entdeckt hat«, sagte Atlan leise. »Sie könnte auch für ihn von unschätzbarem Wert sein.«

Ein feuchter Schimmer erschien in Parillyons Augenwinkeln.

»Die Facette kennt Kippelkart, sie hat den Planeten vor vielen Jahren zerstören lassen. Aber nur wenige wissen, daß noch eine technische Station existiert: dort wirst du den Weg nach Hondyrtkart finden.«

Atlan nickte zögernd. Er hatte seinen Entschluß längst gefaßt, sonst wäre er nicht schon wieder mit ANIMA und dem Yiker im Raum gewesen. Die Warnung seines Logiksektors schien ihm von übertriebener Vorsicht geprägt. Immerhin brauchte er nur auf die Vorgänge während seines ersten, wenig angenehmen Aufenthalts auf Crynn zu verweisen, als sein Extrasinn kaum logisch, beinahe schon panikartig reagiert hatte, um betretenes Schweigen in seinen Gedanken hervorzurufen. Nicht zum erstenmal suchte er insgeheim eine Antwort auf die Frage, ob die Psi-Jäger ihm etwas hätten anhaben können.

Das ist vorbei, wisperte es ärgerlich. Inzwischen haben wir Erfolge zu verbuchen.Der Extrasinn versuchte offensichtlich, ihn abzulenken, aber diesmal ließ Atlan sich gerne ablenken. Er dachte an die letzten, ruhigen Tage auf New Marion, die er unter Menschen verbracht hatte – und nicht zuletzt in Sarah Briggs Nähe. Zulgea von Mesanthor, die Facette von Kontagnat, der Oberen Hemisphäre Nord, war nicht mehr. Groß die Überraschung, daß sich hinter dem Deckmantel der Hexe eine psi-begabte Celesterin, noch dazu Sarah Briggs leibliche Mutter, verborgen hatte. Niemand außer den Menschen von New Marion wußte, daß inzwischen Zulgeas Zwillingsschwester Flora Almuth die Stelle der Hexe eingenommen hatte – auch sie war durchaus als Mutantin zu bezeichnen. Der letzte lebhafte Hyperfunkkontakt zwischen beiden Welten hatte erkennen lassen, daß auf Crynn alles reibungslos verlief.

Parillyon war es, der schließlich von Hondyrtkart, dem Planeten der Weisen, sprach und Atlan damit auf eine Spur lenkte, die ihn in der Erfüllung seines Auftrags näherbringen konnte. Der Yiker hatte diese Welt nur einmal in seiner Kindheit besucht, aber er erinnerte sich genau, daß dort neun Unsterbliche lebten, von denen es hieß, sie seien allwissend. Hondyrtkart lag im Sektor der Facette Gentile Kaz und damit in schnell erreichbarer Nähe. Das Problem bestand darin, die Unsterblichen aus ihrem Trancezustand zu wecken und zum Sprechen zu bringen. Für den Ratsuchenden galt es, bestimmte Spielregeln einzuhalten.

Seltsam, daß Parillyon sich so detailliert daran erinnert, kommentierte der Extrasinn.

»Wir werden Kippelkart in Kürze erreichen«, gab ANIMA zu verstehen. »Sei vorsichtig, Atlan, wenn du auf dich allein gestellt bist.«

Sie also auch, triumphierte der Extrasinn. Willst du ihre Bedenken ebenfalls in den Wind schlagen?»Ich werde aufpassen«, versprach der Arkonide und wandte sich im selben Atemzug an Parillyon: »Bist du sicher, daß du nichts vergessen hast?«

Der Yiker zuckte mit den Schultern. »Ich habe alles gesagt, woran ich mich erinnere. Du mußt die Station allein aufsuchen, andernfalls wird dir der weitere Weg nicht gezeigt werden.«

*

Kippelkart war eine graue, trostlose Welt. Auch die dünne Schicht der Atmosphäre wirkte schmutzig und leuchtete zeitweise in bedrohlichem Rotbraun, wenn die Sonnenstrahlen in einem ganz bestimmten Winkel auftrafen.

Es gab, einige Ozeane und nicht sonderlich steile Gebirgszüge, aber nirgendwo zeigten sich zusammenhängende Grünflächen oder gar Wälder. Wenn diese Welt einmal Leben getragen hatte, so war es gründlich ausgelöscht worden.

Parillyon, der Atlans Mimik unablässig beobachtete, schien dessen Gedanken zu erraten. »Die Pforte der Weisen war einmal ein blühender, aufstrebender Planet, von dem Impulse des Widerstands gegen die Facette ausgingen«, sagte er mit merkwürdig belegter Stimme. »Gentile Kaz hat ganze Arbeit geleistet. Du brauchst allerdings keine Bedenken zu haben. Die Luft ist atembar und der radioaktive Fallout längst abgeklungen.«

Er weiß mehr von dieser Welt, als er zugibt, warnte der Extrasinn. Sei auf der Hut.Das Nahortungssystem der KORALLE, des auf Thorrat entführten Fünf-Meter-Gleiters der Crynn-Brigade, zeigte große Metallansammlungen auf und dicht unter der Oberfläche an, jedoch keinerlei Energieemissionen. Parillyon gab ANIMA Anweisungen, wo sie landen sollte. Er schien zunehmend nervös zu werden, denn immer öfter fingerte er an seinen Armbändern herum. Atlan bemerkte, daß einige der halbtransparenten Schmucksteine zu leuchten begannen. Vermutlich sprachen sie auf Körperfunktionen ihres Trägers an.

Die vorgesehene Landestelle auf der nördlichen Halbkugel, zum nahen Ozean hin durch mehrere Bergketten abgegrenzt, lag im grellen Mittagslicht. Auf einem Areal von gut zehn Quadratkilometer erstreckte sich eine graue, von Kratern und tiefen, ausgezackten Rissen übersäte Ebene. Einzelne, riesige Schollen hatten sich aufgeworfen und ragten Monumenten gleich in den braunen Himmel.

Die Reste eines ehemaligen Raumhafens.

ANIMA ging in der Nähe der skelettierten Verwaltungsgebäude nieder. Bis zu 200 Meter hoch ragten nackte, stählerne Gerüste auf – verbogen, zerschmolzen, als ein wahrer Feuersturm über sie hinwegtobte, in dicken, schweren Tropfen wieder erstarrt zu den Tränen eines in Minutenschnelle ausgelöschten Volkes.

Die skurrile Kunst des Todes glich sich überall im Universum.

Atlan atmete schwer. Er mußte die sich ihm aufdrängenden Erinnerungen gewaltsam aus seinen Gedanken verdrängen. »Wie lange werde ich brauchen?« wollte er wissen.

»Zwei, vielleicht auch drei Stunden«, antwortete Parillyon. »Es kommt auf die Menge der in der Station noch erzeugten Energie an.«

»Wenn es dort ähnlich aussieht, mach dich auf einige Tage Wartezeit gefaßt«, sagte Atlan, ohne sich selbst erklären zu können, weshalb er plötzlich sarkastisch wurde.

Er wollte sich im Pilotensitz zurücklehnen, als eine wärme, weiche Hand ihm sanft über den Nacken strich. Die Berührung drückte mehr als bloße Zuneigung aus, war zärtlich und fordernd zugleich. So hatte Sarah Briggs ihn umarmt, als sie ihn zum Abschied küßte.

Beinahe hätte Atlan sich dem wohligen Schauer hingegeben, der seinen Körper durchfloß. Aber eben nur beinahe.

»ANIMA«, sagte er, schärfer als beabsichtigt. »Was soll das?«

Unmittelbar neben ihm wölbte sich ein Kontaktknoten auf. Darüber formten sich die Umrisse eines hinreißend schönen, mädchenhaften Antlitzes. Die vollen Lippen lächelten verführerisch.

»Ich will, daß du bei mir bleibst, Atlan. Ohne dich bin ich einsam.«

Der Arkonide seufzte ergeben und streifte den Pseudoarm von seiner Schulter. ANIMA, die Schlummernde, hatte schmale, zartgliedrige Finger ausgebildet.

»Ich war lange genug einsam, um zu wissen, daß jeder Abschied ein Abschied für immer sein kann«, fuhr sie stockend fort.

»Atlan geschieht schon nichts«, warf Parillyon ärgerlich ein. »Laß ihn in Ruhe.« Der Boden unter seinen Füßen begann in peristaltischen Bewegungen zu zucken. Vergeblich suchte er nach einem Halt.

»Von dir will ich nichts«, schimpfte das lebende Raumschiff. »Verhalte dich dementsprechend.«

Mit einer Geste der Verzweiflung fuhr Parillyon sich mit beiden Händen durch sein buntes, struppiges Haar und schloß dabei die Augen. Als er sie wieder öffnete, war Atlan in einem Gewirr von mindestens zwanzig Pseudoarmen verstrickt; die ihn liebevoll umfingen. Er mußte eingesehen haben, daß es sinnlos war, sich dagegen zur Wehr zu setzen.

Nach einer Weile zog ANIMA ihre Gliedmaßen von selbst zurück. »Danke«, flüsterte sie. »Es tut gut, endlich einen Freund gefunden zu haben.« Und wesentlich härter fügte sie hinzu: »Geh jetzt, ehe ich dich zurückhalte. Diese Welt ist mir unheimlich.«

In ihrer Außenhülle entstand eine rasch größer werdende Öffnung. Atlan hatte noch etwas sagen wollen, schwieg aber, als Parillyon ihm auffordernd zunickte.

Der Gleiter schwebte, nur von seinen Antigravfeldern getragen, auf den zerstörten Raumhafen hinaus. Dann erst aktivierte Atlan das Triebwerk und flog in niedriger Höhe und mit geringer Beschleunigung nach Westen, ins Innere des Kontinents.

Auch jetzt entdeckte er keine Spuren von Leben. Über Dutzende von Kilometern hin reihten sich Explosionstrichter wie Kettenglieder aneinander; die meisten waren angefüllt mit brackigem, blasenwerfenden Wasser. So weit das Auge reichte, nichts als Geröll, Sand und Staub, den ein steter Wind aufwirbelte und in dichten Schleiern vor sich her trieb. Nur einige kahle, versteinert wirkende Baumriesen ragten hin und wieder auf.

Irgendwann durchschnitt das breite Band eines Verkehrswegs die Eintönigkeit. Ausgeglühte, zu bizarren Metallgebilden geschmolzene Fahrzeugwracks säumten die Straße. Soweit sich daraus überhaupt Rückschlüsse ziehen lassen, mußten die Bewohner von Kippelkart in etwa

menschengleich gewesen sein.

Die ersten Gebäude einer langgestreckten Siedlung, halb unter Sand begraben, ein ausgetrocknetes, breites Flußbett… Atlan zögerte kurz, bevor er den Gleiter in eine flache Landekurve zog und zwischen den Bauten und dem Wadi niederging. Die Instrumente zeigten tatsächlich keinerlei schädliche Strahlung an.

Mißtrauisch? erkundigte sich spöttisch der Extrasinn.

Weshalb sollte ich nicht versuchen, mehr über diese Welt herauszufinden? erwiderte der Arkonide lautlos.

So dumm ist Parillyon nicht. Falls er etwas plant, geht er bestimmt nicht das Risiko einer zufälligen Entdeckung ein.Er hätte mich längst überwältigen können, wenn er das wollte. Nenne mir ein vernünftiges Motiv für deine Schwarzseherei.

Daß der Extrasinn schwieg, war offenbar ein Eingeständnis seiner überraschend gefühlsbetonten Verhaltensweise. Es gab keinen logischen Grund, eine Gefahr zu befürchten.

Bis zu den Knien versank Atlan im locker angehäuften Sand. Erst im Windschatten der Ruinen kam er besser voran. Aus der Nähe betrachtet, wirkte alles noch trostloser, beinahe steril. Die meisten der früher wohl prunkvollen Bauten waren nur mehr unzugängliche Steinhaufen.

Schon nach wenigen Minuten gab Atlan sich keinen Illusionen mehr hin, hier etwas Brauchbares zu finden.

Das Wrack eines abgestürzten Gleiters hatte sich metertief ins Erdreich hineingebohrt; es grenzte fast an ein Wunder, daß die Maschine nicht explodiert war. Mit bloßen Händen wühlte Atlan den Sand beiseite und legte den Zugang zum Laderaum frei. Wie nicht anders zu erwarten gewesen, war die Tür hoffnungslos verklemmt. Mit dem auf Punktstrahl geschalteten Blaster, den er von den Celestern erhalten hatte, gelang es ihm, eine ausreichend große Öffnung in den Stahl zu schneiden. Als das gut einen Quadratmeter messende Stück polternd ausbrach, rutschte ein Teil der Ladung ebenfalls ins Freie. Viel war davon allerdings nicht übrig; fast alle Plastikkisten wiesen mehr oder minder große Löcher auf. Als Atlan eine davon aufhob, rieselte eine Handvoll verschimmelter Körner daraus hervor. Vermutlich Saatgut.

Das Innere des Gleiters bot ein Bild der Verwüstung. Nichts war heil geblieben. Der aus seiner Verankerung gerissene Pilotensitz hatte die Instrumentenkonsole durchbohrt. Überall zeigten sich Brandspuren. Falls wirklich einmal eine Art elektronisches Bordbuch vorhanden gewesen war, hatte es wohl keinen Sinn, die Aufzeichnungen bergen zu wollen.

Ein leises, schnarrendes Geräusch ließ Atlan aufhorchen. Sich umwendend, fiel sein Blick auf einen bleichen Totenschädel. Eine kaum merkliche Erschütterung ließ den kugelrunden Kopf auf ihn zurollen.

Und plötzlich waren sie überall: höchstens fünf Zentimeter messende, achtbeinige Käfer. Ihre Bewegungen verursachten das seltsame Geräusch. Auch von der Decke fielen sie herab, krochen aus Ritzen der Verkleidungen und unter dem abgelösten Plastbelag des Bodens hervor.

Jetzt ahnte Atlan, was aus der Fracht und dem Skelett des Piloten geworden war. Die Warnung seines Extrasinns kam zu spät. Schon verbissen sich die ersten Käfer an seinen Stiefeln und in der Kombination. Sie ließen sich kaum abschütteln. Es mußten Hunderte sein, die sich mit einem lauter werdenden Schnarren auf ihr vermeintliches Opfer stürzten.

Atlan warf sich herum, glitt jedoch auf den zuckenden Leibern aus. Im Nu waren sie über ihm, er spürte ihre Bisse an den Händen und im Gesicht. Das Pochen, das vom Zellaktivator ausging, konnte nur bedeuten, daß die Tiere Gift in seine Blutbahn absonderten.

Mühsam zog er sich vorwärts. Schweiß brach ihm aus allen Poren. Mit dem Kolben der Waffe

erschlug er viele Käfer, deren Kadaver sofort von ihren Artgenossen zerrissen wurden. Endlich erreichte er die Öffnung, stemmte sich in die Höhe und ließ sich kopfüber nach draußen fallen. Sekundenlang blieb er schwer atmend liegen, bevor er sich angewidert die Käfer abriß und sie in hohem Bogen von sich schleuderte. Er blutete aus unzähligen kleinen Wunden, die unter dem Einfluß des Zellaktivators jedoch schnell wieder heilen würden.

Dann erst bemerkte er, daß die Tiere ihm folgten. In breitem Strom ergossen sie sich zielstrebig aus dem Wrack. Ihr Schnarren schmerzte den Ohren.

Ohne zu zögern, hob Atlan den Strahler. Eine breite Glutspur zog sich durch den Sand, fraß sich an der verbeulten Hülle des Gleiters empor und drang in den Laderaum ein. Sekunden später erfolgte die erste schwache Detonation, gleich darauf schoß eine Feuerlohe aus der Maschine in die Höhe.

Die Treibstoffvorräte reagieren!Atlan hastete zurück. Er wußte, daß er nichts mehr finden würde, was für ihn von Interesse sein konnte. Hinter ihm verging das Wrack in einer Serie von Explosionen.

Als er dann mit seinem Gleiter startete, sah er, daß aus vielen Ruinen Scharen von Käfern hervorbrachen. Offenbar witterten sie Beute.

*

Die Beschreibung, die Parillyon ihm gegeben hatte, erwies sich sogar in den Details als einigermaßen präzise. Freilich konnte der Yiker nicht wissen, was sich in langen Jahren verändert hatte, doch existierten markante Geländepunkte wie Felsnadeln und Seen, die selbst ein atomares Inferno überstanden, solange sie sich nicht im Mittelpunkt einer Kernreaktion befanden.

Das Gelände wurde allmählich hügeliger, wenngleich die nächsten Berge noch weit im Westen lagen. Erstarrte Lavaseen waren kennzeichnend für diesen Bereich, als ob gerade hier ein massierter Beschuß erfolgt wäre. Mit Sicherheit hatten Gentile Kaz’ Truppen von den unterirdischen Anlagen gewußt. Tiefe Krater dokumentierten die vollkommene Zerstörung.

Aber ausgerechnet an diesen Orten zeigte die Natur eine unglaubliche Überlebenskraft. Zwischen üppig wuchernden Moosen und Flechten ragten bereits wieder die ersten blühenden Büsche auf. Kniehohes, rötliches Gras eroberte die Lavaseen – von weitem hob es sich gegen die Schlacke so gut wie gar nicht ab.

Ein mehrere hundert Meter durchmessender halbrunder Felsrücken tauchte vor dem Gleiter auf. Noch zeigten die Ortungen nur natürliche, spärliche Erzvorkommen, die den Fels in geringer Tiefe durchzogen.

Eine Stunde war seit seinem Start vergangen, als der Arkonide zum erstenmal den Fels umrundete. Parillyon hatte ihm drei waagrechte, ellenlange Einkerbungen beschrieben, die den geheimen Zugang öffnen sollten. Er fand sie nicht. Auch sein zweiter Versuch blieb erfolglos, bis der Logiksektor ihn auf eine Stelle hinwies, an der das Moos dicker wucherte, als anderswo. Mit dem Messer die Pflanzen abkratzend, stellte er fest, daß sie in einer dünnen, vom Wind angelagerten Erdschicht wurzelten. Vorsichtig legte er die Rillen frei und berührte die deutlichen Einbuchtungen in einer bestimmten Reihenfolge.

Fast augenblicklich verschwand der Fels vor ihm. Atlan blickte auf eine eng gewundene, steil in die Tiefe führende Treppe, deren Stufen offenbar mit einem Desintegrator aus dem Gestein herausgeschnitten worden waren. Zumindest zeigten sie keinerlei Spuren einer Bearbeitung.

Seine Rechte ruhte auf dem Kolben des Kombistrahlers, als er sich dem engen Gang anvertraute. Schon nach wenigen Metern war das hereinfallende Tageslicht so gedämpft, daß er kaum mehr die Hand vor Augen erkennen konnte, wenig später tastete er sich durch eine vollkommene Finsternis.

Sicher gab es im Treppenbereich Leuchtkörper. Daß sie nicht funktionierten, mochte verschiedene Gründe haben.

Atlan versuchte, die Tiefe abzuschätzen. Bei mehr als zweihundert Meter veränderte sich der Klang seiner Schritte, verlor sich in der Weite einer vor ihm liegenden Halle. Die jäh aufflammende Helligkeit blendete.

Fremdartig anmutende Maschinen und Geräte säumten die Wände. In einigen von ihnen glaubte Atlan Speicherpositroniken zu erkennen, andere wirkten mit ihrer Vielzahl von Mattscheiben wie Kommunikationssysteme oder kompakte Ortungsanlagen.

Die Halle besaß nur einen einzigen Ausgang an der gegenüberliegenden Stirnseite. Dahinter wölbte sich ein kreisrunder Kuppelsaal. Atlan folgte den rhythmisch aufleuchtenden, in den Boden eingelassenen Symbolen. Vibrationen und ein dumpfes Rumoren zeigten ihm, daß schwere Aggregate angelaufen waren. Vermutlich hatte seine Anwesenheit diese Vorgänge ausgelöst.

