2
Chemiewirtschaft Die Risiken beim Einkauf Marco Hermann Naturkatastrophen, Rohstoffknappheit, Preisänderungen, volatile Märkte oder politische Instabilität – Lieferketten sind vielen Risiken ausgesetzt. Zusammen mit hohen Effizienzanforderungen entstehen instabile Lieferketten. Wie lässt sich dagegen steuern? Unternehmen müssen sich drin- gender denn je mit Lieferkettenrisi- ken auseinandersetzen. Ein Grund ist die Wertschöpfungstiefe, die für Produktionsprozesse immer mehr sinkt: Während im Jahr 1980 noch 60 % der Leistungen aus Eigenfer- tigung stammten, waren es im Jahr 2004 nur noch 43 %. Dies bedeutet, dass der Anteil des Zukaufs den der eigenen Wertschöpfung übertrifft. 1) Dieses Verhältnis schwankt jedoch von Branche zu Branche. So ist der Eigenfertigungsanteil eines Auto- mobilausrüsters wesentlich gerin- ger als der eines Chemieunterneh- mens. Die Beschaffungsabteilung bezieht hier weniger von Fremdfir- men, sondern versorgt sich mehr innerhalb des Unternehmens. Risi- ken wie geographisch weit gestreu- te an der Wertschöpfung beteiligte Unternehmen, knapper werdende Rohstoffe und Energie- oder wirt- schaftliche Krisen bleiben dennoch bestehen. 2) Gerade die jüngsten Ereignisse in Japan beeinflussen branchenweite Lieferketten gravierend. Die japa- nischen Automobilhersteller wie Toyota, Nissan oder Suzuki werden insgesamt etwa 365 000 Fahrzeuge weniger als geplant produzieren. 3) Der Schaden durch den Ausfall japa- nischer Lieferanten ist noch nicht abzuschätzen, aber besonders elek- tronische Bauteile werden knapp werden. 4) In Zukunft werden nicht mehr nur einzelne Unternehmen sondern ganze Lieferketten miteinander kon- kurrieren. So gilt es, den Fokus von einzelnen Optimierungen zu lösen und stattdessen ein Optimum für die gesamte Wertschöpfungskette zu finden. Das Lieferkettenrisikomana- gement (Supply Chain Risk Manage- ment, SCRM) spielt dabei eine zen- trale Rolle. Die Beschaffungsrisiken Risikomanagement erkennt und ergreift Maßnahmen, um die Wir- kung von Risiken zu dämpfen oder Risiken erst gar nicht entstehen zu lassen. Den Reifegrad des Risiko- managements bei Lieferketten er- fasst ein Studie des Fraunhofer-In- stituts für Produktionstechnik und Automatisierung IPA (siehe Kas- ten). Unternehmen bewerteten für die Studie strategische und operative Ri- siken heute und in drei Jahren. Die Abbildung zeigt, wie momentan die chemische Industrie einige Punkte Die chemische Industrie und ihr Urteil zu strategischen (erste vier Zeilen) und operativen Risiken. Blau: Anteil mit der Meinung „Risiko ist eher hoch“, grün: „Risiko ist eher gering“. Fehler in der eigenen Disposition Ungenügende Qualitätskontrollen des Lieferanten Instabile Fertigungsprozesse beim Lieferanten Schlechte Logistikleistung des Lieferanten Lieferverzögerungen durch unzureichende Fertigungskapazität eines Lieferanten Insolvenz von Lieferanten Preiserhöhungen durch Lieferanten Risiken im wirtschaftlichen Umfeld Abhängigkeit durch Single Sourcing 640 Nachrichten aus der Chemie | 59 | Juni 2011 | www.gdch.de/nachrichten

Die Risiken beim Einkauf

  • Upload
    marco

  • View
    215

  • Download
    1

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Die Risiken beim Einkauf

�Chemiewirtschaft�

Die Risiken beim Einkauf

Marco Hermann

Naturkatastrophen, Rohstoffknappheit, Preisänderungen, volatile Märkte oder politische Instabilität –

Lieferketten sind vielen Risiken ausgesetzt. Zusammen mit hohen Effizienzanforderungen entstehen

instabile Lieferketten. Wie lässt sich dagegen steuern?