Unter dem höchsten Punkt der Kuppel, gut zehn Meter hoch, ragte ein Aggregat auf, dessen Funktion eindeutig war. Ein Transmitter. Zwei torbogenförmig zueinander gebogene Metallsäulen, davor Positroniken zur Justierung des Transportfeldes, im Anschluß daran mächtige Energiespeicher. Allein von der Größe her beurteilt, besaß das Gerät wahrscheinlich eine Reichweite von etlichen zehntausend Lichtjahren.

Alles gehört nicht zum Transmitter, bemerkte der Extrasinn. Die Röhren links davon mitsamt dem Sockel, der Zweitpositronik und dem Speicherteil bilden ein eigenes System.Die sechs Projektoren, die Hyperenergie aus dem Zwischenraum abzapften, begannen unvermittelt zu arbeiten. Strukturumwandler setzten die gewonnene Energie in 5-dimensionale Feldlinien um, die verstärkt und gebündelt das schwarze Transportfeld erzeugten. Gleichzeitig entzog sich alles Dahinterliegende Atlans Blick.

Überrascht sah er auf den Oszillographen, dessen eine Hälfte die unregelmäßige Amplitude des Transmitters wiedergab. Auf der anderen Hälfte zeigte eine unverändert waagrecht verlaufende Linie an, daß noch keine Gegenstation justiert war.

Über dem Schaltpult entstand eine holographische Projektion der Kugelgalaxis Alkordoom mit ihrem Kopfschweif. Ein blinkender Lichtpunkt nahe der Äquatorebene markierte offensichtlich den Standort von Kippelkart.

Atlan hatte inzwischen herausgefunden, daß Alkordoom identisch war mit NGC 1265 aus dem sogenannten Perseushaufen, und daß die Entfernung zur heimatlichen Milchstraße rund 235 Millionen Lichtjahre betrug. Eine Entfernung, die sich real vorzustellen sogar ihm schwerfiel. Spontan ging er auf die Sternenkarte zu. Falls er ein Ziel fand, das ihm interessant und vielversprechend erschien, würde er den Transmitter benutzen.

Die Leuchtmarkierungen im Boden zeigten verwirrende Muster. Grelle Farbreflexe huschten durch den Kuppelsaal.

Vorsicht! schrie der Extrasinn.

Ein lähmendes Prickeln stieg in Atlan hoch. Vergeblich versuchte er, sich herumzuwerfen, aber die Muskeln gehorchten ihm nicht mehr.

Das unbekannte Kraftfeld, das ihn einhüllte, verstärkte sich innerhalb von Sekunden zu einem irrlichternden Flimmern. Er bekam kaum noch Luft. Eine Welle von Schmerzen durchpulste ihn, als würde jedes einzelne Atom seines Körpers von den anderen losgelöst. Selbst der Zellaktivator war gegen diese Kräfte machtlos.

Fehlschaltung! stellte der Logiksektor fest.

Dann kam endlich die erlösende Ohnmacht. Mit ihr erlosch jegliche Empfindung.

3.Scheinbar unbeweglich hingen die von den Wespen erzeugten Reflexe auf den Ortungsschirmen. Solange sie da waren, durfte die KARDOLLS ENDE den Linearraum nicht verlassen, denn das hätte zweifellos den Untergang des Schiffes bedeutet. Selbst besser ausgerüstete Raumer mußten ihrer geballten Kampfkraft unterliegen.

Inzwischen flog die KARDOLLS ENDE mit minimaler Geschwindigkeit. Aber abgesehen davon, daß die Konverter nicht für Langzeitflüge ausgelegt waren, war dies ohnehin keine Lösung.

Die Kommandantin war aufgebracht. Ihre glatte Bauchseite, empfindlicher als die braune Lederhaut der Rückenpartie, sonderte Unmengen Schleim ab, der nicht gerade wohltuend roch. Rund um ihren Platz, eine Art Hängegestell mit gepolsterter Auflage, war der Boden tückisch glatt geworden.

»Wir sollten uns einiges einfallen lassen«, forderte sie ihre Besatzung auf. »Und zwar schnell.«

»Den Wespen ist nicht beizukommen«, sagte Serk Porrjan mit weinerlicher Stimme.

»Mit einer altertümlichen Schrotflinte sicher nicht«, erwiderte die Kommandantin erregt. Die Wellenbewegungen ihrer seitlichen Körperhäute verstärkten sich.

»Wenn jeder so dächte wie wir, gäbe es keine galaktischen Auseinandersetzungen«, unternahm der Thorrater einen Versuch der Rechtfertigung. Er erhielt keine Antwort.

»Jirriigs«, wandte Crell sich an die Kommandantin, »es ist merkwürdig, daß die Crynn-Brigade gerade zu dem Zeitpunkt über Moroa auftauchte, als wir auch dort waren.«

»Wenn du damit sagen willst, daß wir einen Verräter an Bord haben, vergiß es. Kein Kaz-Fresser würde so etwas tun.«

»Merkwürdig bleibt es dennoch.«

Jirriigs führte eine Reihe von Schaltungen durch. Das Abbild eines roten Überriesen erschien als Zielstern auf dem bislang grauen Bildschirm. Noch war die Sonne mehr als vierhundert Lichtjahre entfernt.

»Wir werden den Linearraum so dicht über der Korona verlassen, daß die Wespen uns nicht folgen können«, stellte die Kommandantin fest. »Selbst die beste Positronik benötigt einige Nanosekunden, um den Rücksturz einzuleiten.«

»Bist du verrückt?« fuhr Crell auf. »Unsere Chancen stünden eins zu einhundert, daß wir überleben.«

»Und?« fragte Jirriigs lauernd. »Welche Chancen haben wir gegen die Wespen? Eins zu zehn? – Was macht überhaupt der Schädel des Bioroboters?«

»Er liegt auf Eis«, murmelte Porrjan.

»Schade. Das war bisher unser bester Fang. Mit seinen Daten hätten wir Gentile Kaz diesmal vielleicht erwischen können.«

»He«, machte der Thorrater. »Am Ende haben wir uns ein faules Ei an Bord geholt.«

Crell winkte ab. »Der Biorobot war ein Agent von Gentile Kaz. Er wird nicht gerade die Flotte der Hexe herbeirufen.«

»Chewka«, sagte die Kommandantin scharf, »kümmere dich trotzdem darum. Ich erwarte eine klare Antwort. Wenn es sein muß, werfen wir den Schädel in den Konverter.«

Während der nächsten Stunden wuchs die Anspannung an Bord um ein Vielfaches. Die Verfolger hatten ein Manöver eingeleitet, das mit der kugelförmigen Einschließung der Kaz-Fresser enden mußte. Auch wenn niemand wußte, wie die Crynn-Brigadisten es bewerkstelligen wollten, alles deutete darauf hin, daß sie über kurz oder lang die KARDOLLS ENDE zum Verlassen des

Linearraums zwingen würden. Immerhin hatten sie inzwischen die Grenze des Herrschaftsbereichs der Hexe überschritten und befanden sich innerhalb von Ordardor.

Crell und mehrere Wissenschaftler der Besatzung arbeiteten mit fieberhaftem Eifer.

Der Schädel des Bioroboters hatte, nachdem der an ein Lebenserhaltungssystem angeschlossen worden war, zwar unartikulierte Laute von sich gegeben, war aber noch nicht zu sinnvollen Sätzen zu bewegen gewesen. Sein optisches und akustisches Wahrnehmungsvermögen arbeitete hingegen einwandfrei, wie Sensormessungen ergaben. Er registrierte jede Einzelheit.

Unter der metallenen Schädeldecke lag eine kompakte Positronik verborgen. Zwei Speicherzellen lieferten die benötigte Energie wahrscheinlich auf Jahre hinaus.

»Ergebnisse?« erkundigte die Kommandantin sich über die Bordsprechanlage. »Wir haben noch knapp hundert Lichtjahre.«

»He«, rief einer der jüngeren Wissenschaftler unvermittelt aus. »Da war etwas, was ich nicht einordnen kann.« Er starrte auf einen kleinen Bildschirm, auf dem mindestens sieben verschiedene Stromkurven graphisch dargestellt waren. »Die Zacke einer Amplitude…« Er deutete mit dem Finger auf die betreffende Stelle, aber sie blieb leer.

»Du hast dich getäuscht«, sagte Crell, der ihm über die Schulter blickte. »Kein Wunder, bei diesem Wirrwarr.«

Der Junge schluckte schwer, schwieg aber. Verbissen starrte er weiter auf den Schirm.

Eine Minute später schrie er freudig auf. »Ich weiß doch, was ich gesehen habe. Da war es wieder.« Er pegelte den Suchlauf ein, bald darauf hatte er den Beweis:

Ein Rafferimpuls, der sich regelmäßig wiederholte.

»Können wir ihn abschalten?«

»Ich denke schon.«

Mit einem OP-Laser schnitten sie die Schädelkapsel auf. Es fiel jetzt leicht, den’ Sender anzupeilen, der als kaum fünf Zentimeter langes Anhängsel an der Positronik befestigt war.

Crell stellte eine Verbindung zur Zentrale her und berichtete. Seine deutlich zur Schau gestellte Zuversicht schwand jedoch schlagartig, als die Kommandantin ihn anfuhr:

»Laßt den Sender, wie er ist. Ich ändere meinen Plan.«

»Aber…«

»Wir werden den Linearraum verlassen, allerdings weiter von der Sonne entfernt, als vorgesehen, und wir werden sofort wieder mit Höchstwerten beschleunigen.«

Crell stieß ein kehliges Knurren aus, kratzte mit beiden Händen verlegen sein Brustfell. »Wenn mich nicht alles täuscht, hoffst du, daß Gentile Kaz ausgerechnet uns hilft.«

»… unfreiwillig natürlich«, vollendete die Kommandantin. »Der Rafferimpuls ist für seine Schiffe bestimmt. Ich bin überzeugt davon, daß die Facette unseren Standort inzwischen kennt.«

»Die rote Riesensonne steht nur zehn Lichtjahre von Neu-Kardoll entfernt«, gab Crell zu bedenken. »Damit gefährden wir unseren Schlupfwinkel.«

»Uns bleibt keine andere Wahl – die Wespen haben die Einkreisung inzwischen beendet. Der Rücksturz erfolgt in genau drei Minuten. Sobald die ersten Schiffe von Gentile Kaz auftauchen, schaltet den Sender ab; seine Truppen müssen glauben, unsere Verfolger hätten ihn an Bord. Während sie übereinander herfallen, verschwinden wir möglichst ohne Aufsehen.«

Nie zuvor war Crell eine Zeitspanne vor wenigen Minuten so unendlich lang erschienen. Als die KARDOLLS ENDE in den Normalraum zurückfiel, waren seine Hände schweißnaß. Mit hastigen

Bewegungen wischte er sich am Fell ab.

Der Alarm gellte durch das Schiff.

Innerhalb von Augenblicken erschienen die Wespen auf den Schirmen der Normalortung. Die kurze Zeitspanne, die sie brauchten, um zu reagieren, hatte sie in der Librationszone um einige Lichtsekunden über das Ziel hinausrasen lassen. Ihre Umschließung war somit sinnlos geworden.

Die KARDOLLS ENDE fiel auf die Sonne zu, die wie ein blutrotes Auge im All hing. Die zunehmende Schwerkraft des Gestirns sollte die Beschleunigung des Schiffes erhöhen. Je eher die erforderliche Eintauchgeschwindigkeit erreicht war, desto besser. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, daß das erste Gewaltmanöver ohne nennenswerte Schäden geblieben war. Jirriigs hatte indes nicht die Absicht, das Glück erneut herauszufordern.

Die Wespen schwenkten ebenfalls auf den neuen Kurs ein. Die Distanz zwischen den Schiffen verringerte sich rasch. Schon war abzusehen, daß sie die KARDOLLS ENDE vor dem nächsten Lineareintritt eingeholt haben würden, von der Reichweite ihrer Geschütze ganz zu schweigen.

Ruckartig, beinahe widerwillig, schaltete Jirriigs auf Rundruf. Der Blick ihrer Stielaugen hatten sich förmlich auf den Ortungsbildern festgesogen. Die Schiffe von Gentile Kaz ließen auf sich warten. Sollte sie sich geirrt haben? Das war dann vermutlich ihr erster und zugleich letzter Fehler gewesen.

»Raumanzüge anlegen und die Rettungskapsel klarmachen!« kam es schwer über ihre Sprechmembrane. Ihre Haut hatte sich verfärbt, war nun von einer dicken, rissigen Schicht verhärteten Schleims überzogen.

Viel zu langsam kletterte die Anzeige der relativen Geschwindigkeit aus den Rotwerten.

»Entfernung?«

»Einhunderttausend, weiterhin rasch sinkend. Wespen erreichen Schußposition.«

»Wie lange noch?«

»Zwei Minuten zwanzig…«

Jirriigs hing wie erstarrt in ihrem Gestell. Als einzige hatte sie auf den Raumanzug verzichtet. Der Ehrenkodex ihres Volkes ließ ihr keine andere Wahl, als zusammen mit dem Schiff unterzugehen.

Die KARDOLLS ENDE würde den Linearraum nur noch als rasch expandierende Gaswolke erreichen.

»Schutzschirm im Heckbereich aktivieren!«

»Aber unsere Energiereserven…«

»Aktivieren!«

Gleißende Helligkeit sprang von den Bildschirmen herab, zugleich durchlief eine überaus heftige Erschütterung das Schiff. Dumpf dröhnend begann die Schiffszelle zu vibrieren.

»Schadensmeldung!«

Jirriigs erkannte schon an der Vielzahl aufleuchtender Kontrollen, daß der Schutzschirm sich nur noch lückenhaft aufbaute. Die Bestätigung dafür erhielt sie umgehend:

»Ausfall der Feldprojektoren im äußeren Triebwerksbereich. Zwei Lecks sind abgeschottet.«

Das Simulationsmodell des Bordrechners ergab 80 Prozent Wahrscheinlichkeit für ein Auseinanderbrechen des Schiffes nach den nächsten schweren Treffern.

»Crell«, rief die Kommandantin ins Mikro. »Sendet das verdammte Ding noch?«

»Jede Minute. Wir…«

Plötzlich waren sie da. Eine Vielzahl neuer Ortungsreflexe. Es handelte sich um hundert Meter

lange doppelrümpfige Schiffe mit trichterförmig auseinanderlaufenden Antriebseinheiten.

»Das sind Raumer der Facette«, jubelte jemand.

Auch Jirriigs war nie zuvor so froh gewesen, Schiffe von Gentile Kaz zu sehen.

Die Wespen fächerten sofort auf und eröffneten das Feuer. Auf sie mußte es wirken, als hätte der Verfolgte Verstärkung erhalten.

Niemand achtete noch auf die KARDOLLS ENDE, die mit Schlingerbewegungen auf die Sonne zu stürzte und deren Triebwerke nur sporadisch zündeten. Es schien, als versuche die Besatzung verzweifelt, sich und ihr angeschlagenes Schiff vor dem Verglühen zu retten.

Während hinter der KARDOLLS ENDE wahre Energiegewitter den Raum durchtobten, während sich die Hilfskräfte zweier Facetten gegenseitig zu vernichten trachteten, griffen bereits die ersten riesigen Protuberanzen nach ihr. Und dann glitt sie in den Linearraum hinüber, ohne daß es zu weiteren Zwischenfällen gekommen wäre.

Die zehn Lichtjahre bis Neu-Kardoll waren eine geradezu lächerliche Entfernung. Das Schiff der Kaz-Fresser kam in unmittelbarer Nähe der planetaren Umlaufbahn heraus.

Sofort erfaßten die Ortungen ein Objekt, das sich mit konstanter Geschwindigkeit näherte, und dessen Flugbahn eindeutig auf Neu-Kardoll zielte.

Im ersten Erschrecken befürchtete Jirriigs, daß es sich um ein Schiff der Crynn-Brigade oder von Gentile Kaz handelte. Aber das war es nicht – ebensowenig wie einer der eigenen Raumer. Die Fernanalyse wies es als rund 100 Meter langen und bis zu 15 Meter dicken unregelmäßigen Felsbrocken aus.

»Das Objekt ist unbelebt«, stellte die Kommandantin fest. »Waffenleitstand: Feuerfreigabe wird erteilt!«

4.Das Nichts begann sich zu verdichten, wurde innerhalb von Sekunden zu einem rasend schnellen Sog, der ihn mit sich riß und aus der Finsternis in eine Welt blendender, greller Helligkeit ausspie… So jedenfalls empfand Atlan das Erwachen aus tiefer Ohnmacht. Das Licht schmerzte seinen Augen und drang selbst durch die geschlossenen Lider hindurch.

Das Gefühl, durch einen endlos tiefen Schacht zu wirbeln, rief würgende Übelkeit hervor. Ächzend breitete Atlan die Arme aus – der Sog wich in dem Moment von ihm, in dem er feststellte, daß er auf festem Boden lag.

Schwankend und noch immer halb benommen, richtete er sich auf. Das Transmitterfeld war erloschen, die Oszillographen blieben stumm. Offensichtlich hatte die Maschinerie sich selbsttätig deaktiviert, ohne daß es zu einem Transportvorgang gekommen war.

Fehlfunktion! konstatierte Atlan.

Das Versagen des Transmitters konnte verschiedene Gründe haben. Sicher wäre es interessant gewesen, herauszufinden, welche Gegenstationen existierten, aber das Risiko eines erneuten Ausfalls, womöglich erst während der Entmaterialisierung, erschien dem Arkoniden zu hoch. Er mußte an Alaska Saedelaere denken, der während eines Hyperraumdurchgangs mit einem Cappin zusammengestoßen und erst nach vier Stunden im Empfangstransmitter angekommen war. Ein Fragment des Cappins hatte sich damals in seinem Gesicht festgesetzt, und jeder, der es sah, verfiel augenblicklich dem Wahnsinn. Alaska war deshalb gezwungen, ständig eine Plastikmaske zu tragen. Und es gab andere, weitaus schlimmere Unfälle, deren Ursachen nie aufgeklärt worden waren.

Wahrscheinlich stellte der Transmitter die einzige Verbindung nach Hondyrtkart, dem Planeten der Weisen, dar. Unschlüssig zuckte Atlan mit den Schultern. Erst ein Blick auf sein Armbandchronometer überzeugte ihn davon, daß inzwischen nahezu vier Stunden verstrichen waren – demnach war er relativ lange ohne Bewußtsein gewesen. Die Freunde würden bereits auf ihn warten.

Noch immer leicht benommen, kehrte Atlan den unterirdischen Anlagen den Rücken. Die enge Treppe hinaufzusteigen, fiel ihm schwer; mehrmals mußte er stehenbleiben und nach einem festen Halt suchen, weil sein Gleichgewichtssinn ihm völlig verdrehte Schwerkraftverhältnisse vorgaukelte.

Bis er endlich den Gleiter erreichte, fühlte er sich aber wieder fit genug, um mit Höchstgeschwindigkeit nach Osten zu fliegen. Die Dämmerung stieg langsam über die Berge jenseits des Raumhafens herauf. Atlan achtete kaum mehr auf die zerstörte Landschaft unter sich.

Nach einiger Zeit kam ANIMA in Sicht. Sie hatte die Form eines nahezu runden Felsblocks angenommen. Der Arkonide steuerte den Gleiter in die deutlich zu erkennende Höhlenöffnung hinein, die sich hinter ihm rasch schloß.

Ein Lächeln huschte über Parillyons Züge, als Atlan ausstieg und sie einander flüchtig ansahen.

»Du warst lange unterwegs. Wir fürchteten schon, dir könnte etwas zugestoßen sein.«

»Was sollte mir geschehen?« erwiderte der Arkonide schroff. »Ich wurde aufgehalten, das ist alles. Kein Grund sich deshalb den Kopf zu zerbrechen.«

»Trotzdem ist es schön, daß du wieder da bist.« ANIMA bildete zwei Gliedmaßen aus und versuchte, ihn zu umarmen. Es blieb bei dem Versuch, weil er die Pseudopodien grob zur Seite stieß.

»Laß mich in Ruhe!« herrschte er sie an. »Ich kann mir nicht vorstellen, zu einem Plasmaklumpen Zuneigung zu empfinden.« Daß ihr Kontaktknoten jäh vor ihm zurückzuckte, beachtete Atlan nicht einmal. Wo er gerade stand, ließ er sich niedersinken und streckte sich der Länge nach aus. Die

Hände hinter dem Kopf verschränkt, starrte er blicklos vor sich hin.

»Du hattest keinen Erfolg?« vermutete Parillyon, nachdem er ihn eine Weile schweigend beobachtet hatte.

»Deine Angaben waren falsch«, erklang es aggressiv.

»Ich sagte…«

»Du sagtest, ich würde den Weg zu den Weisen finden, wenn ich allein gehe. Ist es nicht so?«

»Vielleicht«, überlegte Parillyon, »ist Hondyrtkart doch nicht so wichtig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wir könnten viel mehr tun, wenn wir direkt gegen das größte Übel von Alkordoom, gegen Gentile Kaz, vorgehen.«

Atlan schien ihm überhaupt nicht zugehört zu haben. »Ich will eine Antwort auf meine Frage«, drängte er.

»Gentile Kaz muß beseitigt werden, nur dann können wir wirklich für einen dauerhaften Frieden kämpfen.«

Atlan starrte den Yiker entgeistert an.

»Du mußt verrückt sein, daß du dich mit der Facette anlegen willst. Das ist unmöglich. Hör mir lieber zu.«

Jetzt zeigte sich, daß beide in ihrem Eifer zwar aneinander vorbeigeredet hatten, daß Parillyon aber dennoch wußte, was Atlan ihn gefragt hatte. »Natürlich sagte ich, du würdest den Weg finden; ich kenne immerhin die Verhältnisse auf dieser Welt.« Er unterbrach sich kurz und hustete. »Zumindest glaubte ich bis heute, sie zu kennen. Die Jahre scheinen nicht spurlos vorübergegangen zu sein.«

»Das ist wahr«, pflichtete Atlan bei. »Sind dir die Koordinaten von Hondyrtkart bekannt?«

Parillyon schüttelte den Kopf.

»Dann wird es schwer sein, zu den Weisen zu finden, wenn nicht gar unmöglich«, fuhr der Arkonide fort. »Ich schlage vor, unsere Kräfte statt dessen für den Sturz von Gentile Kaz einzusetzen. Sobald die Facette besiegt ist, werden sich die Verhältnisse in Ordardor von selbst bessern.«

»Hältst du das nicht für zu gewagt? Nur wir zwei gegen den Leuchtenden?«

»Wir sind drei«, berichtigte der Arkonide. »Oder gefällt dir mein Vorschlag nicht? Hast du Angst?« Das klang herausfordernd und spöttisch zugleich.

»Ich wollte mich zwar nicht mehr einmischen«, erklang unvermittelt ANIMAS gefühlsbetonte Stimme. »Aber als Parillyon eben genau denselben Vorschlag machte, hast du ihn verrückt genannt. Wo liegt da der Unterschied?«

»Dann misch dich nicht ein, alte Hutzel!« Atlan sprach ausnahmsweise nicht alkordisch, sondern bediente sich des alten terranischen Idioms Deutsch, das er zum erstenmal seit langen Zeiten wieder bei den Celestern gehört hatte.

»Bitte?« fragte ANIMA prompt.

»Ich meine, daß Parillyon keine Ahnung hat, wie man wirksam gegen einen Machthaber wie Gentile Kaz vorgeht. Er sieht das aus seiner Sicht viel zu beschränkt. Wenn jemand einen brauchbaren Plan entwickeln kann, dann bin ich das, zusammen mit meinem Logiksektor.«

»Damit wagst du zuviel«, gab ANIMA zu bedenken. »Außerdem überrascht mich dein Sinneswandel. Wir sollten vorsichtiger vorgehen, sonst laufen wir Gefahr, mit unserer Mission zu scheitern.«

»Wir…?« dehnte Atlan ungläubig. »Du wirst anmaßend und ungerecht, allerliebste ANIMA.

Kümmere dich gefälligst darum, daß ich meine Ziele unbehelligt erreiche, ansonsten überlaß mir das Handeln. Schließlich bin ich der Beauftragte der Kosmokraten – der Beste, den sie finden konnten. Du hattest deine Chance und hast sie vertan. Oder wie anders soll ich es verstehen, daß du in rund 80 Jahren nichts erreicht hast? Mit der Ausnahme, daß man in Alkordoom inzwischen von dem wandlungsfähigen Kristall wie von einer Legende spricht.«

»Verärgere sie nicht, Atlan«, rief Parillyon dazwischen. »Immerhin sind wir auf Helfer angewiesen.«

»Wenn ANIMA die Wahrheit nicht vertragen kann, soll sie sich zum Teufel scheren. Nicht wahr, du Plasmaklumpen?« Die Frage war an die Schlummernde gerichtet.

»Du liebst mich nicht mehr«, erklang es stockend.

Atlan wirkte ärgerlich.

»Wenn es dich beruhigt, meinetwegen: Ja, ich liebe dich. Bist du nun zufrieden?«

Ein Schluchzen hallte durch das Innere des lebenden Raumschiffs, begleitet von gleichmäßigen Erschütterungen. Zähflüssige Tropfen lösten sich von der Decke und aus den Wänden und zerplatzten beim Aufprall.

»Wenn du mich schon ablehnst, könntest du dir wenigstens die Mühe machen, es auf gefühlvollere Weise zu tun«, ächzte ANIMA. »Ich möchte trotz allem mehr sein als nur deine Dienerin.«

»Das bist du«, versicherte Atlan wenig glaubhaft. Er wandte sich an Parillyon: »Hast du Helfer, die bereit wären, Seite an Seite mit uns zu kämpfen?«

Der Yiker nickte. »Sie werden deinen Vorschlag vermutlich mit Begeisterung aufnehmen.«

»Das will ich meinen. Wie können wir Kontakt herstellen? Wir sollten möglichst wenig Zeit versäumen.«

»Es gibt eine Organisation in Ordardor, die sich die Kaz-Fresser nennt. Ihr gehören rund 5.000 Mitglieder der verschiedensten Rassen an…«

Atlan stieß einen überraschten Pfiff aus. »Das ist mehr als ich zu hoffen wagte«, stellte er fest.

Parillyon lachte leise. »Viele von ihnen sind meine Freunde. Es dürfte leichtfallen, sie für unser Vorhaben zu gewinnen, wenn es nur gegen Gentile Kaz geht. Immerhin betrachten sie sich als die rechtmäßigen Herren von Ordardor, und sie haben in Anspielung darauf ihre Welt, auf der sie leben, Neu-Kardoll genannt. Du weißt, daß die Hauptwelt der Facette Kardoll ist.«

Atlan wirkte ungeduldig. »Erzähle mir nicht Dinge, die mir längst bekannt sind. So viele Wesen unterschiedlicher Völker müssen schließlich einen Grund haben, sich zusammenzutun.«

»Den haben sie. Jeder von ihnen hat genügend Anlaß, Gentile Kaz zu hassen. Die meisten haben durch sein Wirken ihre Familie verloren, einige gehören Völkern an, die fast vollständig ausgerottet wurden.«

»Worauf warten wir eigentlich noch?« Scheinbar gedankenverloren spielte Atlan mit seinem Kombistrahler. Er stellte den Wählhebel auf tödliche Energiestrahlen. »Gib ANIMA die Koordinaten. Wir fliegen nach Neu-Kardoll.«

*

Das System lag in der Randzone eines mehrere Lichtjahre durchmessenden Nebels, der im gelbrötlichen Licht von Metallen und Metalloxiden, überwiegend Titanoxid, erstrahlte. Es umfaßte drei Planeten und, soweit mit den einfachen Ortungsgeräten des Gleiters festzustellen war, mehrere Monde. Aber nur eine Welt umlief die kleine gelbe Sonne innerhalb der Biosphäre. Ihre

langgestreckte Bahn sowie die starke Achsneigung ließen auf extrem ausgeprägte Jahreszeiten schließen.

»Ich empfange so gut wie keine Energieechos«, stellte Atlan fest.

»Das hat nichts zu bedeuten«, winkte Parillyon ab. »Die Rebellen müssen intimer gegenwärtig sein, daß Schiffe der Facette auftauchen. Allerdings ist dieser Raumsektor sowohl wirtschaftlich als auch von der Population her uninteressant.«

»Atlan«, meldete ANIMA sich zum erstenmal seit ihrem Aufbruch von Kippelkart wieder, nachdem sie durch ihr Schweigen zu verstehen gegeben hatte, daß sie schmollte, »da ist etwas in unserer Nähe. Ich nehme seine Anwesenheit erst seit wenigen Augenblicken wahr.«

»Danke«, erwiderte der Arkonide kurz. Mit Hilfe der Instrumente des Gleiters versuchte er, mehr herauszufinden. Offenbar hatte ein kleineres Raumschiff den Linearraum verlassen und befand sich im Anflug auf Neu-Kardoll.

Im nächsten Moment eröffnete das fremde Schiff ohne jede Vorwarnung das Feuer. Zwei Treffer aus schweren Energiegeschützen ließen ANIMA aufschreien.

Vorübergehend setzte die künstlich erzeugte Schwerkraft aus. Für denselben Zeitraum verblaßten die leuchtenden Flächen, die ANIMA beliebig erzeugte.

»Wer ist der Angreifer?« wollte Parillyon wissen.

»Keine Ahnung.« Atlan zuckte nur mit den Schultern. »Zumindest können sie uns nichts anhaben.«

Die Instrumente zeigten weitere Treffer an. Diesmal war jedoch kaum etwas davon zu spüren. ANIMA hatte sich darauf vorbereitet. Schon während ihrer jahrelangen Flucht vor der Crynn-Brigade hatte sich herausgestellt, daß ihre Hülle relativ unangreifbar war und sogar schwersten Energiebeschuß mühelos überstand.

Der Arkonide fluchte leise vor sich hin.

»Diese Narren«, schimpfte er. »Wenn ich ein richtiges Schiff hätte, würde ich ihnen zeigen, worauf sie sich eingelassen haben. Ein wenig Feuer unterm Hintern hat noch niemandem geschadet.«

Parillyon grinste zufrieden. »Du bist nach meinem Geschmack, Atlan. Ich denke, wir beide können es schaffen.«

»Hast du jemals daran gezweifelt? Ich nicht.« Nachdenklich leckte Atlan sich über die Lippen. »ANIMA«, befahl er dann, »du mußt deine Hülle in eine Substanz verwandeln, die härter ist als molekülverdichteter Stahl. Wir rammen den Angreifer.«

»Nein!«

»Was soll das heißen?« fuhr Atlan auf. »Ich töte kein Leben!«

»Wir handeln in Notwehr.«

»Für uns besteht keine akute Gefahr. Außerdem wird die Besatzung des Raumschiffs die Sinnlosigkeit ihres Handelns bald einsehen.«

»Das ist mir egal.« Atlan wurde zunehmend lauter. »Sie haben uns angegriffen und sind demnach für die Konsequenzen selbst verantwortlich. Ich befehle dir…«

»Ich verweigere den Befehl.«

»Auf Crynn hast du anders gehandelt. Macht dein Gewissen womöglich Unterschiede?«

Ein heftiges Schluchzen war die einzige vernehmbare Antwort.

»Tut mir leid«, stieß Atlan hastig hervor. »Ich wollte dich nicht daran erinnern. Immerhin hat dein Fragment nicht nur mir das Leben gerettet.«

»Das ist ein Diskusschiff«, platzte Parillyon heraus, der sich während der kurzen Auseinandersetzung in die Ortungen vertieft hatte. »Ich muß versuchen, es über Funk zu erreichen.«

»Bitte«, machte Atlan verblüfft. »Wenn du dir mehr davon versprichst.«

Die Angreifer feuerten inzwischen im Salventakt. ANIMA versuchte zu fliehen, konnte die Distanz zwischen sich und dem mit hohen Werten beschleunigenden Raumer aber nur langsam vergrößern.

Ein Bildschirm erhellte sich aufgrund Parillyons Schaltungen. Die sichtbar werdende Gestalt glich am ehesten einer gut zwei Meter großen, aufrecht stehenden Nacktschnecke. Fühler und Stielaugen hatten sich ineinander verschlungen.

»Wer seid ihr?« erklang es dumpf vibrierend. »Was wollt ihr im System von Neu-Kardoll?«

»Zuerst einmal solltest du das Feuerwerk einstellen lassen, Jirriigs.« Parillyon drehte die Optik so, daß er erst jetzt in ihren Erfassungsbereich geriet.

»Parillyon!« schrie die Schnecke auf. »Dann bist du endlich von Crynn zurück. Hat Zulgea dir dieses seltsame Schiff anvertraut, das wir für einen Planetoiden hielten? Ist sie bei dir an Bord?«

Abwehrend hob der Yiker die Hände.

»Nicht alles auf einmal. Die Hexe wollte von uns nichts wissen. Aber ich habe einen Freund mitgebracht…«

»Nur einen Freund?« Jirriigs war offensichtlich enttäuscht. »Oder hast du dich überhaupt nicht bis nach Crynn gewagt?«

Parillyon spie in hohem Bogen aus. »Du solltest mich inzwischen besser kennen. Vielleicht bist du überzeugt, wenn du den Gleiter siehst, in dem ich sitze. Er gehörte der Crynn-Brigade.«

»Und du wirst überrascht sein, was wir erbeutet haben«, setzte Jirriigs dagegen.

»Worauf warten wir dann noch? Landen wir endlich«, schlug Parillyon vor.

*

»Sieht nicht gerade vielversprechend aus«, meinte Atlan abschätzig. »Ehrlich gesagt, ich habe mehr erwartet.« Tief sog er die warme, würzige Luft in seine Lungen ein, während er sich einmal langsam um sich selbst drehte.

»Die Kampfmoral ist entscheidend«, sagte Parillyon, »du wirst sehen, bessere Mitstreiter könntest du nirgendwo finden.«

»Wo die Ausrüstung mangelhaft ist, hat selbst der beste Rebell sein Leben verwirkt«, murmelte Atlan.

»Bitte?«

»Schon gut. Das war nur die Abwandlung eines alten Sprichworts. Bildet ihr euch wirklich ein, mit Raumschiffen wie diesen eine Schlacht zu gewinnen?«

»Was gefällt dir daran nicht?«

»Alles!« Atlan ließ seinen Blick über die rostigen Landestützen der KARDOLLS ENDE schweifen. Nicht jede hatte sich voll ausfahren lassen. Der Diskus stand mit entsprechender Schräglage auf der Piste.

»Du sagtest, auf die Leute ist Verlaß? Dann werden wir uns zuerst neue Schiffe besorgen.«

Ein bodengebundenes Fahrzeug näherte sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, eine riesige Staubwolke hinter sich herziehend. In der Richtung, aus der es kam, funkelten kuppelförmige

Bauten im Sonnenlicht.

Das Fahrzeug entpuppte sich als allradgetriebener, geländegängiger Pritschenwagen, von dem man fast alle Aufbauten entfernt hatte. Der Rest ließ darauf schließen, daß innerhalb kürzester Zeit die Rückverwandlung in einen Raketenwerfer möglich war. Auf Atlan wirkte es zwar ein wenig antiquiert, machte aber einen durchaus brauchbaren Eindruck.

Der Wagen raste zwischen den Landestützen der KARDOLLS ENDE hindurch und stoppte mit blockierenden Bremsen. Unmengen von Staub verwehrten vorübergehend jede Sicht.

Dann, als das Fahrzeug wieder anfuhr, erkannte Atlan, daß Besatzungsmitglieder des Diskusschiffes auf der Ladefläche Platz genommen hatten.

»Wir werden ebenfalls abgeholt«, stellte Parillyon fest.

Der Fahrer raste auf ANIMA zu und riß das Steuer erst im allerletzten Moment herum. Ummittelbar vor den beiden Wartenden kam das Gefährt ruckartig zum Stehen. Aus einem Seitenfenster der Fahrerkabine reckte sich ein eiförmiger, haarloser Schädel heraus. Der hellblaue Wulst, der sich rund herum zog, schien nicht nur die Augen zu ersetzen, sondern zugleich auch Mund und Nase.

»He, Parillyon«, rief das Wesen lautstark. »Du kannst verdammt von Glück reden, daß wir dich nicht abgeschossen haben. Wenn Jirriigs uns nicht informiert hätte…« Neugierig musterte er den Arkoniden, schüttelte dann den Kopf. »Der soll uns helfen? Na ja, steigt schon auf. Tess erwartet euch.«

Atlan mußte eine Vielzahl neugieriger, forschender oder auch ablehnender Blicke über sich ergehen lassen. Ein klein wenig fühlte er sich wie ein seltsames Tier in einem galaktischen Zoo. Aber wahrscheinlich war die Tatsache schuld daran, daß er sich in Parillyons Begleitung befand. Aus dem kurzen Gespräch zwischen ihm und Jirriigs hatte er entnehmen können, daß die Kaz-Fresser jemand anderen erwartet hatten, womöglich gar die Hexe Zulgea von Mesanthor.

Die Nacktschnecke, offenbar die Kommandantin der KARDOLLS ENDE, kauerte ihm gegenüber mit dem Rücken zur Fahrerkabine. Neben ihr saß ein glatzköpfiger, aufgeschwemmt wirkender Thorrater.

Die beiden weiß geschuppten Fischwesen glichen einander wie ein Ei dem anderen. Atlan konnte zumindest auf Anhieb keine Unterschiede ausmachen. Mit ihren aus dem Halsansatz herauswachsenden Tentakeln erinnerten sie an Welse.

»Laß dich von ihnen nicht einschüchtern«, erklang eine heisere Stimme. »Das versuchen sie mit jedem Neuen.«

Der Sprecher war ein geradezu klassischer Roboter. So jedenfalls stellten wohl die meisten Intelligenzen, die gerade erst die Stufe zum Industriezeitalter erklommen hatten, sich denkende Arbeitsmaschinen vor. Ein wuchtiger, kastenförmiger Körper, darauf ein auf der Spitze stehendes Dreieck als Kopf. Ein Übermaß an Kontrollanzeigen, noch dazu in verschiedenen Farben, außerdem hervorstehende, kreisrunde Sehzellen. Arme und Beine bestanden hauptsächlich aus Metallstangen, die durch einfache, dreiseitig drehbare Gelenke miteinander verbunden waren.

»Ich werd’s mir merken«, versprach Atlan.

Der Roboter zog aus einer Einbuchtung seines Körpers ein kleines Fläschchen hervor und begann, dessen Inhalt in seine Gelenkkapseln zu träufeln. Dem sich ausbreitenden Geruch nach zu schließen, handelte es sich um Schmieröl.

Die Sonne brannte heiß vom Firmament herab. Nicht ein Lüftchen regte sich. Es war drückend schwül, der aufgewirbelte Staub machte das Atmen zur Qual.

Vor dem Lastwagen und zur Rechten erstreckte sich eine sanft gewellte, buschbestandene Ebene. Weit verstreut ragten die metallenen Leiber von Raumschiffen auf.