� Unternehmen müssen sich drin-gender denn je mit Lieferkettenrisi-ken auseinandersetzen. Ein Grund ist die Wertschöpfungstiefe, die für Produktionsprozesse immer mehr sinkt: Während im Jahr 1980 noch 60 % der Leistungen aus Eigenfer-tigung stammten, waren es im Jahr 2004 nur noch 43 %. Dies bedeutet, dass der Anteil des Zukaufs den der eigenen Wertschöpfung übertrifft.1) Dieses Verhältnis schwankt jedoch von Branche zu Branche. So ist der Eigenfertigungsanteil eines Auto-

mobilausrüsters wesentlich gerin-ger als der eines Chemieunterneh-mens. Die Beschaffungsabteilung bezieht hier weniger von Fremdfir-men, sondern versorgt sich mehr innerhalb des Unternehmens. Risi-ken wie geographisch weit gestreu-te an der Wertschöpfung beteiligte Unternehmen, knapper werdende Rohstoffe und Energie- oder wirt-schaftliche Krisen bleiben dennoch bestehen.2)

Gerade die jüngsten Ereignisse in Japan beeinflussen branchenweite

Lieferketten gravierend. Die japa-nischen Automobilhersteller wie Toyota, Nissan oder Suzuki werden insgesamt etwa 365 000 Fahrzeuge weniger als geplant produzieren.3) Der Schaden durch den Ausfall japa-nischer Lieferanten ist noch nicht abzuschätzen, aber besonders elek-tronische Bauteile werden knapp werden.4)

In Zukunft werden nicht mehr nur einzelne Unternehmen sondern ganze Lieferketten miteinander kon-kurrieren. So gilt es, den Fokus von einzelnen Optimierungen zu lösen und stattdessen ein Optimum für die gesamte Wertschöpfungskette zu finden. Das Lieferkettenrisikomana-gement (Supply Chain Risk Manage-ment, SCRM) spielt dabei eine zen-trale Rolle.

Die Beschaffungsrisiken

� Risikomanagement erkennt und ergreift Maßnahmen, um die Wir-kung von Risiken zu dämpfen oder Risiken erst gar nicht entstehen zu lassen. Den Reifegrad des Risiko-managements bei Lieferketten er-fasst ein Studie des Fraunhofer-In-stituts für Produktionstechnik und Automatisierung IPA (siehe Kas-ten).

Unternehmen bewerteten für die Studie strategische und operative Ri-siken heute und in drei Jahren. Die Abbildung zeigt, wie momentan die chemische Industrie einige Punkte

Die chemische Industrie und ihr Urteil zu strategischen (erste vier Zeilen) und operativen Risiken. Blau: Anteil mit

der Meinung „Risiko ist eher hoch“, grün: „Risiko ist eher gering“.

Fehler in der eigenen Disposition

Ungenügende Qualitätskontrollen des Lieferanten

Instabile Fertigungsprozesse beim Lieferanten

Schlechte Logistikleistung des Lieferanten

Lieferverzögerungen durch unzureichendeFertigungskapazität eines Lieferanten

Insolvenz von Lieferanten

Preiserhöhungen durch Lieferanten

Risiken im wirtschaftlichen Umfeld

Abhängigkeit durch Single Sourcing

640

Nachrichten aus der Chemie | 59 | Juni 2011 | www.gdch.de/nachrichten

Page 2: Die Risiken beim Einkauf

sieht: als eher hohes Risiko oder als eher geringes Risiko (Grafik).

Bei den operativen Risiken ist das Risiko des Lieferverzugs heute wie auch in Zukunft am höchsten bewertet. Das gilt für die chemische Industrie und alle anderen Bran-chen. Durch das starke Wachstum nach der Wirtschaftskrise stehen immer wieder Produktionen still, weil Zulieferer nicht genügend Ka-pazitäten besitzen, um die gestiege-ne Nachfrage zu befriedigen. Beson-ders Endprodukthersteller fürchten aufgrund des hohen Zukaufanteils dieses Risiko.

Die Wirtschaftskrise und die da-mit verbundenen Währungsrisiken sowie steigenden Rohstoff- und Energiepreise haben ebenso die Be-wertung der strategischen Risiko-faktoren geprägt. Dieses wirt-schaftliche Umfeld empfanden 81 % aller befragten Unternehmen als hohes Risiko. Die chemische In-dustrie liegt mit einer Bewertung von 66 % für dieses Risiko unter dem Durchschnitt. Dagegen wird das Risiko der Abhängigkeit von ei-nem einzigen Anbieter durch Sin-gle Sourcing von allen Studienteil-nehmern in Zukunft als sehr hoch angesehen und ist insgesamt das Top-Risiko.

Prozessreife noch gering

� Sowohl bei der Risikoaufklärung wie auch bei der Risikobeherr-schung sind Defizite zu erkennen: Knapp ein Drittel der Unternehmen wählen Lieferanten oder Dienstleis-ter aus, ohne die Risiken zu identi-fizieren. Die Unternehmen, die zwar Risiken durch Lieferanten und Dienstleister betrachten, passen dann jedoch zu 35 % ihren Prü-fungsaufwand nicht an die strategi-sche Relevanz des Lieferanten an.