Atlan nickte anerkennend. Die Kaz-Fresser zeigten zumindest einen gewissen Weitblick, indem sie ihre Streitmacht dezentralisierten.

Eine flirrende, spiegelnde Wasserfläche lag linkerhand – ein See, dessen anderes Ufer sich am Horizont verlor. Wie Fremdkörper tagten eine Reihe von Inseln daraus hervor.

Die dürftig befestigte Straße schlängelte sich eine Weile am Ufer dahin. Während dieser Zeit verlor Atlan die Kuppeln der Ansiedlung aus den Augen. Fünf Kilometer waren es mindestens bis zu ANIMAS Landeplatz. Das Fahrzeug kletterte zwischen zwei Dünen empor und schoß dann auf die ersten Gebäude zu.

Alles machte einen mehr oder weniger behelfsmäßigen Eindruck. Kuppeln wie diese wurden im allgemeinen von Forschungsexpeditionen benutzt oder wenn neue Siedlungswelten erschlossen wurden. Ihr Material konnte je nach Intensität und Einstrahlung Sonnenlicht entweder reflektieren oder speichern. Auf Neu-Kardoll wäre wohl jeder andere Bau zu einem Brutofen geraten.

Im Nu versammelten sich einige hundert Neugierige, die von allen Seiten auf Parillyon einredeten. Atlan verstand kaum die Hälfte davon, denn einige benutzten in ihrem Eifer nicht das Alkordische, sondern ihre eigene Muttersprache.

»Freunde«, rief Yiker theatralisch.

»Ihr werdet alles erfahren. – Nein, die Hexe ist nicht mitgekommen.«

Ruhe trat erst ein, als ein Gefiederter gemessenen Schrittes herankam. Die Menge wich bereitwillig vor ihm zur Seite.

Atlan musterte den Fremden von oben bis unten. Er hatte in seinem langen Leben schon die exotischsten Geschöpfe gesehen, aber diesmal verschlug es ihm doch für einen Moment die Sprache.

»Das ist Tess«, raunte Parillyon neben ihm. »Der Anführer der Kaz-Fresser.«

Man hätte glauben können, daß die Voorndaner vor nunmehr rund zwei Jahrtausenden aus bislang unbekannten Gründen nicht nur die Besatzung der MARY CELESTE und des amerikanischen Kriegsschiffes LEVANT sowie mehrere tausend Polynesier, sondern auch einige Marabus von der Erde entführt hatten. Die Ähnlichkeit war jedenfalls verblüffend.

Tess war hoch gewachsen, wenn er sich streckte, bestimmt über zwei Meter. Seine Beine waren sehnig, die Fänge mit den scharfen Krallen wirkten überaus kräftig und stellten wohl eine gefährliche Waffe dar. Ebenso wie der mächtige, stark keilförmig spitz zulaufende Schnabel. Schiefergraues Gefieder bedeckte die Bauchseite und den Nacken, die schweren Flügel schimmerten metallisch dunkelgrün. Die rötlich fleischfarbene Haut des Kopfes, des Halses und des aufblasbaren Kehlsacks war nur spärlich mit kurzen, haarig wirkenden Federn bedeckt.

Atlan fragte sich, ob die Nahrung dieses Wesens ähnlich der seiner irdischen Vettern aus Abfällen und Aas bestand.

»Was willst du mit dem?« Tess ließ eine Reihe krächzender, hustender Geräusche vernehmen, stieß den Schnabel ruckartig in die Höhe und spie in hohem Bogen aus. Dann schüttelte er sich und breitete in offensichtlich drohender Geste die Schwingen aus. »Willst du uns einreden, daß er soviel wert ist wie die Hexe?«

Parillyon war nicht der Mann, der sich hätte einschüchtern lassen. »Wenn du Streit suchst«, sagte er scharf, »mach das mit anderen aus. Atlan hat mich aus der Gefangenschaft der Hexe befreit.«

Tess bohrte seinen Schnabel unter die rechte Schwinge. »Du siehst das hoffentlich nicht als große Leistung an«, stieß er dumpf hervor. »Es war auch von dir keine überwältigende Tat, dich gefangennehmen zu lassen. Hast du Zulgea wenigstens unser Angebot für eine Zusammenarbeit gegen Gentile Kaz überbracht?«

»Sie wollte mich nicht anhören«, gestand Parillyon.

»Dann hast du absolut nichts erreicht?«

»Atlan ist bereit, mit uns zu kämpfen.«

»Was kann er, außer fressen und saufen?« Hustend und mit den Flügeln schlagend, hüpfte Tess umher. Als er abrupt innehielt, spie er dem Yiker vor die Füße. »Daß er dir geholfen hat, will ich nicht mehr hören.«

»Vielleicht sollte ich selbst etwas…« begann Atlan, wurde aber zornig unterbrochen.

»Du hältst den Mund, Silberhaariger.« Mit der Schnabelspitze stieß Tess ihn an, daß er unwillkürlich einen Schritt zurück taumelte.

Im nächsten Moment wirbelte Atlan herum. Seine Rechte umfaßte den kantigen Schnabel, hielt ihn fest zusammen. Mit der anderen Hand fuhr er in den Nacken des Marabus, drehte sich halb zur Seite und setzte zum Hüftwurf an. Schwer schlug Tess auf, wollte mit den Krallen zupacken, doch Atlan brachte sich durch einen blitzschnellen Sprung in Sicherheit.

Ein einstimmiger Aufschrei verhallte zwischen den Kuppeln. Keiner hatte schnell genug reagiert, um einzugreifen.

Vorübergehend sah es so aus, als wolle Tess sich erneut auf den Arkoniden stürzen. Nur die Tatsache, daß Atlan mit dem entsicherten Strahler auf ihn zielte, ließ ihn innehalten.

»Das hat bisher niemand geschafft«, zischte er. »War es Zufall, oder kannst du mehr solcher Tricks?«

Atlan lächelte, als er den Blaster wegsteckte.

»Sicher kann er noch mehr«, warf Parillyon ein. »Zulgea von Mesanthor ist tot – er hat sie durch eine seiner Helferinnen ersetzt. Außerdem hat er ANIMA gefunden und gezwungen, ihm zu gehorchen. Die Mannschaft der KARDOLLS ENDE wird mir bestätigen, daß nicht einmal schwere Impulsgeschütze dem lebenden Raumschiff schaden konnten.«

»ANIMA«, wiederholte Tess ungläubig. »Der verwandlungsfähige Kristall, der nie eingefangen wurde, ist also nicht bloß eine Legende.«

»Erkennst du endlich, daß Atlan mehr wert ist als die Hexe?« Die Fäuste herausfordernd in die Hüfte gestemmt, trat Parillyon auf den Anführer der Kaz-Fresser zu. »Er wurde als Agent für Gentile Kaz ausgebildet, und nicht nur, daß er den Einsatz überlebte, er konnte sogar dem Leuchtenden entkommen. Auf Crynn sollte er seines Psi-Anteils beraubt werden – wie ihr seht, ist er dabei weder gestorben, noch wurde er in die Sonnensteppe abgeschoben.«

Ein leises durchdringendes Surren war zu vernehmen. Zum einen kam es von Jirriigs, die ein Kommunikationsgerät um den Oberkörper gebunden trug, zum anderen machte sich eines von Parillyons »Schmuckarmbändern« lautstark bemerkbar. Während Jirriigs den Anruf entgegennahm, schaltete der Yiker seinen Empfänger hastig aus.

Atlan zeigte ein spöttisches Grinsen. »Spätestens seit die Steine auf Kippelkart aufleuchteten, wußte ich, daß du irgendwelche technischen Spielereien vor mir verbirgst. Ich nehme an, es handelt sich um ein Hyperfunkgerät und um Waffen.«

»Was man eben braucht, um unter widrigen Umständen zu überleben«, entgegnete Parillyon.

Er war schlagartig ruhig geworden um sie herum. In dieser geradezu bedrückenden Stille klangen Jirriigs Worte doppelt laut, als sie ihren unsichtbar bleibenden Gesprächspartner aufforderte: »Wiederhole, was du gesagt, hast, Crell!«

»Es ist uns gelungen, den Gedächtnisspeicher des Bioroboters anzuzapfen. Noch haben wir zwar nicht Zugang zu sämtlichen Informationen, aber was wir bisher erfahren konnten, genügt, um das

Schlimmste zu befürchten. Gentile Kaz kennt seit kurzem die Bedeutung von Neu-Kardoll. Wir müssen unseren Stützpunkt räumen.«

»Gib her!« Tess riß der Kommandantin der KARDOLLS ENDE das Funkgerät förmlich aus den Händen. Auf einem Bein stehend, packte er dabei mit den Fängen des anderen Fußes überaus geschickt zu.

»Crell«, krächzte er, »wurden die Daten überprüft?«

»Doppelt und dreifach. Es gibt keinen Zweifel daran, daß dem Leuchtenden die Koordinaten von Neu-Kardoll bekannt sind.«

Tess’ Kehlsack blähte sich auf. Er würgte. Schließlich brachte er Speisereste hervor, die er bis zur Schnabelspitze beförderte und dann mit kröpfenden Bewegungen erneut verschluckte. »Wir wurden bisher nicht angegriffen, weshalb sollte das in absehbarer Zeit…?«

Das Heulen der Sirenen war ohrenbetäubend. Es mußte selbst bei den am weitesten entfernten Raumschiffen zu hören sein. Die Kaz-Fresser stoben auseinander.

Wie ein Schwarm aufgescheuchter Hühner, denen sich der Fuchs näherte, dachte Atlan.

»Wir müssen uns an Tess halten«, rief Parillyon ihm zu.

Der Gefiederte hüpfte mit weit ausgreifenden Sätzen auf die größte Kuppel zu. Sie hatten Mühe, ihm zu folgen.

Das Gebäude barg eine hervorragend ausgestattete Ortungsanlage. Den Anzeigen nach war nur ein einziges Schiff mitten im System aus dem Linearraum gekommen. Das konnte Zufall sein, möglich war aber auch, daß es sich um die Vorhut einer größeren Flotte handelte.

»Was gedenkst du zu tun, Tess?« fragte Parillyon.

Der Gefiederte hustete und spuckte, wie es seine Art war, und plusterte seine Federn auf. »Wir greifen an«, stellte er fest. »Bevor wir selbst zur Zielscheibe werden.«

»Wenn der Bioroboter ein Agent der Facette ist, besteht die Gefahr, daß er Peilimpulse abstrahlt«, sagte Atlan.

»Das tut er nicht mehr«, erklang Jirriigs’ Stimme. Die Kommandantin der KARDOLLS ENDE hatte hinter ihnen den Raum betreten. »Meine Leute konnten den betreffenden Sender schon während des Fluges deaktivieren.«

Die Auswertungen zeigten, daß es sich bei dem anfliegenden Schiff um einen Kreuzer mit über 500 Meter Länge handelte. Zweifelsfrei ein Raumer aus Gentile Kaz’ Flotte.

»An dem beißen wir uns die Zähne aus«, befürchtete Jirriigs. »Wir sollten fliehen, solange es noch möglich ist.«

»Wer sagt, daß wir keine Chance haben?« warf Atlan ein. »Wenn wir das Schiff erobern könnten, wäre es mehr als nur eine Verstärkung für uns.«

»Du bist verrückt«, stieß Tess hervor.

Atlan achtete nicht darauf. »Wenn wir die Falle richtig aufbauen«, sagte er, »können wir es schaffen.«

Parillyon nickte eifrig. »Atlan besitzt ein zweites Gehirn, das für ihn logisch denkt und ihm rät, was er machen soll.«

»Nicht ganz, aber so ungefähr«, bestätigte der Arkonide.

Tess starrte ihn herausfordernd an. »Lieber nur ein Gehirn, dafür jedoch eines, das richtig funktioniert.«

»Warum läßt du ihn nicht ausreden?« fragte Jirriigs.

»Weil wir sofort angreifen. Das Schiff wird in spätestens zwei Stunden Neu-Kardoll erreicht haben, wenn es seine augenblickliche Geschwindigkeit beibehält. Drei der älteren Raumer genügen, um die Zurückbleibenden vorsichtshalber zu evakuieren.«

Atlan blickte erst Parillyon und dann Jirriigs siegessicher an. »Ich brauche mindestens zwanzig Mann, von denen jeder bereit ist, sein Leben zu opfern.«

»Dich reizt das Schiff?« stellte der Yiker fest.

»Wir könnten ein modernes trojanisches Pferd daraus machen. Gentile Kaz wird sich wundern.«

»Ein was…?«

Atlan winkte ab. »Das erkläre ich dir später. Jetzt gilt es, keine Zeit zu verlieren.«

»Zwanzig Mann«, keifte Tess ihnen hinterher, als sie sich anschickten, die Kuppel zu verlassen. »Um ein Raumschiff wie dieses zu erobern? Ihr müßt den Verstand verloren haben.«

*

Auf Befehl des Gefiederten starteten die drei am besten ausgerüsteten Raumer. Sie benötigten nur wenig mehr als eine halbe Stunde, um in Sichtweite des vermeintlichen Gegners zu gelangen. Atlan nutzte diese Zeitspanne, um in aller Eile Vorbereitungen zu treffen. Dabei erwies es sich als vorteilhaft, daß sowohl Parillyon als auch Jirriigs mit den Verhältnissen auf Neu-Kardoll bestens vertraut waren. Als es im Raum zum ersten Schlagabtausch kam, stand Atlan in der Zentrale der KARDOLLS ENDE und konnte das Geschehen aus erster Hand miterleben.

Zwei jeweils 150 Meter messende Pyramidenschiffe und ein Raumer von der Form einer stark zusammengedrückten Kugel mit einem größten Durchmesser von 80 Meter gegen einen waffentechnisch sicher weit überlegenen Kreuzer… Auf der KARDOLLS ENDE hörte man den Funkverkehr ab. Die Schiffe der Kaz-Fresser bemühten sich vergeblich, Kontakt zu dem Fremden herzustellen.

»Sie wollen nicht«, erklang es aus den Lautsprechern. »Das ist eindeutig.«

»Ihr Kurs zielt nach wie vor auf Neu-Kardoll.« Das war eine andere, aufgeregte Stimme. »Wir müssen sie stoppen.«

»Kannst du den Namen des Schiffes erkennen?«

»Von unserem Standort aus nicht.«

»Es ist die ORDARDOR!«

Für eine Weile herrschte Schweigen. Nur das monotone Rauschen der Statik drang aus dem Empfänger.

Die drei Schiffe nahmen Abfangpositionen ein. Die Entfernung zwischen ihnen und dem Kreuzer betrug noch wenig mehr als 60.000 Kilometer.

»Dem Namen nach ist die ORDARDOR ein Flaggschiff«, erklang unvermittelt Tess’ krächzendes Organ. »Ihr habt Feuerfreigabe.«

»Wir…« Sekundenlang war ein ohrenbetäubendes Krachen zu vernehmen. Dann redeten etliche Stimmen, die nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren, wirr durcheinander. Befehle wurden gebrüllt, Kommandos gegeben.

»Treffer mittschiffs. Wir haben Ausfälle in zwei Sektoren. Schirmfelder geschwächt. Leiten Wendemanöver ein.«

Erneut erklang ein sich steigerndes Stakkato, ein Kreischen, als wenn Stahl zerriß.

»THORRAN! Ich rufe die THORRAN! Was ist mit euch?«

Stille. Dann: »Verdammt! Ich glaube, die hat’s erwischt. Das Leck im oberen Polbereich ist riesig.«

»Hier THORRAN… Unsere Funkanlage… defekt… haben große Ausfälle und Feuer an Bord.«

»Seid ihr noch manövrierfähig?«

»Nicht mehr voll… Wir jagen unsere Torpedos raus, ehe das Feuer auf die Munitionsdepots übergreift.« Überlagernde Störungen machten den Wortlaut fast unverständlich.

»Zur Zielkoordination Positroniken koppeln! Sämtliche Salven verpuffen wirkungslos. Wir müssen auf Punktbeschuß gehen.«

»Verstanden… Übergabe läuft.«

Schlagartig verdoppelten sich die Energieemissionen im Raum. Hatte die ORDARDOR ihre Geschütze bisher nacheinander abgefeuert, so deckte sie die Kaz-Fresser nun mit vollen Breitseiten ein.

Die MERK AS, was auf alkordisch soviel bedeutete wie VERGELTUNG, sandte Notruf.

»Unser gesamter Heckbereich ist ein Trümmerhaufen, die Konverter können jeden Augenblick reagieren. Die Besatzung geht in die Boote. Ich bleibe an Bord und versuche, die Torpedos ins Ziel…«

Hoch über Neu-Kardoll, mit bloßem Auge kaum zu erkennen, flammte ein neuer Stern auf.

Die ORDARDOR war durchgebrochen und kümmerte sich nicht mehr um das einzige noch manövrierfähige Schiff, dessen Mannschaft alle Hände voll zu tun hatte, um die Überlebenden aufzufischen.

Die Evakuierung des Planeten lief an.

Längstens noch eine Stunde, dann würde der Kreuzer über der Siedlung erscheinen.

Parillyon blickte den Arkoniden durchdringend an. »Nun bist du an der Reihe, Atlan. Beweise ihnen, daß ich dich richtig eingeschätzt habe. Für die Freiheit von Ordardor.«

»Für die Freiheit von Ordardor«, wiederholten Atlan und Jirriigs wie aus einem Mund.

5.Völlig unerwartet verschwand der Kreuzer von den Schirmen, erschien aber Sekunden später im Orbit über Neu-Kardoll. Er platzte mitten in die Startvorbereitungen der Flüchtlingsraumer hinein und hinderte diese durch starke Fesselfelder daran, den Planeten zu verlassen.

Eine Geschützsalve orgelte über die Kuppeln der Ansiedlung hinweg. Donnernd stürzten die verdrängten, erhitzten Luftmassen in das entstandene Vakuum zurück, während zugleich Dutzende Kilometer nördlich die sonnenheißen Gluten in die Berge einschlugen und glühende Krater hinterließen. Eine deutlichere Machtdemonstration hätte Kaz’ Hilfstruppe nicht geben können.

Die ORDARDOR ging zwischen den Kuppeln und dem See nieder. Ihre Schutzschirme blieben weiterhin aktiviert. Nur in Bodennähe entstanden Strukturlücken, um die eigenen Landetruppen ausschleusen zu können.

Einige Kilometer entfernt nickte Atlan zufrieden. Er hatte den Landeplatz des Kreuzers fast auf den Meter vorhergesagt. »Mein Logiksektor kann mehr als manche Positronik«, sagte er leicht überheblich, als er Jirriigs’ forschenden Blick auf sich ruhen fühlte. »Jetzt kommt es darauf an, Verwirrung zu stiften.«

Man hatte den Hypersender des Bioroboters wieder aktiviert und den Schädel zunächst in unmittelbarer Ufernähe verborgen. Zum einen wurde die ORDARDOR auf diese Weise davon abgehalten, die Ansiedlung möglicherweise mit einem einzigen Feuerstoß dem Erdboden gleichzumachen, zum anderen würde die Besatzung sicherlich versuchen, die Überreste des Agenten von Gentile Kaz an Bord zu nehmen.

Aufgabe der beiden Waler war es, den Schädel des Bioroboters so schnell wie möglich zu einer gut fünfzehn Kilometer entfernten Insel zu bringen, die durch Anhöhen und ein ausgedehntes Waldgebiet der direkten Sicht vom Landeplatz aus entzogen war. Atlan wartete hier mit einigen seiner Leute.

Über einen tragbaren Monitor konnte er verfolgen, was in der Nähe des Kreuzers geschah. Ein fliegendes Auge übermittelte die Bilder in allen Details. Allerdings war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Kamera aufgrund ihrer Streustrahlung entdeckt und zerstört werden würde.

Unmittelbar neben den Landestützen des Kreuzers erhob sich eine Reihe schroffer Klippen, die einzigen an diesem Abschnitt des Seeufers. Doch das erweckte kaum Argwohn.

Hintereinander erschienen etliche Gleiter, die sofort Kurs auf die Schiffe der Kaz-Fresser nahmen.

»Hoffentlich reagieren Tess und die anderen besonnen genug, um sich nicht vorzeitig in eine bewaffnete Auseinandersetzung einzulassen«, sagte Atlan.

Zwei Gleiter drehten auf den See hinaus ab. Flüchtig gerieten noch einmal die Klippen ins Bild. Wenn Atlan sich nicht täuschte, fehlte bereits einer der Felszacken. Das bedeutete, daß ANIMA es geschafft hatte, ein Fragment ihres Plasmakörpers durch die geöffnete Hangarschleuse an Bord des Kreuzers einzuschmuggeln.

Schlagartig wurde der Monitor dunkel.

»Sie haben das Auge abgeschossen«, dröhnte es aus Jirriigs’ Sprechmembrane.

Vom Ufer her erklang aufgeregtes Schnattern. Die Waler waren mit dem Kopf des Bioroboters erschienen.

Es ging um Sekunden.

Atlan hatte diese Insel ausgewählt, weil sie trotz ihrer geringen Größe von dichtem Wald bedeckt wurde. Außerdem existierte hier ein unterirdisches Silo mit Abwehrraketen, der zu einem noch im Bau befindlichen Sicherungssystem der Kaz-Fresser gehörte.

Crell drang mit dem Schädel des Roboters in das grüne Dickicht ein.

Ein Gleiter der Verfolger ging auf dem schmalen, sandigen Uferstreifen nieder. Der zweite kreiste in mehreren hundert Meter Höhe über der Insel.

»Sie werden den Silo geortet haben«, meinte Parillyon. »Aber sie können ihn nicht zerstören, solange ihre eigenen Leute hier unten sind.«

Fünf Mann verließen die gelandete Maschine. Zwei von ihnen waren haluterähnliche Thater, einer gehörte dem Volk der Chewkas an. Bei den anderen handelte es sich um sechsbeinige, spinnenartige Geschöpfe. Auch wenn Atlan es von seinem Versteck aus nicht erkennen konnte, war er überzeugt davon, daß mindestens zwei Wachen im Gleiter zurückgeblieben waren.

Er warf einen flüchtigen Blick auf sein Armbandchronometer. Crell mußte inzwischen den Mittelpunkt der Insel erreicht, den Schädel des Bioroboters deponiert haben und sich wieder auf dem Rückweg befinden.

Die Fremden gaben sich keine Mühe, geräuschlos einzudringen. So fiel es dem Arkoniden und seinen Begleitern leicht, sich ihnen bis auf wenige Meter zu nähern. Offensichtlich standen sie mit dem über der Insel kreisenden Gleiter in loser Sprechverbindung. Mehrmals konnte Atlan Satzfetzen vernehmen. Die Gruppe wurde informiert, daß der von dem Roboter ausgehende Rafferimpuls seine Position nun nicht mehr veränderte.

Der heisere Ruf eines Vogels erklang von irgendwoher aus dem Laubdach des Waldes. Die Söldner der Facette blieben nur kurz stehen und sahen sich aufmerksam um.

Ein leises, kaum wahrnehmbares Singen ertönte.

Eine der Spinnen brach mit unkontrollierten Bewegungen aus der Gruppe aus, bevor sie mit zuckenden Gliedmaßen zu Boden stürzte. Ihre Begleiter stoben sofort auseinander, einige blindlings ausgelöste Desintegratorschüsse fauchten durch den Wald.

Das zweite Spinnenwesen beugte sich über seinen zuckenden Artgenossen und unterzog ihn einer flüchtigen Untersuchung. »Er muß sich vergiftet haben. Vielleicht eine Pflanze, oder ein’ Tier…«

Atlan, der wußte, wonach er zu suchen hatte, gewahrte ein flüchtiges Aufblitzen in einer der Baumkronen.

Auch die zweite Spinne brach, sich aufbäumend, zusammen. Das Schicksal wollte es, daß der Chewka den kaum zehn Zentimeter langen, gläsernen Pfeil entdeckte, der zur Hälfte zwischen ihren Hautfalten heraus ragte.

»Wir werden angegriffen!« brüllte er.

Atlan reagierte nicht minder schnell. Ehe die Gegner ihre Waffen hochreißen konnten, stand er bereits vor ihnen, den entsicherten Blaster in der Rechten. Einer der Thater versuchte noch, eine Warnung abzusetzen.

»Das Funkgerät fallen lassen!« befahl Atlan.

Als der Thater nicht reagierte, schoß er.

»Werft die Waffen weg!« fuhr er die anderen ungehalten an. »Jetzt hinlegen, auf den Bauch! Die Hände hinter den Kopf.«

Jirriigs schob sich an ihm vorbei und hob die Desintegratoren auf. »Es wäre nicht nötig gewesen, daß du ihn tötest«, sagte sie tadelnd.

»Hätte er alles verraten sollen?« erwiderte Atlan schroff.

Serk Porrjan kletterte zu ihnen herab. Er trug ein knapp einen halben Meter langes Blasrohr und ein hölzernes Kästchen mit mindestens noch zwanzig gläsernen Pfeilen.

Parillyon nickte anerkennend. »Auf jeden Fall war es richtig, daß Atlan für den Überfall von Paralysatoren abgeraten hat. Die Spinnenwesen sind gegen Lähmstrahlen immun.«

»Ich weiß«, warf Porrjan ein. »Deshalb habe ich sie zuerst mit dem Gift betäubt.« Er deutete auf die beiden anderen Gefangenen. »Was machen wir mit denen?«

»Dasselbe«, sagte Atlan. »Nehmt ihnen außerdem die gesamte Ausrüstung ab. Sie können keinen Schaden anrichten, wenn sie allein zurückbleiben.«

Er bückte sich nach dem Funkgerät, das dem Thater entfallen war. Sekundenlang spielte er mit dem Gedanken, den zweiten Gleiter zur Landung zu bewegen. Doch ebenso schnell verwarf er diesen Einfall wieder. Die Gefahr bestand, daß er sich durch eine unbedachte Kleinigkeit verriet.

»Zurück zum Strand!« bestimmte er. »Wenn die Waler ebenfalls Erfolg hatten, sind wir ein gutes Stück weiter.«

*

Aus der Deckung des Waldrands blickten sie zum Gleiter hinüber. Nichts rührte sich. Es hatte den Anschein, als sei die Maschine verlassen.

Unvermittelt sprach das Funkgerät an, das Atlan dem Thater abgenommen hatte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf Empfang zu gehen.

»Weshalb meldet ihr euch nicht wie vereinbart? Was ist los?«

»Haben Ärger mit wilden Tieren«, murmelte Atlan.

»Braucht ihr Hilfe?«

»Ist schon erledigt.«

»He, die Peilung zeigt, daß ihr wieder am Ufer seid. Da stimmt doch was nicht. Wer bist du?«

»Jetzt, Jirriigs!« Atlan ließ das Funkgerät abgeschaltet. »Zeig, was eure Raketen wert sind.«

Die Kommandantin der KARDOLLS ENDE betätigte dem Impulsgeber, den sie schon seit einiger Zeit in Händen hielt. Während der Gleiter sich rasch näherte, stiegen aus dem Dickicht des Waldes zwei schlanke Geschosse ’auf. Zu spät wurden die Insassen der Maschine auf die tödliche Gefahr aufmerksam.

Die Druckwelle zweier heftiger Explosionen fegte über den Strand. Nur einige hundert Meter entfernt regneten die glühenden Trümmerstücke in den See.

»Jetzt dürfen wir keine Zeit verlieren«, rief Atlan und rannte los.

Sie hatten den Gleiter fast erreicht, als unvermittelt dessen Einstieg aufgestoßen wurde. Atlan ließ den Strahler wieder sinken, als er Crell erkannte.

Die beiden Waler kauerten bereits in den Pilotensitzen. Vor der Trennwand zum Maschinenraum lagen zwei kleinwüchsige Hominide. Auch sie waren mit Gift betäubt worden und würden mindestens einen Tag lang schlafen.

»Ein Kinderspiel, mit ihnen fertig zu werden«, prahlte Big.

»Ihr wißt, worauf es ankommt?« fragte Atlan. »Dann los!« Und an Crell gewandt, fuhr er fort: »Du übernimmst die Bildsprechverbindung. Das ist unverfänglich, weil sie auch einen Chewka an Bord hatten.«

»Was ist mit ihm?«

»Er schläft, wie die anderen ebenfalls.«

Mit aufheulendem Strahltriebwerk schoß der Gleiter in die Höhe. Nur Sekunden später stieg über der Insel eine dritte Abwehrrakete auf.

Das Spiel, das Atlan zu spielen gedachte, konnte blutiger Ernst werden. Big zog den Gleiter in einer engen Kurve nach Westen und zugleich höher. Die Rakete folgte jeder noch so minimalen Flugbewegung. Sie holte auf.

Schon war die gelandete ORDARDOR auszumachen. Der Kreuzer mußte seinerseits den Gleiter und dessen hartnäckigen Verfolger auf den Schirmen haben.

»Runter!« befahl Atlan.

Wie einen Stein ließ Big die Maschine absacken. Erst unmittelbar über der Wasseroberfläche fing er den Sturz ab und gab Gegenschub. Eine gischtende Flutwelle vor sich her schiebend, tauchte der Gleiter ein. Der See war an dieser Stelle über 40 Meter tief.

Ein dumpfes Grollen durchbrach die Stille, dann wurde der Gleiter wie von einer riesigen Faust gepackt und durchgeschüttelt. Aber die Außenhülle hielt dem enormen Druck stand. Die Rakete war unmittelbar hinter ihnen beim Aufprall auf das Wasser explodiert.

Der Anruf von der ORDARDOR kam, kaum daß sie wieder auftauchten.

»Wir wurden von automatischen Waffensystemen angegriffen«, sagte Crell. »Erbitte Einfluggenehmigung zur Schadenskontrolle.«

*

Keine fünf Minuten später befanden sie sich an Bord des Kreuzers. Zumindest für die Rebellen war es ein eigenartiges Gefühl. Atlan hingegen gab sich, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als fremde Raumschiffe zu erobern.

Der Hangar war nicht sonderlich groß. Mehrere andere Maschinen standen auf ihren Startpositionen. Lediglich zwei Wartungstechniker befanden sich hier. Serk Porrjan betäubte beide mit Pfeilen aus seinem Blasrohr, ehe sie Alarm schlagen konnten.

»Die Kisten!« verlangte Atlan.

Die Waler zogen zwei würfelförmige Behälter, deren Kantenlänge jeweils dreißig Zentimeter betrug, unter den Sitzen hervor. Sie selbst würden im Gleiter bleiben, um für den Notfall startklar zu sein.

Der Korridor vor dem Hangar lag verlassen. Atlan fragte sich, wie groß die Besatzung des Kreuzers sein mochte. Falls das Schiff weitgehend automatisiert war, genügten 50 Mann, wenn nicht, mußten sie mit 500 oder mehr rechnen.

»Wohin?« wollte Jirriigs wissen.

Sie befanden sich etwa in der Mitte des Schiffes. Die Maschinenräume und Antriebseinheiten waren wohl zweckmäßig im Heckbereich angeordnet, während die Zentrale vermutlich in der Bugregion zu suchen war. Atlan entschied sich für den linken Gang. »Wenn wir auf einen Treppenschacht stoßen, nach unten«, sagte er.

Schotten zweigten zu beiden Seiten ab. Der Lage nach zu urteilen, handelte es sich um Mannschaftsquartiere.

Schritte näherten sich, die Rebellen huschten auseinander. Zwei vierbeinige Wesen kamen ihnen entgegen und verschwanden gleich darauf in ihren Kabinen, ohne sie überhaupt zu beachten.

»Weiter!« raunte Atlan. »Wenn alle sich so sicher fühlen, haben wir leichtes Spiel.«

Wie zufällig wanderte sein Blick die Decke entlang. In einer Ecke des Ganges war eine Überwachungskamera installiert. Das schwenkbare Computerauge drehte sich langsam in ihre Richtung.

Ohne zu zögern, riß Atlan den Strahler hoch und feuerte. Mit dumpfem Knall zerbarst die Kamera.

Endlich stießen sie auf einen Antigravschacht. Nur wenige Meter entfernt verlief die Nottreppe. Das Baumuster war bei den meisten raumfahrenden Rassen dasselbe.

Sie mußten kaum befürchten, hier entdeckt zu werden. Atlan hastete als erster die engen Stufen hinab. Doch unvermittelt blieb er stehen. Ein doppelt faustgroßes, zuckendes Etwas kauerte auf der Treppe und reckte ihm ein blinzelndes Auge entgegen. Im letzten Moment, bevor sein Finger den Auslöser der Waffe berührte, bemerkte Atlan den hauchdünnen Faden, der von dem Ding ausging und irgendwo in der Tiefe verschwand.

»Es ist ein Teil von ANIMA«, triumphierte er. »Wahrscheinlich hat sie inzwischen die Lufterneuerungsanlage aufgespürt.«

Sie folgten dem Plasmaklumpen, der vor ihnen her die Treppe hinabhüpfte.

»Wieso konnte ANIMA uns so schnell finden?« wollte Serk Porrjan wissen.

»Sie kennt unser Ziel«, erwiderte Atlan. »Alles andere ist einfach. Man muß nur logisch denken.«

Der Schacht endete. Der anschließende Gang führte zu den Maschinenräumen, wie Symbole und Hinweisschriften verrieten.

Ein Schott. ANIMAS Fragment verhielt davor.

»Hier hinein?« Atlan betätigte den Öffnungsmechanismus.

Durch die entstehende Öffnung hindurch konnte er zwei Roboter erkennen. Sie fuhren herum, rissen ihre Waffenarme hoch.

Aber Atlan und Jirriigs waren schneller. Ihre Thermosalven trafen die empfindlichen Sinnesorgane der Maschinen und ließen sie aufglühen.

Nacheinander schlüpften die Rebellen in den Raum. Das Schott glitt hinter ihnen zu. Außer den beiden Robotern hatte sich niemand hier aufgehalten.

Crell kannte sich mit den Aggregaten der Luftumwälzung aus. Mit fliegenden Fingern öffnete er die beiden Kisten, entnahm ihnen mehrere Hochdruckbehälter und kleine knetbare Kügelchen, die jeder sich in die Nasenöffnung steckte. Die darin enthaltenen Wirkstoffe würden das austretende Gas neutralisieren.

Crell öffnete die Verkleidung eines der großen Ventilatoren. Von hier aus führten mannshohe Schächte zu den einzelnen Unterverteilern. Mit seinen 2,40 Meter war der Chewka nicht gerade als besonders schwächlich zu bezeichnen, doch er hatte Mühe, sicheren Stand zu bewahren, als der heftige Luftstrom an ihm zerrte. Nacheinander verankerte er die Behälter magnetisch hinter den Filteröffnungen und brachte kleine Sprengladungen an, deren Stärke gerade ausreichen würde, die druckstabilen Wandungen aufzureißen. Die wenigen Meter zurück, gegen den orkanartigen Luftstrom, wurden zur Qual. Aber er schaffte es.

In Minutenabständen zündeten die Sprengsätze nacheinander. Das Gas würde schnell wirken und der Besatzung des Kreuzers keine Zeit lassen, zu erkennen, was geschah. Den einzigen unberechenbaren Faktor in Atlans Planung stellten die Roboter dar. Es war anzunehmen, daß sie gegen jeden identifizierten Eindringling mit Waffengewalt vorgingen.

Zehn Minuten waren seit dem ersten Gasaustritt vergangen.

»Die Schleusen öffnen!« bestimmte Atlan. »Und dann in die Zentrale, bevor die außerhalb des Schiffes befindlichen Truppen Verdacht schöpfen.«

Zwanzig schwerbewaffnete Rebellen in Kampfanzügen warteten vor der ORDARDOR, genauer gesagt, im nur wenige Meter tiefen Uferwasser und dem Sichtschutz, den ihnen die als Klippen getarnte ANIMA zusätzlich bot. Als mehrere Schleusen aufglitten, stürmten sie durch die

Strukturlücken im Schutzschirm vor. Jeweils zwei von ihnen arbeiteten zusammen. Sie besaßen Waffen, mit denen sie selbst die weniger empfindlichen Positroniken von Kampfrobotern zumindest auf geringe Distanz und für kurze Zeit nachhaltig stören konnten. Während sie Deck für Deck durchkämmten und eine Reihe nutzloser Wracks hinter sich ließen, benutzten Atlan und seine Gefährten den Hauptantigravschacht, der sie bis in die unmittelbare Nähe der Zentrale brachte. Hier stieß man auf die ersten bewußtlosen Besatzungsmitglieder.

Das Zentraleschott widerstand allen Bemühungen, es zu öffnen. Offenbar war durch den Ausfall der Besatzung eine Notschaltung in Kraft getreten.

»Es hilft nichts, wir müssen sprengen«, stellte Atlan wütend fest.

In fingerdicken Strängen hefteten sie den Sprengstoff auf die Fugen des molekülverdichteten Schottes. Dann zogen sie sich bis zur nächsten Abzweigung in den Gang zurück. Atlan hob den Thermostrahler, zielte und feuerte exakt auf die Mitte der Stahlplatte.

Der Donner der Explosion schien das Schiff bis in seine Grundfesten zu erschüttern. Eine Feuerwalze raste durch den Korridor.

Das Schott war eingedrückt und zum Teil aus den Verankerungen gerissen. Scharf ausgezackte Bruchstellen machten es jedoch unmöglich, hindurchzugelangen.

Abermals schoß Atlan. Der verdichtete Stahl widerstand den Energien seines Blasters ungewöhnlich lange. Erst als auch Jirriigs und Parillyon ihre Waffen auf dasselbe Ziel richteten, begannen die Kanten und Vorsprünge abzuschmelzen. Die dabei entstehende enorme Hitze würde noch eine ganze Weile anhalten. Aber vielleicht gab es nicht nur innerhalb der Zentrale, sondern auch in deren unmittelbaren Umgebung Löschgeräte, die auf einer Reduzierung der Molekularbewegung basierten und somit für eine Abkühlung sorgen würden.

Serk Porrjan stieß einen dumpfen Aufschrei aus. Ganz langsam hob er die Hände über den Kopf, zum Zeichen, daß er unbewaffnet war.

»Die Strahler weg!« erklang eine emotionslose Stimme. »Ich werde nicht zögern, euch zu töten.«

Atlan wandte sich um, der Blaster entglitt seinen Fingern und polterte zu Boden. Höchstens zehn Meter entfernt stand ein tonnenförmiger Kampfroboter, der mehrere biegsame Tentakel mit flimmernden Abstrahlmündungen auf sie richtete. Gegen dieses Monstrum hatte keiner auch nur die geringste Chance.

»Verdammt«, sagte Jirriigs. Mehr nicht.

Parillyon hatte die Hände zu Fäusten geballt und waagrecht von sich gestreckt. Ausdruckslos starrte er dem heranrollenden Roboter entgegen. Im nächsten Moment winkelte er seine Handgelenke nach unten ab.

»Runter!« brüllte er.

Atlan und Jirriigs reagierten sofort und warfen sich der Länge nach hin. Nur Serk Porrjan schien nicht zu begreifen. Als der Kampfroboter blindlings feuerte, stand er noch immer in der Schußbahn.

Im nächsten Moment war alles vorbei. Die schwere Maschine bewegte sich nicht mehr; bläuliche, rasch verblassende Entladungen umzüngelten ihren Rumpf.