Branchen wie die Elektro- und Elektronikindustrie, der Maschi-nenbau oder der Sondermaschinen- und Anlagenbau offenbaren zudem Schwächen in der Phase der Risiko-aufklärung. Im Gegensatz dazu hat die Automobil- und -zulieferindus-trie bei diesem Prozessschritt be-reits einen hohen Reifegrad.

Strategien der Risikobeherr-schung entwickelten die untersuch-ten Unternehmen nur selten. Sie setzten sie ebenso so selten syste-matisch um. Festzustellen waren außerdem Prozessschwächen wie fehlende Notfallpläne und fehlende Problemlösungsprozesse, falls ope-rative Risiken eintreten.

Lieferkettenrisikomanagement

� Negative Beispiele für rudimentä-res Lieferkettenmanagement sind monatlich in den Nachrichten zu verfolgen. So führte die vom Mobil-funkunternehmen Ericsson ange-ordnete Streichung von Mikrochip-Alternativlieferanten zu einem mehrmonatigen Produktionsrück-gang: Wegen eines Feuer in einer Produktionshalle konnte der ver-bleibende Lieferant drei Wochen lang nicht liefern. Der geschätzte Verlust betrug 400 Mio. US-Dollar.5)

Ein Beispiel für funktionierendes Lieferkettenrisikomanagement zeigt ein Chemieunternehmen: BASF er-hielt für den Implementierungsgrad und die konsequente Orientierung der Lieferkette an Kundenbedürf-nissen den „Supply Chain Manage-ment Award 2011“.6)

Die Fraunhofer-Studie ergab, dass immer mehr Unternehmen die Bedeutung vom Lieferkettenri-sikomanangement erkennen und die entsprechenden Zuständigkei-ten weitgehend definieren. Beim

Erkennen der Lieferkettenrisiken herrscht ebenso große Überein-stimmung zwischen den Unterneh-men: Fast alle erkennen sie richtig. Defizite finden sich dagegen vor al-lem bei der Methodenkompetenz, dem Verwenden von Hilfsmitteln im Prozess und der IT-Unterstüt-zung.

Marco Hermann studierte an der Hochschule

Ulm Produktionstechnik und Organisation.

Seit dem Jahr 2009 ist er wissenschaftlicher

Mitarbeiter bei Unternehmenslogistik und

Auftragsmanagement des Fraunhofer-Institut

für Produktionstechnik und Automatisierung

IPA, Stuttgart. Über Risikomanagement in der

Beschaffung spricht er während der 3. Jahres-

tagung „Einkauf von Chemikalien und Roh-

stoffen“ der Chem-Academy Ende Juni in Köln.

[email protected]

Quellen

1) www.stmwivt.bayern.de/pdf/wirtschaft/

Wert_der_Wertschoepfung.pdf

2) A. Ziegenbein, „Supply Chain Manage-

ment – Grundlagen und aktuelle Trends”

in „Supply Chain Risiken – Identifikation,

Bewertung und Steuerung“, vdf Hoch-

schulverlag, Zürich, 2007, S.15.

3) www.automobil-industrie.vogel.de/oems/

articles/308934

4) www.automobil-industrie.vogel.de/oems/

articles/307553

5) A. Ziegenbein in Supply Chain Risiken –

Identifikation, Bewertung und Steue-

rung“, 2007, vdf Hochschulverlag, Zürich.

5) www.logistik-heute.de/Logistik-News-Lo

gistik-Nachrichten/Markt-News/

8426/Chemie-Riese-fuer-hervorragen-

des-Supply-Chain-Projekt-ausgezeichnet-

SCM-Award

� Risikomanagement in der Beschaffung

50 und 500 Mitarbeitern, 33 %

mehr als 1000 und 19 % weniger

als 50 Mitarbeiter.

Die Lieferkettenposition und somit

die Rollenverteilung der teilneh-

menden Unternehmen innerhalb

der Lieferkette sind ebenso ent-

scheidend für die Studie: Beteiligt

waren 44 % Modul- und System-

lieferanten, 39 % Endprodukther-

steller, 15 % Einzelteillieferanten

und 2 % Rohmateriallieferanten.

Die Studie ist als PDF erhältlich.

www.ipa.fraunhofer.de/studien

An der Studie zum Risikomanage-

ment in der Beschaffung nahmen

52 Unternehmen teil: Die che-

mische Industrie stellte davon un-

gefähr 6 %. Etwa ein Viertel gehört

zum Maschinenbau. Die Auto-

mobilindustrie und deren Zuliefe-

rer, die Elektro- und Elektronik-

industrie sowie die Metallindus-

trie und -verarbeitung sind mit

jeweils etwa 13 % vertreten. Die

übrigen 30 % verteilen sich auf an-

dere Branchen. Etwa 48 % der

Unternehmen haben zwischen

Chemiewirtschaft �Blickpunkt� 641

Nachrichten aus der Chemie | 59 | Juni 2011 | www.gdch.de/nachrichten