»Die ist nur noch Schrott wert«, stellte Parillyon fest. »Aber Serk hätte nicht sterben dürfen. Trotz seiner Abneigung gegen alles Technische war er ein guter Kumpel.«

»Wir stehen erst am Anfang unseres Kampfes gegen Gentile Kaz«, sagte Atlan. »Jeder von uns wird Opfer bringen müssen.« Er streifte Parillyons Armbänder mit einem bewundernden, beinahe schon begehrlichen Blick. »Welche Überraschungen enthältst du uns noch vor?«

Der Yiker grinste breit. »Willst du mir wirklich meine kleinen Geheimnisse entlocken? Jede der Nadeln zur Roboterabwehr mißt nur einen einzigen Zentimeter.« Er deutete auf einen zwei Finger

breiten, von gelben Steinen eingerahmten Abschnitt seiner Armbänder. »Die Magazine beinhalten 20 Stück. Ausgelöst werden sie durch Nervenimpulse.«

»So einfach ist das«, nickte Jirriigs. Ihrem Tonfall war nicht zu entnehmen, wie sie es meinte. »Die Yiker müssen ein bemerkenswertes Volk gewesen sein. Aber trotzdem ist es Gentile Kaz gelungen, Kippelkart zu zerstören. Man sagt, seine Flotte habe keinen Stein auf dem anderen gelassen.«

»Kippelkart?« machte Atlan verblüfft. Jirriigs Fühler wandten sich ruckartig ihm zu.

»Wußtest du das nicht? Kippelkart war die Heimatwelt der Yiker.«

Parillyon zuckte nur mit den Schultern, als der Arkonide ihn ansah. »Wieder eine Überraschung«, sagte er spöttisch. »Wäre irgend etwas anders gewesen, wenn du das vorher gewußt hättest?«

»Nein.« Atlan schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht.«

6.Als die Nacht über dieser Region des Planeten hereinbrach, loderten die ersten Freudenfeuer auf. Die Kaz-Fresser hatten einen großen Sieg zu feiern – auch wenn nur wenige von ihnen daran beteiligt gewesen waren. Aber das war nebensächlich. Wichtig erschien einzig und allein, daß es endlich gelungen war, Gentile Kaz’ Machtbestrebungen wirksam entgegenzutreten.

Die ORDARDOR gehörte den Rebellen. Ein schlagkräftiges Schiff wie dieses war mehr wert als tausend unerschrockene Kämpfer.

Die ORDARDOR würde zum Symbol der Freiheitsbewegung werden.

Zwischen den Feuern standen die von den Landetruppen erbeuteten schweren Gleiter. Nachdem Atlan nun die Zentrale des Kreuzers besetzt hatte und sämtliche Roboter ausgeschaltet worden waren, war es ein leichtes gewesen, die ausgeschleusten Besatzungen zu überwältigen. Es hatte kaum nennenswerten Widerstand gegeben. Im Gegenteil. Einige der Söldner des Leuchtenden hatten sich mit den Zielen der Rebellen solidarisch erklärt und waren ihren Kameraden sozusagen in den Rücken gefallen. Das Mißtrauen, das man ihnen trotz dieser Handlungsweise anfangs noch entgegenbrachte, schwand rasch.

Nun saß man gemeinsam beieinander, lachte und erzählte von Vergangenem.

Alkoholische Getränke wurden ausgeschenkt. Daß sie auf synthetischer Basis hergestellt waren, schien keinen zu interessieren. Nur Atlan rümpfte schon nach dem ersten tiefen Schluck angewidert die Nase. Während er noch überlegte, ob er seinen Becher einfach auskippen oder weiterreichen sollte, kam Tess auf ihn zu.

Der Anführer der Kaz-Fresser hatte sein Verhalten ihm gegenüber merklich geändert. »Ich kenne niemanden, der fähig wäre, einen 500-Meter-Kreuzer im Handstreich zu erobern«, krächzte er. »Wer bist du wirklich, Atlan?«

»Wer sollte ich sein?« erwiderte der Arkonide spöttisch.

Tess hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere. »Du bleibst doch bei uns?« wechselte er abrupt das Thema.

»Natürlich bleibt Atlan«, sagte Parillyon schnell. »Er ist ein Rebell wie wir alle.«

»Ein Rebell…«, wiederholte der Arkonide gedehnt und lauschte dem Klang des Wortes. »Ja, du hast recht. Gentile Kaz muß sterben.«

»Eßt und trinkt, Freunde!« rief Tess lauthals. »Wir haben allen Grund dafür. In einigen Tagen werden wir mit der ORDARDOR aufbrechen, um weitere Siege zu erringen.«

Der Erfolg hatte selbst die letzten Zweifler unter den Kaz-Fressern, allen voran den Gefiederten, überzeugt. Außer Serk Porrjan hatte es beim Kampf gegen die Roboter nur zwei Tote gegeben.

Jemand drückte Atlan einen vollen Teller in die Hand. Erst als sich beim Anblick der knusprig überbackenen Toastscheiben sein Magen mit einem deutlichen Hungergefühl meldete, entsann er sich, daß er tatsächlich seit mindestens zwanzig Stunden keinen Bissen mehr zu sich genommen hatte. Der Toast roch vielversprechend, ließ ihm geradezu das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Atlan biß hinein. Die Füllung war zäher, als er angenommen hatte.

Er biß noch einmal zu, als sich irgend etwas zwischen seinen Zähnen bewegte. Der Widerstand wurde fester, schien sich im Mund zusammenzurollen. Blitzschnell zupackend, hielt Atlan einen dünnen, gut fünf Zentimeter langen blaugrünen und sich heftig windenden Wurm in der Hand. Der Wurm sah aus wie ein großer Tausendfüßler mit dem Gesicht eines Zyklopen.

Atlan spie aus, was er im Mund hatte. Als er den Toast aufklappte, wimmelte es zwischen den Scheiben von solchen Würmern. Mit einer Geste des Abscheus kippte er alles auf den Boden.

»Du hast sie«, erklang es plötzlich hinter ihm. »Bei allen Göttern dieser Galaxis, was hast du bloß gemacht?«

Die Stimme war zunehmend lauter geworden und hatte dabei einen weinerlichen Klang angenommen. Als Atlan sich umwandte, stand er einem gut zwei Meter großen Geschöpf gegenüber, das, als es sich suchend auf alle viere niederließ, entfernt einem Ameisenbären ähnelte. Zwei lidlose Augen blickten suchend über den Boden, und die Schnauze tastete schlürfend durch die Unebenheiten der Erdkrume.

»Wo hast du meine Würmer? Wo?« Heftig schluchzend begann das Wesen, den Boden mit seinen vorderen Extremitäten aufzureißen. Atlan sah, daß es über messerscharfe Krallen verfügte.

*

Noch während der Siegesfeier hatten sie damit begonnen, die ORDARDOR zu durchsuchen. Die Laderäume des Kreuzers bargen unzähliges technisches Gerät, das den Rebellen von Nutzen sein konnte.

Die Besatzung war längst von Bord geschafft und in einem eilends geräumten Kuppelbau untergebracht worden. Energetische Sperren sorgten dafür, daß jeder Gedanke an Flucht schon im Keim erstickt wurde. Was mit den Gefangenen werden sollte, darüber wollte Tess sich später den Kopf zerbrechen.

Deck für Deck arbeiteten die Suchtrupps sich aufwärts, warfen ausgeglühte Roboterwracks in die Konverter und bemühten sich gleichzeitig, die schlimmsten Spuren des Kampfes zu beseitigen. Spezialisten unter den Kaz-Fressern würden versuchen, vor allem die wenigen noch brauchbar erscheinenden Kampfroboter in ihrem Sinn umzuprogrammieren.

Über den Maschinenräumen befanden sich die Lagerhallen und Waffenarsenale, dann kamen Labors, die Mannschaftsquartiere und Gemeinschaftsräume. Ein Schott klemmte. Grell, der die Koordination der Arbeiten übernommen hatte, suchte vergeblich nach einem Defekt in der Automatik. »Wir sprengen«, entschied er schließlich. »Ich will wissen, was sich dahinter verbirgt.«

Als hätte er ungewollt einen Kode genannt, glitt das Schott vor ihm zur Seite. Dahinter lag ein nicht sehr großer Raum. Verschiedene mit Gewichten bestückte Geräte ließen darauf schließen, daß die Mannschaft in ihrer Freizeit hier körperliche Ertüchtigung suchte.

Auf einer ausgeklappten Liege, die sich der jeweiligen Körperform ihres Benutzers anpaßte, saß mit baumelnden Beinen ein Mann. Er lächelte. Neben ihm lag ein aufgeschnürter dunkelgrüner Rucksack, aus dem Zeltstangen und allerlei andere mehr oder minder entbehrliche Utensilien herausragten.

Der Mann blickte verträumt vor sich hin. In der Rechten hielt er einen Becher mit einer klaren Flüssigkeit, in der Linken ein Stück Zwieback.

Er nickte Crell auffordernd zu. »Es ist zwar nur ein bescheidenes Mahl, aber ich lasse dich gerne daran teilhaben.«

Der Chewka verzog die Lippen zu einem ablehnenden Knurren. Der Fremde war kein Feind, das glaubte er deutlich zu spüren. Aber da war noch etwas. Nämlich das Gefühl, diesen Mann zu kennen, ihn irgendwann schon einmal gesehen zu haben, ohne sich daran zu erinnern, wann und vor allem, wo dies gewesen sein mochte. »Wer bist du?« fuhr er ihn barsch an.

Das Gesicht des Fremden war faltig, die Wangen wirkten eingefallen. Die Hakennase verlieh ihm ein Flair der Unnahbarkeit, der zu dem treuen, ehrlichen Blick seiner Augen kontrastierte.

Seine Bekleidung bestand fast ausschließlich aus Fellen in verschiedenen Brauntönen. Die speckige

gelbe Pudelmütze mit der roten Quaste paßte nicht dazu.

»Ich habe dich auf Moroa gesehen, nicht wahr?« stellte Crell fest.

»Es mag hier gewesen sein oder dort«, erwiderte der Fremde leise. »Mein Weg ist unstet wie der eines Kometen, und Alkordoom ist riesig. Zu groß, als daß ein einziges Leben genügen würde, alles Sehenswerte zu schauen.«

»Was hast du an Bord des Kreuzers zu suchen? Oder gehörst du zur Besatzung?«

Der Rothäutige schüttelte sich demonstrativ. »Man darf nicht wählerisch sein, wenn man schnell von einer Welt zur anderen gelangen will. Überall ist das Leben schön. Natürlich nur für jemanden, der es mit den richtigen Augen sieht.«

Crell vollführte eine unmißverständliche Geste. »Du bist verrückt«, stieß er hervor.

»Vielleicht. Aber muß sich der Verrückte in einer Welt voller Narren nicht wie ein König vorkommen?«

»Vorerst finde dich damit ab, mein Gefangener zu sein.« Crell machte eine unmißverständliche Bewegung mit dem Strahler. »Komm schon.«

Der Fremde seufzte und nahm einen tiefen Schluck aus dem Becher. »Mein Mahl ist zwar frugal«, sagte er, »doch du erlaubst hoffentlich, daß ich zu Ende speise. Unnötige Hast schadet dem Magen. Wohin willst du mich bringen?«

»Zu Atlan, glaube ich.« Crell war wütend über sich selbst, daß er so bereitwillig Auskunft gab.

»Tu das«, nickte der Fremde kauend. »Du könntest nichts Besseres tun.«

»Wieso?« kam es erstaunt.

»Ich glaube, nicht zu übertreiben, wenn ich sage, daß Atlan freudig überrascht sein wird, mich zu sehen.«

»Das wird sich herausstellen. Ich zähle bis drei, dann hast du deinen Kram entweder eingepackt und erhebst dich, oder der ganze Krempel geht in Flammen auf.« Crell war fest entschlossen, seine Drohung wahrzumachen.

»Schon gut«, wehrte der Fremde ab. »Wer Gewalt sät, wird eines Tages auch durch Gewalt umkommen. Du solltest dir das zu Herzen nehmen.«

*

»Atlan!«

Der Arkonide stand am Ufer und starrte auf den See hinaus, dessen Oberfläche glatt wie ein Spiegel vor ihm lag. Nur wenige Sterne standen am Himmel – ihr Licht brach sich im schwarzen Wasser. Der Klang der Stimme ließ ihn aufhorchen. Ruckartig wandte er sich um.

»Colemayn, der Weltraumtramp«, sagte er leise. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß du zu den Rebellen gehörst.«

»Ich fand ihn im Schiff«, erklärte Crell. »Er wurde offenbar nicht betäubt.«

»Wir kennen uns von Thorrat«, erklärte Atlan. »Colemayn half mir, ANIMA zu finden.«

»Na ja«, machte der Tramp. »Eigentlich…«

Atlan versetzte ihm einen herzhaften Schlag auf die Schulter. »Laß uns unser Wiedersehen begießen. Es gibt bestimmt viel zu bereden. Wo warst du, was hast du in der Zwischenzeit erlebt?«

Colemayn setzte eine süßsaure Miene auf. Er bedachte den Arkoniden mit einem durchdringenden, forschenden Blick, bevor er ihm folgte.

Atlan stellte den Tramp Tess, Parillyon und Jirriigs vor. »Ich glaube, Colemayn kann uns eine wertvolle Hilfe sein.«

»Wer behauptet, daß ich auf dieser Welt Wurzeln schlagen werde? Ich bin nicht wie ein Baum, der Sommer und Winter dem Wind trotzt, ich lasse mich lieber von ihm treiben.«

»Ich sage es«, winkte Atlan ab. »In einigen Tagen, wenn du erst die Ziele der Kaz-Fresser kennst, wirst du anders reden.«

»Sie feiern die Eroberung der ORDARDOR?«

»Wenn das kein Grund ist«, lachte Atlan.

»Wie viele Rebellen mußten sterben? Und wie viele denkende Wesen werden noch sterben, wenn erst die Waffen des Kreuzers sprechen?«

»Söldner von Gentile Kaz«, antwortete Tess an Stelle des Arkoniden. »Alkordoom wird sie nicht vermissen.«

»Aus dir spricht der Haß gegen den Leuchtenden«, stellte Colemayn fest. »Alles andere scheint dir gleichgültig zu sein. Aber Haß ist lediglich die Rache eines eingeschüchterten Feiglings. Du vergißt, daß viele von Gentile Kaz’ Söldnern unfreiwillig in seinen Diensten stehen. Vielleicht blieb ihnen als Alternative nur der Tod.«

Tess spie in hohem Bogen aus. »Du magst Atlans Freund sein oder nicht. Niemand darf so mit mir reden…«

Von irgendwo aus der Finsternis erklang ein gellender Schrei, der abrupt abbrach. Der Todesschrei eines Lebewesens. Thermostrahlen zuckten durch die Nacht. In unmittelbarer Nähe des Sees wurde gekämpft.

Atlan rannte los. Tess folgte ihm mit weiten Sprüngen. Hinter ihnen kamen etliche Kaz-Fresser. Der Rausch des Festes wich einer schlagartigen Ernüchterung.

Sie fanden zwei tote Rebellen am Ufer und nur wenige Meter entfernt schmale Spuren, die entweder zum Wasser hin oder aber die leichte Böschung hinauf in Richtung der Ansiedlung verliefen.

»Was immer es war, es muß aus dem See gekommen sein«, stellte Parillyon fest.

Atlan unterzog die Spuren einer genaueren Betrachtung. »Zwei sechsbeinige Wesen«, sagte er dann. »Und sie haben das Wasser verlassen.« Es fiel schwer, im Sternenlicht Einzelheiten zu erkennen, doch unmittelbar am Ufer war der Sand verklumpt, während den Hang hinauf kaum mehr die Feuchtigkeit versickerter Wassertropfen festzustellen war.

Parillyons Gesicht spiegelte deutlich die Verblüffung wider, die er empfand.

»Die beiden Spinnenwesen, die wir betäubt auf der Insel zurückgelassen haben«, vermutete Atlan. »Aber woher haben sie Waffen?«

»Es war mein Fehler«, gestand Parillyon sichtlich zerknirscht. »Die Spinnen sind nicht nur resistent gegen Lähmstrahlen, sondern auch gegen viele Gifte. Außerdem sind sie hervorragende Schwimmer und können bis in große Wassertiefen tauchen. Ihre Urheimat, heißt es, war eine Wasserwelt. Ich hätte daran denken müssen.«

»Du meinst«, stieß Tess kreischend hervor, »sie haben im Wrack des von den Raketen zerstörten Gleiters Waffen gefunden?«

»Offenbar wollten sie an Bord der ORDARDOR, wurden dabei gestört und flohen zu den Kuppeln«, überlegte Crell, der Chewka.

»Ich fürchte, dahinter steckt mehr«, wehrte Atlan ab.

Wie zur Bestätigung seiner Worte wurde erneut geschossen. Bei den ersten Feuern entstanden Tumulte. Die verborgen bleibenden Angreifer feuerten blindlings zwischen die auseinanderstiebenden Rebellen. Es kam ihnen weniger darauf an zu töten, als vielmehr Verwirrung zu stiften.

»Wir müssen ihnen in den Rücken fallen«, schrie Tess. »Ehe sie ihren Standort wechseln.«

Als auch Parillyon und Crell dem Gefiederten folgen wollten, hielt Atlan sie zurück. »Mein Logiksektor sagt mir, daß es um etwas ganz anderes geht. Die Spinnen versuchen uns abzulenken, andernfalls hätten sie es nicht nötig, derart auffällig anzugreifen.«

»Aber wozu?« wollte Grell wissen. »Aus welchem Grund…? Die Hyperfunkstation!« gab er sich selbst zur Antwort. »Natürlich. Das ist für sie die einzige Möglichkeit, Gentile Kaz zu erreichen.«

Sie rannten los, während in einiger Entfernung bereits erbittert gekämpft wurde. Die Spinnen waren schnell und im Dunkel der Nacht wie Schemen, die überall und nirgends zu sein schienen. Allem Anschein nach hatten sie sich getrennt.

Atlan war überzeugt davon, daß sie es bei der Funkstation nur mit dem Thater und dem Chewka zu tun haben würden, die ebenfalls von der Insel gekommen sein mußten. Als sie die ersten Kuppeln erreichten, gab er seinen Begleitern den Wink, aufzufächern.

Lautlos huschten sie vorwärts, jeden Moment gewärtig, aus der Finsternis heraus angegriffen zu werden.

Während Atlan und Crell sich von der Rückseite her näherten, erreichte Parillyon als erster die Station. Ein greller Blitz zuckte auf, dem er nur knapp entging. Für einen Sekundenbruchteil hatte er den Standort des Schützen ausmachen können, aber als er ebenfalls feuerte, war der Angreifer nicht mehr dort.

Die Finger am Auslöser des Strahlers, wälzte Parillyon sich über den staubigen, ausgedörrten Boden. Ohne jede Deckung befand er sich mitten zwischen zwei Gebäuden, und die Nacht war sein einziger Schutz. Aber sie verbarg auch den Angreifer vor seinen Blicken.

Da war eine flüchtige Bewegung, ein Geräusch. Blindlings schoß Parillyon.

Im selben Moment erkannte der Yiker, daß er auf einen uralten Trick hereingefallen war. Keine fünf Schritte schräg vor ihm stand der Thater, den Blaster im Anschlag. Parillyon begann sich zu fragen, weshalb die Freunde nicht eingriffen.

»Du kommst zu spät«, spottete der Thater. »Bald wird es keine Rebellen mehr…« Ein Strahlschuß aus Atlans Waffe traf ihn und ließ ihn jäh verstummen.

Atlan stürmte in die Funkzentrale. Der Chewka stand vor dem Sender, wirbelte mit gezogener Waffe herum.

Aber Atlan war schneller. Eine Reihe von Schüssen fauchte aus seiner Waffe. Es war ihm egal, ob Teile der Hyperfunkanlage dabei zerstört wurden oder nicht. Die Lippen zusammengepreßt, daß die Wangenknochen kantig hervortraten, starrte er blicklos vor sich hin und wandte sich erst ab, als Crell vorwurfsvoll sagte: »Weshalb hast du nicht auf Lähmung umgestellt?«

»Mir blieb keine Zeit«, erwiderte Atlan kurz.

Ob der Funkspruch des Chewka schon die Antennen verlassen hatte, war nicht mehr festzustellen. Die Schäden am Sendeteil und der Speicherung waren zu groß.

*

Das Fest ging weiter. Die Kaz-Fresser befanden sich im Siegestaumel. Nur wer Aufgaben zu erfüllen hatte, die sich nicht verschieben ließen, ging noch seiner Arbeit nach. Inzwischen stieg die Sonne über den östlichen Horizont herauf und überschüttete das Land mit ihrem goldgelbem Schein.

Trotz der unsichtbar über Neu-Kardoll schwebenden Bedrohung blieb die Stimmung ausgelassen. Keiner der Rebellen glaubte daran, daß Gentile Kaz innerhalb weniger Stunden handeln würde, vorausgesetzt, er hatte vom Verlust der ORDARDOR wirklich erfahren.

Atlan, Tess und Parillyon saßen zusammen und schmiedeten Pläne. Daß Jirriigs und Crell sich abgesondert hatten, bemerkten sie allem Anschein nach nicht einmal.

Plötzlich fühlte Atlan sich beobachtet. Als er den Blick hob, bemerkte er Colemayn, der in einiger Entfernung stehengeblieben war und ihn eindringlich musterte.

»Komm her, Sternenwanderer«, rief er. »Es gibt für dich keinen Grund, dich aus unserem Kreis auszuschließen.«

Colemayn verzog die Mundwinkel zu einem gekünstelten Lächeln. Langsam schlenderte er näher. »Ich ahne den Tod, der Neu-Kardoll droht«, sagte er orakelhaft. »Ihr solltet nicht gegen Gentile Kaz ziehen, sondern versuchen, euch in Sicherheit zu bringen.«

»Du verdirbst uns die gute Laune«, seufzte Atlan. »So kenne ich dich nicht. Was ist bloß in dich gefahren?«

»Mag sein, daß ich allmählich alt werde.« Colemayn wandte den Kopf und spuckte aus. Fast mechanisch zog er eine dünne Stange Kautabak aus einer zwischen seinen Fellumhängen verborgenen Tasche hervor und biß ein großes Stück ab.

»Auf Thorrat hatte ich einen anderen Eindruck«, sagte Atlan. »Ich glaubte sogar, wir beide könnten uns hervorragend ergänzen. Du bist nicht dumm.«

»Oh«, Colemayn vollführte eine tiefe Verbeugung. »Ich danke für deine gute Meinung«, bemerkte er distanziert. »Aber auf Thorrat war vieles anders. Jede Welt ist anders, besitzt ein eigenes, manchmal faszinierende Aura.«

»Ich weiß«, wehrte Atlan ab. »Dir gefällt diese Galaxis, du glaubst womöglich sogar, mit einigen guten Worten Frieden stiften zu können.« Er lachte spöttisch, und Parillyon fiel spontan in dieses Lachen ein. Tess schlug heftig mit den Schwingen und stieß glucksende Geräusche aus.

»Wenn du so viel erlebt hättest wie ich…«, begann Colemayn.

Atlan platzte prustend heraus. »Bisher hielt ich dich für intelligent. Allmählich erkenne ich, daß du nichts weiter bist als ein armer, bedauernswerter Narr, der nur das Schöne sehen will.«

»Ich weiß, was dir auf der Zunge liegt«, nickte Colemayn. »Für mich ist das Leben ein Traum. Aber Träume sind Gedanken in viele Richtungen und Zusammenhänge.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, wandte er sich um und schlurfte davon.

7.Der Ortungsalarm kam in den frühen Morgenstunden. Eine Flotte von acht Raumschiffen stand plötzlich am Rand des Systems. Es gab keine Zweifel daran, daß es sich um Streitkräfte des Leuchtenden handelte.

Obwohl etliche Kaz-Fresser mit den Folgen der reichlich alkoholischen Getränke zu kämpfen hatten, wußte doch jeder, was er zu tun hatte. Innerhalb von längstens fünf Minuten waren die planetarischen Abwehrstationen besetzt und die Mannschaften der Raumschiffe fast vollzählig an Bord.

Die Flotte drang mit einem kurzen Linearmanöver tiefer in das Sonnensystem ein und näherte sich Neu-Kardoll. Auftreffende Ortungsstrahlen wurden registriert, jedoch keinerlei Versuche, über Funk Kontakt herzustellen.

»Wir greifen an«, entschied Tess. »Die ORDARDOR wird zwar nicht voll einsatzklar sein, weil uns einfach noch die gut eingespielte Mannschaft fehlt, aber wir können auf den Kreuzer nicht verzichten.«

»Die Flotte ist uns überlegen, wenn wir es nicht mit einem Trick versuchen«, warnte Atlan.

»Das klingt, als wüßtest du bereits, was zu tun ist«, sagte Jirriigs, die wie die anderen Schiffskommandanten auf Tess’ genaue Befehle wartete.

»Der Eindruck muß entstehen, daß Überlebende der ursprünglichen Besatzung die Verwirrung auf Neu-Kardoll zur Flucht nutzen. Selbstverständlich verfolgen wir die ORDARDOR. Der Kreuzer wird in den Pulk der acht Raumer einfliegen und dort gesprengt.«

»Und wer steuert ihn?« wollte Tess wissen. »Wir haben nicht genügend Zeit, um die Positronik entsprechend zu programmieren.«

»Freiwillige«, sagte Atlan. »Sie haben auch die Aufgabe, das Schiff zu sprengen.«

»Das ist ein Selbstmordkommando«, protestierte Jirriigs.

»Na und«, erwiderte Atlan scharf. »Das Ziel rechtfertigt in dem Fall jedes Mittel.«

»Wir könnten Klapper einsetzen«, krächzte Tess.

»Über wie viele Roboter verfügt ihr?«

»Nur einige Dutzend einfache Arbeitsmaschinen. Klapper ist der einzige, der selbständig handeln kann.«

Jemand meldete, daß die Flotte nur noch zwei Lichtminuten entfernt stand. Die Geschwindigkeit der acht Schiffe war auf ein Fünftel abgefallen.

Die Vorbereitungen wurden in aller Eile getroffen und nahmen kaum fünf Minuten in Anspruch. Danach befand Klapper sich in der Zentrale der ORDARDOR. Mehrere Arbeitsroboter standen zu seiner Unterstützung bereit. Es kam nur darauf an, den genauen Kurs einzuhalten. Der Flug würde ohnehin von kurzer Dauer sein.

Während des Startvorgangs setzte Klapper einen fingierten Notruf ab, aus dem hervorging, daß es lediglich einer Handvoll Überlebender gelungen war, den Kreuzer zurückzuerobern. Was davon wirklich in den Empfängern ankam, war schwer zu sagen, weil die Positronik nach dem Zufallsprinzip künstliche Störungen setzte. Aber es würde hoffentlich genügen, um den Kommandanten der anfliegenden Schiffe Zurückhaltung aufzuerlegen.

Die ORDARDOR hob in einem Gewaltstart mit flammenden Impulstriebwerken ab und hinterließ einen wahren See aus glutflüssigem Gestein, geschmolzenem Sand und verbrannter Erde. Nur Augenblicke später folgten die vier Schiffe der Rebellen, die noch während des Fluges durch die Atmosphäre die Fliehenden mit etlichen Geschützsalven eindeckten – freilich ohne den Kreuzer

ernsthaft zu gefährden. Über ganze Landstriche tobten die entfesselten, erhitzten Luftmassen hinweg.

Atlan, Parillyon und Tess machten den Flug an Bord der KARDOLLS ENDE mit. ANIMA lag als halbtransparenter Kristall in einem der Hangars in^ unmittelbarer Nähe der Zentrale. Für den Arkoniden bedeutete sie eine Art Lebensversicherung, falls seine Planung sich als fehlerhaft erwies oder die Sprengung der ORDARDOR nicht oder zum falschen Zeitpunkt erfolgte. Daß ANIMA seit ihrer Anwesenheit auf Neu-Kardoll zunehmend einsilbig reagierte, berührte ihn nicht im mindesten, solange sie trotzdem seinen Wünschen nachkam.

Der freie Weltraum… Jetzt zeigte sich, daß der Kreuzer mit wesentlich höheren Werten beschleunigen konnte, als die Schiffe der Rebellen.

»Torpedos klarmachen!« befahl Tess. »Initialzündung bei Annäherung, auf fünfzig Meter.«

Damit blieben die atomaren Sprengköpfe für die ORDARDOR ungefährlich. Aber immerhin würde es so aussehen, als seien sie in den Schirmfeldern des Kreuzers detoniert.

Schlagartig blähten sich vor der KARDOLLS ENDE zwei Explosionswolken auf. Das Schiff raste mitten in sie hinein. Die Belastungsanzeigen der Schutzschirme schnellten bis auf über 80 Prozent hoch, was sich außerdem im schrillen Aufheulen der Energieerzeuger tief im Bauch des Räumers ausdrückte.

»Verdammt, was soll das?« schrie Tess. »Ist dieser Klapper verrückt geworden?«

»Er hat schlecht gezielt«, wehrte Atlan ab. »Auf jeden Fall wird die Verfolgung dadurch realistischer.«

Die Distanz zur anfliegenden Flotte verringerte sich rasend schnell. Auf den Ortungen erschienen die Schiffe inzwischen in vielen Details hinsichtlich Bauart, Bewaffnung und Energievolumen als Schaubild.

Jirriigs griff nach dem Mikrophon der aktivierten Bord-zu-Bord-Verbindung. »Wartepositionen einnehmen!« rief sie. »Es hat keinen Sinn mehr, die Verfolgung fortzusetzen.«

Die ORDARDOR erreichte die Flotte.

Mit fliegenden Fingern schaltete Jirriigs die Filter vor die Bildschirme. Keinen Moment zu früh. Denn schon schien dort, wo der Kreuzer sich eben noch befunden hatte, der Weltraum aufzureißen. Eine gleißende Lichtflut, heller als die Sonne, ergoß sich über die Schiffe. Sämtliche Treibstoffvorräte und Waffen der ORDARDOR wurden in einer einzigen verheerenden Explosion vernichtet, in deren Zentrum Temperaturen von 10.000 Grad Celsius und mehr herrschten.

Der entstehende Glutball mußte die Schiffe der Flotte mit ins Verderben reißen.

Die Ortungen versagten bei diesem Chaos.

Erst Minuten später wurde offenbar, daß die acht Raumer zwar angeschlagen, nicht jedoch vernichtet waren.

»Energieemissionen sind großen Schwankungen unterworfen«, kam die Meldung. »Die Schiffe drehen ab.«

»Wir müssen ihnen folgen«, rief Atlan aus. »Eine bessere Gelegenheit, acht schwere Einheiten von Gentile Kaz zu vernichten, bekommen wir so schnell nicht wieder.«

Jirriigs’ Schleimprodukt stieg von einem Augenblick zum anderen. Ihre Stielaugen fielen schlaff auf die Schädeldecke zurück. »Auf den Raumern sind viele Lebewesen, die von Gentile Kaz zu Söldnerdiensten gezwungen wurden«, sagte sie tonlos. »Manche gehören Völkern an, die wir repräsentieren. Sie ohne zwingenden Grund zu töten, wäre Mord.«

»Glaubst du, sie hätten Skrupel, auf Neu-Kardoll einen Atombrand zu entfachen und uns alle dem

Untergang preiszugeben?« fuhr Atlan auf. »Wenn sie jetzt entkommen, kann es sein, daß wir ihnen schon morgen wieder gegenüberstehen. Und dann werden sie vielleicht uns töten.«

»Atlan hat recht«, nickte Tess und zog das Mikrophon zu sich heran: »Jagt sie!« befahl er. »Feuert mit allem, was wir haben!«

Es wurde ein Wettlauf mit der Zeit. Die Verfolgten würden wohl auch das Risiko auf sich nehmen, vor Erreichen der erforderlichen Eintauchgeschwindigkeit in den Linearraum zu gehen.

Kaum merklich fiel die KARDOLLS ENDE zurück. Erst als die anderen drei Einheiten der Kaz-Fresser sich vor den Diskus setzten, wurde Tess aufmerksam.

»Was ist los?« fuhr er Jirriigs an. »Weshalb sind wir nicht schneller?«

»Ich beteilige mich nicht an der Jagd«, erwiderte die Kommandantin ruhig. »Das ist barbarisch.«

»Du wirst abgelöst«, kreischte Tess. Sein Kehlsack hüpfte vor Erregung.

»Dadurch holen wir die Schiffe auch nicht mehr ein.«

»Das dürfte nicht nötig sein.« Atlan deutete auf den Hauptbildschirm. In einigen Lichtsekunden Entfernung ging abermals eine neue Sonne auf, dehnte sich rasch aus und fiel dann erlöschend in sich zusammen. Zurück blieben verwehende, leuchtende Gasschleier.

Die anderen Schiffe verschwanden rasch hintereinander aus diesem Raum-Zeit-Kontinuum.

Jirriigs gab sich keine Mühe, ihre Genugtuung zu verbergen, als Tess den Rückflug nach Neu-Kardoll befahl.

»Vor uns treibt etwas im All«, kam es wenig später von den Ortungen.

»Ein Trümmerstück der ORDARDOR«, vermutete Tess. »Ignorieren!«

»Es strahlt schwache, kaum identifizierbare Impulse aus.«

Das geortete Objekt trieb einem Punkt entgegen, an dem es die Flugbahn der KARDOLLS ENDE kreuzen würde.

Groß war die Überraschung, als es bei einem Abstand von wenigen Kilometern von den starken Scheinwerfern des Schiffes erfaßt und aus der Anonymität der endlosen Schwärze herausgerissen wurde. Es handelte sich tatsächlich um ein nicht sonderlich großes Trümmerstück. Aber auf diesem stand eine kantige, plump wirkende Gestalt und winkte mit beiden Armen.

»Das ist Klapper«, entfuhr es Parillyon unwillkürlich.

Sie holten den Roboter mit Zugstrahlen an Bord. Allein schon, um zu erfahren, wie es ihm möglich gewesen war, die Explosion des Kreuzers unversehrt zu überstehen.

»Ich bin ganz einfach rechtzeitig ausgestiegen«, erklärte Klapper ungerührt und zu aller Verblüffung. »Die Arbeitsmaschinen haben ihre Sache doch gut gemacht, oder?«

*

»Colemayn!«

Der Tramp tat, als habe er nicht gehört, daß jemand nach ihm rief. Sein Blick schweifte in die Ferne, suchte im Dunst des sinkenden Tages das andere Ufer des Sees zu erspähen. Gedankenverloren kaute er auf einem Grashalm, während er den Oberkörper zurücklehnte und sich auf den Ellenbogen abstützte.

»Colemayn«, erklang es drängender. »Wir wollen mit dir reden.«

Hoch droben, im stählernen Blau des Himmels, zogen Vögel ihre Kreise. Sie waren geschickte, wendige Flieger.

»Sie scheinen glücklich zu sein«, murmelte der Tramp, mehr für sich selbst als für andere bestimmt. »Aber sind sie auch frei? Nie werden sie andere Welten sehen oder auch nur die unendliche Weite der Schöpfung erahnen.«

Ein Schatten fiel auf ihn. Verwirrt blinzelte Colemayn und richtete sich auf.

»Du bist es, Jirriigs«, machte er scheinbar erstaunt. »Und Crell auch. Sucht ihr Atlan?«

»Wir haben dich beobachtet«, sagte Crell.

Der Tramp legte die Stirn in Falten. »Nach diesem Eingeständnis wirst du mir sicher verraten, wieso.«

»Bist du wirklich Atlans Freund?« wollte Jirriigs wissen.

»Wenn er es sagt, wird es schon stimmen«, erwiderte Colemayn vorsichtig.

»Dir gefällt das alles ebenso wenig wie uns«, stellte Jirriigs fest. »Diese Feierei, weil wir einen Sieg errungen haben; das kompromißlose Vorgehen Atlans. Ein Leben scheint ihm nicht sehr viel zu bedeuten. Sonst hätte er kaum versucht, die ohnehin schon geschlagenen Schiffe der Flotte gänzlich zu vernichten.«

»Ich war nicht dabei«, sagte Colemayn. »Wie soll ich wissen, welche Motive ihn bewogen?«

»Die meisten von uns wollen Rache für das, was Gentile Kaz ihnen irgendwann angetan hat. Aber sie vergessen, daß sie sich mit ihm auf eine Stufe stellen, wenn sie ihre Ziele mit dem Blut anderer erkaufen. Und einigen, Tess ist einer von ihnen, geht es in erster Linie darum, selbst Macht zu erlangen.«

»Ihr wißt nicht, welcher von beiden Gruppen ihr Atlan zuordnen sollt?« Colemayn nahm den Grashalm und zerrupfte ihn zwischen den Fingerspitzen. Dann blies er in die geöffnete Handfläche und sah zu, wie die Pflanzenteile davonwirbelten. »Wir sind wie Spreu im Wind«, stellte er fest. »Die Taten jedes einzelnen können morgen schon vergessen sein.«

»Du weichst uns aus«, sagte Jirriigs. »Dabei hatten wir gehofft, in dir einen Helfer zu finden. Wir sind inzwischen einige hundert, vorwiegend weibliche Wesen, die die Meinung vertreten, daß Gewalt gegen Unschuldige nicht zum Ziel führen wird. Atlans unnachgiebige Handlungsweise hat viele zum Nachdenken veranlaßt.«

Colemayn erhob sich umständlich und schulterte seinen Rucksack. Ein wehmütiger Blick galt den rasch dahintreibenden Wolken. »Ich bin ein Wanderer zwischen den Welten. Wie sollte gerade ich euch helfen?«

*

In dieser Nacht schlief kaum einer der Rebellen wirklich tief. Manch besorgter Blick schweifte über den Sternenhimmel, ob nicht irgendwo ein Raumschiff erschien, dem es gelungen war, den Ortungen zu entgehen.

Kaum einer wollte es sich, geschweige denn den anderen, eingestehen, aber Angst vor der Zukunft machte sich breit. Bislang hatte man von den eigenen unerfüllten Hoffnungen gelebt, mehr Wunschdenken als Gewißheit, wirklich etwas ändern zu können. Schlagartig war vieles anders geworden.

Auf Neu-Kardoll herrschte Aufbruchstimmung. Und das auf zweierlei Weise.

Atlan war überzeugt davon, daß ein weiterer Angriff unmittelbar bevorstand. Nur würde Gentile

Kaz diesmal keine erneute Schlappe hinnehmen.

Bis der Morgen graute, war viel von der technischen Ausrüstung an Bord der Raumschiffe verstaut. Nichts sollte zurückbleiben. In die allgemeine Hektik platzte Jirriigs mit der unverständlichen Ankündigung hinein, daß die KARDOLLS ENDE nicht starten würde. »Wir wollen, daß Gentile Kaz für seine Machenschaften bestraft wird«, rief sie lautstark. »Allein aus diesem Grund haben wir uns zusammengefunden.«

»Gentile Kaz wird sterben«, erwiderte Tess heftig.

»… und mit ihm viele seiner meist unfreiwilligen Söldner.«

»… die selbst an ihrem Schicksal schuld sind«, stieß Tess hervor.

»Weil sie nicht vorher den Tod wählen? Oder willst du mir erzählen, Tess, daß du nicht am Leben hängst? Deine doppelte Moral widert mich an.«

»Ich denke, du warst die längste Zeit Kommandantin eines meiner Schiffe«, zischte der Gefiederte gefährlich leise.

»Setze mich ab, wenn du es wagst. Es gibt inzwischen genügend Rechtschaffene, die hinter mir stehen.«

»Nennt ihr euch so?« spottete Tess. »Rechtschaffene – wie hochtrabend das klingt. Ich hätte allerdings einen besseren Namen für euch: Verräter und Feiglinge!«

Inzwischen hatten sich viele Kaz-Fresser eingefunden, und immer mehr strömten herbei. Wie ein Lauffeuer sprach es sich herum, daß Tess und Jirriigs aneinandergeraten waren.

Die Kommandantin wandte sich der. Menge zu: »Wollt ihr, daß nach dem Sturz von Gentile Kaz die nächste Facette vor Ordardor Tess heißt? Oder Atlan?«

»Du gehst entschieden zu weit«, warnte der Gefiederte. »Ich dulde unter meinen Leuten keine Unruhestifter.«

»Was willst du machen?« erwiderte Jirriigs.

Tess entriß dem neben ihm stehenden Parillyon den Strahler, den dieser seit kurzem trug. »Ich werde ein Exempel statuieren; die besonderen Umstände geben mir das Recht dazu. Ich verurteile dich zum Tode, Jirriigs. Und keiner deiner Rechtschaffenen wird es wagen, dir beizustehen.« Langsam hob er die Waffe, während sein Blick herausfordernd über die Menge schweifte. Hie und da sah er starre, ausdruckslose Gesichter. Die würde er sich merken.

»Du bist eiskalt, Tess. Nach mir werden andere…« Der Anführer der Kaz-Fresser schoß. Noch während Jirriigs lautlos zusammenbrach, wirbelte er herum. Aber niemand wagte es, die Hand gegen ihn zu erheben. Alle waren von dem Geschehen wie gebannt.

»Euer Anführer hat richtig gehandelt«, rief Atlan. »Es geht nicht nur um den Willen eines einzelnen, es geht vielmehr um das Leben aller. Wer das nicht einsieht, sollte besser nicht in unseren Reihen stehen.«

»Jirriigs hatte also recht«, erklang es, ohne daß erkennbar wurde, wer der Sprecher war. »Du bist schuld, daß Tess sich verändert hat.«

»Parillyon trägt die Verantwortung«, hallte es von der anderen Seite her. »Er hat uns diesen Atlan gebracht.«

»Tötet Parillyon!« Der Ruf schien aus gut einem Dutzend Kehlen gleichzeitig zu kommen.

Die Rechte des Yikers fuhr zum Holster. Vergeblich. Tess hielt seine Waffe noch immer umklammert.

»Geht auseinander!« brüllte der Gefiederte. »Wir müssen Neu-Kardoll verlassen.«

Einer der Raumschiffkommandanten heischte um Ruhe. »Es geht nur um Gentile Kaz«, versuchte er, sich verständlich zu machen. Leider vergeblich.

Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte Atlan eine flüchtige Bewegung. Etwas funkelte metallisch im Sonnenlicht.

Parillyon stieß einen kurzen, spitzen Schrei aus. Seine Hände verkrampften sich über dem Brustkorb. Dann brach er vornüber in die Knie. Er starb, ohne daß ihm jemand helfen konnte. Das geworfene Vibratormesser hatte sein Herz durchbohrt.

Entsetzen und Betroffenheit breiteten sich aus. Es wurde ruhig ringsum.

»Die Evakuierung geht weiter wie geplant«, sagte Tess kalt.

*

Sie hatte ihn verehrt.

Sie glaubte sogar, daß es Liebe war, die sie ihm gegenüber empfand. Und diese Liebe war nicht nur aus dem Gefühl der Einsamkeit heraus geboren worden.

Atlan, dachte sie verzweifelt, was ist bloß geschehen? Habe ich Schuld daran?Aber nicht sie hatte sich verändert. Es schmerzte, mitansehen zu müssen, wie der Arkonide immer härter und unnachgiebiger wurde. Seine Handlungen zeigten allmählich eine Unmenschlichkeit, die in keiner Weise mit seiner Eigenschaft als Gesandter der Kosmokraten in Einklang zu bringen war.

Ein leichter Schauer erfaßte ANIMA, als ihr die Unlogik ihrer Gedanken bewußt wurde. Auch sie war vor langer Zeit von den Kosmokraten auserwählt worden; auch sie hatte sich des Arkoniden wegen über das Grundrecht allen Lebens hinweggesetzt. Ein Fragment ihres Körpers, dem sie instinktives Handeln mitgab, hatte getötet.

Crynn… Zulgea von Mesanthor, die Hexe… Atlan… Alles wirbelte wild durcheinander. In der Erinnerung verformte sich das Fragment erneut zu einem armlangen Wurm, legte sich um Zulgeas Hals…

Nein! schrie ANIMA, sich ihrer eigenen hilflosen Ohnmacht bewußt werdend. Sie spürte Atlans Nähe – so bedrückend und abstoßend, daß rote Schleier vor ihrem geistigen Auge aufwallten. Fast war es wie damals, in ihrer Kindheit, als sie zum erstenmal von ihrer besonderen Fähigkeit beherrscht worden war.

Atlan war ganz nahe. Er kam, um ihr weh zu tun, wie damals der Gärtner. ANIMA zuckte zusammen, glaubte die Peitsche zu spüren, die sie als Kind so oft… Die Bilder der Erinnerung verschwammen zu einem unentwirrbaren Durcheinander. Was war Schein, was Wirklichkeit? ANIMA ahnte, daß der Schock noch immer nicht ganz abgeklungen war, den sie auf Crynn erlitten hatte. Sie wollte eine freiwillige Helferin sein, nicht Befehle entgegennehmen.

Atlan sprach zu ihr.

Sie hörte nicht hin. Sie konnte diese Stimme nicht mehr ertragen.

ANIMA veränderte ihren Körper, wurde zu Stein. Ein unregelmäßig geformter Felsbrocken, der in dieser Umgebung fehl am Platz war.

Atlan begann zu toben. Er drohte ihr, schleuderte ihr wüste Verwünschungen entgegen.

Und dann geschah das, was sie nie für möglich gehalten hätte: er riß seinen Strahler hoch und feuerte. Er war wie besessen.

ANIMA begann zu weinen. In dem Moment wünschte sie sich, nie geboren worden zu sein.

*

»Sie kommen!« Der Ruf verbreitete sich in Windeseile.

Eine Flotte von 40 riesigen Schiffen hielt Kurs auf Neu-Kardoll. Gegen sie würden die altersschwachen Raumer der Rebellen sang- und klanglos untergehen.

Was jetzt noch nicht verladen war, mußte zurückbleiben. Es ging um Minuten. Selbst Tess schien das eingesehen zu haben. Zusammen mit Atlan rannte er an der Spitze der Fliehenden auf die KARDOLLS ENDE zu. Sie hatten das Schiff fast erreicht, als Crell in der Bodenschleuse erschien. Der Strahlenkarabiner, den er im Anschlag hielt, redete eine deutliche Sprache.

»Ich werde dich nicht an Bord lassen, Tess«, rief der Chewka dröhnend. »Du sollst keine Gelegenheit mehr erhalten, uns in den Tod zu führen.«

»Sei vernünftig, Crell. Ich habe nichts gegen dich; du könntest Kommandant werden…«

»Du bekommst von mir die Chance, die du Jirriigs gelassen hast«, fauchte Crell. In dem Moment, in dem Tess’ Klauen sich um die im Gefieder verborgene Waffe schlossen, feuerte er.

Von Panik erfüllt, sprangen die Umstehenden auseinander. Nur Atlan stand wie angewurzelt. Aus der Hüfte heraus schoß er auf den Chewka, verfehlte ihn jedoch, weil Crell sich blitzschnell herumgeworfen hatte und das Schott zuglitt.

Aus dem Schatten der nächsten Landestütze löste sich eine gebeugt gehende Gestalt. Es war Colemayn, der mit halb ausgebreiteten Armen auf die Rebellen zukam. »Ihr seid im Begriff, alle eure Hoffnungen zu zerstören«, sagte er und wirkte plötzlich sehr selbstbewußt und überzeugend. Jede Zurückhaltung schien von ihm abgefallen zu sein. »Es gibt ein Gesetz im Kosmos, das über allen anderen steht: Niemand darf natürliches Leben töten.«Atlan hatte seinen Strahler in den Gürtel zurückgeschoben. »Du entpuppst dich als immer größerer Narr«, spottete er. »Weshalb gehst du nicht zu Gentile Kaz und versuchst, ihn mit deinen leeren Sprüchen zu bekehren?« Er stockte, starrte verblüfft auf Colemayns Hüfte, wo halb zwischen den Fellumhängen verborgen ein langläufiger Revolver baumelte. »Du maßt dir an, Gewaltlosigkeit zu predigen und trägst selbst eine Waffe.« Atlan wandte sich halb zu den Kaz-Fressern um, die hinter ihm standen. »Schafft mir endlich diesen lästigen Schwätzer aus dem Weg!« befahl er. »Ich will ihn nicht mehr sehen.«

Die Rebellen zögerten, waren unschlüssig, weil mit jeder verstreichenden Sekunde die gemeldete Flotte sich Hunderte von Kilometern näherte.

Atlans Rechte zuckte zum Strahler. Aber Colemayn war schneller – seiner Bewegung mit den Augen zu folgen, war fast unmöglich. Zweimal bellte die altertümliche anmutende Waffe auf. Atlan zuckte zusammen, machte noch einen taumelnden Schritt nach vorne und brach in die Knie. Er schien etwas sagen zu wollen, doch die Stimme versagte ihm den Dienst. Der Strahler entglitt seiner zitternden Hand. Dann schlug er der Länge nach hin.

Colemayn schob den Revolver in das Halfter zurück, ging zu Atlan und drehte ihn auf den Rücken. Der Arkonide war tot.

Um den Mund des Tramps lag ein Zug von Verbitterung. »Niemand darf natürliches Leben zerstören«, wiederholte er eindringlich. »Keine Entschuldigung kann gut genug sein, solches ungeschehen zu machen.«

Ein schwerer Gleiter donnerte dicht über ihre Köpfe hinweg. Offenbar hatten die ersten erkannt, daß es besser war, sich in den Wäldern des Planeten zu verbergen, als in den Raum zu starten. Einige Einheiten der angreifenden Flotte waren schon mit bloßem Auge’ als winzige Punkte am Firmament

zu erkennen.

Colemayn warf sich herum und hastete zum Seeufer. ANIMA wirkte noch immer wie ein großer, lebloser Felsblock. Auch seine Annäherung bewegte sie nicht dazu, ihre Starre aufzugeben.

Ein greller Lichtblitz huschte über das Land. Ohne den Blick zu heben, wußte der Tramp, daß soeben ein Schiff der Kaz-Fresser vernichtet worden war. Die Rebellen hatten keine Chance. Ihr Kampf würde ebenso verzweifelt wie sinnlos sein. Auf der KARDOLLS ENDE schien man das ebenfalls erkannt zu haben. Etliche Gleiter schossen aus den Hangars hervor und entfernten sich in alle Richtungen.

»Du kennst mich, ANIMA«, sagte Colemayn drängend. »Und du weißt, daß ich dich nie anlügen würde. Es ist wohl an der Zeit, den wirklichen Atlan zu suchen. Du mußt mir dabei helfen.«

Zum erstenmal erschien ein gehetzter Ausdruck auf Colemayns Gesicht. In der Nähe senkte sich ein Schiff aus Gentile Kaz’ Flotte herab.

»Atlan wurde von Parillyon gegen ein Duplikat ausgetauscht. Aber ich weiß nicht, wo.«

»Komm!« erklang es unvermittelt. ANIMA veränderte ihre Struktur und öffnete sich für den Weltentramp. »Wenn es stimmt, was du andeutest, muß ich dir dankbar sein. Dann kann ich verstehen, weshalb Atlan sich nach unserem Aufenthalt auf Kippelkart zusehends veränderte.«

»Kippelkart?« wiederholte Colemayn überrascht. »Das war die Heimatwelt der Yiker – und Parillyon war ein Yiker. Es heißt, daß dieses Volk Maschinen besaß, mit denen es die kompliziertesten Zellverbände kopieren und) beeinflussen konnte. Parillyon hat sich wahrscheinlich auf diese Weise ein künstliches Wesen geschaffen, dessen Gesinnung der seinen entsprach.«

»Was ist mit dem wirklichen Atlan geschehen?«

»Ich hoffe, er lebt noch«, sagte Colemayn bitter.

»Dann werden wir ihn finden«, versprach ANIMA.

Mit rasender Beschleunigung stieg sie in den blauen Himmel von Neu-Kardoll. Nur kurz dachte sie daran, wie verzweifelt die Kaz-Fresser sein mußten.

Sie war auch verzweifelt gewesen. Aber jetzt durfte sie wieder hoffen.

ENDE

Atlan – der originale Arkonide, wohlgemerkt, der in die Transmitterfalle von Kippelkart ging – erwacht in einer völlig fremden Umgebung aus tiefer Bewußtlosigkeit.

In höchster Not kommen unerwartete Helfer zu ihm, und er schließt sich einer Expedition an, die ebenfalls von unerbittlichen Angreifern bedroht wird. Diese Angreifer bilden Das Zerstörungskommando…DAS ZERSTÖRUNGSKOMMANDO – unter diesem Titel erscheint auch der nächste Atlan-Band. Der Roman wurde von Kurt Mahr geschrieben.

ATLANS EXTRASINNRätsel um Alkordoom

Ich höre und sehe nichts mehr. Das kann nur eins bedeuten. Atlan ist besinnungslos! Es handelt sich um eine seltsame geistige Abwesenheit, denn sie betrifft mich nicht. Ich kann ungehindert denken.

Das Fehlen jeglicher Informationen von draußen ist erschreckend. Ich spüre eine neue Empfindung. Es kann sich nur um Panik handein. Wenig später habe ich mich wieder gefangen. Meine logischen Überlegungen dominieren wieder. Ich erkenne, daß das Rätsel, in das uns Parillyon geführt hat, nur eins der vielen von Alkordoom sein kann. Atlan hat sich während der letzten Tage auf New Marion einlullen lassen. Ihm sind die friedlichen Stunden nicht bekommen. Insbesondere die mit Sarah Briggs.

Ich hatte mich zurückgezogen und meine Aktivitäten gedämpft. Das war vernünftig gewesen, denn in seiner persönlichen Sphäre habe ich nichts zu suchen. Dadurch ist mir wohl entgangen, daß Parillyon nicht nur eigene Pläne schmiedete, sondern auch diese in die Tat umsetzte. Er hat Atlan ganz bewußt an einen Ort gelockt, der ein Geheimnis birgt. Die Besinnungslosigkeit war zu plötzlich da. Und sie entsprach nicht dem gewohnten Bild.

Ich unterbreche meine Gedanken, denn ein unbekannter Einfluß greift nach mir. Ich empfinde einen endlosen Fall durch ein Nichts. Die Zeit verstreicht. Ich kann sie nicht messen, denn alle Anhaltspunkte nach draußen fehlen. Es gibt eine mögliche Erklärung. Atlan wurde nicht nur »besinnungslos gemacht«. Er wird zudem auch noch räumlich versetzt. Eine Ahnung sagt mir, daß wir uns quer durch Alkordoom bewegen. Auf das mögliche Ziel gibt es keinen Hinweis.

Was plant Parillyon? Seine Geschichte von Hondyrtkart, dem Planeten der Weisen, betrachte ich nun als ein Täuschungsmanöver. Und Kippelkart, die Pforte der Weisen, scheint ebensowenig wirklich zu existieren. Parillyon hat sich als einziger Überlebender seines Volkes bezeichnet. Bei den vielen rätselhaften Dingen, auf die wir in Alkordoom gestoßen sind, habe ich dieser Aussage zu wenig Bedeutung beigemessen. Sie enthält einen klaren Hinweis auf Parillyons Motive! Er trachtet nach Rache!

Er muß eingesehen haben, daß er Atlan nicht für seine wahren Ziele gewinnen konnte. Also hat er etwas anderes versucht. Die Folge davon ist, daß Atlan nun besinnungslos durch den Raum stürzt.

Die Station auf Kippelkart muß eine Art Transmitter enthalten haben. Bevor dieser wirksam wurde, erwischte Atlan die Strahlung, die nun seine Sinne blockiert.

Auf die Frage, warum Parillyon Atlan auf diese merkwürdige Weise entfernte, finde ich keine Antwort. Welche Geheimnisse mag die technische Station auf Kippelkart noch bergen?

Wenn ich davon ausgehe, daß Parillyon nur nach Rache trachtet, so ist es sehr wahrscheinlich, daß er etwas unternahm, um diese Rache zu verwirklichen. Er muß Kippelkart und die Funktion der Station genau kennen. Es liegt nahe, daß dies die Welt seines Volkes ist und daß die Station ein Überbleibsel aus der Vergangenheit darstellt. Ich war ein Narr, weil ich diese Zusammenhänge nicht früher gefolgert habe.

Der sich anbahnende Erfolg in Kontagnat hat Atlans Sinne eingelullt. Er ist unaufmerksam gewesen. Und das, obwohl die Rätsel von Alkordoom seit unserer Ankunft in dieser Galaxis nur größer geworden sind. Wir wissen, daß die Facetten bemüht sind, Psi-Potentiale zu sammeln. Warum sie das tun, wissen wir nicht. Wir wissen, daß die Facetten einem gemeinsamen Herrn, dem Erleuchteten oder dem Juwel, untergeordnet sind, sich aber auch gegenseitig bekämpfen und versuchen, ihren Machtbereich zu vergrößern. Das ist eigentlich eine widersinnige Situation, die auf eine vernünftige Erklärung wartet. Ihr haftet etwas Chaotisches an, das ganz Alkordoom zu durchziehen scheint.

Wir haben die Celester kennengelernt, die von der Erde stammen. Sie wurden von dort entführt, aber niemand kann nun schlüssig die Frage beantworten, warum das geschah. Ich habe den

Eindruck, daß sie einer Bestimmung zugeführt werden sollten. Das ist aber nie geschehen. Auch das bleibt vorerst ein Rätsel.

Wirklich schwerwiegend ist jedoch, daß Atlan bis jetzt von den unerklärlichen Dingen, die in seinem Auftrag erwähnt worden sind, noch keine konkrete Spur gefunden hat. Die Sonnensteppe soll ein Raumgebiet in Alkordoom sein, das mit einem tabu belegt ist. Die Lage der Sonnensteppe ist ungefähr bekannt, aber warum man sie nicht betreten darf, weiß wohl niemand.

Und welches Rätsel sich hinter EVOLO verbirgt, dessen Namen kaum jemand kennt, ist auch schleierhaft. Dabei haben die Kosmokraten diesen Faktor als die entscheidende Gefahr deklariert.

Mir fällt plötzlich auf, daß sich unter den Celestern zumindest zwei Menschen entwickelt haben, die man nach der Geschichte Terras als Mutanten bezeichnet hätte, nämlich Flora Almuth und ihre Zwillingsschwester, die ehemalige Facette Zulgea von Mesanthor. Das kann Zufall sein, muß es aber nicht. Die Einflüsse, die auf Terra zur Entstehung des ersten Mutantenkorps geführt haben, hat es auf New Marion nicht gegeben. Verbirgt sich hier etwas über den Sinn der Entführung jener Menschen aus dem 19. Jahrhundert? Ich weiß die Antwort nicht, und manchmal zweifle ich daran, ob wir sie je, bekommen werden. Alkordoom ist das Chaos. Und Atlan soll hier eine neue Ordnung herstellen! Es kling wie ein Hohn.